Archiv für den Monat: März 2015

WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 9

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgte dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte. Dieser endet für Tiedemann in einer ‚Verwirrung‘. Er versuchte daraufhin eine weitere Klärung über die ‚Wortbedeutung‘ im Kapitel 4. Dieser ‚Umweg‘ über die Wortbedeutung wird in seiner Methodik nicht selbst problematisiert, liefert aber für den Fortgang der Untersuchung im Buch einen neuen Anknüpfungspunkt durch das Konzept des Werturteils. Es folgt dann der Versuch, einen absoluten Referenzpunkt für Werturteile zu identifizieren, mittels dem sich dann vielleicht das Werturteil als grundlegend erweisen lässt. Diesen absoluten Referenzpunkt findet P.Tiedemann in der ‘Identitätstheorie der Menschenwürde’: diese geht aus von einer grundsätzlichen Selbstbestimmungskompetenz des Menschen und enthält als ein Moment auch den Aufbau einer individuellen Identität (‘Ich’). Dann folgt eine Anzahl möglicher Einwände gruppiert nach vier Themen: Anderer, Determiniert, Böse, nichtpersonale Menschen. Dann betrachtet er in Kap.7, einem etwas längeren Kapitel, wichtige Konkretisierungen von Menschenwürde, wie sie uns im Alltag real begegnen. Sehr anschaulich führt er die verschiedenen Punkte aus, so dass man nachvollziehen kann, wie verschiedene Verhaltensweisen/ Lebensweisen tief in das Selbst- und Lebensgefühl eines Menschen eingreifen können, bis dahin, dass er in der Wurzel getroffen, verletzt oder gar nachhaltig zerstört wird. Es sind weniger die äußerlichen Dinge als solche, sondern ihre Wirkung auf das ‚Innere‘ eines Menschen, sein Fühlen, seine Fähigkeit zu vertrauen, sein Denken usw.

KAPITEL 8 (SS.149-162)

Stichworte aus Kap.8: Wertkonflikte und Präferenzregeln
Stichworte aus Kap.8: Wertkonflikte und Präferenzregeln

1. Die Grundidee in diesem Kapitel ist sehr einfach: unter der Voraussetzung, dass innerhalb der möglichen Werte die Menschenwürde den höchsten Rang einnimmt, kann es innerhalb des Raumes, den der Wert Menschenwürde aufspannt, zu Konkurrenzen zwischen verschiedenen Werten W_i und W_k kommen. Beide Werte verkörpern ‚Menschenwürde‘ (z.B. W_i := Menschen einer Stadt, die geschützt werden sollen, und W_i := Menschen, die gegen einen Angreifer mit feindlicher Absicht verteidigen sollen). Schickt man die Verteidiger, besteht die Gefahr, dass viele umkommen; schickt man die Verteidiger nicht, besteht die Gefahr, dass eine viel größere Anzahl von Menschen aus der Stadt zu Tode kommen. In beiden Fällen geht es um Menschen, denen Menschenwürde zukommt und deren Leben einen höchsten Wert repräsentiert.

2. In solch einem Fall (obiges Beispiel ist nicht von ihm) vertritt Paul Tiedemann die Auffassung, dass mit der Präferenzregel ‚Quantität‘ es ‚relativ besser‘ wäre, das Leben der Verteidiger zu riskieren als die vermutete größere Menge der Stadtbevölkerung. Als Formel etwa

3. PRÄFERENZ_quantität(W_i, W_k)= W_i

4. Dies bedeutet, dass die Präferenzregel unter Bezug auf das Kriterium Quantität von den beiden möglichen Werten W_i und W_k in diesem Fall W_i als ‚relativ größeren‘ Wert auswählt.

5. Analog erläutert und illustriert Paul Tiedemann die Kriterien ‚Schuldhaft‘ und ‚Eigene Existenz‘.

KRITISCHER DISKURS

6. Erinnern wir uns: Paul Tiedemann hatte die Menschenwürde wesentlich zurückgeführt auf die Selbstbestimmungsmöglichkeit eines Menschen. Diese wiederum wurde so identifiziert, dass sie von vielerlei konkreten Voraussetzungen abhängig ist, z.B. körperliche Unversehrtheit. Zu sagen, dass Menschenwürde im Sinne der Möglichkeit der ‚Selbstbestimmung‘ ein ‚Wert‘ ist, hängt in seiner Konkretisierung dann davon ab, welche konkreten ‚Realisierungsbedingungen von Selbstbestimmung‘ man identifiziert.

7. In einer historischen Perspektive kann man eindeutig sagen, dass das Verständnis das wir Menschen von uns selbst im Laufe der Zeiten hatten und haben nicht immer gleich war. Die Behandlung psychisch kranker Menschen z.B. war zu früheren Zeiten merklich anders als heute und würde von heute aus sicher als Verletzung der Menschenwürde betrachtet; desgleichen das Bild von Kindern und Frauen (wobei ja noch heute im Jahr 2015 in vielen Ländern dieser Erde Kinder und Frauen als minderwertig angesehen und entsprechend behandelt werden; aber auch in Deutschland: nach polizeilichen Erkenntnissen werden z.B. in jedem Jahr zehntausende von Frauen aus anderen Ländern unter Anwendung von brutalster Gewalt in Deutschland zur Prostitution gezwungen und die Gesellschaft schaut zu).

8. Daraus ergibt sich, dass die ‚Menschenwürde als Selbstbestimmung‘ zwar für eine bestimmte ‚kulturelle Sehweise‘ einen hohen oder gar höchsten Wert darstellen mag, dass aber die konkrete ‚Ausdeutung dieses Wertes‘ unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände stark zeit- und kulturabhängig ist. Dies bedeutet, man kann es nicht als selbstverständlich annehmen, dass alle Menschen zu allen Zeiten in Fragen der Menschenwürde immer die gleiche ‚Ausdeutung/ Interpretation‘ vornehmen bzw. vornehmen können. Die Interpretation ist ‚wissensabhängig‘, und dies führt zurück auf ‚Lernprozesse‘, die wiederum auf Faktoren des Lernens verweisen wie z.B. ‚beeinflussende Personen‘, ‚verfügbare Informationen‘, ‚gelebte Beispiele‘, usw.

9. Diese ‚Lernabhängigkeit‘ eines ‚interpretierenden Wissens‘ ist eine Grundkonstante aller biologischen Systeme (nicht nur der Menschen). Und aus diesem Sachverhalt folgt, dass die ‚Menschenwürde als Selbstbestimmung‘ zwar ein Grundwert sein kann, dass aber seine konkrete Ausgestaltung eine kulturelle Lernaufgabe einer ganzen Gesellschaft ist, einer Lernaufgabe, für die es historisch vielleicht irgendwo einen Anfangspunkt gibt, aber keinen zeitlichen Endpunkt! In dieser Perspektive ist ‚Menschenwürde‘ ein kulturelles ‚Projekt‘, wie wir heute vielleicht sagen würden.

10. Da alle Beteiligten des ‚kulturellen Projekts Menschenwürde‘ an der Endlichkeit eines mangelnden, unvollständigen, mühsam zu entwickelnden Wissens leiden, ist zu keinem Zeitpunkt klar, wo genau die Reise enden wird, wie lange sie dauern wird, was zwischendurch alles passieren kann. Die Geschichte kündet uns von den Trümmern großer Kulturen wie die des antiken Griechenlands, des römischen Reiches, des unfassbar hochstehenden arabisch-islamischen Reiches, und der vielen weiteren Auf- und Abstiege von politisch-wirtschaftlichen Machtzentren in Europa und weltweit.

11. Die von Paul Tiedemann erwähnten ‚Präferenzregeln‘ sind von daher weder ’selbstverständlich‘ noch nur ‚Beiwerk‘ zur großen Idee der Menschenwürde; nein, sie erscheinen eher als der ‚konkrete Körper‘, der der abstrakten blutleeren Idee der Menschenwürde als ‚Selbstbestimmung‘ überhaupt erst eine Bedeutung verleiht, und dieser Körper befindet sich in einem beständigen Wandel.

Fortsetzung folgt

Einen Überblick über alle Blogeinträge von cagent nach Titeln findet sich HIER: cagent.

Einen Überblick über alle Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER: Blog gesamt.

