PROTOKOLL 2: WAHRNEHMUNGSSTÖRUNGEN

Weltzeit:

ca. 13.8 Mrd seit BigBand + 2016 Jahre + 126 Tage + 10 Std + 25 Min + X

Ort:

Universum-unseres, Milchstrasse, Sonnensystem unseres Planeten Erde,

Koordinaten: 54° 54′ 36″ N, 8° 18′ 27″ E

Dieser Notiz ging voraus: PROTOKOLL 1: GALAKTISCHE ENDLICHKEIT

EINSTELLUNGSSACHE

  1. Jeder kennt den Spruch, dass für einen Optimisten das Glas halb voll ist und für einen Pessimisten halb leer. Er ist sehr vereinfachend. Dennoch gibt er eine gute Annäherung an das Verhalten von Menschen mit einer jeweiligen Grundeinstellungen. Wer an das Leben, an das Gute, an den Erfolg glaubt, der sieht in allem Unvollendeten in erster Linie die Ansatzpunkte zur Verbesserung, die Möglichkeit der Vollendung, die Chance, anzupacken. Wer Angst vor dem Scheitern hat, sieht vielleicht noch ansatzweise, ja, da ist etwas, da könnte etwas sein; aber kaum hat er/ sie dies wahrgenommen, kochen allerlei Befürchtungen und Ängste hoch, Bilder möglicher Schwierigkeiten und möglichen Scheiterns überschwemmen das Denken, und im Nu ist das Licht der Zukunft verdunkelt durch Wolken imaginierten Scheiterns.
  2. Gewiss, dies sind krasse Bilder, aber sie beleuchten dennoch ein wenig die Grunddynamik unseres Wahrnehmens, Fühlens beim Wahrnehmen und dem daraus sich ergebenden Interpretieren. Andere Klassische Beispiel sind Untersuchungen zu Zeugenaussagen, allerlei Experimente zur Beobachtung.

EVOLUTIONÄR: MENSCHLISCHES GEDÄCHTNIS

  1. Wir Menschen verfügen über eine wunderbare Fähigkeit, die uns von den meisten anderen Lebewesen unterscheidet (von verschiedenen Tieren allerdings darin nur abgestuft): unsere Fähigkeit, Wahrgenommenes, Erlebtes, zu speichern, und darauf aufbauend, oft, nicht immer, zu erinnern. Das Erinnern erlaubt uns, vorausgegangene Situationen mit nachfolgenden Situationen zu vergleichen. Aufgrund solcher Vergleiche können wir Ähnlichkeiten erkennen und Unähnlichkeiten, darin enthalten Veränderungen.
  2. Dies ist eine, wenn nicht vielleicht die größte Revolution im Bereich des Lebens auf der Erde. Mit der Kraft der Erinnerung und der darin eingebetteten Fähigkeit des Vergleichens, Abstrahierens, Schlüsse Ziehens können wir uns aus der Verfangenheit in den Augenblick stückweise befreien. Kraft des Erinnerns und Abstrahierens können wir real wirkende Strukturen hinter (griechisch: ‚meta‘) den augenblicklichen Eindrücken erfassen, fixieren, das im Augenblick Unsichtbare sichtbar machen. So gesehen ist unser Gedächtnis mit dem Abstraktions- und Erinnerungsvermögen das erste große Messinstrument, das aus dem absoluten Jetzt herausführt in ein dynamisches Fließen des Ganzen.
  3. Mit dem Auftreten des ersten Hominiden, spätestens aber mit dem Auftreten des homo sapiens sapiens (wir), der neuesten Spielart des Menschen, hat diese revolutionäre Fähigkeit des Transformierens von Augenblicken in gespeicherte Abfolge und deren strukturellen Vergleichen und Verknüpfungen die ersten virtuellen Welten erschaffen als Medium des Verstehens der realen Welt in all ihrer Dynamik. Denn es ist nicht das Jetzt und Hier, das uns die Wahrheit der Dinge, der Welt übermittelt, sondern es sind die gespeicherten und verglichenen vielen Jetzt und die vielen Hier, die in ihrer Kumulierung indirekt Veränderungen enthüllen, Kräfte, Dynamiken, Zusammenhänge, Beziehungen, die im Augenblick, im jeweiligen Hier und Jetzt zwar implizit anwesend, aber nicht explizit greifbar sind.
  4. Die Verfügbarkeit komplexer Zellen mit ihrer Fähigkeit zur Kooperation (ca. zwischen -2.1 Mrd und -1.8 Mrd Jahren), dann die globale Verfügbarkeit von Sauerstoff (ab ca. -550 Mio) haben zwar grundsätzlich das Leben komplexer Organismen auf dem Land ermöglicht, aber erst die Fähigkeit zur abstrahierenden folgernden Erinnerung (spätestens mit dem homo sapiens sapiens ab ca. -200.000) hat das Leben aus dem Augenblick befreit und einen Blick Hinter die Oberfläche des Augenblicks ermöglicht.

