Archiv der Kategorie: Deterministisch

KI UND BIOLOGIE. Blitzbericht zu einem Vortrag am 28.Nov.2018

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
29.Nov. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

LETZTE AKTUALISIERUNG: 1.Dez.2018, Anmerkung 1

KONTEXT

Im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung des Fachbereichs 2 ‚Informatik & Ingenieurwissenschaften‘ der Frankfurt University of Applied Sciences am 28.November 2018 mit dem Rahmenthema „Künstliche Intelligenz – Arbeit für Alle?“ hielt Gerd Doeben-Henisch einen kurzen Vortrag zum Thema „Verändert KI die Welt?“ Voraus ging ein Vortrag von Herrn Helmut Geyer „Arbeitsmarkt der Zukunft. (Flyer zur Veranstaltung: FRA-UAS_Fb2_Karte_KI-Arbeit fuer alle_Webversion )

EINSTIEG INS KI-THEMA

Im Kontext der Überlegungen zur Arbeitswelt angesichts des technologischen Wandels gerät die Frage nach der Rolle der Technologie, speziell der digitalen Technologie — und hier noch spezieller der digitalen Technologie mit KI-Anteilen – sehr schnell zwischen die beiden Pole ‚Vernichter von Arbeit‘, ‚Gefährdung der Zukunft‘ einerseits und ‚Neue Potentiale‘, ‚Neue Arbeit‘, ‚Bessere Zukunft‘, wobei es dann auch einen dritten Pol gibt, den von den ‚übermächtigen Maschinen‘, die die Menschen sehr bald überrunden und beherrschen werden.

Solche Positionen, eine Mischungen aus quasi-Fakten, viel Emotionen und vielen unabgeklärten Klischees, im Gespräch sachlich zu begegnen ist schwer bis unmöglich, erst Recht, wenn wenig Zeit zur Verfügung steht.

Doeben-Henisch entschloss sich daher, das Augenmerk zentral auf den Begriff ‚Künstliche Intelligenz‘ zu lenken und die bislang uneinheitliche und technikintrovertierte Begrifflichkeit in einen größeren Kontext zu stellen, der das begrifflich ungeklärte Nebeneinander von Menschen und Maschinen schon im Ansatz zu überwinden sucht.

ANDERE DISZIPLINEN

Viele Probleme im Kontext der Terminologie der KI im technischen Bereich erscheinen hausgemacht, wenn man den Blick auf andere Disziplinen ausweitet. Solche andere Disziplinen sind die Biologe, die Mikrobiologie sowie die Psychologie. In diesen Disziplinen beschäftigt man sich seit z.T. deutlich mehr als 100 Jahren mit komplexen Systemen und deren Verhalten, und natürlich ist die Frage nach der ‚Leistungsfähigkeit‘ solcher Systeme im Bereich Lernen und Intelligenz dort seit langem auf der Tagesordnung.

Die zunehmenden Einsichten in die unfassbare Komplexität biologischer Systeme (siehe dazu Beiträge in diesem Blog, dort auch weitere Links), lassen umso eindrücklicher die Frage laut werden, wie sich solche unfassbar komplexen Systeme überhaupt entwickeln konnten. Für die Beantwortung dieser Frage wies Doeben-Henisch auf zwei spannende Szenarien hin.

KOMMUNIKATIONSFREIE EVOLUTION

Entwicklungslogik vor der Verfügbarkeit von Gehirnen
Entwicklungslogik vor der Verfügbarkeit von Gehirnen

In der Zeit von der ersten Zelle (ca. -3.8 Mrd Jahren) bis zur Verfügbarkeit hinreichend leistungsfähiger Nervensysteme mit Gehirnen (ab ca. -300.000, vielleicht noch etwas früher) wurde die Entwicklung der Lebensformen auf der Erde durch zwei Faktoren gesteuert: (a) die Erde als ‚Filter‘, was letztlich zu einer bestimmten Zeit geht; (b) die Biomasse mit ihrer Reproduktionsfähigkeit, die neben der angenäherten Reproduktion der bislang erfolgreichen Baupläne (DNA-Informationen) in großem Umfang mehr oder weniger starke ‚Varianten‘ erzeugte, die ‚zufallsbedingt‘ waren. Bezogen auf die Erfolge der Vergangenheit konnten die zufälligen Varianten als ’sinnlos‘ erscheinen, als ’nicht zielführend‘, tatsächlich aber waren es sehr oft diese zunächst ’sinnlos erscheinenden‘ Varianten, die bei einsetzenden Änderungen der Lebensverhältnisse ein Überleben ermöglichten. Vereinfachend könnte man also für die Phase die Formel prägen ‚(Auf der dynamischen Erde:) Frühere Erfolge + Zufällige Veränderungen = Leben‘. Da zum Zeitpunkt der Entscheidung die Zukunft niemals hinreichend bekannt ist, ist die Variantenbildung die einzig mögliche Strategie. Die Geschwindigkeit der ‚Veränderung von Lebensformen‘ war in dieser Zeit auf die Generationsfolgen beschränkt.

MIT KOMMUNIKATION ANGEREICHERTE EVOLUTION

Nach einer gewissen ‚Übergangszeit‘ von einer Kommunikationsfreien zu einer mit Kommunikation angereicherte Evolution gab es in der nachfolgenden Zeit die Verfügbarkeit von hinreichend leistungsfähigen Gehirnen (spätestens mit dem Aufkommen des homo sapiens ab ca. -300.000)[1], mittels deren die Lebensformen die Umgebung und sich selbst ‚modellieren‘ und ‚abändern‘ konnten. Es war möglich, gedanklich Alternativen auszuprobieren, sich durch symbolische Kommunikation zu ‚koordinieren‘ und im Laufe der letzten ca. 10.000 Jahren konnten auf diese Weise komplexe kulturelle und technologische Strukturen hervorgebracht werden, die zuvor undenkbar waren. Zu diesen Technologien gehörten dann auch ab ca. 1940 programmierbare Maschinen, bekannt als Computer. Der Vorteil der Beschleunigung in der Veränderung der Umwelt – und zunehmend auch der Veränderung des eigenen Körpers — lies ein neues Problem sichtbar werden, das Problem der Präferenzen (Ziele, Bewertungskriterien…). Während bislang einzig die aktuelle Erde über ‚Lebensfähig‘ ‚oder nicht Lebensfähig‘ entschied, und dies das einzige Kriterium war, konnten die  Lebewesen mit den neuen Gehirnen  jetzt eine Vielzahl von Aspekten ausbilden, ‚partielle Ziele‘, nach denen sie sich verhielten, von denen oft erst in vielen Jahren oder gar Jahrzehnten oder gar noch länger sichtbar wurde, welche nachhaltigen Effekte sie haben.

Anmerkung 1: Nach Edelman (1992) gab es einfache Formen von Bewusstsein mit den zugehörigen neuronalen Strukturen ab ca. -300 Mio Jahren.(S.123) Danach hätte es  also ca. 300 Mio Jahre gedauert, bis   Gehirne, ausgehend von einem ersten einfachen Bewusstsein, zu komplexen Denkleistungen und sprachlicher Kommunikation in der Lage waren.

LERNEN und PRÄFERENZEN

Am Beispiel von biologischen Systemen kann man fundamentale Eigenschaften wie z.B. das ‚Lernen‘ und die ‚Intelligenz‘ sehr allgemein definieren.

Systematisierung von Verhalten nach Lernen und Nicht-Lernen
Systematisierung von Verhalten nach Lernen und Nicht-Lernen

In biologischer Sicht haben wir generell Input-Output-Systeme in einer unfassbar großen Zahl an Varianten bezüglich des Körperbaus und der internen Strukturen und Abläufe. Wie solch ein Input-Output-System intern im Details funktioniert spielt für das konkrete Leben nur insoweit eine Rolle, als die inneren Zustände ein äußerlich beobachtbares Verhalten ermöglichen, das wiederum das Überleben in der verfügbaren Umgebung ermöglicht und bezüglich spezieller ‚Ziele‘ ‚erfolgreich‘ ist. Für das Überleben reicht es also zunächst, einfach dieses beobachtbare Verhalten zu beschreiben.

In idealisierter Form kann man das Verhalten betrachten als Reiz-Reaktions-Paare (S = Stimulus, R = Response, (S,R)) und die Gesamtheit des beobachtbaren Verhaltens damit als eine Sequenz von solchen (S,R)-Paaren, die mathematisch eine endliche Menge bilden.

Ein so beschriebenes Verhalten kann man dann als ‚deterministisch‘ bezeichnen, wenn die beobachtbaren (S,R)-Paare ’stabil‘ bleiben, also auf einen bestimmten Reiz S immer die gleiche Antwort R erfolgt.

Ein dazu komplementäres Verhalten, also ein ’nicht-deterministisches‘ Verhalten, wäre dadurch charakterisiert, dass entweder (i) der Umfang der Menge gleich bleibt, aber manche (S,R)-Paare sich verändern oder (ii) der Umfang der Menge kann sich ändern. Dann gibt es die beiden interessanten Unterfälle (ii.1) es kommen nach und nach neue (S,R)-Paare dazu, die ‚hinreichend lang‘ ’stabil‘ bleiben, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt ‚t‘ sich nicht mehr vermehren (die Menge der stabilen Elemente wird ‚eingefroren‘, ‚fixiert‘, ‚gezähmt‘, …), oder (ii.2) die Menge der stabilen (S,R)-Paare expandiert ohne Endpunkt.

Bezeichnet man diese Expansion (zeitlich ‚befristet‘ oder ‚unbefristet‘) als ‚Lernen‘, dann wird sichtbar, dass die ‚Inhalte des Lernens‘ (die korrespondierenden Repräsentationen der (S,R)-Paare in den internen Zuständen des Systems) einmal davon abhängen, was die Umgebung der Systeme ‚erlaubt‘, zum anderen, was die ‚inneren Zustände‘ des Systems an ‚Verarbeitung ermöglichen‘, sowie – sehr indirekt – über welche welche ‚internen Selektionskriterien‘ ein System verfügt.

Die ‚internen Selektionskriterien‘ werden hier kurz ‚Präferenzen‘ genannt, also Strategien, ob eher ein A oder ein B ’selektiert‘ werden soll. Wonach sich solche Kriterien richten, bleibt dabei zunächst offen. Generell kann man sagen, dass solche Kriterien primär ‚endogen‘ begründet sein müssen, dass sie aber nachgeordnet auch von außen (‚exogen‘) übernommen werden können, wenn die inneren Kriterien eine solche Favorisierung des exogenen Inputs ‚befürworten‘ (Beispiel sind die vielen Imitationen im Lernen bzw. die Vielzahl der offiziellen Bildungsprozesse, durch die Menschen auf bestimmte Verhaltens- und Wissensmuster trainiert (programmiert) werden). Offen ist auch, ob die endogenen Präferenzen stabil sind oder sich im Laufe der Zeit ändern können; desgleichen bei den exogenen Präferenzen.

Am Beispiel der menschlichen Kulturen kann man den Eindruck gewinnen, dass das Finden und gemeinsame Befolgen von Präferenzen ein bislang offenes Problem ist. Und auch die neuere Forschung zu Robotern, die ohne Terminierung lernen sollen (‚developmental robotics‘), hat zur Zeit das Problem, dass nicht ersichtlich ist, mit welchen Werten man ein nicht-terminiertes Lernen realisieren soll. (Siehe: Merrick, 2017)) Das Problem mit der Präferenz-Findung ist bislang wenig bekannt, da die sogenannten intelligenten Programme in der Industrie immer nur für klar definierte Verhaltensprofile trainiert werden, die sie dann später beim realen Einsatz unbedingt einhalten müssen.  Im technischen Bereich spricht man hier oft von einer ’schwachen KI‘. (Siehe: VDI, 2018) Mit der hier eingeführten Terminologie  wären dies nicht-deterministische Systeme, die in ihrem Lernen ‚terminieren‘.

INTELLIGENZ

Bei der Analyse des Begriffs ‚Lernen‘ wird sichtbar, dass das, was gelernt wird, bei der Beobachtung des Verhaltens nicht direkt ’sichtbar‘ ist. Vielmehr gibt es eine allgemeine ‚Hypothese‘, dass dem äußerlich beobachtbaren Verhalten ‚interne Zustände‘ korrespondieren, die dafür verantwortlich sind, ob ein ’nicht-lernendes‘ oder ein ‚lernendes‘ Verhalten zu beobachten ist. Im Fall eines ‚lernenden‘ Verhaltens mit dem Auftreten von inkrementell sich mehrenden stabilen (S,R)-Paaren wird angenommen, das den (S,R)-Verhaltensformen ‚intern‘ entsprechende ‚interne Repräsentationen‘ existieren, anhand deren das System ‚entscheiden‘ kann, wann es wie antworten soll. Ob man diese abstrakten Repräsentationen ‚Wissen‘ nennt oder ‚Fähigkeiten‘ oder ‚Erfahrung‘ oder ‚Intelligenz‘ ist für die theoretische Betrachtung unwesentlich.

Die Psychologie hat um die Wende zum 20.Jahrhundert mit der Erfindung des Intelligenztests durch Binet und Simon (1905) sowie in Weiterführung durch W.Stern (1912) einen Ansatz gefunden, die direkt nicht messbaren internen Repräsentanten eines beobachtbaren Lernprozesses indirekt dadurch zu messen, dass sie das beobachtbare Verhalten mit einem zuvor vereinbarten Standard verglichen haben. Der vereinbarte Standard waren solche Verhaltensleistungen, die man Kindern in bestimmten Altersstufen als typisch zuordnete. Ein Standard war als ein Test formuliert, den ein Kind nach möglichst objektiven Kriterien zu durchlaufen hatte. In der Regel gab es eine ganze Liste (Katalog, Batterie) von solchen Tests. Dieses Vorgehensweisen waren sehr flexibel, universell anwendbar, zeigten allerdings schon im Ansatz, dass die Testlisten kulturabhängig stark variieren konnten. Immerhin konnte man ein beobachtbares Verhalten von einem System auf diese Weise relativ zu vorgegebenen Testlisten vergleichen und damit messen. Auf diese Weise konnte man die nicht messbaren hypothetisch unterstellten internen Repräsentationen indirekt qualitativ (Art des Tests) und quantitativ (Anteil an einer Erfüllung des Tests) indizieren.