TOLERANZ – TEIL EINER GRUNDLEGENDEN ZUKUNFTSFÄHIGKEIT

Stichworte-Toleranz-15Maerz2015
Stichworte-Toleranz-15Maerz2015

1. Ausgelöst durch die Einschätzung einzelner, dass Polen insgesamt ‚toleranter erscheinen‘ als Deutsche, entwickelte sich am Sonntagnachmittag, 15.März 2015, ein lebhaftes Gespräch zum Begriff ‚Toleranz‘. Jeder kann und konnte aus seinem eigenen Alltag Beispiele beisteuern, in denen andere Menschen andere Verhaltensweisen zeigten oder Meinungen äußerten als jene, die man selber ‚gewohnt‘ war. Muss man dann aggressiv werden? Muss man schimpfen? Muss man sich ärgern? Muss man auf sein Recht pochen? …. oder kann man sich darüber amüsieren? Kann man eine humorvolle Bemerkung machen? Kann man es einfach unkommentiert stehen lassen? Kann man sich dadurch zu alternativen Gedanken anregen lassen? … oder kann man dies zum Anlass nehmen, zusammen mit anderen aufgrund dieser Unterschiede einen Gedankenaustausch zu versuchen, in dem sich alle Beteiligten der Unterschiede bewusst werden und anhand dieser Unterschiede dann unterschiedliche Motive, Werte und Ziele zu klären. Gelingt letzteres, dann kann sich dadurch die Qualität des Miteinander in Vielfalt verbessern.

2. Die Vielfalt der Alltagsbeispiele regte an, nach ‚Definitionen‘ von Toleranz zu suchen. Auffällig war, wie viele verschiedene Begriffe im Umfeld des Toleranzbegriffs im Umlauf sind: ‚Akzeptanz‘, ‚Duldung‘, ‚Respekt‘, ‚Legitimität‘, ‚Anerkennung‘, ‚Pluralität zulassen‘, ‚Freiheit des Denkens‘ zulassen usw.

3. Kurze historische Einblendungen ließen Situationen vor Augen treten, in denen einzelne Städte, Regionen oder Nationen den Streitigkeiten zwischen verschiedenen Ethnien, Berufsgruppen oder religiösen Bekenntnissen dadurch vorzubeugen versuchten, indem man ‚per Verordnung/ Gesetz‘ möglichst allen möglichst ‚gleiche Rechte‘ zusprach, so dass sich Teilgruppen nicht ‚zurückgesetzt‘, nicht ‚unterdrückt‘ fühlen mussten. In diesen Beispielen blitze auf, dass unterschwellig eine Anerkennung der Verschiedenartigkeit wichtig zu sein scheint, ein Respekt vor dem ‚anderen‘.

4. Denkt man auf dieser Linie weiter, dann wird klar, dass die Wahrnehmung von Verschiedenartigkeit voraussetzt, dass man als Betrachter eine ‚Vorstellung im Kopf‘ hat, eine ‚eigene Anschauung‘, ein ‚eigenes Modell des Alltags‘, anhand dessen man ‚Erwartungen‘ ausbilden kann, wie es ’sein sollte‘. Ist die Situation ‚anders‘ als man persönlich erwartet, erkennt man eine ‚Abweichung‘ von der Erwartung, entdeckt man eine ‚Verschiedenartigkeit‘. Je klarer die eigenen Erwartungen sind, um so eher entdeckt man Abweichungen. Jemand, der ein Smartphone, das auf dem Tisch liegt, spontan so anordnet, dass es ‚parallel‘ zur Tischkante liegt, folgt offensichtlich einem Modell des Alltags, in dem die Dinge ‚geometrisch geordnet‘ sein sollten. Eine Ehefrau, die ihren Mann kritisiert, dass er die ‚falschen Schuhe‘ anhabe, folgt offensichtlich einem anderen ‚Kleidungsmodell‘ als der Ehemann, der sich bis dahin ganz wohl mit seinen Schuhen gefühlt hatte. Usw.

5. Nun bildet unser Alltag eine schier unerschöpfliche Quelle von Ereignissen und Sachverhalten, die auf unsere persönliche Wahrnehmung treffen und damit auf unsere persönlichen ‚Weltmodelle‘. Bestimmte Bereiche des persönlichen Umfeldes (Wohnungen, Arbeitsplätze, Verkehrswege, ….) sind in der Regel eher ’stabil‘, zeigen wenig ‚Änderungen‘, sind mit unseren Erwartungen eher ‚konform‘ und sind daher eher selten Anlass zu Verschiedenartigkeiten. Aber auch hier, in den ‚vertrauten‘ Bereichen, kann es zu Veränderungen kommen: der Ehepartner ändert plötzlich etwas in der Wohnung, der Kollege ändert etwas im Büro, auf dem täglichen Verkehrsweg gibt es Änderungen: dies fällt un auf und je nach ‚Temperament‘ brausen wir auf, regen uns auf, fangen an zu schimpfen oder wir sind einfach erstaunt, lächeln, wundern uns, sind positiv überrascht usw.

6. Generell kann man sagen, je mehr verschiedene Menschen eine Situation teilen, je vielfältiger eine Gesellschaft ist, um so umfassender die Dynamik von Veränderungen ist, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir in unserem Alltag auf ‚Änderungen‘ treffen, auf ‚Verschiedenartigkeit‘, auf Abweichungen von unseren Erwartungen von dem, was wir persönlich al ’normal‘, als ‚zutreffend‘ empfinden.

7. Würden wir in einer Welt leben, die ‚unveränderlich‘ ist, in der alle Menschen ‚gleich‘ wären, dann gebe es keine Veränderungen, die von unseren Erwartungen abweichen würden. In einer statischen, monotonen Welt mit genormten Menschen (Maschinen?) wäre alles geregelt, als ‚klar‘, alles ‚fest‘. In solch einer Welt gebe es kein Probleme.

8. Die reale empirische Welt, in der wir uns vorfinden, ist aber, soweit wir wissen, ein durch und durch dynamisches Gebilde, das sich über alle Zeiten hinweg beständig verändert hat und weiter verändert. Jegliches biologische Leben auf diese Erde war nur lebens- und überlebensfähig, weil es durch und durch auf diese permanente Veränderung eingestellt war. Sowohl auf der genetischen Ebene, die verantwortlich ist für die Strukturbildung und die grundlegenden körperlichen Funktionen, wie auch auf der Phänomenebene mit der dynamischen Wahrnehmungsfähigkeit, dem dynamischen Gedächtnis, den dynamischen Bedürfnissen und Emotionen, sind biologische Systeme sehr stark auf Veränderungen, auf Wandlung eingestellt. Ohne diese grundlegende Anpassungs- und Lernfähigkeit wäre kein biologisches Leben auf diese Erde (und in diesem Universum) möglich.

9. Anders formuliert: die vorgegebene permanente Veränderung der Welt erfordert von biologischen Systemen eine minimale, hinreichende Anpassungsfähigkeit, die mit dieser Veränderlichkeit klar kommen kann. Wären die biologischen Systeme ’starr‘, ’statisch‘, ‚unveränderlich‘, dann würden sie in kürzester Zeit ’sterben‘.

10. Zwar ist es so, dass ‚Neues‘, ‚Unbekanntes‘, ‚Unklarheiten‘ tatsächlich Unruhe auslösen können, Ängste, weil man nicht weiß, ob und wie man mit diesem neuen Unbekannten ‚klarkommen wird‘. Aber eine Verhaltensstrategie, die versucht, Neues, Unbekanntes, Veränderung, Vielfalt ‚auszublenden‘ wäre eine Art ‚Verweigerung der Realität‘ und ist der schnellste Weg in einen Untergang.

11. Gilt also eine minimale Anpassungs- und Lernfähigkeit schon für jedes einzelne Lebewesen als Grundanforderung zum Leben, so stellt sich diese Forderung einer Anpassungsfähigkeit auch für komplexere soziale Systeme (Familie, Institutionen, Kommunen, Megastädte, Regionen, Nationen, …). Die ‚Infrastruktur‘ von Institutionen entscheiden wesentlich darüber, ob und wie Menschen in größeren sozialen Gebilden leben und arbeiten können.

12. Versteht man in diesem Zusammenhang ‚Toleranz‘ als jene Haltung, die einen einzelnen Menschen oder ein soziales Gebilde befähigt, mit der vorgegebenen Veränderlichkeit und Vielfalt im Alltag ‚umgehen‘ zu können, ohne auf Schritt und Tritt an Veränderungen zu scheitern, dann würde die ‚Fähigkeit zur Toleranz‘ bedeuten, dass jemand in einem ‚minimalen Umfang‘ in der Lage ist, mit ‚Abweichungen von seinen persönlichen Erwartungen‘ umgehen zu können.