GEFÄHRDETES WISSEN

  1. Was wir seitdem beobachten können, ist eine anwachsende Explosion von Wissen über Zusammenhänge. Allerdings gibt es erst seit wenigen hunderten Jahren ein kontrolliertes experimentelles Wissen mit Formalisierungen (wissenschaftliches Wissen).
  2. Zugleich kann man beobachten, dass diese Fähigkeit zur internen Erzeugung von virtuellen (= gedachten) Welten viele Fallstricke bereit hält. Die Eindrücke der einzelnen Augenblicke sind punktuell, fragmentarisch; sie lassen viele Deutungen zu. Und das gespeicherte Wissen ist nicht neutral, passiv; sobald wir etwas Erinnern können, interagiert, wechselwirkt dieses schon Gewusste mit den aktuellen Wahrnehmungen. Wir sehen ein X, wir erinnern gleichzeitig ein Y, und wir versuchen das X als Y zu verstehen. Sobald das X uns ‚eher‘ als Y erscheint als etwas anderes (ein Z), tendieren wir dazu, das X als Y zu sehen. Wenn dies zutrifft, dann ist dies prima; wir konnten sehr schnell eine Situation mit einem X als Y klären. Wenn wir uns aber geirrt haben sollten (was ziemlich oft geschieht), dann haben wir ein Problem. Bei Zeugenaussagen behaupten Zeugen steif und fest, sie hätten Y gesehen, obgleich sie nur ein X gesehen haben, das sie selbst aufgrund ihres Vor-Wissens als Y klassifiziert haben. Im Falle einer Fehleinschätzung von X als Y wird eben nicht das X gespeichert, sondern das X als Y.
  3. Erschwert wird die Einschätzung einer Situation auch noch dadurch, dass Menschen soziale Wesen sind mit vielfältigsten sozialen Einbindungen. Wenn es so etwas wie eine vorherrschende Meinung gibt (klassisch: die vielen rassistischen, fremdenfeindlichen Einstellungen), dann ist die individuelle Fähigkeit zur Klassifikation der Wahrnehmung von X nicht nur durch das eigene Vorwissen von einem Y geprägt, sondern die sozialen Beziehungen bringen viele Menschen dazu, herrschende Meinungen Y* direkt zu übernehmen, ohne sie groß zu überprüfen, und dann aktuelle Wahrnehmungen von X sofort als Y* zu klassifizieren (typische Beispiele die oft krassen Urteile über Andere, obwohl man selbst diese Anderen gar nicht kennt).
  4. Diese Gefährdungen der richtigen Einschätzung aktueller Erfahrungen eines X durch falsches Vorwissen Y ließen sich durch eine lange Liste von weiteren Beispielen weiter illustrieren. Entscheidend ist hier, zu sehen, dass eine der größten Revolutionen des Lebens auf der Erde (und damit im ganzen bekannten Universum) kein Selbstgänger ist. Die grundlegende revolutionäre Fähigkeit, die jeweiligen Augenblicke zu überwinden ist kontinuierlich in Gefahr, durch allerlei Faktoren und Motive isoliert und instrumentalisiert zu werden und damit eine gedachte, virtuelle Wirklichkeit so zu nehmen, als ob sie die reale, wirkende Wirklichkeit sei. Man kann dies Propaganda nennen, Ideologie, Verführung, Betrug, falsches Denken, letztlich schadet es auf lange Sicht allen. Wenn z.B. ein politischer Führer eine Volksgruppe mit bewusst falschen Bildern gegen einer andere Volksgruppe aufhetzt, dann bringt er nicht nur Leiden und Zerstörung über die falsch verhetzte Volksgruppe, sondern er führt auch alle anderen (und sich selbst) in eine Richtung, die die Möglichkeiten des Lebens vergeudet, ungenutzt lässt, die wahre Erkenntnis der Wirklichkeit des dynamischen Lebens erschwert oder gar unmöglich macht. Die Kräfte, die einer vollen kreativen freien Nutzung der unfassbaren Fähigkeit des Lebens zum Erfassen der Welt entgegen stehen, sind vielfältig und stark (es ist traurig zu sehen, dass die überwältigende Mehrheit der aktuell193 Mitgliedsstaaten der UN  eher den Zugang zur realen Welt manipulieren, zensieren und erschweren, als dass Sie deren Verständnis und Nutzung unterstützen!
  5. Ein spezielles Thema in diesem Kontext wäre die Rolle der sogenannten Religionen (z.B. Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam, jeweils mit vielen Spielarten, sowie weitere Religionsformen). Doch soll dies an anderer Stelle geschehen (und es gab auch schon Beiträge in diesem Blog dazu). Grundsätzlich sei aber festgehalten, dass alle (!) Religionen es bislang nicht geschafft haben, das Verhältnis von Glauben und Wissen hinreichend transparent so aufzuklären, dass ein fruchtbares Arbeitsmodus von Glauben und Wissen erkennbar geworden ist. Der Islam in seiner Blütezeit (ca. 900 – 1300) hatte dazu sehr interessante Ansätze, ebenso die christlichen Religionen in der Blütezeit der historisch-kritischen Methode (ab Ende 18.Jh.), aber diese Ansätze wurden überall wieder eingeebnet durch fundamentalistische Einstellungen, die vollständig wissensfeindlich sind (ein Beispiel der Wahabismus).
  6. Ein neuer Gefährdung des Wissens um die reale Welt und ihrer Dynamiken bildet die globale Digitalisierung. Einerseits kann sie den Aufbau von wahrem Wissen um die reale Welt in bislang ungeahnter Weise unterstützen; andererseits erzeugt die Digitalisierung aber so ungeheuer viele und große Datenräume, dass deren Qualitätssicherung immer schwieriger wird. Die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von falschem Wissen und der bewussten Manipulation dieser Datenmengen steigt mit der exponentiell wachsenden Datenmenge entsprechend an. Jeder kann dies erleben, wenn er sich ins Internet begibt und Suchanfragen absetzt. Der Anteil von Schrottmeldungen ist erheblich; zugleich ist die Möglichkeit der Überprüfung der Quellen, der Entstehung dieses Wissens nicht einfach oder gar unmöglich. Genauso, wie die grundlegende biologische Fähigkeit der Überwindung des Hier und Jetzt eine Option auf mehr Wahrheit war und ist, jedoch missbraucht werden kann, so ist der Computer, die Datenbank und das Netz eine Option für eine deutlich bessere Welt, die aber ebenfalls missbraucht werden kann und täglich vielfach von Firmen, Kriminellen und staatlichen Stellen missbraucht wird. Selbst die Wissenschaft ist durch diese Entwicklung vielfach korrumpiert, obwohl sie unser einziger Zugang zu wahrem Wissen ist, den wir besitzen.

