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ÜBER DIE MATERIE DES GEISTES. Relektüre von Edelman 1992. Teil 5

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 28.August 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

LETZTE ÄNDERUNG: 1.Dez.2018, Wiederholung der vorausgehenden Diskussion gestrichen. Kumulierte Zusammenfassungen sind HIER.

Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

KAP.6 TOPOBIOLOGIE: WAS MAN VOM EMBRYO LERNEN KANN

  1. Der Ausgangspunkt ist weiterhin die Frage, welche materiellen Prozesse zu jenen materiellen Strukturen geführt haben, die für uns den homo sapiens repräsentieren. Diese materiellen Strukturen des homo sapiens zeigen eine Fülle von Verhaltenseigenschaften (Dynamiken), die wir als Hinweise auf ‚Geist‘ klassifizieren. Bisher wurden diese vorausgehenden formierenden Prozesse schon begrenzt auf die beiden Pole ‚Genotyp‘ und ‚Phänotyp‘ mit der Arbeitshypothese, dass die Eigenschaften des Genotyps weitgehend (wie weitgehend eigentlich? Kann man das quantifizieren?) die Eigenschaften des Phänotyps festlegen. Edelman selbst konkretisiert diese beiden Pole noch weitergehender mit der Frage, wie ein ‚ein-dimensionaler genetischer Kode‘ letztlich ein ‚drei-dimensionales Lebewesen‘ definieren kann.(vgl. S.63)
  2. Die Redeweise vom ‚genetischen Kode‘ setzt voraus, dass es eine Instanz gibt, die die Eigenschaften des Moleküls, das als ‚genetischer Kode‘ angesehen wird, als ‚Kode‘ ‚interpretieren‘ kann, d.h. diese Kode-erkennende-und-interpretierende Instanz (letztlich wieder ein Molekül) ist in der Lage, zwischen den materiellen Eigenschaften des Gen-Repräsentierenden Moleküls (normalerweise als DNA-Molekül vorliegend) und einer möglichen Proteinstruktur eine ‚Abbildung‘ vorzunehmen, die aus dem Bereich des ‚abstrakten Kodes‘ hinaustritt in den Bereich realer, 3-dimensionaler materieller Strukturen und Prozesse.
  3. Edelman beschreibt die konkreten Details des Gen-repräsentierenden-Moleküls M_gen (als DNA-Molekül; spezielle Abschnitte eines DNA-Moleküls repräsentieren ‚Gene‘), beschreibt die einzelnen Kode-Elemente (genannt ‚Kodons‘, ‚codons‘), die den späteren Transformationsprozess in materielle Strukturen steuern. Dieser Transformationsprozess geschieht aber nicht direkt, sondern über einen Zwischenschritt, in dem das Gen-repräsentierenden-Molekül M_gen in ein spiegel-identisches Gen-repräsentierendes-Molekül M_gen* (als RNA-Moleküle) übersetzt wird, das den Zellkern einer Zelle verlässt und dort dann von einer Kode-erkennende-und-interpretierende Instanz (‚cellular device‘) schrittweise in Aminosäuren übersetzt wird, die aneinander gekettet lange Moleküle (Polypeptide) bilden, die sich weiter als drei-dimensionale Strukturen