13. Die Preisfrage ist dann, was heißt ‚minimaler Umfang‘? Im Falle von Naturgesetzen ist klar, dass die Vorgabe dessen, was ‚möglich‘ ist und was ’nicht möglich‘ ist, sehr eng begrenzt ist. Dies gilt dann für alle von der ‚Natur‘ geprägte Realität, z.B. auch unsere Ökosysteme. Je komplexer diese sind umso schwieriger wird es zwar im Einzelfall, genau zu bestimmten, worin genau die hier geltenden Gesetzmäßigkeiten bestehen, aber eine Zerstörung von Teilbereichen an vielen verschiedenen Stellen gleichzeitig führt unausweichlich zur Zerstörung des Gesamtphänomens, das sich über viele Milliarden Jahre mühsam aufgebaut hat. Im Falle von sozialen Verhaltensweisen und Technologie wird es hingegen immer schwieriger, im einzelnen abzuwägen, was tatsächlich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ‚gut‘, ‚angemessen‘, ’notwendig‘, ‚hilfreich‘ ist oder umgekehrt ’schlecht‘, ‚unangemessen‘, ’nicht notwendig‘ oder ‚hinderlich‘. Etwas einfach nur abzulehnen, weil es ‚anders‘ ist, ist kein hinreichender Grund. Im Gegenteil, der schnellste Weg zum Verfall, zum Tod ist das starre Festhalten an Bildern aus der Vergangenheit ohne Kontext und ohne Reflexion. Nicht jedes Neue ist automatisch ‚gut‘ und ‚wichtig‘, aber ohne die betändige ‚Produktion‘ von ‚Neuem‘ und ohne beständiges ‚Ausprobieren‘ hat das Leben auf Dauer keine Chance.

14. Aus der Notwendigkeit der kontinuierlichen Öffnung für ‚Neues‘ folgt zwangsläufig, dass es einen gewissen Prozentsatz an ‚Scheitern‘ geben wird und geben muss. Lebensförderndes ‚Neues‘ kann es nicht zum Nulltarif geben. Lebensförderndes ‚Neues‘ verlangt, dass man ‚ins Risiko‘ geht, dass man ‚etwas wagt‘, dass man etwas ‚probiert‘. Wenn wir alles schon kennen würden (aus der Vergangenheit), dann gäbe es nichts ‚Neues‘. Weil aber die umgebende Welt (mit uns als Teil) sich beständig verändert, beständig ‚Neues‘ produziert, müssen wir lernen, mit ‚Neuem‘ konstruktiv und möglichst sozial verträglich um zu gehen. In der Industrie wollen viele Firmen zwar ’neue Produkte‘, um auf den Märkten der Zukunft bestehen zu können, aber eine ‚Kultur des Neuen‘ ist bislang kaum Bestandteil einer Gesellschaft. Man verlangt zwar Kreativität, ist aber nicht wirklich bereit, eine entsprechende kreative Landschaft zu schaffen. Man verlangt neues Wissen für neue Technologien und soziale Systeme, ist aber nicht bereit, ein entsprechendes Innovationsklima und entsprechend kreative innovative Lern- und Forschungsräume zu schaffen. Statt für eine lebensfähige Zukunft zu kämpfen, kämpft das Kapital, kämpfen die ‚Mächtigen‘ eher für den Fortbestand kurzsichtiger Privilegien und frieren Potentiale ein, aus Angst um ihre eigene kleinliche Situation. Wenn ‚Reiche‘ sich in bewachte Ghettos zurück ziehen müssen, wenn politisch Mächtige sich hinter Bodygards und Statussymbolen verschanzen müssen, dann ist eine offene, kreative, innovationsfreudige Gesellschaft weit weg. Sicherheitsdenken, Klassendünkel, Privilegien, Sonderschutzzonen usw. sind keine gute Rahmenbedingungen, über nachhaltig Neues zu schaffen. Die fortschreitende Instrumentalisierung von Lernen und Forschen tut das seinige dazu.

Einen Überblick über alle Beiträge von cagent nach Titeln findet sich HIER.

WEISHEIT ALS REVOLUTIONÄRER BEGRIFF FÜR EINE ZUKUNFTSFÄHIGE WELT? MEMO philosophieWerkstatt v2.0 VOM Sonntag, 8.März 2015, 16:00 – 19:00h IN DER DENKBAR

MEMO zur philosophieWerkstatt v2.0 VOM Sonntag, 8.März 2015, 16:00 – 19:00h IN DER DENKBAR

PROGRAMM

Soundexperiment
Einführung ‚Weisheit‘
Gesprächsrunde

SOUNDEXPERIMENT

Bei diesem philosophisch motivierten Klangexperiment wurde dieses Mal eine Folge von Bildern mit einem Soundtrack korreliert. Aufgrund der knapp bemessenen Zeit wurde das Experiment verkürzt auf die Momente ‚Bilder ohne Klang‘ und dann ‚Bilder zusammen mit einem Soundtrack‘ (Wer es nachhören/-sehen möchte kann dies hier tun: BigBen, Wales, Translation-Wilderness. Der ursprüngliche Titel, der auch in der Philosophiewerkstatt benutzt wurde, hiess ‚Wale und die Ringe des Saturn‘.) Erst im Anschluss an eine Gesprächsrunde stellte dann der Künstler cagentArtist Hintergrundinformationen zu den benutzten Materialien zur Verfügung, den angewendeten Methoden und die ‚Idee der Aussage‘, wie sie sich nach drei Jahren darstellt: Die Wale im Ozean, in einer fremden Klangwelt, die hart, unerbittlich, zerstörerisch ist, eingebettet in die blaue Mystik des Meeres und der Walgesänge. Unsere menschenerzeugten Geräusche bilden für die Wale ein unerträgliches, fremdes, tödliches Chaos. Ein wenig kann man dies rleben, wenn man sich dem Stück tatsächlich aussetzt.

WEISHEIT, EINFÜHRENDE WORTE

Christian Hellwig gab dann eine kurze Einführung zum Thema „Weisheit”, aus seiner Sicht. Neben zahlreichen Gedanken zum Thema, angereichert mit einigen bildreichen Beispielen aus der Literatur, wurde u.a. ein Interview mit Ute Kunzmann in der Zeit (April, 2014), mit verteilten Rollen vorgelesen. Schließlich wurden aus einem Buch von Professor Baltes, dem Direktor des Berliner Max-Planck-Institutes (MPI) für Bildungsforschung, (Quelle muss präzisiert werden) sieben Eigenschaften vorgestellt, die charakteristisch für das Vorliegen von ‚Weisheit‘ sein sollen (hier stark vereinfacht):

1. Es geht um die Lebensführung als ganze
2. Man ist sich der Grenzen des Wissens bewusst
3. Ein beeindruckendes Wissen, allerdings nur in Annäherung an eine regulativ Idee
4. Das Wissen ist eingebunden in eine entsprechende Umsetzung/ Praxis
5. Synergie von Geist und Charakter
6. Sowohl das eigene wie auch das Wohl der anderen ist im Blick
7. Weisheit wird unmittelbar erkannt, wenn sie sich im Vollzug manifestiert

GESPRÄCHSRUNDE

1. Es folgte dann eine sehr angeregte Gesprächsrunde, an deren Anfang sehr viele Fragen standen, bei einigen ausgesprochene Skepsis und Unverständnis: völlig vager Begriff? Wozu nütze? Das ist doch überhaupt nicht wissenschaftlich, usw.

Diagramm Philosophiewerkstatt 8.März 2015 - Strukturelemente von 'Weisheit'
Diagramm Philosophiewerkstatt 8.März 2015 – Strukturelemente von ‚Weisheit‘

2. Im Laufe des Gespräches kristallisierten sich dann aber schrittweise Deutungen heraus, Erklärungen, die mehr und mehr das Interesse weckten. Obwohl keine ausführliche historische Analyse vorgelegt worden war, führten die Bemerkungen der TeilnehmerInnen mehr und mehr zu einem komplexen Bild, das einerseits sowohl wichtige Hauptrichtungen der Philosophiegeschichte widerspiegelte, in manchen Punkten aber sogar darüber hinaus zu gehen scheint.

3. Die Kernidee schien die zu sein, dass das ‚Wesentliche‘ der ‚Weisheit‘ nicht in einzelnen Aspekten für sich zu suchen sei (besonderes Wissen, besondere Erfahrung, besondere Klugheit, besondere Verantwortung, …) sondern in einem besonderen charakteristischen ‚Zusammenspiel‘ aller Momente, ganz im Sinne des geflügelten Wortes, dass die’Summe mehr ist als ihre Teile‘.

4. Als ‚Summe der Teile‘ muss Weisheit etwas sein, was man (im Sinne von Baltes) unmittelbar als solche erkennen kann, da nur Weisheit diese komplexe emergente Qualität besitzt.