Im vorliegenden Kontext wird ‚Intelligenz‘ daher als ein Sammelbegriff für die hypothetisch unterstellte Menge der korrespondierenden internen Repräsentanten zu den beobachtbaren (S,R)-Paaren angesehen, und mittels Tests kann man diese unterstellte Intelligenz qualitativ und quantitativ indirekt charakterisieren. Wie unterschiedlich solche Charakterisierung innerhalb der Psychologie modelliert werden können, kann man in der Übersicht von Rost (2013) nachlesen.

Wichtig ist hier zudem, dass in diesem Text die Intelligenz eine Funktion des Lernens ist, das wiederum von der Systemstruktur abhängig ist, von der Beschaffenheit der Umwelt sowie der Verfügbarkeit von Präferenzen.

Mehrdimensionaler Raum der Intelligenzrpräsentanen
Mehrdimensionaler Raum der Intelligenzrpräsentanen

Aus Sicht einer solchen allgemeinen Lerntheorie kann man statt biologischen Systemen auch programmierbare Maschinen betrachten. Verglichen mit biologischen Systemen kann man den programmierbaren Maschinen ein Äquivalent zum Körper und zur Umwelt spendieren. Grundlagentheoretisch wissen wir ferner schon seit Turing (1936/7), dass programmierbare Maschinen ihr eigenes Programm abändern können und sie prinzipiell lernfähig sind. Was allerdings (siehe zuvor das Thema Präferenz) bislang unklar ist, wo sie jeweils die Präferenzen herbekommen sollen, die sie für eine ’nachhaltige Entwicklung‘ benötigen.

ZUKUNFT VON MENSCH UND MASCHINE

Im Licht der Evolution erscheint die  sich beschleunigende Zunahme von Komplexität im Bereich der biologischen Systeme und deren Populationen darauf hinzudeuten, dass mit der Verfügbarkeit von programmierbaren Maschinen diese sicher nicht als ‚Gegensatz‘ zum Projekt des biologischen Lebens zu sehen sind, sondern als eine willkommene Unterstützung in einer Phase, wo die Verfügbarkeit der Gehirne eine rapide Beschleunigung bewirkt hat. Noch bauen die biologischen Systeme ihre eigenen Baupläne  nicht selbst um, aber der Umbau in Richtung von Cyborgs hat begonnen und schon heute ist der Einsatz von programmierbaren Maschinen existentiell: die real existierenden biologischen Kapazitätsgrenzen erzwingen den Einsatz von Computern zum Erhalt und für die weitere Entwicklung. Offen ist die Frage, ob die Computer den Menschen ersetzen sollen. Der Autor dieser Zeilen sieht die schwer deutbare Zukunft eher so, dass der Mensch den Weg der Symbiose intensivieren wird und versuchen sollte, den Computer dort zu nutzen, wo er Stärken hat und zugleich sich bewusst sein, dass das Präferenzproblem nicht von der Maschine, sondern von ihm selbst gelöst werden muss. Alles ‚Böse‘ kam in der Vergangenheit und kommt in der Gegenwart vom Menschen selbst, nicht von der Technik. Letztlich ist es der Mensch, der darüber entscheidet, wie er die Technik nutzt. Ingenieure machen sie möglich, die Gesellschaft muss entscheiden, was sie damit machen will.

BEISPIEL EINER NEUEN SYMBIOSE

Der Autor dieser Zeilen hat zusammen mit anderen KollegenInnen in diesem Sommer ein Projekt gestartet, das darauf abzielt, dass alle 11.000 Kommunen in Deutschland ihre Chancen haben sollten, ihre Kommunikation und Planungsfähigkeit untereinander dramatisch zu verbessern, indem sie die modernen programmierbaren Maschinen in neuer ‚intelligenter‘ Weise für ihre Zwecke nutzen.

QUELLEN

  • Kathryn Merrick, Value systems for developmental cognitive robotics: A survey, Cognitive Systems Research, 41:38 – 55, 2017
  • VDI, Statusreport Künstliche Intelligenz, Oktober 2018, URL: https://www.vdi.de/vdi-statusbericht-kuenstliche-intelligenz/ (zuletzt: 28.November 2018)
  • Detlef H.Rost, Handbuch der Intelligenz, 2013: Weinheim – Basel, Beltz Verlag
  • Joachim Funke (2006), Kap.2: Alfred Binet (1857 – 1911) und der erste Intelligenztest der Welt, in: Georg Lamberti (Hg.), Intelligenz auf dem Prüfstand. 100 Jahre Psychometrie, Vandenhoek & Ruprecht
  • Alfred Binet, Théodore Simon: Methodes nouvelles pour le diagnostiqc du niveau intellectuel des anormaux. In: L’Année Psychologique. Vol. 11, 1904, S. 191–244 (URL: https://www.persee.fr/doc/psy_0003-5033_1904_num_11_1_3675 )
  • William Stern, Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung und deren Anwendung an Schulkinder, 19121: Leipzig, J.A.Barth
  • Alan M. Turing, On computable numbers, with an application to the Entscheidungsproblem. Proceedings of the London Mathematical Society, 42(2):230–265, 1936-7
  • Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

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K.G.DENBIGH: AN INVENTIVE UNIVERSE — Relektüre — Teil 4

K.G.Denbigh (1975), „An Inventive Universe“, London: Hutchinson & Co.

BISHER

Im Teil 1 der Relektüre von Kenneth George Denbighs Buch „An Inventive Universe“ hatte ich, sehr stark angeregt durch die Lektüre, zunächst eher mein eigenes Verständnis von dem Konzept ‚Zeit‘ zu Papier gebracht und eigentlich kaum die Position Denbighs referiert. Darin habe ich sehr stark darauf abgehoben, dass die Struktur der menschlichen Wahrnehmung und des Gedächtnisses es uns erlaubt, subjektiv Gegenwart als Jetzt zu erleben im Vergleich zum Erinnerbaren als Vergangen. Allerdings kann unsere Erinnerung stark von der auslösenden Realität abweichen. Im Lichte der Relativitätstheorie ist es zudem unmöglich, den Augenblick/ das Jetzt/ die Gegenwart objektiv zu definieren. Das individuelle Jetzt ist unentrinnbar subjektiv. Die Einbeziehung von ‚Uhren-Zeit’/ technischer Zeit kann zwar helfen, verschiedene Menschen relativ zu den Uhren zu koordinieren, das grundsätzliche Problem des nicht-objektiven Jetzt wird damit nicht aufgelöst.

In der Fortsetzung 1b von Teil 1 habe ich dann versucht, die Darlegung der Position von Kenneth George Denbighs Buch „An Inventive Universe“ nachzuholen. Der interessante Punkt hier ist der Widerspruch innerhalb der Physik selbst: einerseits gibt es physikalische Theorien, die zeitinvariant sind, andere wiederum nicht. Denbigh erklärt diese Situation so, dass er die zeitinvarianten Theorien als idealisierende Theorien darstellt, die von realen Randbedingungen – wie sie tatsächlich überall im Universum herrschen – absehen. Dies kann man daran erkennen, dass es für die Anwendung der einschlägigen Differentialgleichungen notwendig sei, hinreichende Randbedingungen zu definieren, damit die Gleichungen gerechnet werden können. Mit diesen Randbedingungen werden Start- und Zielzustand aber asymmetrisch.

Auch würde ich hier einen Nachtrag zu Teil 1 der Relektüre einfügen: in diesem Beitrag wurde schon auf die zentrale Rolle des Gedächtnisses für die Zeitwahrnehmung hingewiesen. Allerdings könnte man noch präzisieren, dass das Gedächtnis die einzelnen Gedächtnisinhalte nicht als streng aufeinanderfolgend speichert, sondern eben als schon geschehen. Es ist dann eine eigene gedankliche Leistungen, anhand von Eigenschaften der Gedächtnisinhalte eine Ordnung zu konstruieren. Uhren, Kalender, Aufzeichnungen können dabei helfen. Hier sind Irrtümer möglich. Für die generelle Frage, ob die Vorgänge in der Natur gerichtet sind oder nicht hilft das Gedächtnis von daher nur sehr bedingt. Ob A das B verursacht hat oder nicht, bleibt eine Interpretationsfrage, die von zusätzlichem Wissen abhängt.

Im Teil 2 ging es um den Anfang von Kap.2 (Dissipative Prozesse) und den Rest von Kap.3 (Formative Prozesse). Im Kontext der dissipativen (irreversiblen) Prozesse macht Denbigh darauf aufmerksam, dass sich von der Antike her in der modernen Physik eine Denkhaltung gehalten hat, die versucht, die reale Welt zu verdinglichen, sie statisch zu sehen (Zeit ist reversibel). Viele empirische Fakten sprechen aber gegen die Konservierung und Verdinglichung (Zeit ist irreversibel). Um den biologischen Phänomenen gerecht zu werden, führt Denbigh dann das Konzept der ‚Organisation‘ und dem ‚Grad der Organisiertheit‘ ein. Mit Hilfe dieses Konzeptes kann man Komplexitätsstufen unterscheiden, denen man unterschiedliche Makroeigenschaften zuschreiben kann. Tut man dies, dann nimmt mit wachsender Komplexität die ‚Individualität‘ zu, d.h. die allgemeinen physikalischen Gesetze gelten immer weniger. Auch gewinnt der Begriff der Entropie im Kontext von Denbighs Überlegungen eine neue Bedeutung. Im Diskussionsteil halte ich fest: Im Kern gilt, dass maximale Entropie vorliegt, wenn keine Energie-Materie-Mengen verfügbar sind, und minimale Entropie entsprechend, wenn maximal viele Energie-Materie-Mengen verfügbar sind. Vor diesem Hintergrund ergibt sich das Bild, dass Veränderungsprozesse im Universum abseits biologischer Systeme von minimaler zu maximaler Entropie zu führen scheinen (dissipative Prozesse, irreversible Prozesse, …), während die biologischen Systeme als Entropie-Konverter wirken! Sie kehren die Prozessrichtung einfach um. Hier stellen sich eine Fülle von Fragen. Berücksichtigt man die Idee des Organisationskonzepts von Denbigh, dann kann man faktisch beobachten, dass entlang einer Zeitachse eine letztlich kontinuierliche Zunahme der Komplexität biologischer Systeme stattfindet, sowohl als individuelle Systeme wie aber auch und gerade im Zusammenspiel einer Population mit einer organisatorisch aufbereiteten Umgebung (Landwirtschaft, Städtebau, Technik allgemein, Kultur, …). Für alle diese – mittlerweile mehr als 3.8 Milliarden andauernde – Prozesse haben wir bislang keine befriedigenden theoretischen Modelle

Im Teil 3 geht es um das Thema Determinismus und Emergenz. Ideengeschichtlich gibt es den Hang wieder, sich wiederholende und darin voraussagbare Ereignisse mit einem Deutungsschema zu versehen, das diesen Wiederholungen feste Ursachen zuordnet und darin eine Notwendigkeit sieht, dass dies alles passiert. Newtons Mechanik wird in diesem Kontext als neuzeitliche Inkarnation dieser Überzeugungen verstanden: mit klaren Gesetzen sind alle Bewegungen berechenbar. Denbigh zeigt dann anhand vieler Punkte dass die Annahme eines Determinismus wenig plausibel ist. Betrachtet man den Gang der Entwicklung dann kann man nach Denbigh etwa folgende Komplexitätsstufen unterscheiden: (i) Fundamentale Teilchen, (ii) Atome, (iii) Moleküle, (iv) Zellen, (v) Multizelluläre Systeme, (vi) Soziale Gruppen.(vgl. S.143) Aus wissenschaftlicher Sicht müssen sich alle diese ‚Stufen‘ (‚level‘) einheitlich erklären lassen.

KAPITEL 5: GIBT ES IRGENDWELCHE SCHÖPFERISCHEN PROZESSE? (149 – 178)

1. Nachdem Denbigh in den vorausgehenden 4 Kapiteln die Begrenztheit vieler Konzepte in der modernen Physik in den Fokus gerückt hatte (z.B.: dass die Welt nicht deterministisch ist; dass die Naturgesetze Gedankenbilder sind und nicht automatisch eine ontologische Geltung besitzen; dass alle bekannten Prozesse in der Natur irreversibel sind; dass das Konzept einer Symmetrie nicht empirisch gedeckt ist; dass die sogenannten Konservierungsgesetze postuliert wurden bevor sie überhaupt definiert wurden; dass alles darauf hindeutet, dass die Entropie zunimmt ), konzentriert er sich im letzten 5.Kapitel auf die Frage, ob es überhaupt schöpferische/ erfinderische (‚inventive‘) Prozesse gibt.
2. Mit schöpferisch meint er nicht einen Vorgang wie in den religiösen Schöpfungsmythen, in denen quasi aus dem Nichts ein unbekanntes Etwas genannt Gott/ Schöpfer etwas hervorbringt (die Welt), die dann völlig deterministisch abläuft, sondern eher einen abgeschwächten Hervorbringungsprozess, der ohne Notwendigkeit geschieht, nicht voraussagbar ist, etwas wirklich Neues bringt, und der alle Phänomene des bekannten Universums abdeckt. Er geht sogar soweit, zu sagen, dass alle die zuvor genannten Komplexitätsstufen (i) Fundamentale Teilchen, (ii) Atome, (iii) Moleküle, (iv) Zellen, (v) Multizelluläre Systeme, (vi) Soziale Gruppen.(vgl. S.143) sich als Momente an diesem generischen Innovationsprozess erweisen lassen müssten.