ausformen, die schließlich Proteine repräsentieren. Aufgrund ihrer drei-dimensionalen Struktur kommen den Proteinen ‚Formen‘ (’shapes‘) zu, mit denen sich charakteristische ‚Eigenschaften‘, ‚Funktionen‘ verbinden. Schon diese Proteinformen kann man als Zwischenstufen zu einem Phänotyp ansehen. Unter anderem können sich Proteine zu komplexen ‚Zellen‘ zusammen finden (einem weiteren, komplexen Phänotyp), die ihren eigenen Zellkern haben mit einem spezifischen Genotyp. Verschiedene Proteine können ganz verschiedene Zellen bilden! (vgl. SS.52-57)
  4. Schon dieser Transformationsprozess von einem Gen-repräsentierenden-Molekül M_gen zu einer Zelle deutet in den einzelnen Phasen vielfältige Möglichkeiten der Variation, der Veränderung an. Doch, eine einzelne Zelle macht noch kein Lebewesen. Eine Lebensform wie der homo sapiens besteht – wie wir heute wissen – aus vielen Billionen (10^12) einzelnen Zellen, allein das Gehirn aus ca. 90 Milliarden neuronalen Zellen (ohne Glia-Zellen). Wie muss man sich diesen Weg von einer (!) befruchteten Zelle zu vielen Billionen Zellen in Form eines Lebewesens vorstellen?
  5. Dieser Transformationsprozess von einer befruchteten Eizelle ‚Zygote‘ genannt (‚zygote‘) zum ausgewachsenen Lebewesen wird von der Teilwissenschaft der ‚Embryologie‘ (‚embryology‘) behandelt. Die befruchtete Zelle (eine Vereinigung einer ‚Samenzelle‘ (’sperm cell‘) und einer ‚Eizelle‘ (‚egg cell‘) unterläuft eine lange Serie von Teilungen. Zellen können aber noch mehr als sich nur teilen: sie können ‚migrieren‘ (‚migrate‘), ‚absterben‘, ‚anhaften aneinander‘, und sich ‚differenzieren‘ (‚differentiate‘), d.h. abhängig von bestimmten chemischen Signalen in ihrer Umgebung werden unterschiedliche Gene aktiviert, um ganz spezifische Proteine zu erzeugen. Dadurch können Zellen (das Phänotyp) ganz unterschiedliche Dynamiken, unterschiedliche Verhaltensweisen zeigen. Differentiation von Zellen ist somit kontextabhängig, d.h. setzt die Nähe zu bestimmten anderen Molekülen (die als Signale fungieren) voraus, wobei die Signale Sender voraussetzen, die in Form von Zellen auftreten.(vgl. S.57f)
  6. Aufgrund dieser grundlegenden Fähigkeit der Differentiation (also eines signalabhängigen Verhaltens (Edelman spricht hier von ‚Ortsabhängigkeit‘; mit dem griechischen Wort ‚topos‘ für Ort spricht er dann auch von ‚Topobiologie‘; diese Wortwahl ist aber gefährlich, da sie primär Raumstrukturen nahelegt, obgleich der Prozess selbst nur Signale kennt (natürlich in einem Raum)) können Zellen, selbst wenn sie sich im Verlaufe des Transformationsprozesses zu unterschiedlichen ‚Schichten‘ (‚layer‘) anordnen, über Entfernungen hinweg ‚Signale senden‘, die kontextbedingt ausgelöst werden. Die schrittweise ‚Gestaltwerdung‘ von immer komplexeren Strukturen wird damit ‚aus sich selbst‘ gesteuert. Je nach aktueller Anordnung bestehen spezifische Kontexte, die spezifische neue Signale auslösen, die die ’nächsten Schritte‘ einleiten. Dabei spielen offensichtlich zwei Faktoren ineinander: (i) das in den Genen hinterlegte ‚Programm‘ konstituiert ein allgemeines ‚Schema‘, ein ‚Template‘, das einen grundlegenden Bauplan, eine grundlegende Architektur skizziert, und (ii) die jeweils konkreten individuellen Zellen, die assoziiert mit unterschiedlichen Kontexten durch den Raum wandern, bilden ein konkretes ‚Bedingungsgefüge‘, eine aktuelle ‚Selektionsmatrix‘, die darüber entscheidet, wann und wie Teile des generellen Bauplans konkretisiert werden. Der Möglichkeitsraum des genetischen Programms wird über die Konkretheit der selektierenden Zellen eingeschränkt, auf konkrete Punkte ‚herunter spezifiziert‘. Dieser Vorgang bietet zahlreiche Variationsmöglichkeiten. Mittlerweile hat man entdeckt, dass der Signalprozess stark hierarchisch sein kann insofern es ‚homöotische‘ (‚homeotic‘) Gene gibt, die die Proteinproduktion bestimmter Gene kontrollieren. (vgl. SS.58-63)
  7. Edelman benutzt den Begriff ‚Epigenetik‘ in den geschilderten Kontexten als jene Faktoren, Ereignisse, Prozesse, die zusätzlich zu den Genen selbst für die Umsetzung der Transformation von Genen in Proteinen, in Zellen, in Zellverbände verantwortlich sind.(vgl. S.62)
  8. Nach diesem embryologischen Einblick in die Entwicklungsdynamik eines Organismus kann Edelman skizzieren, wie die charakteristischen Strukturen des Gehirns eines homo sapiens sich gebildet haben können und warum diese Strukturen artspezifisch sind, d.h. diese Strukturen sind typisch für den homo sapiens; alle Exemplare der Lebensform ‚homo sapiens‘ haben die gleiche Struktur. Zugleich gilt aber auch, dass selbst eineiige Zwillinge sich im Detail dieser Strukturen unterscheiden können und tatsächlich unterscheiden. Das Zusammenspiel von allgemeinem genetischen Programm und den ‚konkreten individuellen Zellen‘ in ihren jeweils ’spezifischen Kontexten‘ bietet solch ungeheure Variationsmöglichkeiten, dass das gleiche artspezifische genetische Programm sich im Detail immer unterscheiden wird. Diese in der Art des Transformationsprozesses angelegte Variabilität ist aber eben nur die eine Seite. Die andere Seite ist die arttypische Struktur, die einen Organismus, ein Gehirn spezifiziert, wodurch eine ‚Architektur‘ definiert wird, die unterschiedlichste Funktionen an unterschiedliche ‚Komponenten‘ bindet, die zudem typische ‚Interaktionsmuster‘ zeigen. Exemplare des homo sapiens haben daher alle eine typische Weise des ‚Wahrnehmens‘, des ‚Erinnerns‘, des ‚Denkens‘, des ‚Fühlens‘, usw.(vgl. S.63f)