5. Für manchen mag dieser emergente komplexe Charakter von Weisheit gegen seine Wissenschaftlichkeit sprechen, das muss aber nicht so sein. Viele wichtige physikalische Größen sind mittlerweile so, dass sie nicht im einzelnen Messwert erkannt werden können, sondern nur unter Voraussetzung einer abstrakten mathematischen Struktur kann jener Zusammenhang sichtbar gemacht werden, der sich zwar in vielen einzelnen Messwerten zeigt, aber nicht aus den einzelnen Messwerten als solchem ‚herausgelesen‘ werden kann. Letztlich sind alle funktionalen Zusammenhänge per Definition Metakonstrukte zu jenen Elementen, die durch sie ‚geordnet‘ werden.

6. Bedenkt man dies, dann hat ein solcher emergenter Weisheitsbegriff nicht nur nichts ‚Anrüchiges‘, sondern eröffnet überhaupt die Möglichkeit, die vielen Teilaspekte eines Menschen in einem größeren Zusammenhang zu betrachten, und dies ganz ‚wissenschaftlich‘, wenn man will.

7. Unter anderem kann man hier auch z.B. den Ansatz der Existenzphilosophie zwanglos einordnen. Dieses ’sich Vorfinden im Sein‘, das in der existentiell erfahrbaren ‚ontologischen Differenz‘ einen weiterverweisenden – transzendenten – Seinshorizont auszumachen meint, wäre interpretierbar als die subjektive Seite der systemischen Situation, dass der einzelne sich innerhalb der biologischen Evolution in einer körperlichen Struktur vorfindet, die ihm Anteil gibt an einer spezifischen endlichen Welterfahrung, die trotz ihrer Endlichkeit eine ‚eingebaute‘ ontologische Differenz enthält, die jedes individuelle System unausweichlich auf einen größeren Zusammenhang verweist, der sich in vielen konkreten Details manifestiert, der aber als solcher niemals ganz einlösbar ist (regulativ Idee).

8. Damit verweist das Ideal einer individuellen Weisheit aber auch unausweichlich auf den je größeren Zusammenhang einer Population, da es nur als Element einer solchen vorkommt und lebensfähig ist.

9. Eine Population ist dann auch wieder – wenn auch auf einer neuen Ebene – mehr als die Summe ihrer Teile = Mitglieder.

10. Im Unterschied zur tierischen Schwarmintelligenz – besonders beeindruckend bei den Insekten – ist aber die ‚Intelligenz der menschlichen Population‘ (hier gedeutet als ‚Weisheit der Population‘) nicht deterministisch wie bei den Insekten, sondern enthält einige Freiheitsgrade zusammen mit adaptiven Lernmechanismen, die keinen reinen Automatismus erlauben. Die Weisheit der Population des homo sapiens funktioniert nur, wenn eine Reihe von Rahmenanforderungen (quasi als ‚transzendentale Bedingungen‘) erfüllt werden. Diese sind sehr herausfordernd.

11. ‚Populationsweisheit‘ verlangt u.a.
– eine angemessene Kommunikation aller Teile der Population miteinander
– eine angemessene Politik, die gemeinsam erkannte Richtungen entsprechend umsetzt
– ohne eine angemessenes Wissen wird ein realistisches Überlebensverhalten nicht möglich sein
– ohne eine angemessene Technologie auch nicht
– ohne angemessene ‚Präferenzsysteme‘ (Normen, Vorschriften, Werte, …) wird Kommunikation und Handeln im Chaos versinken (diese Präferenzsysteme müssen aber radikal transparent sein und müssen sich aus den erkennbaren Prozessen der realen Welt und der Lebensnotwendigkeiten ableiten lassen)
– usw.

12. In der Populationsweisheit fließt all dies im optimalen Fall zusammen.

13. Treffen diese Überlegungen aus dem Gespräch zu, dann deutet sich zur Frage nach der Entstehung von Weisheit ein Doppeltes an: einerseits ist der emergente Charakter von Weisheit in der Struktur des biologischen Lebens als Teil des kosmischen Prozesses angelegt; andererseits ist es kein völlig determiniertes Phänomen. Es kann sich in eine bestimmte Richtung weiter entwickeln, es muss aber nicht. In dem Masse, wie es zur ‚Selbststeuerung‘ (individuell, als Population, …) fähig wird, muss es sich selbst und seine Umgebung immer besser verstehen. Dies geht nur über mehr konstruktive Kooperation, über mehr fundiertes Wissen, über bessere Moral, usw. Kann letztlich nur gelingen, wenn man voraussetzt, dass das vorfindliche je größere Ganze (das bekannte Universum, das unbekannte Universum) ‚in sich‘ ‚gut‘ ist. Wäre dem nicht so, hätte Weisheit keine Chance. Dies bedeutet, dass Weisheit nur zur ‚Vollendung‘ kommen kann, wenn sie ‚an sich‘ glaubt‘ und die vorfindliche Welt ‚in sich‘ schon immer auch ‚gut‘ ist.

14. Was hier wie ein Paradox erscheint ist aber nicht so ungewöhnlich, wie es im ersten Moment erscheinen mag: die gesamten Naturwissenschaften leben davon, dass sie zunächst daran glaubt, dass die zu untersuchende Natur ‚in sich‘ ‚gesetzmäßig‘ ist und auf der Basis dieses ‚Glaubens‘ werden Experimente durchgeführt, die mögliche Regelhaftigkeiten enthüllen, die in Form von vorwegnehmenden mathematischen Strukturen auf eine Allgemeinheit hin gedeutet werden, die so niemals beobachtbar ist und auch niemals beobachtbar sein wird. Auch in der Naturwissenschaft ist der Moment des Glaubens konstitutiv. Insofern unterscheidet sich die Erforschung einer übergreifenden ‚Weisheit‘ in nichts von irgend einer anderen naturwissenschaftlichen Erforschung.

15. Der ‚Keim‘ zur ‚Weisheit‘ ist so gesehen quasi bei jedem ‚angeboren‘? Dennoch muss man sie mühsam lernen, so wie wir Menschen alle wichtigen Dinge mühsam lernen müssen. So wie auch sonst die einen eher begabt sind für eines, andere für anderes, so gibt es dann auch sicher unterschiedliche Begabungen für Weisheit. Im Gegensatz zu Spezialbegabungen kann man aber ‚Weisheit‘ nicht so einfach lernen wie eine bestimmte Sprache, Mathematik, Auto fahren, usw., sondern Weisheit als ‚Zusammenspiel‘ aller Komponenten auf einer ‚höheren Ebene‘ folgt einem eher komplexen Bildungsprozesse, der von außen zwar ‚angeregt‘ werden kann, der aber letztlich von jedem ‚eigenständig‘ ‚gefunden‘ und ‚gemeistert‘ werden muss. Es gibt keine Garantien. Ein ‚weiser‘ Mensch dürfte also genauso ein Geschenk an alle sein wie die verschiedenen Sonderbegabungen, die immer wieder herausragen und begeistern.

16. Da ‚Weisheit‘ etwas Einzigartiges ist, kann man es auch nicht durch Verweis auf etwas anderes erklären. Weisheit steht ‚für sich‘; da nach Annahme alle Menschen in Richtung möglicher Weisheit ‚geboren‘ werden, muss man annehmen, dass jeder Mensch eine Art ‚Instinkt für Weisheit‘, eine grundlegende Wahrnehmungsfähigkeit dafür besitzt. Nur dann wäre er in der Lage,Weisheit zu erkennen, sich sich im Verhalten von Menschen, Menschengruppen, biologischen Systemen usw. ‚manifestiert‘. ‚Nichtwissen‘ und ‚Passivität‘ wären klare Verhinderungsfaktoren sowohl für Weisheit wie deren Wahrnehmung.

17. Da wir wissen, dass die Verteilung von geistigen Fähigkeit unter Menschen dem Gesetz der natürlichen Verteilung folgt, scheint es wahrscheinlich, dass dies auch auf die Fähigkeit der Weisheit zutrifft; wirklich weise Menschen oder menschliche Organisationen werden eher rar sein. Und sie sind nicht absolut stabil. Im Laufe der Geschichte sind viele Kulturen zugrunde gegangen, auf die einige der Eigenschaften von ‚Weisheit‘ zutrafen. Nicht selten wurden auch ‚weise‘ Menschen von der Gesellschaft geächtet oder getötet, weil ‚die anderen‘ sie nicht verstanden und abgelehnt haben. Von daher ist die Eigenschaft, als ‚weise‘ zu gelten, nicht unbedingt ‚attraktiv‘.