3. Dieser generische Innovationsprozess ist dann allgemeiner als der übliche Emergenz-Begriff. Emergenz beschreibt üblicherweise das Auftreten spezifischer Komplexitätsstufen bzw. -eigenschaften im engeren Sinne und nicht einen generischen Prozess für alle diese Phänomene.

4. In Anlehnung an das bekannte Schema der genetischen Algorithmen (hier ein knapper Überblick zur historischen Entwicklung des Konzepts Genetischer Algorithmus (GA) sowie Classifier Systeme) stellt Denbigh letztlich drei charakterisierende Momente für seine Idee eines Innovationsprozesses vor: 1) Die Ereignisse sind zufällig ; sie sind 2) selektiv (bei biologischen Systemen oft noch verstärkt durch sexuell bedingte Vermischung im Erbmaterial (crossover)(s.160)); schließlich 3) verstärkend aufgrund des anschließenden Erfolges.
5. Er illustriert dieses Schema beim Übergang vom BigBang zu den ersten Gaswolken, dann zu den Sternen und Galaxien, dann bei der Molekülbildung, bei der Zellbildung, usw. Wichtig ist ihm auch, dass dieses Ereignismodell nicht an biologische Substrate gebunden ist, sondern eben von nicht-biologischen Systemen allgemein auch befolgt werden kann, speziell auch von modernen programmgesteuerten Maschinen (Computern).
6. Eine noch allgemeinere Charakterisierung ist jene, die diese schöpferischen Prozesse ansiedelt zwischen Ordnung und Unordnung. Ein Beispiel für hohe Ordnung wären die kristallinen Strukturen (sie sind für schöpferische Prozesse zu starr), und ein Beispiel für Unordnung wäre gasförmige Strukturen (sie sind für schöpferische Prozesse zu instabil, zu flüchtig). (Vgl.S.162f) Mit anderen Worten, bei allem Aufbau von Ordnung muss es hinreichend viel Rest-Unordnung geben, ansonsten kommen alle Prozesse zum Stillstand, oder: gefordert ist ein Zustand unterhalb maximaler Entropie.
7. Wie Denbigh auch in den vorausgehenden Kapiteln schon angedeutet hatte, sieht er spirituelle/ geistige Phänomene einschließlich des Bewusstseins als normale Phänomene des Naturprozesses. (Z.B. S.168f)
8. So sieht er die 6 Komplexitätsstufen von oben auch als Ausprägungen eines allgemeineren 3-stufigen Schemas (i) unbelebt , (ii) belebt sowie (iii) belebt mit wachsendem Bewusstsein. (Vgl. S.171)
9. Unter Voraussetzung seines 3-stufigen Innovationsmodells kann er dann das Bewusstsein als einen Prozess interpretieren, der die Fähigkeit zur Selektion für ein biologisches System dramatisch verbessert. (Vgl. S.163-165)
10. Denbigh kommt in diesem Kapitel auch nochmals auf die Problematik der nichtwissenschaftlichen Voraussetzungen der Wissenschaft zu sprechen, die ich in einem vorhergehenden Beitrag schon angesprochen hatte (der Beitrag war angeregt von der Lektüre von Denbigh).
11. Mit Zitaten von einigen berühmten Forschern und Philosophen thematisiert Denbigh nicht nur allgemein die häufig unreflektierte Voraussetzungsbehaftetheit von Wissenschaft, sondern spricht auch speziell die Tendenz des menschlichen Denkens an, die Prozesse der Natur zu verdinglichen. Während Messgeräte und unsere menschliche Wahrnehmung primär nur isolierte Ereignisse registrieren können, setzt unser Denken diese individuellen Ereignisse automatisch (sprich: unbewusst) zu abstrakten Strukturen zusammen, zu sogenannten Objekten, denen wir dann Eigenschaften und Beziehungen zuordnen. (Vgl. S.164f und Anmk.14) Auf einer größeren Zeitskala gibt es diese Objekte aber nicht, sondern da gibt es nur kontinuierliche Zustandsänderungen eines alles umfassenden Prozesses, dem man zwar Eigenschaften zuordnen kann, aber letztlich nicht isolierte Objekte. Berücksichtigt man diese Artefakten unseres Denkens, dann legt sich der Gedanken nahe, die gesamte Physik von diesem veränderten Blickwinkel aus zu betrachten und zu re-analysieren. Hier verweist Denbigh explizit auf die theoretischen Arbeiten des berühmten Physikers David Bohm (später in Kooperation mit Basil J.Hiley), dessen Ergebnisse nach vielen Jahren Arbeit Eingang in das Buch The Undivided Universe: An Ontological Interpretation of Quantum Theory gefunden haben.

12. Denbigh fasst die manifeste Schizophrenie der modernen Wissenschaft in ihrer Haltung zum Menschen in folgendes Bild: „Die moderne Wissenschaft ist ein gedankliches System, das zwar die kreative Kraft der Menschen umfassend dokumentiert, und doch macht sie den Menschen selbst zu einer Sache/ zu einem Ding (‚thing‘) – also zu einem Objekt, von dem die Wissenschaft annimmt, dass es über eine solche schöpferische Kraft gar nicht verfügt.“ (Anmk.22, S.173)

DISKUSSION

  1. Dieses Buch habe ich als extrem anregend empfunden. Es taucht viele bekannte Positionen in ein neues Licht.
  2. Erkenntnistheoretisch liegt es auf der Linie, die bislang im Blog vertreten wurde, nämlich dass man bei der Diskussion der verschiedenen Phänomene und Positionen die jeweiligen Bedingungen des Erkennens beachten sollte, wenn man zu einer Einschätzung kommen möchte. Und dazu reicht keine klassische Erkenntnistheorie, sondern man muss die  modernen Erkenntnisse aus Psychologie und Biologie einbeziehen. Die Warnung vor einer falschen Verdinglichung der Weltereinisse sollte ernst genommen werden.
  3. Ferner ist der bisherige Erklärungsansatz dieses Blogs über einen generellen Evolutionsbegriff in Übereinstimmung mit dem generellen Innovationsansatz von Denbigh. Tatsächlich erscheint Denbighs Ansatz noch radikaler, generischer.  Dies soll im weiteren mehr bedacht werden.
  4. Die klare Subsumierung alles Geistigen unter den allgemeinen Naturprozess entspricht auch der Linie im Blog. Dieses führt aber nicht — wie Denbigh auch klar herausstellt — zu einer Vereinfachung oder Abwertung des Geistigen sondern zu einem vertieften Verständnis  der potentiellen Vielfalt und Komplexität der Energie-Materie. Mit der unterschiedlichen Einordnung geht ja nicht das Phänomen verloren, sondern die begriffliche Einordnung muss neu justiert werden. Dies verlangt nicht nur eine Neupositionierung der bisherigen Geisteswissenschaften, sondern genauso auch eine Neupositionierung der Naturwissenschaften. Diese erweisen sich bislang aber als nicht minder dogmatisch wie die oft gescholtenen Geisteswissenschaften.

QUELLEN

  1. Kenneth George Denbigh (1965 – 2004), Mitglied der Royal Society London seit 1965 (siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Fellows_of_the_Royal_Society_D,E,F). Er war Professor an verschiedenen Universitäten (Cambridge, Edinbugh, London); sein Hauptgebet war die Thermodynamik. Neben vielen Fachartikeln u.a. Bücher mit den Themen ‚Principles of Chemical Equilibrium, ‚Thermodynamics of th Steady State‘ sowie ‚An Inventive Universe‘.
  2. David Joseph Bohm FRS[1] (December 20, 1917 – October 27, 1992) was an American scientist who has been described as one of the most significant theoretical physicists of the 20th century[2] and who contributed innovative and unorthodox ideas to quantum theory, neuropsychology and the philosophy of mind.
  3. Basil J. Hiley (born 1935), is a British quantum physicist and professor emeritus of the University of London. He received the Majorana Prize „Best person in physics“ in 2012.
  4. Review von: „The Undivided Universe: An Ontological Interpretation of Quantum Theory“ von David Bohm and Basil J. Hiley, Routledge, London and New York, 1993. 397 pp. hc, ISBN 0–415–06588–7 durch Sheldon Goldstein, Department of Mathematics, Rutgers University, New Brunswick, NJ 08903, USA(July 28, 1994)

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NOTIZ ZU DEN UNWISSENSCHAFTLICHEN VORAUSSETZUNGEN DER WISSENSCHAFTEN

  1. Als ich gestern weiter im Buch ‚An Inventive Universe‘ von Denbigh las, diskutierte er dort u.a. die verschiedenen Positionen, die in der Physik und in der Philosophie zum Thema Determinismus eingenommen werden. Er arbeitete heraus, dass jede physikalische Theorie einen nicht unwesentlichen nicht-wissenschaftlichen Anteil besitzt, nämlich diejenigen Interessen, Fragen und Grundannahmen, die der Bildung einer wissenschaftlichen Theorie voraus liegen. Ohne diese Annahmen und vorauseilenden Interessen gibt es keine wissenschaftliche Aktivitäten.
  2. Moderne Wissenschaft versteht sich zwar so, dass sie ihr Vorgehen transparent machen will, wiederholbar, unabhängig (invariant) von individuelle Gefühle und Fantasien, aber die nicht-wissenschaftlichen vorausgehenden Annahmen sind unausweichlich individuell bedingt, aus allen möglichen Quellen (auch individuellen Interessen, Fantasien, Erinnerungen, Vorstellungen) gespeist. Etwas anderes hat auch ein Wissenschaftler nicht zur Verfügung.
  3. Im Fall des Determinismus ist z.B. die Vorstellung, dass die Ereignisse in der Natur nicht zufällig sind, sondern bestimmten Regeln, Gesetzen folgen, dass sie damit berechenbar sind, dass damit Voraussagen möglich sind, eine solche Grundannahme.
  4. Diese Annahmen kommen nicht aus der Welt jenseits des Kopfes, sondern sie entstehen im individuellen Gehirn eines potentiellen Forschers. Sie werden ihm bewusst, prägen seine Sehweise, wie er die Welt betrachtet und interpretiert. Als solche sind sie weder wahr noch falsch. Es sind Formen der Wahrnehmung von Welt.
  5. Die Mechanik von Newton passte sehr gut in diese Erwartung: plötzlich konnte man scheinbar alle Bewegungen damit berechnen. Sowohl die Bewegung der Sterne wie auch die der Körper auf der Erde.
  6. Der weitere Gang der Forschung zeigte dann aber, dass diese Wahrnehmung der Natur unvollständig, wenn nicht gar in einem tiefen Sinne falsch ist. Beim immer weiter Vordringen in das ‚Innere der Natur‘ lernten die Wissenschaftler, dass die Natur alles andere als determiniert ist; ganz im Gegenteil, sie ist radikal probabilistisch, nicht ausrechenbar im Detail, auch nicht ausrechenbar in ihren komplexesten Erscheinungen, den biologischen Lebensformen. Die Annahme einer deterministischen, Gesetzen folgenden Natur erwies sich als Fiktion des individuellen Denkens. Das, was man für objektive Wissenschaft gehalten hatte zeigte sich plötzlich als überaus subjektives Gebilde mit hohem metaphysischen Unterhaltungswert.
  7. Die Einstellung, dass Wissenschaft um so objektiver sei, umso weniger man den Anteil des erkennenden Subjektes in den Erklärungsprozess einbezieht, erweist sich immer mehr als falsch. Gerade diese Verweigerung, den handelnden Wissenschaftler mit seinen spezifischen biologischen Voraussetzungen als konstitutives Element des Erkennens nicht kritisch in die Reflexion einzubeziehen, macht Wissenschaft ideologieanfällig, lässt sie unbewusst in das Schlepptau einer verdeckten Metaphysik geraten, die umso schlimmer wütet, als man so tut, als ob es so etwas doch gar nicht gibt [Anmerkung: Eine solche Wissenschaftskritik ist nicht neu. Die Wissenschaftsphilosophie bzw. Wissenschaftstheorie ist voll von diesen kritischen Überlegungen seit mehr als 100 Jahren].
  8. Für das wissenschaftliche Denken hat dies weitreichende Konsequenzen, vorausgesetzt, man nimmt diese Erkenntnisse ernst.
  9. Streng genommen dürfte es keine einzige wissenschaftliche Disziplin mehr geben, die in ihrem Alltagsbetrieb nicht eine Theorie-kritische, sprich wissenschaftsphilosophische Abteilung besitzt, die sich kontinuierlich aktiv mit den ganzen nichtwissenschaftlichen Annahmen auseinandersetzt, die in jeden Wissenschaftsbetrieb eingehen. Insofern die Verantwortlichen eines solchen wissenschaftskritischen Unterfangens natürlich selbst von den jeweiligen Annahmen infiziert sind, gibt es keine Garantie, dass der nicht-wissenschaftliche Anteil tatsächlich immer angemessen erkannt und behandelt wird.
  10. Das heute oft so beklagte Auseinanderdriften von naturwissenschaftlichem Denken einerseits und und sozialem-kulturellem-geisteswissenschaftlichem Denken andererseits könnte durch die direkte philosophische Aufbereitung des naturwissenschaftlichen Denkens möglicherweise vermindert werden. Doch trotz aller Einsichten in die metaphysischen Schwachstellen des naturwissenschaftlichen Wissenschaftsbetriebs sieht es momentan nicht so aus, dass der Mainstream naturwissenschaftlichen Forschens sich solchen Maßnahmen öffnen würde.
  11. Man könnte sich jetzt einfach vom Geschehen abwenden und sagen, dann lass sie halt (die Naturwissenschaftler). Das Problem ist nur, dass diese Art von eingeschränktem Denken vielfache Fernwirkungen hat, die – für viele unmerkbar – grundlegende Anschauungen über die Welt und die Menschen beeinflussen.
  12. Wichtige Themen hier sind (i) das Bild vom Menschen generell, (ii) davon abhängig die Auffassung möglicher Werte, Grundwerte, Menschenrechte und Verfassungstexte, u.a. auch (iii) die Vorstellungen vom Sinn des Lebens im Kontext von religiösen Vorstellungen.
  13. Diese Überlegungen sind weiter zu führen.