DISKUSSION FORTSETZUNG

  1. Die fundamentale Tatsache, dass es Moleküle gibt, die andere Moleküle als ‚Kode‘ benutzen können, um Transformationsprozesse zwischen einer Sorte von Molekülen (DNA, RNA) in eine andere Sorte von Molekülen (Polypeptide, Proteine) steuern zu können, nimmt Edelman als Faktum hin, thematisiert es selbst aber nicht weiter. Er benennt diese ‚interpretierenden Moleküle‘ auch nicht weiter; sein Begriff ‚cellular device‘ ist eher nichtssagend. Dennoch ist es gerade diese Fähigkeit des ‚Übersetzens’/ ‚Interpretierens‘, die fundamental ist für den ganzen Transformationsprozess von einem Genom in einen Phänotyp bzw. in eine ganze Kette von hierarchisch aufeinander aufbauenden Phänotypen. Setzt man diese Übersetzungsfähigkeit voraus, ist das ganze folgende Transformationsgeschehen – so komplex es im Detail erscheinen mag – irgendwie ‚trivial‘. Wenn ich in mathematischer Sicht irgendwelche Mengen habe (z.B. verschiedene Arten von Moleküle), habe aber keine Beziehungen definiert (Relationen, Funktionen), dann habe ich quasi ‚Nichts‘. Habe ich aber z.B. eine Funktion definiert, die eine ‚Abbildung‘ zwischen unterschiedlichen Mengen beschreibt, dann ist es eine reine Fleißaufgabe, die Abbildung durchzuführen (z.B. die Übersetzung von DNA über RNA in Aminosäuren, dann Polypeptide, dann Proteine). Das die Biochemie und Mikrobiologie samt Genetik so viele Jahre benötigt hat, die Details dieser Prozesse erkennen zu können, ändert nichts daran, dass diese Transformationsprozesse als solche ‚trivial‘ sind, wenn ich die grundlegende Transformationsfunktion definiert habe. Wo aber kommt diese grundlegende Abbildungsfunktion her? Wie kann es sein, dass ein ordinäres chemisches Molekül ein anderes ordinäres chemisches Molekül als ‚Kode‘ interpretiert, und zwar genau dann so, wie es geschieht? Betrachtet man ’normale‘ Moleküle mit ihren chemischen Eigenschaften isoliert, dann gibt es keinerlei Ansatzpunkt, um diese grundlegende Frage zu beantworten. Offensichtlich geht dies nur, wenn man alle Moleküle als eine Gesamtheit betrachtet, diese Gesamtheit zudem nicht im unbestimmten Raum, sondern in Verbindung mit den jeweils möglichen ‚realen Kontextbedingungen‘, und dann unter Berücksichtigung des potentiellen Interaktionsraumes all dieser Moleküle und Kontexte. Aber selbst diese Raum repräsentiert im mathematischen Sinne nur Mengen, die alles und nichts sein können. Dass man in diesem Raum eine Funktion implantieren sollte, die dem Dekodieren des genetischen Kodes entspricht, dafür gibt es im gesamten Raum keinerlei Ansatzpunkt, es sei denn, man setzt solche eine Funktion als ‚Eigenschaft des Raumes‘ voraus, so wie die Physiker die ‚Gravitation‘ als Eigenschaft des Raumes voraussetzen, ohne irgendeinen Ansatzpunkt im Raum selbst zu haben, als die beobachtbare Wirkung der Gravitation. Die Biologen können feststellen, dass es tatsächlich einen Transformationsprozess gibt, der solch eine Abbildungsbeziehung voraussetzt, sie haben aber keine Chance, das Auftreten dieser Abbildungsbeziehung aus den beobachtbaren materiellen Strukturen abzuleiten!!!