18. Aus der Natur der Weisheit folgt auch, dass man sie kaum explizit definieren kann. Als emergente Größe, die sich im Laufe des kosmischen Prozesses nur langsam, schrittweise zeigt, und zwar nicht als endgültig erkannte Struktur, sondern als sich schrittweise ‚andeutende‘ Struktur, ist sie eine Größe, die erst im Laufe der Jahrmilliarden langsam bekannt werden wird, sofern man sie überhaupt ’sucht‘.

EINIGE WEITERE FRAGEN

19. Was würde man sich von einem weisen Menschen erwarten?

20. Möchte man selber ‚weise‘ sein? Falls ja: was würde man sich persönlich davon versprechen? Falls nein: wovor hätte man Angst?

23. Was würde man von einer ‚weisen‘ Gesellschaft erwarten? Hätte asozialer globaler Kapitalismus darin einen Platz?

24. Was ist mit einer Politik, die im Namen der Sicherheit die ‚Privatheit‘ immer mehr aushöhlt und damit der notwendigen Spielweise für Weisheit den Raum nimmt: wie würde eine ‚weise Sicherheitspolitik‘ aussehen?

25. Was ist mit gesellschaftlichen Tendenzen, in denen sich Klassen bilden, die sich gegeneinander abschotten: wird damit nicht die Forderung nach gemeinsamer Kommunikation und Kooperation im Kern unmöglich gemacht?

26. Was ist mit der Instrumentalisierung der Medien durch einseitige Machtinteressen: wird damit das notwendige Medium der Öffentlichkeit für eine gemeinsame Kommunikation nicht zerstört?

27. Was ist mit den partikulären, rückwärtsgewandten und wissensfeindlichen Religionen: verhindern sie nicht die notwendige Weiterentwicklung der Weisheit als universalem Gut für Alle?

28. Usw.

THEMENVORSCHLAG NÄCHSTES TREFFEN

Neben der Einladung an jeden, etwas aus eigener küntlerischer Aktivität vorzustellen und es aus philosophischer Sicht zu betrachten, einigte sich die Gruppe auf den Themenvorschlag:

Was hat ein ‚künstlicher‘ Geist mit einem ‚biologischen‘ Geist gemeinsam, und was nicht? Zusatzfragen: Würde auf einen künstlichen Geist der Begriff der ‚Menschenwürde‘ zutreffen‘. Kann ein künstlicher Geist ‚weise‘ sein? Sind künstlicher und biologischer Geist nicht schon längst ’symbiotisch vereint‘?

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge zur Philosophiewerkstatt nach Titeln findet sich HIER.

WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 8

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgte dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte. Dieser endet für Tiedemann in einer ‚Verwirrung‘. Er versuchte daraufhin eine weitere Klärung über die ‚Wortbedeutung‘ im Kapitel 4. Dieser ‚Umweg‘ über die Wortbedeutung wird in seiner Methodik nicht selbst problematisiert, liefert aber für den Fortgang der Untersuchung im Buch einen neuen Anknüpfungspunkt durch das Konzept des Werturteils. Es folgt dann der Versuch, einen absoluten Referenzpunkt für Werturteile zu identifizieren, mittels dem sich dann vielleicht das Werturteil als grundlegend erweisen lässt. Diesen absoluten Referenzpunkt findet P.Tiedemann in der ‘Identitätstheorie der Menschenwürde’: diese geht aus von einer grundsätzlichen Selbstbestimmungskompetenz des Menschen und enthält als ein Moment auch den Aufbau einer individuellen Identität (‘Ich’). Dann folgt eine Anzahl möglicher Einwände gruppiert nach vier Themen: Anderer, Determiniert, Böse, nichtpersonale Menschen.

Es folgen nun weitere Präzisierungen.

KAPITEL 7 (SS.119-148)

Tiedemann (2014), Stichworte Kap.7
Tiedemann (2014), Stichworte Kap.7

1. Der Begriff der ‚Selbstbestimmung‘ mit dem Moment der ‚Willensfreiheit‘ klingt für die meisten zu Beginn sehr abstrakt. Geht man aber den verschiedenen Konkretisierungen nach, die diesem Begriff im Laufe der Geschichte zugeordnet wurden – zumindest in aufgeklärten, säkularen Gesellschaften –, dann kann man sehr schnell ein ‚Gefühl‘ dafür entwickeln, was mit ‚Menschenwürde‘ als ‚Selbstbestimmung‘ an Werten verbunden ist.

2. Das Schaubild zeigt hin auf die verschiedenen Achtungsbereiche, die Paul Tiedemann mit dem Begriff ‚Menschenwürde‘ in Verbindung sieht. Sehr anschaulich führt er die verschiedenen Punkte aus, so dass man nachvollziehen kann, wie verschiedene Verhaltensweisen/ Lebensweisen tief in das Selbst- und Lebensgefühl eines Menschen eingreifen können, bis dahin, dass er in der Wurzel getroffen, verletzt oder gar nachhaltig zerstört wird. Es sind weniger die äußerlichen Dinge als solche, sondern ihre Wirkung auf das ‚Innere‘ eines Menschen, sein Fühlen, seine Fähigkeit zu vertrauen, sein Denken usw.

3. Es werden jetzt hier nicht die vielen Details wiederholt; dies sei der eigenen Lektüre jeden Lesers vorbehalten. Nur ein paar wenige Anmerkungen.

KRITISCHER DISKURS

4. Wenn zuvor einige Male kritisch angemerkt wurde, dass die Methodik der Klärung der ‚Bedeutung‘ unbefriedigend war, so erwecken diese konkret-anschaulichen Beispiele des Kap.7 aus den unterschiedlichen Bereichen den Eindruck, als ob solch ein ‚bottom-up‘ Ansatz möglicherweise — auch ganz im Sinne der Sprachspielidee vom späten Wittgenstein – der ‚realistischere‘ Ansatz sein könnte, um im Lichte eines aufgeklärten säkularen Menschenbildes jene Handlungsansätze sichtbar zu machen, die auf die inneren Prozesse eines Menschen schwächend, behindernd, verletzend, zerstörerisch einwirken.

5. All die angestrengten Versuche, eine gewisse ‚Absolutheit‘ zu retten, deren Umschreibung und Definition letztlich dann doch an der unüberwindlichen Endlichkeit unsres Wissens scheitern muss, würde möglicherweise überzeugender erscheinen, wenn es nicht um eine metaphysische Absolutheit ginge sondern um eine empirisch motivierte abstrakte Struktur, die sich im Wechselspiel von hypostasierter Struktur und empirischem Verhalt jene ‚Achtung‘ erwerben würde, die der ‚Realität‘ als unhintergehbarer Vorgabe vorbehalten ist.

6. Die Zahl und Qualität jener Situationen, die wir heute in ihrer Bedeutung für eine positiv-konstruktive Entwicklung eines Menschen empirisch begründet einschätzen können, ist mittlerweile so groß und inhaltlich so reichhaltig, dass wir nicht nur die klassischen Begriffe von Selbstbestimmung weiter verwenden könnten, sondern eben ein großes Netzwerk von Eigenschafte unter einem dynamischen Prozessmodell versammeln könnten, das einen ‚Quasistandard‘ für Menschenwürde darstellen würde. Der Mangel an metaphysischer Absolutheit würde durch empirische Gültigkeit und wachsender Differenziertheit möglicherweise mehr als aufgewogen.

7. Ein letztes Urteil hierzu kann aber erst in der Abschlussreflexion gewonnen werden.

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

Einen Überblick über alle Blogeinträge von cagent nach Titeln findet sich HIER: cagent.

Einen Überblick über alle Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER: Blog gesamt.

WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 7

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgte dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte. Dieser endet für Tiedemann in einer ‚Verwirrung‘. Er versuchte daraufhin eine weitere Klärung über die ‚Wortbedeutung‘ im Kapitel 4. Dieser ‚Umweg‘ über die Wortbedeutung wird in seiner Methodik nicht selbst problematisiert, liefert aber für den Fortgang der Untersuchung im Buch einen neuen Anknüpfungspunkt durch das Konzept des Werturteils. Es folgt jetzt der Versuch, einen absoluten Referenzpunkt für Werturteile zu identifizieren, mittels dem sich dann vielleicht das Werturteil als grundlegend erweisen lässt. Diesen absoluten Referenzpunkt findet P.Tiedemann in der ‘Identitätstheorie der Menschenwürde’: diese geht aus von einer grundsätzlichen Selbstbestimmungskompetenz des Menschen und enthät als ein Moment auch den Aufbau einer individuellen Identität (‘Ich’).

Es folgen nun mögliche Einwände gegen diese Deutungshypothese.