Literaturhinweis:

Kenneth George Denbigh (1965 – 2004), Mitglied der Royal Society London seit 1965 (siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Fellows_of_the_Royal_Society_D,E,F). Er war Professor an verschiedenen Universitäten (Cambridge, Edinbugh, London); sein Hauptgebet war die Thermodynamik. Neben vielen Fachartikeln u.a. Bücher mit den Themen ‚Principles of Chemical Equilibrium, ‚Thermodynamics of th Steady State‘ sowie ‚An Inventive Universe‘.

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K.G.DENBIGH: AN INVENTIVE UNIVERSE — Relektüre — Teil 3

K.G.Denbigh (1975), „An Inventive Universe“, London: Hutchinson & Co.

BISHER

Im Teil 1 der Relektüre von Kenneth George Denbighs Buch „An Inventive Universe“ hatte ich, sehr stark angeregt durch die Lektüre, zunächst eher mein eigenes Verständnis von dem Konzept ‚Zeit‘ zu Papier gebracht und eigentlich kaum die Position Denbighs referiert. Darin habe ich sehr stark darauf abgehoben, dass die Struktur der menschlichen Wahrnehmung und des Gedächtnisses es uns erlaubt, subjektiv Gegenwart als Jetzt zu erleben im Vergleich zum Erinnerbaren als Vergangen. Allerdings kann unsere Erinnerung stark von der auslösenden Realität abweichen. Im Lichte der Relativitätstheorie ist es zudem unmöglich, den Augenblick/ das Jetzt/ die Gegenwart objektiv zu definieren. Das individuelle Jetzt ist unentrinnbar subjektiv. Die Einbeziehung von ‚Uhren-Zeit’/ technischer Zeit kann zwar helfen, verschiedene Menschen relativ zu den Uhren zu koordinieren, das grundsätzliche Problem des nicht-objektiven Jetzt wird damit nicht aufgelöst.

In der Fortsetzung 1b von Teil 1 habe ich dann versucht, die Darlegung der Position von Kenneth George Denbighs Buch „An Inventive Universe“ nachzuholen. Der interessante Punkt hier ist der Widerspruch innerhalb der Physik selbst: einerseits gibt es physikalische Theorien, die zeitinvariant sind, andere wiederum nicht. Denbigh erklärt diese Situation so, dass er die zeitinvarianten Theorien als idealisierende Theorien darstellt, die von realen Randbedingungen – wie sie tatsächlich überall im Universum herrschen – absehen. Dies kann man daran erkennen, dass es für die Anwendung der einschlägigen Differentialgleichungen notwendig sei, hinreichende Randbedingungen zu definieren, damit die Gleichungen gerechnet werden können. Mit diesen Randbedingungen werden Start- und Zielzustand aber asymmetrisch.

Auch würde ich hier einen Nachtrag zu Teil 1 der Relektüre einfügen: in diesem Beitrag wurde schon auf die zentrale Rolle des Gedächtnisses für die Zeitwahrnehmung hingewiesen. Allerdings könnte man noch präzisieren, dass das Gedächtnis die einzelnen Gedächtnisinhalte nicht als streng aufeinanderfolgend speichert, sondern eben als schon geschehen. Es ist dann eine eigene gedankliche Leistungen, anhand von Eigenschaften der Gedächtnisinhalte eine Ordnung zu konstruieren. Uhren, Kalender, Aufzeichnungen können dabei helfen. Hier sind Irrtümer möglich. Für die generelle Frage, ob die Vorgänge in der Natur gerichtet sind oder nicht hilft das Gedächtnis von daher nur sehr bedingt. Ob A das B verursacht hat oder nicht, bleibt eine Interpretationsfrage, die von zusätzlichem Wissen abhängt.

Im Teil 2 ging es um den Anfang von Kap.2 (Dissipative Prozesse) und den Rest von Kap.3 (Formative Prozesse). Im Kontext der dissipativen (irreversiblen) Prozesse macht Denbigh darauf aufmerksam, dass sich von der Antike her in der modernen Physik eine Denkhaltung gehalten hat, die versucht, die reale Welt zu verdinglichen, sie statisch zu sehen (Zeit ist reversibel). Viele empirische Fakten sprechen aber gegen die Konservierung und Verdinglichung (Zeit ist irreversibel). Um den biologischen Phänomenen gerecht zu werden, führt Denbigh dann das Konzept der ‚Organisation‘ und dem ‚Grad der Organisiertheit‘ ein. Mit Hilfe dieses Konzeptes kann man Komplexitätsstufen unterscheiden, denen man unterschiedliche Makroeigenschaften zuschreiben kann. Tut man dies, dann nimmt mit wachsender Komplexität die ‚Individualität‘ zu, d.h. die allgemeinen physikalischen Gesetze gelten immer weniger. Auch gewinnt der Begriff der Entropie im Kontext von Denbighs Überlegungen eine neue Bedeutung. Im Diskussionsteil halte ich fest: Im Kern gilt, dass maximale Entropie vorliegt, wenn keine Energie-Materie-Mengen verfügbar sind, und minimale Entropie entsprechend, wenn maximal viele Energie-Materie-Mengen verfügbar sind. Vor diesem Hintergrund ergibt sich das Bild, dass Veränderungsprozesse im Universum abseits biologischer Systeme von minimaler zu maximaler Entropie zu führen scheinen (dissipative Prozesse, irreversible Prozesse, …), während die biologischen Systeme als Entropie-Konverter wirken! Sie kehren die Prozessrichtung einfach um. Hier stellen sich eine Fülle von Fragen. Berücksichtigt man die Idee des Organiationskonzepts von Denbigh, dann kann man faktisch beobachten, dass entlang einer Zeitachse eine letztlich kontinuierliche Zunahme der Komplexität biologischer Systeme stattfindet, sowohl als individuelle Systeme wie aber auch und gerade im Zusammenspiel einer Population mit einer organisatorisch aufbereiteten Umgebung (Landwirtschaft, Städtebau, Technik allgemein, Kultur, …). Für alle diese – mittlerweile mehr als 3.8 Milliarden andauernde – Prozesse haben wir bislang keine befriedigenden theoretischen Modelle

KAPITEL 4: DETERMINISMUS UND EMERGENZ (117 – 148)

Begriffsnetz zu Denbigh Kap.4: Determinismus und Emergenz
Begriffsnetz zu Denbigh Kap.4: Determinismus und Emergenz

  1. Dieses Kapitel widmet sich dem Thema Determinismus und Emergenz. Ideengeschichtlich gibt es den Hang wieder, sich wiederholende und darin voraussagbare Ereignisse mit einem Deutungsschema zu versehen, das diesen Wiederholungen feste Ursachen zuordnet und darin eine Notwendigkeit, dass dies alles passiert. Newtons Mechanik wird in diesem Kontext als neuzeitliche Inkarnation dieser Überzeugungen verstanden: mit klaren Gesetzen sind alle Bewegungen berechenbar.
  2. Dieses klare Bild korrespondiert gut mit der christlichen theologischen Tradition, nach der ein Schöpfer alles in Bewegung gesetzt hat und nun die Welt nach einem vorgegebenen Muster abläuft, was letztlich nur der Schöpfer selbst (Stichwort Wunder) abändern kann.
  3. Die neuzeitliche Wissenschaft hat aber neben dem Konzept des Gesetzes (‚law‘) auch das Konzept Theorie entwickelt. Gesetze führen innerhalb einer Theorie kein Eigenleben mehr sondern sind Elemente im Rahmen der Theorie. Theorien sind subjektive Konstruktionen von mentalen Modellen, die versuchen, die empirischen Phänomene zu beschreiben. Dies ist ein Näherungsprozess, der – zumindest historisch – keinen eindeutigen Endpunkt kennt, sondern empirisch bislang als eher unendlich erscheint.
  4. Eine moderne Formulierung des deterministischen Standpunktes wird von Denbigh wie folgt vorgeschlagen: Wenn ein Zustand A eines hinreichend isolierten Systems gefolgt wird von einem Zustand B, dann wird der gleiche Zustand A immer von dem Zustand B gefolgt werden, und zwar bis in die letzten Details.(S.122)
  5. Diese Formulierung wird begleitend von den Annahmen, dass dies universell gilt, immer, für alles, mit perfekter Präzision.
  6. Dabei muss man unterscheiden, ob die Erklärung nur auf vergangene Ereignisse angewendet wird (‚ex post facto‘) oder zur Voraussage benutzt wird. Letzteres gilt als die eigentliche Herausforderung.
  7. Wählt man die deterministische Position als Bezugspunkt, dann lassen sich zahlreiche Punkte aufführen, nach denen klar ist, dass das Determinismus-Prinzip unhaltbar ist. Im Folgenden eine kurze Aufzählung.
  8. Die Interaktion aller Teile im Universum ist nirgendwo (nach bisherigem Wissen) einfach Null. Zudem ist die Komplexität der Wechselwirkung grundsätzlich so groß, dass eine absolute Isolierung eines Teilsystems samt exakter Reproduktion als nicht möglich erscheint.
  9. Generell gibt es das Problem der Messfehler, der Messungenauigkeiten und der begrenzten Präzision. Mit der Quantenmechanik wurde klar, dass wir nicht beliebig genau messen können, dass Messen den Gegenstand verändert. Ferner wurde klar, dass Messen einen Energieaufwand bedeutet, der umso größer wird, je genauer man messen will. Ein erschöpfendes – alles umfassende – Messen ist daher niemals möglich.
  10. Im Bereich der Quanten gelten maximal Wahrscheinlichkeiten, keine Notwendigkeiten. Dies schließt nicht notwendigerweise ‚Ursachen/ Kausalitäten‘ aus.
  11. Die logischen Konzepte der mentalen Modelle als solche sind nicht die Wirklichkeit selbst. Die ‚innere Natur der Dinge‘ als solche ist nicht bekannt; wir kennen nur unsere Annäherungen über Messereignisse. Das, was ‚logisch notwendig‘ ist, muss aus sich heraus nicht ontologisch gültig sein.
  12. Neben den Teilchen sind aber auch biologische Systeme nicht voraussagbar. Ihre inneren Freiheitsgrade im Verbund mit ihren Dynamiken lassen keine Voraussage zu.
  13. Aus der Literatur übernimmt Denbigh die Komplexitätshierarchie (i) Fundamentale Teilchen, (ii) Atome, (iii) Moleküle, (iv) Zellen, (v) Multizelluläre Systeme, (vi) Soziale Gruppen.(vgl. S.143)
  14. Traditioneller Weise haben sich relativ zu jeder Komplexitätsstufe spezifische wissenschaftliche Disziplinen herausgebildet, die die Frage nach der Einheit der Wissenschaften aufwerfen: die einen sehen in den Eigenschaften höherer Komplexitätsstufen emergente Eigenschaften, die sich nicht auf die einfacheren Subsysteme zurückführen lassen; die Reduktionisten sehen die Wissenschaft vollendet, wenn sich alle komplexeren Eigenschaften auf Eigenschaften der Ebenen mit weniger Komplexität zurückführen lassen. Während diese beiden Positionen widersprüchlich erscheinen, nimmt das Evolutionskonzept eine mittlere Stellung ein: anhand des Modells eines generierenden Mechanismus wird erläutert, wie sich komplexere Eigenschaften aus einfacheren entwickeln können.

DISKUSSION

  1. Fasst man alle Argument zusammen, ergibt sich das Bild von uns Menschen als kognitive Theorientwickler, die mit ihren kognitiven Bildern versuchen, die Strukturen und Dynamiken einer externen Welt (einschließlich sich selbst) nach zu zeichnen, die per se unzugänglich und unerkennbar ist. Eingeschränkte Wahrnehmungen und eingeschränkte Messungen mit prinzipiellen Messgrenzen bilden die eine Begrenzung, die daraus resultierende prinzipielle Unvollständigkeit aller Informationen eine andere, und schließlich die innere Logik der realen Welt verhindert ein einfaches, umfassendes, eindeutiges Zugreifen.
  2. Die mangelnde Selbstreflexion der beteiligten Wissenschaftler erlaubt streckenweise die Ausbildung von Thesen und Hypothesen, die aufgrund der möglichen Methoden eigentlich ausgeschlossen sind.
  3. Die noch immer geltende weitverbreitete Anschauung, dass in der Wissenschaft der Anteil des Subjektes auszuklammern sei, wird durch die vertiefenden Einsichten in die kognitiven Voraussetzungen aller Theorien heute neu in Frage gestellt. Es geht nicht um eine Infragestellung des Empirischen in der Wissenschaft, sondern um ein verstärktes Bewusstheit von den biologischen (beinhaltet auch das Kognitive) Voraussetzungen von empirischen Theorien.
  4. In dem Maße, wie die biologische Bedingtheit von Theoriebildungen in den Blick tritt kann auch die Besonderheit der biologischen Komplexität wieder neu reflektiert werden. Das Biologische als Entropie-Konverter (siehe vorausgehenden Beitrag) und Individualität-Ermöglicher jenseits der bekannten Naturgesetze lässt Eigenschaften der Natur aufblitzen, die das bekannte stark vereinfachte Bild kritisieren, sprengen, revolutionieren.
  5. Die Idee eines evolutionären Mechanismus zwischen plattem Reduktionismus und metaphysischem Emergenz-Denken müsste allerdings erheblich weiter entwickelt werden. Bislang bewegt es sich im Bereich der Komplexitätsebenen (iii) Moleküle und (iv) Zellen.

Fortsetzung mit TEIL 4

QUELLEN

  1. Kenneth George Denbigh (1965 – 2004), Mitglied der Royal Society London seit 1965 (siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Fellows_of_the_Royal_Society_D,E,F). Er war Professor an verschiedenen Universitäten (Cambridge, Edinbugh, London); sein Hauptgebet war die Thermodynamik. Neben vielen Fachartikeln u.a. Bücher mit den Themen ‚Principles of Chemical Equilibrium, ‚Thermodynamics of th Steady State‘ sowie ‚An Inventive Universe‘.