  2. In der Beschreibung von Edelmans Position habe ich schon angemerkt, dass seine Wortwahl ‚Topobiologie‘ möglicherweise unglücklich ist, da es letztlich nicht der dreidimensionale Raum als solcher ist, der entscheidend ist (wenngleich indirekt die Drei-Dimensionalität eine Rolle spielt) sondern der ‚Kontext in Form von interaktiven Nachbarschaften‘: welche andere Zellen stehen in Interaktion mit einer Zelle; welche Signale werden empfangen. Indirekt spielt dann auch der ‚vorausgehende Prozess‘ eine Rolle, durch den eben Kontexte erzeugt worden sind, die nur in bestimmten Phasen des Prozesses vorliegen. Man hat also eher einen ‚Phasenraum‘, eine Folge typischer Zustände, die auseinander hervorgehen, so, dass der bisherige Prozess die nächste Prozessphase hochgradig determiniert. Dies ähnelt einer ‚algorithmischen‘ Struktur, in der eine Folge von Anweisungen schrittweise abgearbeitet wird, wobei jeder Folgeschritt auf den Ergebnissen der vorausgehenden Abarbeitungen aufbaut und in Abhängigkeit von verfügbaren ‚Parameterwerten‘ den nächsten Schritt auswählt. Im Unterschied zu einem klassischen Computer, bei dem die Ausführungsumgebung (normalerweise) festliegt, haben wir es hier mit einem algorithmischen Programm zu tun, das die jeweilige Ausführungsumgebung simultan zur Ausführung ‚mit erschafft‘! Wenn Computermetapher, dann eben so: ein Programm (Algorithmus), das seine Ausführungsumgebung (die Hardware) mit jedem Schritt selbst ‚erschafft‘, ‚generiert‘, und damit seine Ausführungsmöglichkeiten schrittweise ausbaut, erweitert. Dies setzt allerdings voraus, dass das genetische Programm dies alles schon ‚vorsieht‘, ‚vorwegnimmt‘. Die interessante Frage ist dann hier, wie ist dies möglich? Wie kann sich ein genetisches Programm ‚aus dem Nichts‘ entwickeln, das all diese ungeheuer komplexen Informationen bezüglich Ausführung und Ausführungsumgebung zugleich ‚aufgesammelt‘, ’strukturiert‘, ‚verpackt‘ hat, wo die Gesamtheit der modernen Wissenschaft bislang nur Fragmente versteht?
  3. Während Neurowissenschaftler (Edelman eingeschlossen) oft mit unsinnigen Computervergleichen versuchen, die Besonderheit des menschlichen Gehirns herauszustellen, kann man ja auch mal umgekehrt denken: wenn die Entwicklung des Gehirns (und des gesamten Organismus) Ähnlichkeiten aufweist mit einem Algorithmus, der seine eigene Ausführungsumgebung während der Ausführung (!!!) mit generiert, ob sich solch ein Prozess auch ‚rein technisch‘ denken ließe in dem Sinne, dass wir Maschinen bauen, die aus einer ‚kleinen Anfangsmenge von Materie‘ heraus ausgestattet mit einem geeigneten ‚Kode‘ und einem geeigneten ‚Interpretierer‘ sich analog selbst sowohl materiell als auch kodemäßig entwickeln? Da die biologischen Systeme zeigen, dass es grundsätzlich geht, kann man solch einen technischen Prozess nicht grundsätzlich ausschließen. Ein solches Gedankenexperiment macht aber sichtbar, worauf es wirklich ankommt: eine solche sich selbst mit-bauende Maschine benötigt auch einen geeigneten Kode und Interpretationsmechanismus, eine grundlegende Funktion. Ohne diese Funktion, geht gar nichts. Die Herkunft dieser Funktion ist aber gerade diejenige grundlegende Frage, die die gesamte empirische Wissenschaft bislang nicht gelöst hat. Es gibt zwar neuere Arbeiten zur Entstehung von ersten Zellen aus Molekülen unter bestimmten realistischen Kontexten, aber auch diese Forschungen beschreiben nur Prozesse, die man ‚vorfindet‘, die sich ‚zeigen‘, nicht aber warum und wieso es überhaupt zu diesen Prozessen kommen kann. Alle beteiligten materiellen Faktoren in diesen Prozessen als solchen geben keinerlei Ansatzpunkte für eine Antwort. Das einzige, was wir bislang wissen, ist, dass es möglich ist, weil wir es ‚beobachten können‘. Die ‚empirischen Phänomene‘ sind immer noch die härteste Währung für Wahrheit.