KAPITEL 6 (SS.103-118)

Tiedemann (2014), Kap.6, Stichworte
Tiedemann (2014), Kap.6, Stichworte

1. Paul Tiedemann versucht auf mögliche wichtige Einwände gegen seinen Deutungsansatz einzugehen. Er greift dazu vier wichtige Punkte auf: ‚Bezugspersonen‘, ‚Determinismus‘, das ‚Böse‘ und ‚Nichtpersonale Menschen‘.

(NICHT)ANERKENNUNG VON BEZUGSPESONEN (103f)

2. Die Anerkennung von Menschenwürde in jedem Menschen setzt voraus, dass ich Menschen nicht nur nach seiner ‚Nützlichkeit‘, seiner ‚Brauchbarkeit‘ bewerte, also nach einem möglichen ‚Preis‘, sondern nach seiner grundsätzlichen Fähigkeit der Selbstbestimmung und persönlichen Identitätsausbildung. In dieser Hinsicht haben alle Menschen die gleiche Würde und bilden darin für jeden den Kontext meiner ‚Menschwerdung‘.

DETERMINISMUS – KEINE WILLENSFREIHEIT (105-107)

3. Hier greift Paul Tiedemann neuere Befunde von Neurowissenschaftler auf, nach denen die Messwerte zu ‚bewussten Entscheidungen‘ zeitlich später sind als die Messwerte, die mit den ‚aus den Entscheidungen folgenden Ereignissen korrelieren‘ sollen. Statt diese neurowissenschaftlichen Behauptungen zu hinterfragen (da gäbe es genug Fragepunkte) lenkt Tiedemann den Blick – dabei dem Philosophen Bieri folgend – auf den ganzheitlichen Charakter unseres Entscheidens. Jedes Entscheiden ist ein komplexer Prozess, bei dem viele wechselseitige Abhängigkeiten bestehen und es nicht darum gehen kann, keinerlei Voraussetzungen zu haben, sondern im Feld der unterschiedlichen Voraussetzungen jene zu selektieren, die in diesem Kontext eine Präferenz besitzen.

4. Selbst wenn verfügbares Wissen unvollständig und falsch sein kann, schließt Tiedemann nicht aus, dass wir faktisch Entscheidungen treffen können, da wir grundsätzlich in unserem Entscheidungsraum selektieren und entscheiden können. Zugleich gibt es ‚Schuldgefühle‘ und ‚Schamgefühle‘ und ‚Dankbarkeit‘.

5. Ganz wichtig: diese Phänomene haben nach Tiedemann die höchste Priorität unabhängig davon, ob und wie man sie philosophisch erklären kann. (vgl. S.107)

DAS BÖSE (108-111)

6. Wenn die Willensfreiheit in jedem Menschen einen absoluten Wert darstellt, warum erkennen dann trotzdem Menschen andere Menschen in ihrer Würde nicht an? Zwar setzt Tiedemann voraus, dass Menschen grundsätzlich über ein Wertgefühl verfügen, das sich in Gestalt von ‚Konsonanz-‚ und ‚Dissonanzgefühlen‘ zeigt, aber er konstatiert, dass es dennoch Menschen gibt, die aus vielerlei Faktoren (Dummheit, andere ’niedere‘ Interesse, …) dem absoluten Wert dennoch keinen Vorzug, keine Präferenz geben.

7. Erfolgt solch ein Nichtbefolgen unter ‚bewusster Unterdrückung‘ höherer Werte, dann wir dies entsprechend ‚empfunden‘ (‚Scham‘, ‚Dissonanz‘, ‚Schlechtes Gewissen‘ …) und in diesem Fall ist dieses Handeln ‚böse‘.

8. Liegen solche Gefühle einer ‚Dissonanz mit dem absoluten Wert‘ vor, dann können sich daraus weitere Gefühle wie ‚Scham‘, ‚Wut‘ usw. ergeben.

NICHTPERSONALE MENSCHEN (111-118)

9. Schließlich stellt sich auch die grundlegende Frage, unter welchen Bedingungen man einem (biologischen?) Wesen Willensfreiheit und damit die Voraussetzung für Person sein, Menschenwürde unterstellen muss?

10. Anhand von Grenzfällen (schlafender Mensch, bewusstloser Mensch, Embryo …) führt Tiedemann den Begriff der ‚aktiven Potentialität‘ ein. Damit ist gemeint, dass man bei einem Menschen aufgrund seiner biologischen Verfasstheit davon ausgehen kann, dass er sich – nach der Vereinigung von Sperma und Ei – unter ’normalen Umständen‘ zu einem Wesen entwickeln wird, das das Kriterium der Willensfreiheit und Selbstbestimmung erfüllt. D.h. es ist dieses Wissen um den kommenden Zustand (‚aktives Potential‘), wodurch wir befähigt sind, sowohl die ‚Menschenwürde‘ im anderen zu sehen als auch in uns aktiv zu leben.

11. Dass es Menschen gibt, die aufgrund von Krankheit oder einer belastendenden Biographie in ihrer Fähigkeit eingeschränkt sind, ihre Selbstbestimmung samt Anerkennung der anderen ‚in vollem Umfang‘ zu leben, darf nach Tiedemann kein Grund dafür sein, diesen Menschen die Menschenwürde abzusprechen. Solange diese teilweise ihre Selbstbestimmung noch wahrnehmen können oder potentiell ihre volle Selbstbestimmung wiedergewinnen könnten, gehören sie in den Bereich der Anerkennung von Menschenwürde.

12. Grenzfälle liegen vor, wenn alle verfügbaren Kriterien keinen Ansatzpunkt für eine aktuelle oder potentiale Selbstbestimmung mehr erkennen lassen (z.B. ‚klinisch tote Menschen‘). In diesem Fall verlieren sie den Anspruch auf Menschenwürde.

KRITISCHE DISKUSSION

13. An dieser Stelle eröffnen sich viele Fragen. Zunächst mal ein sehr genereller Eindruck: wenn man die vorausgehenden, z.T. sehr grundsätzlichen Überlegungen erinnert, in denen um die ‚Absolutheit‘ des Anspruchs gerungen wurde, dann wirken die Klärungen zu den vier Einwänden allesamt eher ‚pragmatisch‘, ad hoc, und nicht sehr ‚philosophisch‘.

14. Allen vier Einwänden gemeinsam ist die Dimension der ‚realen Welt‘ als Ort, von dem wir wissen, dass wir hier allenthalben nur über begrenzte Einsichten verfügen, über endlichen Ressourcen, nur über fehlbares Wissen, und wo fehlbare Entscheidungen getroffen werden.

15. Was nützt es uns da überhaupt, die Existenz eines ‚absoluten Wertes‘ zu postulieren, wenn er weder erkennbar noch lebbar ist?

16. Natürlich wissen wir im nächsten Atemzug, dass wir ohne solch ein Postulat in einer scheinbaren ‚Beliebigkeit‘ versinken, in ein ‚anything goes‘, alles geht.

17. Und von daher versucht Paul Tiedemann gegen mögliche Einwände die Menschenwürde als ‚absoluten Bezugspunkt‘ zu bewahren.

Zu: EMPIRIE DER AKTIVEN POTENTIALITÄT

18. Zunächst einmal versucht Paul Tiedemann den Gegenstandsbereich mit dem Begriff der ‚aktiven Potentialität‘ zu bestimmen. Damit nimmt er aber in Kauf, dass er sich hier nicht auf reine philosophische Prinzipien gründen kann, sondern dass er auf ‚Erfahrung‘ rekurrieren muss, auf empirische Erfahrung. Denn ohne diese gibt es kein Wissen um ‚potentielle Entwicklung von biologischen Systemen‘.

19. Damit wird klar, dass die Anerkennung des Anderen als einer mit Menschenwürde ausgestatteten Person in direkte Abhängigkeit von einem komplexen empirisch-theoretischen Wissensnetz gerät, ohne das Entscheidungen gar nicht möglich sind (und in der Vergangenheit auch unterschiedlich ausfielen, je nach Wissensstand).

Zu: ANERKENNUNG DES ANDEREN

20. Neben der zuvor festgestellten stark empirisch beeinflussten Einschätzung der ‚absoluten‘ Fähigkeiten eines Menschen gibt es aber auch auf Seiten des jeweiligen Akteurs, der jemanden anerkennen soll, das Phänomen eines begrenzten Wissens, eingebettet in soziale-kulturelle Muster, biographische Belastungen, bedürfnis- und trieb-beeinflussten Bewusstseinszuständen, die eine ‚optimale‘ an ‚absoluten Werten orientierte Entscheidung kaum erlauben. Die absolute Idee einer absoluten Menschenwürde zu postulieren bei gleichzeitiger Anerkennung der empirisch-praktischen Unmöglichkeit, diese immer und überall einlösen zu können, wirft Fragen auf.