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Der Ursprung und die Evolution des Lebens auf der Erde. Leben als ein kosmischer Imperativ. Reflexionen zum Buch von Christian de Duve. Teil 2

Christian de Duve, VITAL DUST. Life as a Cosmic Imperative, New York: Basic Books, 1995

Beginn: 20.Okt.2012, 18:10h

Letzte Änderung: 25.Okt.2012, 07:40h

Für Teil1 siehe HIER.

  1. Duve beginnt seine Rekonstruktion in der Frühzeit der Erde, in der es zwar einfache chemische Stoffe gab, insbesondere die fünf häufigsten Elemente (CHNOPS = (C) Carbon = Kohlenstof, (H) Hydrogen = Wasserstoff, (N) Nitrogen, (O) Oxygen = Sauerstoff, (P) Phosphor, (S) Sulfur = Schwefel ), aber noch nicht die komplexen Verbindungen, die im späteren Verlauf wichtige Funktionen im Leben übernahmen.(vgl. S.15)
  2. Die Frage nach der genauen Konstellation von chemischen Elementen in der Frühzeit der Erde für die Entstehung lebensermöglichender (:= biogener) chemischer Verbindungen lässt sich bislang noch nicht vollständig klären. Als hauptsächlichste Szenarien werden favorisiert entweder flache warme Gewässer oder hydrothermale Schlote in dunkler Tiefsee oder Kombinationen von beidem.(vgl. 15-18)
  3. Verschiedene theoretische Ansätze (Oparin 1924, Watson und Crick 1953), sowie neuartige Experimente (Miller und Urey 1952/ 1953) zeigten auf, dass rein chemische Prozesse möglich sind, die zur Bildung komplexerer biogener Verbindungen führen können; allerdings wurden in keinem Experiment jene chemischen Verbindungen gefunden, die für biogene Verbindungen als ausreichend erachtet werden.(vgl. S.18f)
  4. Mit der Verbesserung der Beobachtungsmethoden und hier speziell der Spektroskopie konnte man herausfinden, dass sich im interstellaren Raum überall nicht nur genügend chemische Elemente finden, sondern sogar viele chemische Verbindungen, die als biogen qualifiziert werden können. Zusammenfassend gilt es nach Duve als erwiesen, dass zahlreiche biogene chemische Verbindungen sowohl unter den Bedingungen der frühen Erde, im interstellaren Raum, wie auch in Kometen und Meteoriten entstehen können und die extraterrestrischen Verbindungen ein Eindringen in die Atmosphäre der Erde samt Aufschlag überleben können. (vgl. S.19f)
  5. Für das Zusammenwirken verschiedener chemischer Verbindungen in Richtung Ermöglichung von noch komplexeren biogenen chemischen Verbindungen geht Duve von folgenden Annahmen aus: (i) Aminosäuren sind die auffälligsten (‚conspicuous‘) chemischen Verbindungen der abiotischen Chemie auf der Erde wie auch im interstellaren Raum; (ii) Aminosäuren sind die Bausteine von Proteinen; (iii) Proteine sind zentrale Faktoren in biologischen Strukturen, insbesondere funktionieren Proteine in heutigen biologischen Strukturen als ‚Enzyme‘, durch die wichtige chemische Reaktionen stattfinden; (iv) nach Cricks Hypothese von 1957 fließt ‚Information‘ [Anmk: Begriff hier nicht erklärt, aber im nächsten Abschnitt] immer von den Nukleinsäuren zu den Proteinen, niemals umgekehrt. Letztere Hypothese wurde von Czech und Altmann dahingehend unterstützt, als diese Wissenschaftler herausfanden, dass Nukleinsäuren (’nucleic acids‘) in Form von Ribonucleinsäuren (RNA) katalytische Eigenschaften besitzen und es eben die RNA ist, die in heutigen biologischen Strukturen sowohl die Informationen zur Konstruktion von Proteinen besitzt wie auch katalytische Eigenschaften, um solche Prozesse in Gang zu setzen. Die Hypothese von der ‚RNA-Welt‘ war geboren, die der Proteinwelt vorausgeht. (vgl.SS.20-22)
  6. Ein RNA-Molekül besteht aus vielen (tausenden) Elementen genannt ‚Nukleotide‘, die jeweils aus einer Strukturkomponente und einer Informationskomponente bestehen. Eine Informationskomponente ist ein ein 4-elementiges Wort über dem Alphabet {A,G,C,U}(‚Adenin, Guanin, Cyatin, Uracil‘). Nach Duve ist es bislang nicht klar, wie es unter den Bedingungen der frühen Erde zur Ausbildung von RNA-Molekülen kommen konnte.(vgl.S.22f)
  7. [Anmerkung: Die Anzahl möglicher RNA-Moleküle ist rein theoretisch immens groß. Schon bei einer Länge von nur 100 Nukleotiden gibt es 1.6*10^60 viele mögliche Ausprägungen. Bei einer Länge von 1000, also 4^1000, versagt schon ein Standardrechenprogramm auf einem Standardcomputer, um die Zahl auszurechnen. ‚Reale RNA-Moleküle‘ – nennen wir sie RNA+ — bilden nur eine kleine Teilmenge aus der Menge der theoretisch möglichen RNA-Moleküle – also RNA+ subset RNA –. Die RNA+ repräsentieren diejenige Menge, die unter den realen Bedingungen der Erde chemisch möglich sind und die einen ‚Mehrwert‘ liefern. ]
  8. Von ‚hinten her‘ betrachtet ist klar, dass es einen Weg von den einfachen chemischen Verbindungen zu den komplexen biologischen Strukturen geben musste. Vom heute bekannten chemischen Mechanismus her ist ferner klar, dass es ein Weg von vielen kleinen Schritten gewesen sein musste, der immer nur von dem ausgehen konnte, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade erreicht worden war. Nach Duve sollte man den Weg der chemischen Evolution anhand der Rolle der Enzyme untersuchen. Denn Enzyme sind für fast alle chemischen Reaktionen wichtig. Wenn es aber keine Proteine waren, die diese katalytische (= enzymatische) Rolle spielten [, da diese ja erst durch die RNA-Moleküle gezielt produziert wurden?], welche chemischen Verbindungen waren es dann? (vgl. SS.24-26)
  9. Elemente, die ‚katalytisch‘ wirken, beschreibt Duve als solche, durch deren Präsenz andere Moleküle miteinander reagieren und sich verbinden können, ohne dass die katalytischen Elemente selbst dabei ‚konsumiert‘ würden. Die katalytischen Elemente können daher beliebig oft ihre Wirkung entfalten. Zusätzlich bewirken katalytische Elemente in der Regel eine ‚Beschleunigung‘ des Prozesses und sie tragen dazu bei, dass sich die ‚Ausbeute‘ (‚yield‘) erhöht. (vgl. S.26f)
  10. Duve zitiert dann unterschiedliche theoretische Ansätze, mit welchen chemischen Stoffen sich katalytische Wirkungen erzielten lassen können sollten. Bislang konnte aber keiner der vielen Ansätze wirklich überzeugen.(vgl. S.28f)
  11. Besonders erwähnt werden ‚Peptide‘; dies sind Ketten von aneinandergereihten Aminosäuren. Die Übergänge zwischen Peptiden, Polypeptiden und Proteinen sind fließend. Aminosäuren, aus denen Peptide (und Proteine) bestehen, gehörten – nach Annahme – zu den ersten organischen Verbindungen der frühen Erde. Und erste Entdeckungen von möglichen Verbindungsarten (‚bonds‘), die aus Aminosäuren erste einfache ‚Ketten‘ machen können, wurden in den 1950iger Jahren gemeldet.(vgl.S.29f)
  12. Eine besondere Rolle scheinen nach Duve hier Verbindungen der Art ‚Esther‘ und ‚Thioesther‘ zu spielen. Nicht nur, dass diese in der heute bekannten Welt eine Schlüsselrolle spielen, sondern die Thioester entstehen aus dem Gas ‚Schwefelwasserstoff‘ (H_2S), das auf der frühen Erde überall vorhanden war. Allerdings gilt für diese Verbindungen, dass ihre Synthese die Verfügbarkeit von Kondensierungsprozessen voraussetzen, die ‚Energie‘ benötigen, um Sauerstoffatome herauszulösen. Die Machbarkeit dieser Synthesen unter Bedingungen, die der frühen Erde zu gleichen scheinen, wurde 1993 von Miller und Schlesinger demonstriert. (vgl.S.30-32)
  13. Aus all diesen verschiedenen Teilerkenntnissen bildet Duve seine persönliche Arbeitshypothese, dass relativ kurze und nicht zu geordnete Ketten von Aminosäuren entstehen konnten, die Duve dann ‚Multimere‘ nennt, ‚kürzer‘ als ‚Polymere‘, aber mehr als ‚Oligomere‘. Allerdings war eine solche Entstehung nur dann möglich, wenn genügend ‚Energie‘ zur Verfügung stand, diese Komplexifikationsprozesse zu unterstützen. Grundsätzlich gab es in und auf der frühen Erde genügend Energie. (vgl. S.32-34)
  14. Im Kern ist gefordert, Mechanismen zu finden, durch die Elektronen ihre Energieniveaus ändern, entweder mittels Energie ihr ‚Niveau‘ erhöhen oder vermindern. Dies kann verbunden sein mit einem ‚Transfer‘ von einem Ort, dem ‚Elektronen-Spender (‚donor‘)(mit höherem Energielevel), zum ‚Elektronen-Empfänger (‚acceptor‘)(niedrigerer Energielevel). Sowohl der Spender wie der Empfänger ändern dadurch ihre chemische Natur. Der Verlust von Elektronen wird auch ‚Oxidation‘ genannt, der Gewinn ‚Reduktion‘. Duve berichtet von zwei solcher Mechanismen: einer, der mit UV-Strahlen und Eisenionen in Oberflächenwasser funktioniert, ein anderer, der an das Vorhandensein von Schwefelwasserstoff gebunden ist, was in den dunklen Tiefen der Weltmeere gegeben war. Mit diesen Überlegungen wurde die Möglichkeit der Verfügbarkeit von Elektronen sichtbar gemacht; wie steht es aber mit der ‚Synthese‘, dem Herstellen von ‚Verbindungen‘ (‚bonds‘) zwischen Elementen? (vgl. SS.35-39)
  15. Überlegungen zum ATP-Molekül und seinen diversen Vorstufen (AMP –> ADP –> ATP) führen zur Klärung von zwei möglichen Synthesemöglichkeiten: Pyrophosphate oder Thioester. (vgl. SS.39-41) Entscheidend dabei ist, dass der Elektronentransfer eingebettet ist in einen Kreislauf, der sich wiederholen kann und dass die gespendeten Elektronen direkt nutzbar sind für Synthesen. Ein zentraler Mechanismus im Kontext von gespendeten Elektronen ist nach Duve die Erzeugung (‚formation‘) von Thioester, der dann im weiteren Schritt zur Erzeugung von ATP führen kann. Thioester kommen in heutigen biologischen Systemen eine Schlüsselrolle zu. Das Problem: sie brauchen zu ihrer Entstehung selbst Energie. Bei genügender Hitze und in der Gegenwart von Säure kann Thiol sich allerdings spontan zu Thioester verbinden. Die zahlreichen heißen Quellen in der Tiefsee bieten solche Bedingungen. Alternativ können solche Prozesse aber auch in der Atmosphäre ablaufen oder, ganz anders, im Wasser, mit Unterstützung von UV-Licht und Eisen-(III) (= ‚ferric iron‘) bzw. Eisen-(II) (=ferrous iron‘), wodurch sich Thioester-Verbindungen erzeugen lassen. Duve sagt ausdrücklich, dass es sich hier um Arbeitshypothesen aufgrund der ihm verfügbaren Evidenzen handelt. (vgl. SS.41-45)
  16. [Anmerkung: Die Vielfalt und Tiefe der Details im Text von Duve, die in dieser Zusammenfassung stark abgemildert wurden, sollte nicht vergessen lassen, dass es bei all diesen Untersuchungen letztlich um einige wenige Hauptthemen geht. Grundsätzlich geht es um die Frage, wie überhaupt Mechanismen denkbar sind, die scheinbar gegen die Entropie arbeiten. Und letztlich wird sichtbar, dass es die zur Zeit im Universum noch frei verfügbare Energie ist, die das Freisetzen von Elektronen auf einem höheren Energieniveau ermöglichen, wodurch andere Prozesse (katalytisch) ermöglicht werden, die zu neuen Bindungen führen. Und es sind genau diese neuen Verbindungen, durch die sich ‚Information‘ in neuer Weise bilden kann, eine Art ‚prozeßgesteuerte Information‘. Dass diese prozeßgesteuerte Information in Form von Peptiden, dann RNAs und DNAs schließlich fähig ist, immer komplexere chemische Prozesse selbst zu steuern, Prozesse, in denen u.a. dann Proteine entstehen können, die immer komplexere materielle Strukturen bilden mit mehr Informationen und mit mehr Energieverbrauch, das ist aus der puren chemischen Kombinatorik, aus den primären physikalischen Eigenschaften der beteiligten Komponenten nicht direkt ablesbar.
  17. Dies zeigt sich eigentlich erst auf einer ‚Metaebene‘ zur primären Struktur, im Lichte von Abstraktionen unter Benutzung symbolischer Strukturen (Theorien), im Raum des ‚bewussten Denkens‘, das selbst in seinem Format ein Produkt dieses biologischen Informationsgeschehens ist. Die schiere Größe des mathematischen kombinatorischen Raumes der Möglichkeiten, wie die beteiligen Materialien sich formieren können, zeigt die absolute Unsinnigkeit, dieses komplexe Geschehen vollständig dem ‚reinen Zufall‘ zuzuschreiben. Aus der denkerischen Unmöglichkeit einer bloß zufallsgesteuerten Entstehung von Leben folgt zwingend, dass die zufälligen Generatoren eingebettet sein müssen in einen Kontext von ‚Präferenzen‘, die sich aus dem gesamten Kontext (Energie –> Materie –> Sterne, Planeten… –> Planet Erde –> physikalisch-chemische Eigenschaften …) herleiten. Die Entstehung bestimmter chemischer Verbindungen ist eben nicht beliebig sondern folgt den physikalischen Eigenschaften der beteiligten Komponenten. Determinismus kombiniert mit freier Kombinatorik ist ein Medium von Emergenz, in dem sich offensichtlich Schritt für Schritt all das zeigt, was in der ‚Vorgabe‘ der beteiligten materiellen Strukturen ‚angelegt‘ ist.
  18. Legt man die aus der Vergangenheit bekannten Deutungen von ‚Materie‘ und ‚Geist‘ als ‚zeitgebunden‘ und heute irreführend beiseite, dann zeigt sich das atemberaubende Bild einer graduellen, inkrementellen ‚Sichtbarwerdung‘ von ’neuem Geist‘ als der ‚inneren Form der Materie‘ sprich der ‚inneren Form der Energie‘. Alle mir bekannten ‚Bilder‘ und ‚Sprechweisen‘ von ‚Geist‘ und ‚Seele‘ aus der Vergangenheit sind, verglichen mit dem Bild, das sich uns heute mehr und mehr bietet geradezu armselig und primitiv. Warum tun wir uns dies an? Literatur, Musik, bildende Künste usw. sind Ausformung von ‚Geist‘, ja, aber eben von einem universalen kosmischen Geist, der alles bis in die allerletzten Winkel der Atome und atomaren Partikel durchdringt, und der die ‚künstliche Abschottung‘ der sogenannten ‚Geisteswissenschaften‘ von den ‚Naturwissenschaften in keiner Weise mehr gerechtfertigt erscheinen lässt.]
  19. Duve lässt keinen Zweifel an dem hochspekulativen Charakter seiner Überlegungen zu den Vorstufen einer möglichen RNA-Welt. Die verschiedenen Überlegungen, die er vorstellt, klingen nichtsdestoweniger interessant und lassen mögliche Mechanismen erkennen. Klar ist auf jeden Fall, dass mit dem Auftreten ‚informationsrelevanter‘ RNA-Moleküle das Zeitalter der ‚chemischen Evolution‘ – ohne erkennbare autonom wirkender Informationsstrukturen – zu Ende geht und mit dem Auftreten von RNA-Molekülen das Zeitalter der ‚biologischen Evolution‘ beginnt. Leitprinzip in allem Geschehen ist die Einhaltung der physikalisch-chemischen Gesetze und der Aufbau des Komplexeren aus einfacheren Vorstufen. (vgl. SS.46-51)