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Über cagent

Bin Philosoph, Theologe, Kognitionswissenschaftler und hatte seit 2001 eine Vertretungsprofessur und ab 2005 eine volle Professur im Fachbereich Informatik & Ingenieurswissenschaften der Frankfurt University of Applied Sciences inne. Meine Schwerpunke ab 2005 waren 'Dynamisches Wissen (KI)', 'Mensch Maschine Interaktion (MMI)' sowie 'Simulation'. In dieser Zeit konnte ich auch an die hundert interdisziplinäre Projekte begleiten. Mich interessieren die Grundstrukturen des Lebens, die Logik der Evolution, die Entstehung von Wissen ('Geist'), die Möglichkeiten computerbasierter Intelligenz, die Wechselwirkungen zwischen Kultur und Technik, und der mögliche 'Sinn' von 'Leben' im 'Universum'. Ab 1.April 2017 bin ich emeritiert (= nicht mehr im aktiven Dienst). Neben ausgewählten Lehrveranstaltungen ('Citizen Science für Nachhaltige Entwicklung' (früher 'Kommunalplanung und Gamification. Labor für Bürgerbeteiligung')) arbeite ich zunehmend in einem integrierten Projekt mit Theorie, neuem Typ von Software und gesellschaftlicher Umsetzung (Initiative 'Bürger im Gespräch (BiG)). Die einschlägigen Blogs sind weiter cognitiveagent.org, uffmm.org sowie oksimo.org ... ja, ich war auch mal 'Mönch', 22 Jahre lang mit viel Mystik, Theologie und Philosophie; dabei u.a. einige Jahre Jugendsozialarbeiter.