Zu: DAS BÖSE

21. Die Annahme, dass Menschen kognitive ‚Konsonanz‘ oder ‚Dissonanz‘ verspüren, dazu weitere orientierende Empfindungen wie ‚Scham‘, ‚Wut‘, Schuld‘ usw. basiert letztlich auf empirischen Annahmen. Die Vielzahl der berichteten Gefühle, ihr wesentlich ’subjektive‘ Charakter, der klare Aussagen nicht zulässt, war bislang immer Quelle vieler Hypothesen und Widersprüchlichkeiten; eine klare empirisch-wissenschaftliche Forschungslage kann ich nicht erkennen.

22. Aus dieser Unvollkommenheit er Erkenntnislage folgt nicht notwendigerweise, dass diese Phänomene unwichtig sind. Letztlich hängt an dieser Art von Phänomenen viel von dem was man ‚Spiritualität‘ hängt, von ‚innerer religiöser Orientierung‘.

23. Allerdings ist schwer zu sehen, wie man bei einer solch unüberschaubaren Phänomenlage daraus die These ableiten kann, dass Menschen, die ’nicht‘ die Absolutheit des Wertes der Menschenwürde im anderen hinreichend erkennen, deswegen unausweichlich etwas ‚Böses‘ tun. Eher würde man daraus die Notwendigkeit ableiten können, sich umfassend für eine ’notwendige Aufklärung‘ einsetzen zu müssen, die die sozialen Voraussetzungen für eine entsprechende Erkenntnis liefern könnte. Dies wiederum würde entsprechende Strukturen von Öffentlichkeit und Bildung implizieren.

Zu: DETERMINIERTHEIT

24. Die Fokussierung der Argumentation auf die – wenngleich eingeschränkte – Fähigkeit zur Entscheidung in einem Feld von phänomenalen Wechselbeziehungen setzt die Argumente der Neurowissenschaftler (sofern sie überhaupt so zutreffen) nicht wirklich außer Kraft. Deren Argumentation stellt ja die Kausalität von Wollen zum Tun grundsätzlich in Frage. Damit würde das Konzept der Willensfreiheit und der Selbstbestimmung grundsätzlich aufgehoben (zumindest im bisherigen Sinne).

25. Aus diesen Gründen scheint mir eine wissenschaftstheoretische Analyse der neurobiologischen Argumentation nicht nur geraten, sondern geradezu unumgänglich.

26. An anderer Stelle in diesem Blog wurden die Methodenprobleme der Neurowissenschaften ja schon mehrfach diskutiert (siehe alle Beiträge zu den Kategorieen, die mit ‚Neuro…‘ beginnen). Die Korrelation von Messwerten aus dem Bereich Gehirn (M_nn) und solchen aus dem Bereich Bewusstsein (M_ph) ist in sich mehrfach problematisch:

27. Das ‚genaue‘ Messen im Bereich Gehirn ist bis heute nur in sehr eng umgrenzten Bereich von wenigen Neuronen möglich. Da wir wissen, dass komplexen kognitiven Prozessen höchst komplexe Prozesse mit vielen Millionen verteilten Neuronen korrespondieren können – wo bis heute nicht in allen Details klar ist, was mit wem wie warum wann interagiert –, nützt die ‚genaue‘ Messung von einzelnen Neuronen nicht all zu viel. Solche Einzelereignisse mit komplexen kognitiven Prozessen zu korrelieren erscheint fragwürdig.

28. Das ‚genaue‘ Messen im Bereich subjektiver Phänomene war noch niemals möglich und ist bis heute nicht möglich; was wir haben sind vage symbolisch vermittelte Beschreibungen von Phänomenen, von denen niemand weiß, was wirklich damit gemeint ist, nicht einmal derjenige, der die Beschreibung liefert. Von ‚Vergleichbarkeit‘ der ‚Bedeutungen‘ kann keine Rede sein.

29. Will man nun eine Korrelation herstellen zwischen vagen subjektiven Sachverhalten mit gemessenen neuronalen Erregungsmustern, so sind mehr Fragen offen als beantwortet. Abgesehen davon, dass man nicht weiß, was denn da überhaupt gemessen wurde bietet die zeitliche Lokalisierung weitere Probleme. Mag man bei neuronalen Prozessen manche Vorgänge im Millisekundenbereich messen können, im Falle komplexer subjektiver Empfindungen, die sprachlich oder instrumentell kodiert werden, wird man wohl kaum zu zeitlich genauen Lokalisierungen kommen können.

30. Demnach müsste man das berichteten neurowissenschaftlichen Experiment erst einmal einer kritischen wissenschaftstheoretischen Überprüfung unterziehen, bevor an seine Argumente übernimmt. Begriffe wie ‚Wille‘, ‚Willensentscheidung‘, ‚Willensfreiheit‘ sind in der wissenschaftlichen Psychologie bis heute nicht wirklich befriedigend definierbar.

VORLÄUFIGES FAZIT

31. Man sieht, die Position von der ‚Identitätstheorie der Menschenwürde‘ wirft genügend Fragen auf, deren Beantwortung nicht ganz so einfach ist.

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

Einen Überblick über alle Blogeinträge von cagent nach Titeln findet sich HIER: cagent.

Einen Überblick über alle Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER: Blog gesamt.

POETISCHE MOMENTE UND WAHRHEIT – oder: WAHRHEIT UND POETISCHE MOMENTE

Letzte Änderung: 16.März 20:15, 23:23h (Hinzufügung von Soundtracks zu den beiden poetischen Texten)

1. Getrimmt auf Präzision, auf formale Präzisierung, auf Strukturenwahrnehmung in der Gegenwart besteht schon die Gefahr, bisweilen, Zwischentöne zu verpassen. Denn unser ‚Verstand‘, diese geheimnisvolle Fähigkeit des ‚Ordnens‘ von Phänomenen, besitzt auch einen Modus der ‚Selbstwahrnehmung‘, die etwas über ihn selbst verrät; etwas, nicht alles; aber immerhin.

2. So kann es z.B. zu folgender Beobachtung kommen:

funken des anderen?

das lachen klang nach
verlor sich im raum
der angst, die hervorkroch
aus dem dunkel des unbekannten.
ein lichtstrahl erlosch, kaum
das er aufgeblitzt war,
als die angst hervorkroch
aus dem dunkel in dir.
bleibst du stehen, dann?
verharrst du im schweigen?
wie gelähmt von dir selbst?
oder hast du in dir
diesen funken des anderen,
dieses glühen von vertrauen
das zugeht auf dunkelheit,
das aus sich leuchtet, stark,
und du schaust wo der schalter ist
für mehr licht in unserem leben?
hast du das?

Hier eine Vertonung von ‚funken des anderen‘.

3. Poetisierende Texte sind vieldeutig. Klingen an, lassen anklingen, inspirieren. In der Tat gibt es viele alltägliche Situationen, in denen wir manchmal bewusst, meist eher unbewusst, an Punkte geraten, wo wir zurückzucken, einen Gedanken nicht denken wollen, einen Tat nicht tun wollen, weil in uns dieses diffuse, schwer fassbare Gefühl auftaucht, das uns warnt, Angst macht; was, wenn es schief geht? Was werden die anderen denken? Machen sie sich dann lustig über mich? Bin ich dann der Dumme?

4. Dies trifft jeden, überall, auch – und gerade? – renommierte Wissenschaftler. Wie viele zentrale Probleme schleppt die Wissenschaft seit Jahrzehnten mit sich herum, und doch – wie bei unsichtbaren schwarzen Löchern – meiden alle bestimmte Überlegungen, meiden alle bestimmte Methoden, meiden alle bestimmte Fragen, weil niemand der erste sein will, da er / sie sich ‚verbrennen‘ könnte.

5. Oder all die religiös Überzeugten, die über nichts diskutieren wollen: sie verteidigen eine Wahrheit, von der niemand weiß, ob sie stimmt, weil niemand bereit ist, sie zu überprüfen. Man kann zwar andere verurteilen, ihnen die Köpfe abschlagen, sich selbst aber eine einfache Frage zuzumuten, das kann man nicht.