  20. Fortsetzung Teil 3

 

Für einen Überblick über alle bisherigen Einträge nach Titeln siehe HIER

Ich glaube an Gott, was brauch ich dann die (komplizierten) Wissenschaften?

(1) Während einer Geburtstagsfeier mit vielen Gästen (wo sonst…) nahmen die Gespräche zur fortgeschrittenen Stunde immer intensivere Verläufe. An einer Stelle sagte dann eine engagierte Frau, dass Sie an Gott glaube, an die Welt als Schöpfung; das gäbe ihr Kraft und Sinn; und so lebe sie es auch. Die Wissenschaft brauche sie dazu nicht; die sei eher verwirrend.

 

 

(2) Mit solch einem ‚Bekenntnis‘ ist das Wissen zunächst einmal ’neutralisiert‘; was immer Wissen uns über den Menschen und seine Welt sagen könnte, es findet nicht statt, es gibt kein Wissen mehr. Mögliche Differenzierungen sind wirkungslos, mögliche Gründe unwichtig; mögliche Infragestellungen, gedankliche Herausforderungen können nicht greifen; damit verbundene mögliche Spannungen, Erregungen können nicht stattfinden. Die Welt ist ‚wie sie ist‘, d.h. wie das aktuelle Wissen des so Glaubenden sie zeichnet. Alles hat seine Ordnung, eine Ordnung die sich nicht beeinflussen lässt durch Wissenschaft.

 

 

(3) In gewisser Weise hört nach einem solchen Bekenntnis jedes Gespräch auf. Man kann zwar noch weiter Reden, aber inhaltlich kann man sich nur noch auf wechselseitige Bestätigungen beschränken: Ja, ich sehe das auch so; ja, ich glaube das auch; ja, ich finde das gut;…. abweichende Meinungen haben streng genommen keinen Platz in diesem Gefüge…weil sie einfach ausgeblendet werden (Menschen mit mehr Aggressionspotential gehen dann allerdings zum ‚Angriff‘ über und versuchen, die ‚abweichende‘ Meinung nieder zu machen). Aber auch das ‚einfache Ausblenden‘ einer anderen Meinung, zu sagen, dass man abweichende Meinungen nicht hören will, ist eine Form der ‚Entmündigung‘ und damit eine Form von ‚Missachtung‘. Wahrheit ist dann nicht mehr möglich.

 

 

(4) Mich hat diese Einstellung geschockt. Wenn man weiß, auf welch schwankendem Boden jegliche Form von Wissen über uns, die Welt und Gott steht und wenn man weiß, wie viel Unheil über Menschen im Namen des Glaubens gekommen ist, weil die Gläubigen zu wissen glaubten, was wahr ist und in diesem Glauben tausende andere unterdrückt, verfolgt, gefoltert und getötet haben, weil sie auch glaubten, dass ihre Form des Glaubens über alle anderen Erkenntnisse und Wahrheiten ‚erhaben‘ sei, dann ist jegliche Form der Ablehnung von Wissen (ob durch Verweis auf Gott (Wer kennt ihn wirklich), durch Verweis auf eine politische Ideologie, durch Verweis auf ethnische Besonderheiten, durch Verweis auf ‚besonderes Blut‘, usw.) letztlich in einem identisch: die bewusste willentliche Entscheidung, sein eigenes Bild von der Welt auf keinen Fall zu verändern; was immer die Wissenschaften über uns und die Welt herausfinden, das wird als ‚irrelevant‘ neutralisiert.

 

 

(5) Allerdings zeigt sich am Beispiel solcher ‚alltäglicher‘ Konflikte auch sehr unmittelbar, dass entwickelte (wissenschaftliche) Formen von Wissen alles andere als selbstverständlich sind. Es hat nicht nur viele tausend Jahre gebraucht, bis die Menschen mit komplexeren Wissensformen umgehen konnten, es ist heute, in unserer Gegenwart so, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass nicht nur viele derjenigen, die nicht studiert haben, ein gebrochenes Verhältnis zu wissenschaftlichem Wissen haben, sondern dass ebenso viele derjenigen, die akademische Abschlüsse vorweisen können (mehr als 50%?), das ‚Wesen von wissenschaftlichem Wissen‘   nicht verstanden zu haben scheinen und Anschauungen über uns Menschen und die Welt für ‚wahr‘ halten, die — nach meinem Kenntnisstand — ziemlich abstrus und willkürlich sind (so eine Art ‚Voodoo‘ unter dem Deckmantel von Wissenschaft und Aufklärung).

 

 

(6) Es macht wenig Sinn, über diesen Sachverhalt zu ‚moralisieren‘. Es ist die Realität, in der wir leben. Da unser Handeln von unserem Wissen — oder von der Meinung anderer, denen wir einfach folgen — geleitet ist, haben solche Auffassungen ihre alltäglichen Wirkungen.

 

 

(7) Wenn man also versucht Wissen ernst zu nehmen; wenn man Fragen zulässt und sie versucht ernsthaft zu beantworten; wenn man sogenannte Selbstverständlichkeiten immer wieder mal hinterfragt, um sich zu vergewissern, dass man keine falschen Voraussetzungen mit sich herum trägt; wenn man versucht, aus den vielen Detailerkenntnissen größere Zusammenhänge zu konstruieren und auch wieder zu verwerfen; wenn man versucht, Sachverhalte zu Ende zu denken, obgleich wenig Zeit ist, man erschöpft ist, und keiner davon etwas hören will, dann darf man dafür kein Lob erwarten, keine Ermutigung, kaum Zustimmung, sondern eher Ablehnung, Angst, Abwehr oder Bemerkungen wie ‚Was Du da wieder denkst‘, ‚Das braucht doch kein Mensch‘, ‚Hast Du nichts Besseres zu tun‘, ‚Das nervt einfach‘, ‚Mir ist das alles zu kompliziert‘,….

 

 

(8) Sich auf Dauer ernsthaft mit ‚wahrem‘ Wissen zu beschäftigen (nicht mit Modetrends, Buzz Words, usw.) liegt quer im Alltag, darf auf keine Unterstützung hoffen. Die meisten Menschen suchen nicht die ‚Wahrheit‘, sondern eher Bestätigungen für ihre aktuelle Unwahrheit; Bestätigungen fühlen sich einfach besser an als Infragestellungen durch Erkenntnisse, die dazu zwingen, das eigene Bild von der Welt zu verändern.

 

 

(9) Jedes Wissen hat ‚Ränder des Wissens‘, jene Bereiche, die vom bisherigen Wissen noch nicht erschlossen sind bzw. die durch aktuelles Wissen ‚verstellt‘ werden, d.h. ich werde im Wissen erst weiter kommen, wenn ich dieses ‚verstellende‘ Wissen als ‚falsch‘ bzw. ‚unzureichend‘ erkannt habe. Wie soll dies geschehen? Menschen, die hauptsächlich nur Bestätigungen suchen, haben praktisch keine Chance, die ‚Falschheit‘ ihres Wissens zu entdecken. Sie sind in ihrem aktuellen Wissen quasi gefangen wie in einem Käfig. Da sie ihren Käfig nicht sehen, ihn ja sogar für ‚richtig‘ halten, wird sich der Käfig im Normalfall immer nur noch weiter verfestigen.

 

 

(10) Das biologische Leben, von dem wir Menschen ein winziger Teil sind, hat die Jahrmilliarden dadurch gemeistert, dass es nicht einer bestimmten vorgegebenen Ideologie gefolgt ist, sondern dass es ‚alles, was möglich wahr, einfach probiert hat‘. Man kann dies ‚Zufall‘ nennen oder ‚Kreativität‘ oder ‚Spiel‘; letztlich ist es so, dass Zufall/ Kreativität/ Spontaneität/ Spiel jeglicher fester Form auf Dauer haushoch überlegen ist, da feste Formen von Wissen Spezialisierungen darstellen für bestimmte Aspekte von Welt, meistens dazu sehr statisch, und solche Formen sind sehr schnell sehr falsch. Besser zu sein als ‚zufallsgesteuertes Wissen‘ ist eine sehr hohe Messlatte, und biologische Systeme wirken nur deshalb gegenüber reinem Zufall überlegen, weil sie die Erfahrungswerte von 3 Milliarden Jahren ’spielerischer Evolution‘ in sich angesammelt haben. Mehr als drei Milliarden Jahre Experimente mit hunderten Milliarden Beteiligten pro Jahr sind eine Erfahrungsbasis, die in sich ein Wunder darstellt, das zu begreifen nicht leicht fällt. Wir, die wir von diesem ‚angesammelten Wissen‘ profitieren können, ohne dass wir auch nur irgendetwas selbst dazu beigetragen haben, haben meistens kein gutes Gefühl dafür, welch ungeheure Leistung es bedeutet, das bisherige Weltwissen auch nur ein kleines Stück zu erweitern. Wer sich die Mühe machen würde, beispielhaft  — von vielen möglichen spannenden Geschichten — die Geschichte des mathematischen Denkens zu verfolgen, das zum Herzstück von jeglichem komplexen Wissen gehört, kann sehen, wie sich die besten Köpfe über 3000 und mehr Jahre bemühen mussten, bis die Mathematik eine ‚Reife‘ erlangt hat, die erste einfache Wissenschaft möglich macht. Zugleich gilt, dass in unseren Zeiten, die mehr denn je von Technologie abhängen, das Wissen um Mathematik bei den meisten Menschen schlechter ist als bei den Denkern der Antike. Es ist eben nicht so, dass ein Wissensbereich, der über Jahrtausende mühsam aufgebaut wurde, dann automatisch in der gesamten nachfolgenden Kultur verfügbar ist; ein solches Wissen kann auch wieder verfallen; ganze Generationen können in der ‚Aneignung von Wissen‘ so versagen, dass ‚errungenes Wissen‘ auch wieder ‚verschwindet‘. Wissen in einer Datenbank nützt nichts, wenn es nicht reale Menschen mit realen Gehirnen gibt, die dieses Wissen auch tatsächliche ‚denken‘ und damit anwenden können. Immer größere Datenbanken und immer schnellere Netze nützen nichts, wenn das reale Wissen in den realen Köpfen wegen biologischer Kapazitätsgrenzen einfach nicht ‚mithalten‘ kann…

 

 