6. Da die ‚innere Angst‘ vor dem unbekannten Scheitern sich wie ein roter Faden durch alle Menschen und damit alle menschliche Situationen zieht, habe wir hier eine unsichtbare Realität, die sich dahingehend auswirkt, dass die ‚reale‘ Realität dadurch verzerrt wird. Nicht nur die ungeheure Masse eines physikalischen schwarzen Lochs kann das Licht ablenken, auch die psychischen Ängste in jedem von uns können unsere Wahrnehmung der Welt, des anderen, beeinflussen, und auch unsere Taten. Damit entsteht in jedem Augenblick ein Stück Verzerrung, die sich milliardenfach vervielfacht und eine Welt in den Augen der Betrachter erscheinen lässt, die es so vermutlich gar nicht gibt, nicht als reale Welt, aber als eingebildete.

7. Die schier unfassbare Maschinerie allein der US-amerikanischen Geheimdienste ist ‚rational‘ betrachtet ‚irrational‘, aber vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen ‚inneren Angst‘ naheliegend und unausgesprochen ‚plausibel‘. Wer ‚aus der Angst‘ lebt, der kann sich nicht vorstellen, dass es anders sein kann, dass die ‚reale‘ Welt vielleicht ganz anders ist.

8. Und die vielen unfassbaren Grausamkeiten, die weltweit zu beobachten sind, deuten an, dass die ‚innere‘ Angst umfassend und mächtig ist.

9. Wir wissen, dass ein menschliches Leben letztlich nie isoliert möglich ist; wir hängen nahezu vollständig von einem komplexen Netzwerk von Voraussetzungen ab (selbst der sprichwörtliche ‚Einsiedler‘ braucht für seine physische Existenz alleine viele Billionen Bakterienzellen in und auf seinem Körper, er braucht die Luft, die komplexen Bedingungen unterliegt, das Wasser, usw. usw.). Bewusst, aktiv und verantwortungsvoll können wir nur ‚miteinander‘ leben, wenn wir ‚kommunizieren‘. Und im digitalen Netzzeitalter durch das Medium des Digitalen:

‚MailFail‘ – Digitales Schweigen

deine worte sind zum sprung bereit –
doch der mund, der digitale, öffnet
sich nicht: ‚technische störung‘
heisst es; deine worte frieren ein.
niemand hört dich.
niemand sieht dich.
du bist allein.
deine 4 billionen körperzellen
sind da, bersten vor leben, vibrieren,
aber niemand hört dich.
du bist allein, außerhalb des
digitalen kosmos; kein einziges bit.
es strömt, und summt, läuft heiß,
energie verraucht, aber
niemand hört dich,
du bist allein.

Hier in einer digitalen Vertonung (mit erweitertem Text)

10. Wenn man mit anderen Menschen zusammen ist und jemand schweigt, kann man nachfragen. Wenn die Mails nicht mehr fliegen, gibt es nur noch das große Schweigen. Ja, gewiss, man kann noch andere Mailkanäle haben, dazu SMS, soziale Netze …. doch diese kann man leicht unterbrechen; jeder Admin kann manipulieren, was er will; von den Geheimdiensten wollen wir gar nicht sprechen. Und was google, amazon, facebook und Co alles mit unseren Daten machen, mit ‚uns‘, das weiß letztlich keiner (das, was bislang in Erfahrung gebracht werden konnte, ist Grund genug, das aller Schlimmste zu befürchten). Wider Willen sind wir ‚digitale Sklaven‘, deren Rechte hohnlächelnd beiseite gewischt wurden.

11. Offiziell gibt es Menschenrechte; die ‚Menschenwürde‘ ist sogar das Fundament des deutschen Grundgesetzes. Dazu gehört die Wahrung der Authentizität des einzelnen. Durch die – technologisch und lebensstilmäßige bedingte – Verknüpfung von Authentizität und technologisch vermittelter Kommunikation und Informationsbeschaffung haben sich die Grenzen des ‚Privaten‘ mit dem ‚Öffentlichen‘ vermischt. Hat sich mit der Digitalisierung des Privaten damit das Private ‚aufgelöst‘. Brauchen wir keine Menschenwürde mehr weil es keine privaten Individuen mehr gibt?

12. Wenn man die Praxis der Wirtschaft betrachtet und die Tendenz der Gesetzgebung (vor allem auch in den USA), dann kann man sich des Eindrucks nicht verwehren, dass die alten Werte, die Menschenwürde, schrittweise einem globalen Kapitalinteresse geopfert werden, die in keiner Weise eine nachhaltige demokratische Gesellschaft unterstützen. Dass sogenannte ‚demokratische‘ Politiker dieser Aushöhlung demokratischer Grundrechte nichts Entschiedenes entgegen setzen, ist auffällig; fällt aber auch ein wenig auf uns selbst zurück: warum haben wir solche Politiker?

Einen Überblick über alle Blogeinträge von cagent nach Titeln findet sich HIER.

EINLADUNG ZUR NÄCHSTEN PHILOSOPHIEWERKSTATT AM So 8.März 2015, 16:00h

philosophieWerkstatt v2.0
philosophieWerkstatt v2.0

EINLADUNG ZUR NÄCHSTEN

philosophieWerkstatt v2.0 am

Sonntag, 8.März 2015

16:00 – 19:00h
in der
DENKBAR Frankfurt
Spohrstrasse 46a

Essen und Trinken wird angeboten von Michas Essen & Trinken. Parken ist im Umfeld schwierig; evtl. in der Rat-Beil-Strasse (entlang der Friedhofsmauer).

Anliegen der Philosophiewerkstatt ist es, ein philosophisches Gespräch zu ermöglichen, in dem die Fragen der TeilnehmerInnen versuchsweise zu Begriffsnetzen verknüpft werden, die in Beziehung gesetzt werden zum allgemeinen Denkraum der Philosophie, der Wissenschaften, der Kunst und Religion. Im Hintergrund stehen die Reflexionen aus dem Blog cognitiveagent.org, das Ringen um das neue Menschen- und Weltbild.

PROGRAMMVORSCHLAG

Die TeilnehmerInnen des der letzten Philosophiewerkstatt vom 8.Februar hatten sich auf folgenden Programmvorschlag geeinigt:

1. Eingangsbeispiel eines Experimentes zur ‘Neuen Musik’ mit kurzem Gespräch (für den 08.März 2015 ist ein Experiment zum Verhältnis von Klang und bewegtem Bild geplant, von cagentArtist; dieser Beitrag hatte aufgrund technischer Probleme am 8.2. nicht stattfinden können).
2. Kurze Einführung zum Thema „Weisheit”, vorbereitet von eine Teilnehmer der Philosophiewerkstatt, der Arzt ist und sich seit vielen Jahrzehnten auch mit philosophischen Fragen beschäftigt.
3. Gesprächsrunde zum Thema
4. ‚Blubberphase‘ – jeder kann mit jedem reden, um das zuvor gesagte ‚aktiv zu verdauen‘ …
4. Zusammenfassung der Ergebnisse mit Schlussbemerkungen
5. Mögliche Aufgabenstellung für das nächste Treffen
6. Offener Ausklang

ANREGUNGEN ZUM NÄCHSTEN TREFFEN

  • Zum Begriff ‚Weisheit‘ gibt es viele Texte und Vorstellungen. Eine Grundströmung scheint zu sein, dass es etwas ‚Positives‘ ist, etwas, was uns ‚hilft‘, etwas ‚Gutes‘ …
  • Eine genauere Umschreibung, was man unter ‚Weisheit‘ verstehen soll/ kann, wäre also hilfreich. Was, wenn Weisheit vielleicht doch nichts ‚Positives‘ wäre, gar ein Hindernis zum Guten?
  • Interessant ist auch die Frage, wie Weisheit entsteht? Fällt sie vom Himmel? Ist sie angeboren? Muss man sie mühsam lernen? Gibt es spezielle Begabungen für Weisheit? Was muss ein Mensch tun, um ‚weise‘ zu werden?
  • Woran erkennt man einen ‚weisen‘ Menschen? Kennt jemand in seiner Umgebung einen Menschen, von dem er/ sie sagen würde, er/ sie ist ‚weise‘? Gibt es viele oder wenige Menschen dieser Art? Treten sie irgendwo und irgendwann ‚gehäuft‘ auf? Sind es nur Fabelwesen aus Legenden, Märchen, Mythos …?
  • Was würde man sich von einem weisen Menschen erwarten? Möchte man selber ‚weise‘ sein? Falls ja: was würde man sich persönlich davon versprechen? Falls nein: wovor hätte man Angst? Warum möchte man nicht weise sein?
  • …. ??? …

Hier die MEMO zum Treffen.

BERICHT VOM LETZTEN TREFFEN

Einen Bericht von der letzten philosophieWerkstatt v.2.0 vom 8.Februar 2015 findet sich HIER.

PHILOSOPHIEWERKSTATT ÜBERBLICK

Einen Überblick über alle Beiträge zur Philosophiewerkstatt nach Themen findet sich HIER