(11) Unsere heutige Kultur ist in der Tat an einer Art Scheideweg: unsere Technologie entwickelt sich immer schneller, aber die biologischen Strukturen unserer Körper sind bislang annähernd konstant. Bedeutet dies, dass (i) die Ära der Menschen vorbei ist und jetzt die Zeit der Supercomputer kommt, die den weiteren Gang der Dinge übernehmen? oder (ii) haben wir einen Wendepunkt der Entwicklung erreicht, so dass ab jetzt aufgrund der biologischen Begrenztheit der Menschen es nicht mehr nur um ’schneller‘ und ‚mehr‘ geht sondern um ‚menschengemäßere künstliche Intelligenz‘, die ein Bindeglied darstellt zwischen dem kapazitätsmäßig begrenztem menschlichem Denken einerseits und einer immer leistungsfähigeren Technologie? oder (iii) Beginnt jetzt die Ära der angewandten Gentechnologie, die uns in die Lage versetzt, unseren Körper schrittweise so umzubauen, dass wir die Erfordernisse eines biologischen Lebens auf der Erde besser meistern könne als bisher? Die Alltagserfahrung legt vielleicht (i) nahe, die bisherige historische Entwicklung deutet aber auf (ii) und (iii) hin. Denn — und das übersieht man leicht — der Weg des Lebens in den letzten ca. 3.2 Milliarden Jahren hat permanent Probleme lösen müssen, die verglichen mit den uns bekannten Problemen um ein vielfaches größer waren. Und das Prinzip des Lebens hat dies alles gemeistert, ohne dass wir auch nur einen Millimeter dazu beigetragen haben. Wenn wir uns also weniger an unsere vielfältigen kleinkarierten Ideologien klammern würden und stattdessen stärker auf die ‚innere Logik des Lebens‘ achten, dann sind die potentiellen Lösungen in gewisser Weise ’schon immer da‘. Dies ist nicht als ‚Determinismus‘ oder ‚Vorsehung‘ misszuverstehen. Nein, die Struktur der Materie enthält als solche alle diese Strukturen als Potential. Unsere gesamtes heutiges Wissen (von dem unsere Körper mit ihren Gehirnen ein kleiner Teil sind) ist letztlich nichts anderes als das versammelte Echo der Milliarden von Experimenten, in denen wachsende biologische Strukturen in einem permanenten Dialog mit dem vorfindlichen Universum Aspekte dieses Universums ’sichtbar‘ gemacht haben; wahres Wissen zeigt in dem Sinne nichts ‚Neues‘ sondern macht ’sichtbar‘, was schon immer da war bevor es dieses Wissen explizit gab. ‚Wissen schaffen‘ heißt im Wesentlichen ‚in Dialog treten‘, d.h. ‚Interagieren‘, d.h. ‚ein Experiment durchführen‘ und die Ereignisse im Umfeld der Dialoge ‚geeignet zusammenführen‘ (Bilder, Modelle, Theorien…). Was ‚Denken‘ wirklich ist wissen wir bislang eigentlich immer noch nicht wirklich, was unsere Gehirne aber nicht daran hindert, kontinuierlich Denkarbeit zu leisten. Unsere Gehirne denken für uns. Wir sind quasi ‚Konsumenten‘ dieser wundersamen Gebilde. Dass unsere Gehirne nicht ‚beliebig gut‘ denken sondern so ihren ‚eigenen Stil‘ pflegen, das merkt man erst nach vielen Jahren, wenn man sich intensiv mit der Arbeitsweise des Gehirns beschäftigt. Wenn wir über die ‚Welt‘ reden dann reden wir nicht über die Welt ‚wie sie um uns herum ohne uns ist‘, sondern über die Welt, ‚wie sie unsere Gehirne für uns aufbereiten‘. Unsere Gehirne arbeiten so perfekt, dass uns dieser fundamentale Unterschied lange Zeit — vielen Menschen vielleicht zeit ihres Lebens nie — nicht auffällt.

 

 

(12) Wir sind Teil dieses gigantischen Geschehens. Wir finden uns darin vor. Leben ist mehr als die Worte, die man darüber formulieren kann. Einen Sinn gibt es natürlich; er hängt nicht davon ab, ob wir ihn sehen oder nicht sehen, glauben oder nicht glauben. Der wahre Sinn durchdringt alles von Anbeginn. Wir können versuchen, uns ihm gegenüber zu verschließen, aber wir selbst mit unserem Körper als Teil des Ganzen, enthalten so viel von diesem Sinn, dass wir geradezu ‚voll gepumpt‘ sind mit diesem Sinn. Vor allem Erkennen kann man es auch fühlen.

 

 

(13) Was ‚Gott‘ mit allem zu tun hat? Ich bin mir nicht sicher, ob wir als Menschen diese Frage überhaupt verstehen können.

 

 

Hoffmanns Erzählungen

  1. Nach Jahren war ich wieder mal in der Oper (Frankfurt); ‚Hoffmanns Erzählungen‘ in der Vertonung von Jaques Offenbach. Zum ersten Mal aufgeführt in Paris am 10.Februar 1881. Der Komponist selbst starb vor der Uraufführung am 5.Okt.1880 in Paris. Er hinterlässt eine vollständige Klavierpartitur für die ersten drei Akte und Skizzen für die restlichen zwei.

  2. Von den vielen Dingen, die man über den Text und die Musik schreiben könnte (und so viel wurde auch schon geschrieben) hier jetzt nur dieses: im Handlungsteil erleben wir einen Hauptdarsteller Hoffmann (gleichnamig mit dem Autor des Textes), der drei Beziehungsgeschichten durchlebt, die alle in der Enttäuschung enden.

  3. Die erste Frau, in die er sich verliebt, wird irgendwann ‚enttarnt‘ als ein ‚Automat‘ (heute würden wir vielleicht sagen ‚Roboter‘); gar kein Mensch. Ob die Liebe trotz allem bis zu einem gewissen Grade vielleicht doch Bestand gehabt hätte, erfahren wir nicht, weil der Automat von einem anderen Enttäuschten zerstört wird.

  4. Die zweite Frau, in die er sich verliebt, ist todkrank, ohne es zu wissen. Der schöne Körper als Projektionsfläche der Erwartungen, ’stirbt‘ sehr bald. Die wunderschöne Stimme des Körpers erklingt zuvor, erweckt schöne Gefühle, bewirkt aber die Beschleunigung des körperlichen Todes. Die Frau selbst, Antonia, erlebt unterschiedlichste starke Gefühle in sich, die sie hin und her reißen, weil sie nicht weiß, wie sie diese Gefühle deuten soll. Welches Gefühl ist ‚richtig‘?

  5. Die dritte Frau wird als ‚Kurtisane‘ bezeichnet (Prostituierte, Hure, erotische Dienstleisterin,…). Obgleich als solche dem Hauptdarsteller bekannt und abgelehnt, gelingt es ihr, seine Zuneigung durch eine Verführung der anderen Art zu gewinnen: sie präsentiert sich als ‚Opfer‘ und bietet sich ihm als ‚Belohnung‘ an, wenn er sie aus ihrer Gefangenschaft befreit. Als die Verführung gelingt, entlockt sie ihm sein ‚Spiegelbild‘ und bringt ihn dazu, den Mann zu erschießen, von dem sie behauptet, dass er sie gefangen halte.

  6. Man kann diese bisherige Handlung als ‚billige‘ Geschichten abtun, als ’seichte‘ Unterhaltung, als Boulevardstoff (als der er zu seiner Zeit sicher auch gehandelt wurde; E.T.A. Hoffmann war seinerzeit mit seinen skurrilen Geschichten sehr populär), aber man muss nicht. Je nach Standpunkt bieten Sie Ansatzpunkte für weiterreichende Betrachtungen.

  7. In der Frankfurter Aufführung folgt den drei verunglückten Beziehungsgeschichten noch ein Epilog, in dem die ‚wahre‘ Freundin den Hauptdarsteller in seinem Leid und Suff ‚bespricht‘; sie sieht in seinem ‚Leid‘ eine Chance zu Läuterung, zur tieferen Erkenntnis. Details bleiben im Dunkel. Möglicherweise erhofft Sie sich als konkrete Person durch die Befreiung des Hauptdarstellers von ‚falschen‘ Liebesbildern eine stärkere Öffnung und Zuwendung für sie als Freundin. Aber dies bleibt im Ungewissen.

  8. Das ist das Bizarre an diesem Stück: der Weg ins ‚Unglück‘ in Form selbstzerstörerischen Leidens und begleitendem Suff wird breit und lustvoll inszeniert (eine gewisse Parallele zum Lebensstil und Leben von Jacques Offenbach und E.T.A.Hoffmann selbst), ein Ausweg aber nur angedeutet. Die treibenden Kräfte der Handlung sind ein buntes Gemisch, aus Sehnsüchten, Leidenschaft, der viel bemühten ‚Liebe‘, Drogen, Ruhmsucht, die aufgrund ihrer fragilen und zeitlich beschränkten Natur auf Scheitern programmiert sind. Und dann der Absturz, das Versagen, das Scheitern, das Zerbrechen, das Entschwinden des begehrten Objektes, das zu einem ebenso schmerzenden Gemisch aus enttäuschten Gefühlen führt, die das innere Erleben überschwemmen und zu ersticken drohen.

  9. So fantastisch die Struktur von uns Menschen vor dem Hintergrund einer langen evolutionären Entwicklungsgeschichte auch erscheinen mag, im alltäglichen Leben des vielfältigen komplexen Miteinanders erweisen sich die emotionalen Komponenten der Bewertung und Steuerung als ‚primitiv‘ und vielfältig überfordert. So mag man z.B. die hormonale Programmierung des männlichen Gehirns auf spezifische weibliche Attribute gattungstechnisch als ‚überlebensnotwendig‘ klassifizieren oder sie subjektiv bisweilen als ‚angenehme‘ empfinden, in den meisten Fällen ist diese Programmierung aber unangepasst, störend, quälend bis hin zu zerstörend und Enttäuschungen produzierend. Das hormonale Programm als solches ist sehr dumm, es ist ‚blind‘. Ähnlich sind viele tief sitzende primitiven Bedürfnisse wie z.B. an ‚Kontrolle‘, an ‚Macht‘ und an ‚Ruhm‘ Fixierungen, die den betreffenden ‚von innen fesseln‘, ihn an bestimmte Ereignisse, Situationen ‚binden‘. Enttäuschungen hier, Zerstörungen dort sind unausweichlich; eine vergiftete Atmosphäre ist das begleitende ‚Parfüm‘ dieser Verhaltensprogramme.

  10. Wenn am Ende von Hoffmanns Erzählungen das ‚Leiden‘ als mögliches Tor zur Läuterung, zur Erlösung bemüht wird, dann fragt man sich: wieso? Warum und wie kann das Leiden die Situation verbessern, und , warum erst Leiden? Warum nicht gleich den ‚besseren‘ Weg wählen, wenn es denn einen gibt. Warum soviel Zeit mit ‚Schrott‘ verbringen, wenn es doch etwas ‚Besseres‘ gibt?

  11. Das Leiden wird gerne und oft bemüht als der ‚Preis‘ für ein falsches Leben oder eben als möglicher ‚Einstieg‘ in ein Besseres. Doch erscheint dies zu billig. Denn weder muss das Leben immer und überall zum ‚Leiden‘ führen noch ist gesagt, dass Menschen durch Leiden tatsächlich zu einem ‚besseren‘ Zustand finden. Viele (die meisten?), die durch den Gang ihres konkreten Lebens in den inneren Zustand des ‚Leidens‘ kommen, finden dadurch nicht zu einem besseren Leben. Sie verfangen sich in diesen Gefühlen und finden keinen Ausgang. Es ist wie ein Strudel, der alles weg zu reißen scheint, was vielleicht Hoffnung geben könnte. Die Betroffenen wirken wie Ertrinkende, bei denen nicht klar ist, welcher ‚Rettungsring‘ noch greift.

  12. Der Verweis auf das Leiden erscheint daher eher als hilflose Geste gespeist von einem Funken Hoffnung, dass es trotz all des erlebten Scheiterns irgendwie doch noch irgendwo etwas gibt, was da heraus führt.

  13. Im Buddhismus hat man hier eine sehr einfache Antwort: ‚Man muss sich von all dem lösen, was Leiden erzeugen kann‘. Im radikalen Sinn würde dies bedeuten, dass man seinem aktuellen Leben ein Ende bereitet, da unsere aktuelle Lebensform sich genau durch diese implizite ‚Spannung‘ definiert. Im Gegensatz zur ‚unbelebten‘ Materie definiert sich Leben ja gerade dadurch, daß durch Zusammenführung von freier Energie aus der Umgebung Potentialunterschiede aufgebaut werden, die durch die daraus resultierenden Differenzen/ Spannungen zu jenen Informationsflüssen fähig sind, die das Geschehen in den Zellen, in den Zellverbänden, in den Organen, im Körper ermöglichen. Wir sind körperlich nur das, was wir sind, weil hunderte von Milliarden Potentialunterschiede sich gegenseitig, wechselwirkend anregen, anstoßen, und zwischen Spannung und Entspannung hin und her oszillieren. Und dies alles nicht ‚ungeordnet‘, sondern in – fast möchte ich sagen ‚geheimnisvollen‘ – Rhythmen, deren Ungleichzeitigkeit und Gleichzeitigkeit die Symphonie eines bewussten Gehirns ermöglichen. Aus dieser Perspektive erscheint das Motto des Buddhisus als lebensfeindliche Ideologie, die genau das, was Leben ausmacht, verteufelt. Das erscheint mir nicht zielführend.

  14. Unsere aktuelle körperliche Lebensform, die ein Durchgangsstadium repräsentiert von ungefähr -3.6 Milliarden beginnend bis zu einem unbekannten Enddatum, enthält neben sehr vielen ‚eingebauten‘ (‚angeborenen, genetisch bedingten,….) Mechanismen, die sowohl hilfreich als auch störend, belastend sein können, auch verschiedene Möglichkeiten, sich ‚zusätzliche‘ Erkenntnis- Erlebens- und Handlungsebenen zu verschaffen, die über die eingebauten Tendenzen hinausführen können. Die Antonia aus Hoffmanns Erzählungen wird zwischen verschiedenen erlebten Zuständen (Gefühlen) hin und her gerissen, weil sie nicht weiß, wie sie die verschiedenen Gefühle ‚bewerten‘, ‚deuten‘ soll. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir heute in der Kunst der Gefühlsdeutung im Alltag nennenswert weiter gekommen sind. Die Literatur über Gefühle ist zwar uferlos, aber ihr ‚Wahrheitsgehalt‘ erscheint mir gering, da meistens sehr beliebig. Die wissenschaftliche Psychologie hilft partiell weiter, sehr partiell. Das größte Hindernis für einen substantiellen Fortschritt in Sachen besseres Verständnis der menschlichen Emotionen und ihre konstruktive Einbindung in den Alltag sehe ich darin, das wir bislang nicht zugeben können, dass wir fast nichts Brauchbares wissen. Wissenschaft wird zur Pseudowissenschaft, wenn sie vorgibt, mehr zu können als sie wirklich kann.

  15. Eine Oper besteht natürlich nicht nur aus Handlungen und Text, sondern auch aus Klängen, die Handlung und Text ‚umhüllen‘. Sie dringen ins Ohr und bewegen unsere Emotionen (und den Verstand?). Aber, es ist bekannt, dass das visuelle System des Menschen das auditive ‚dominiert‘: erste ’sehen‘ wir und dann ‚hören‘ wir. So entsteht in einer Oper eine diffuse Parallelität zwischen Zuschauer und Zuhörer, zwischen Bild und Klang, eine Parallelität, die naturgemäß nicht ‚aufgeschlüsselt‘ ist. Wer nicht vorher den Text, die Handlung und die Partitur intensiv analysiert hat, der wird nahezu nichts von den Details der Musik ‚mitbekommen‘. Es bleiben im Gesamteindruck Höhen und Tiefen, Laut Leise, diverse Klangfarben, emotionale Schwingungen, anrührende Stimmen, blasse Abschnitte, usw. im ‚Kontext‘ einer Handlung, die anspricht oder nicht. Ist dies eine ‚Versklavung‘ der Musik durch das Auge? Nur, wenn man es so sehen will. Im ‚reinen‘ Konzert wird das Auge weitgehend neutralisiert. Es gibt viele Formen der Einwirkung auf das Gehirn.

WIR SIND NICHT NICHTS — Oder: Zur Ethik des Lebens

(1) Die meisten Menschen haben wenigstens einmal im Leben in den nächtlichen Sternenhimmel geschaut. manche vielleicht mit einem Fernglas oder einem Teleskop verstärkt….Der Blick in dieses Meer an Sternen, Sonnen, Galaxien kann verwirren. Milliarden von Sonnen sollen da draußen sein. Ein beständiges Kommen und Gehen noch heute. Wir, am Rande der Milchstraße, eine von vielen Millionen Galaxien, auf der Flucht voreinander, seit 13 oder mehr Milliarden Jahren…Wen beschleicht da nicht das Gefühl einer großen Verlorenheit, eine Winzigkeit in einem schier unendlichen Raum, wo kein noch so lautes Lachen das Vakuum des Weltraums überwinden kann, das uns allenthalben umgibt….

(2) Ein Resümee dieser Art von Betrachtung kann sein: Wir sind buchstäblich ‚Nichts‘. Die Wahrheit aber ist: Wir sind nicht Nichts!

(3) In dem Moment in dem einer diese meine Worte liest, muss er sich sagen, dass er ‚lebt‘; nur deswegen kann er diese Worte lesen.

(4) Dass jemand ‚lebt‘ bedeutet, dass er  einen ‚Körper‘ hat, der weit mehr als 100 Milliarden Zellen hat, wo jede Zelle in sich ein kleiner Kosmos ist mit einer Komplexität, die bis heue noch nicht vollständig erforscht ist. Viel wichtiger noch: diese Zellen sind selbst ‚lebendig‘: unfassbar viele chemische Prozesse finden in ihnen statt, in jedem Moment. Sie tauschen ‚Botschaften‘ aus, sie koordinieren ihre Prozesse. Sie formen unterschiedliche Funktionseinheiten von einer Komplexität, die sich dem Begreifen bislang weitgehend widersetzt. Die Physiologen sprechen von ‚Organen‘ (Leber, Niere, Herz, Blutkreislauf, Gehirn, Immunsystem,….), aber das Wort ‚Organ‘ sagt so gut wie garnichts; eher verdeckt es das ungeheuerliche Geschehen, was sich hier kontinuierlich ereignet. Außerdem, beständig sterben Zellen auch wieder ab und neue bilden sich; ein ‚Kommen‘ und ‚Gehen’….Kein einzelner Mensch kann bislang umfassend begreifen, was hier geschieht. Es gibt nicht nur ‚Galaxien da draussen‘, es gibt solche ‚Galaxien‘ auch  ‚in uns’……

(5) Zudem, ein biologisches Lebewesen ‚entsteht‘: es beginnt als eine einzige Zelle, die anfängt, sich zu teilen, immer mehr, unaufhaltsam; gleichsam ‚aus dem Nichts‘ entsteht etwas, ein Symphonie an Zellen, die sich in einem besonderen ‚Rhythmus‘ teilen, aber nicht ‚planlos‘, sondern einer ‚inneren Stimme‘ in Form von chemischen Regeln folgend, die mehr und mehr eine ‚Ordnung‘ erkennen lassen, mehrere Ordnungsebenen, aufeinander aufbauend, jede dieser über hundert Milliarden Zellen weiß, ‚was sie zu tun hat’….

(6) Diese Entstehung ‚lebender Strukturen‘ läuft den Gesetzen der Physik bis zu einem gewissen Grad zuwider. Nach dem Gesetzt der Entropie soll sich die Energie in einem geschlossenen System auf Dauer ausgleichen. Die Bildung eines lebenden Systems ist aber das genaue Gegenteil: an einem bestimmten Punkt im System wird Energie in Form von Zellverbänden ‚angehäuft‘, ‚verdichtet‘. Die Physik hat dafür noch kein Gesetz. Fakt ist aber, dass dies im großen Maßstab geschieht; es muss also ‚Gesetze‘ geben, die dies beschreiben. Die Physik läßt uns hier bislang im Stich.

(7) Wir wissen heute, dass es bis zur Entstehung unseres Sonnensystems mit der Erde und dem Mond ca. 10 Mrd Jahre gebraucht hat; weitere ca. 3.5 Mrd Jahre hat es gedauert, bis das Lebens aus ersten RNA- und DNA-Molekülen sich bis zur heutigen Form ‚hochgearbeitet‘ hat. Zeiträume, die für uns, die wir bislang ca. 50-70 Jahre im Schnitt leben, jenseits aller Vorstellungskraft sind. Und dennoch, die entscheidende Botschaft ist, dass wir mit unserem unglaublich fantastischem Körper nur deshalb existieren, weil wir Teil eines umfassenden gigantischen  Prozesses sind, innerhalb dessen sich Miliarden unterschiedlichster biologischer Körper in Form von Tieren, Pflanzen, Mikroben, Bakterien usw.  als eine ‚Arbeitsgemeinschaft‘ auf dem Planet Erde so eingerichtet hat, dass jeder auf seine Weise Energie aus der Umgebung entzieht und wiederum Energie dem anderen in irgendeiner Weise ‚zuspielt‘, sehr oft zum Preis des eigenen ‚Todes‘! Kein Körper kann alleine existieren! Leben heißt ‚per se‘, dass man aus anderem Leben hervorgegangen ist und dass man nur im Zusammenspiel mit anderen Lebensformen selber leben kann!

(8) In dem Masse, wie einem diese Zusammenhänge klar werden, verliert der einzelne seine ‚isolierte Winzigkeit‘ sondern es wird deutlich, dass es tatsächlich in erster Linien nur ein einziges großes Projekt gibt, das planetenumspannende Projekt Leben, das alle Tiefen (Erdreich, Ozeane) und Höhen (Luftschichten Atmosphäre) umfasst, das auf dem Prinzip der ‚Weitergabe von Generation zu Generation‘ beruht, das an ‚Extremen‘ (Hitze, Kälte, Trockenheit) geschult wurde, und das auf Effizienz basiert, da alle Ressourcen grundsätzlich knapp sind (dass wir ‚Menschen‘ als selbsternannte ‚Ego-Idioten‘ in der Lage sind, in wenigen Jahrtausenden alles zu zerstören, was in vielen Milliarden Jahren aufgebaut wurde, soll hier jetzt kein Thema sein).

(9) Obgleich schon die bisherige Betrachtungsweise viele Hinweise liefert, die den Gedanken unterstützen, dass wir als Teil des ‚Projektes Leben‘ Teil von etwas sind, das Milliarden Jahre  überdauern kann und dazu einen kompletten Planeten bis zu einem gewissen Grad verändern konnte –und wir in diesem Sinne keinesfalls ‚Nichts‘ sind–, ist dies noch nicht die ganze Geschichte. Denn, alle diese wunderbaren Eigenschaften, die uns am Beispiel der biologischen Strukturen  ins Auge fallen, kommen ja wiederum nicht aus dem ‚Nichts‘, sondern gründen darauf, dass  die Bestandteile von Molekülen, die Atome, selbst keine ’neutralen, blassen Nichtse‘ sind sondern in sich eine reiche –wiederum höchst komplexe– Struktur besitzen, die so ist, dass jedes Atom –bildlich gesprochen– ein Bündel von spezifischen Eigenschaften verkörpert, verschiedene ‚Farben‘, die nach bestimmten ‚vorgegebenen Gesetzen‘ (!) auf unterschiedliche Weise in ‚Wechselwirkung‘ treten. Atome als Atome können ’nicht Nichts‘ sein in dem Sinne, dass Sie die anderen Atome nicht ‚wahrnehmen‘ würden; ein Atom ist quasi dazu ‚verurteilt‘, mit einem anderen Atom in Wechselwirkung zu treten. In diesem Sinne sind Atome keine ‚geschlossenen‘ Systeme, sondern ‚offene‘ Systeme: sie tauschen zwangsläufig Eigenschaften aus und formen so systemische Einheiten ‚oberhalb‘ der Organsationsebene ‚Atom‘. Dies bedeutet, was immer wir an Atomverbindungen vorfinden bis dahin, dass wir Moleküle haben, die RNA- und DNA-Moleküle bilden können, diese Verbindungen  quasi ‚erzwungen‘ sind aufgrund der Eigenschaften, die einzelne Atome ‚charakterisieren‘. Dies bedeutet, in dem Moment wo es überhaupt solche Atome gibt wie jene, die unser Universum charakterisieren, in dem Moment ist der Weg zu komplexeren Einheiten angelegt.  Dass es bislang in dem uns bekannten Weltall nur einen einzigen Ort gibt, an dem diese ‚Kondensierung von komplexen lebensfähigen Strukturen‘ tatsächlich stattgefunden hat, zeigt –unbeschadet der Möglichkeit, dass wir noch woanders im Weltall irgendwann Lebensformen finden können– dass diese Lebensform, von der wir ein Teil sind, etwas extrem Seltenes ist! In anderen Zusammenhängen sprechen Menschen gerne davon, dass etwas ‚kostbar‘ sei und man deswegen dafür ein ‚hohen Preis zu zahlen bereit wäre‘. Im Falle des biologischen Lebens im Weltall, das an Kostbarkeit kaum zu überbieten ist, verhalten wir uns bislang eher als grenzenlose ‚Verächter‘ und treten es (und damit uns selbst) in  einer Weise mit Füßen, die kaum zu überbieten ist.

(10) Es wird heute immer noch die Meinung vertreten, dass es aufgrund der Größe des Weltalls mit höchster Wahrscheinlichkeit noch an vielen anderen Stellen im Universum Leben gibt und dass dieses Leben auch ganze andere Formen haben könnte als jene, die wir bislang kennen. Angesichts der immer mehr bekanntwerdenden Komplexität von Leben und der Entwicklung des Lebens auf der Erde in diesem Sonnensystem in dieser unserer Galaxie ist die mathematische Wahrscheinlichkeit, dass ein ähnlich komplexer Prozess irgendwo anders auch nochmals stattfinden konnte statistisch so gering ist, dass die angeführte Größe des Universums dafür mathematisch keinen Ausgleich liefern kann. Was den  anderen Punkt mit der möglichen anderen Form von Leben betrifft, so läßt die bis heute bekanntgewordene Struktur der Atome keine anderen Molekülformen zu; wenn sich Moleküle bilden, dann nur die, die bislang bekannt geworden sind. Auch wenn die mathematischen Modelle zur Beschreibung von Atomen statistischer Natur sind, die letztlich wirkende ‚Eigenschaftsstruktur‘ der Atome ist nicht ‚beliebig‘ sondern eher deterministisch und –sofern sich überhaupt komplexere Lebensformen bilden– der ‚Bootstrapping‘-Prozess von Leben ist damit weitgehend vorgezeichnet (wenn er gelingt).

(11) Völlig offen ist, welche Formen Leben annehmen kann, wenn es –wie auf der Erde geschehen– sich bis zur Struktur von modellhaftem Denken, symbolischer Kommunikation, Selbstbewusstsein ‚hochgearbeitet‘ hat und durch  Verfügbarmachung geeigneter Werkzeuge (Technologien)  auf die Struktur der Materie ‚zurückwirken‘ kann; Genetik und Kernphysik bilden den Ausgangspunkt zu Organisationsformen, die es so noch nie gab. Allerdings weiß auch bislang niemand, in welche Richtung die Entwicklung gehen sollte. Die Menschen sind bislang noch so sehr mit sich selbst, lächerlichen Alltagsproblemen oder gegenseitiger Vernichtung beschäftigt, dass kaum Potential verfügbar ist, die eigentliche ‚Mission Leben‘ in Angriff zu nehmen.  Eine erste Bewährungsprobe entsteht in den nächsten 25 Jahren z.B. dann, wenn die Weltbevölkerung die verfügbaren Ressourcen in Punkto Ernährung überschritten haben wird. In ein paar Millionen Jahren wird der Mond die Erde tanzen lassen, weil er sich dann weit genug von der Erde entfernt hat; sollten wir das in den Griff bekommen (im Prinzip nicht unmöglich) bleiben dem Leben noch ein paar hundert Millionen Jahre, bis die Sonne alles zum Verdampfen bringen wird; auch dies ist prinzipiell nicht unlösbar (auch wenn man sich angesichts unserer heutigen Alltagsformen und alltäglichen Vorstellungswelten nicht so recht vorstellen kann, wie eine solche Mentalität dies in den verfügbaren Zeiträumen schaffen soll).