Fortsetzung folgt HIER.

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DIE ZUKUNFT WARTET NICHT – 2117 – PHILOSOPHISCHE WELTFORMEL – Teil 4 – MIND-GEIST …

KONTEXT

  1. Diesem Beitrag ging ein Blogeintrag voraus mit einer einleitenden methodischen Reflexion sowie die Identifizierung einer ersten Periode im Phänomen des biologischen Lebens auf der Erde.Periodisierung der biologischen Evolution nach speziellen Kriterien. Siehe Text.

UR-GEDÄCHTNIS, ABSTRAKTES WISSEN

  1. Ein wichtiger Punkt der ersten Periode des biologischen Lebens ist jene Struktur, welche erstmalig im Universum die Überwindung der Gegenwart durch eine gedächtnishafte Kumulierung von Eigenschaften und Beziehungen (Speichermolekül, Bauplan, Genom…) erlaubt, wodurch die Erfolge der Vergangenheit in die aktuelle Gegenwart hinein wirken können.
  2. Die Herrschaft des Augenblicks wird damit ansatzweise überwunden. Nicht mehr das aktuell Faktische (‚Seiende‘) ist die eigentliche Wahrheit,  sondern erinnerte Eigenschaften und Beziehungen werden zu einer höheren Wahrheit, einer Wahrheit zweiter Ordnung; das Abstrakte und darin Virtuelle erweist sich als die bessere Aussage über die Gegenwart. Das gegenwärtig Stattfindende, aktuell in die Sinne Springende, ist nur ein Aspekt an einem dynamischen Geschehen, das als Geschehen mehr von der Wirklichkeit, vom Leben enthüllt, als das jeweils aktuell Seiende.
  3. Rückblickend gewinnt damit der Prozess, der zur Entstehung der ersten Zelle führte, ein eminent philosophische Bedeutung: wie konnte die sogenannte tote und dumme, schlichtweg die geistlose Materie, in der Lage sein, im Meer der Atome und Moleküle auf der frühen Erde eine Prozessumgebung bereit zu halten, in der sich chemische Prozesse so abspielten, dass nicht nur neue Energieumwandlungs- und -nutzungskonzepte entstehen konnten, sondern zugleich der Prozess sich selbst in Form eines Moleküls so kodiert, dass er sich bei der Selbstreproduktion auch wieder dekodieren konnte. Für die molekularbiologischen Details dieses komplexen Prozesses sei auf entsprechende Literatur verwiesen (Neben z.B. Christian de Duve sei noch vierwiesen auf The Origin and Nature of Life on Earth: The Emergence of the Fourth Geosphere. Cambridge University Press, 2016, Smith, Eric and Morowitz, Harold J.). Philosophisch entscheidend ist  letztlich, was durch diese komplexen Prozesse an wirkender Struktur und Funktionalität oberhalb der molekularen Ebene entstanden ist, welche die sich selbst reproduzierende Zelle mit einer ersten Form von Wissen ausgestattet haben.

UR-AUTOMAT, UR-ALGORITHMUS

  1. Die Besonderheit dieses ersten Wissens (‚Proto-Wissen‘, ‚Ur-Wissen‘…) liegt in seinem algorithmischen Charakter: im Wechselspiel mit den dekodierenden Elementen einer Zelle zeigen diese Strukturen eine strukturelle Ähnlichkeit mit dem Konzept der Turingmaschine, das 1936 von Alan M.Turing entdeckt wurde, um das Phänomen der Berechenbarkeit zu beschreiben. Wie sich herausstellte, lassen sich alle Computer, die zeitlich nach Turing als reale Maschinen entwickelt wurden, bislang mit dem abstrakten Konzept der Turingmaschine beschreiben. [ANMERKUNG: Dass die neu entwickelten Quantencomputer von diesem Konzept abweichen, müsste erste noch bewiesen werden. Denn dass Prozesse ‚sehr schnell‘ sind, ‚parallel‘ stattfinden, und mehr als nur ‚zwei Zustände‘ kennen, sprengt das mathematische Konzept der Turingmaschine nicht notwendigerweise.]
  2. Diese Strukturähnlichkeit des Automatenkonzepts mit den elementaren Wissensnutzungskonzepten der ersten biologischen Zellen (und dann natürlich aller NachfolgerInnen) ist philosophisch von Interesse. Es legt die Vermutung nahe, dass das moderne algorithmische Informationsverarbeitungskonzept möglicherweise eine elementare Eigenschaft des biologischen Lebens selbst anzeigt, das ja nicht in einzelnen isolierten Komponenten besteht, sondern als ein dynamischer Zusammenhang auftritt, der auf der Basis der Eigenschaften der Materie in der Lage ist, solche Prozesse zum Laufen zu bringen, in denen sich dynamische Eigenschaften des Universums in geeignete abstrakte Kodierungen übersetzen lassen, die wiederum zu Befehlsketten für neue Prozesse werden können.

UR-ZEICHEN, UR-SEMIOTISCHER AKTEUR

  1. Mit Blick auf den weiteren Fortgang der biologischen Evolution ist auch noch folgender Perspektivwechsel von Interesse. Die Kodierung von Realität in eine repräsentierende Struktur mittels eines Materials für die Codeelemente (hier: Atomverbindungen im Kontext eines Moleküls) und die Dekodierung der im Material angeordneten Codeelemente mittels einer Dekodierungsvorschrift, kann man auch als semiotischen Prozess verstehen: die zu kodierende (auch prozesshafte) Realität bildet dann die Bedeutung (‚meaning‘), die in einem Zeichenmaterial (die Codeelemente) repräsentiert wird, und der Zusammenhang zwischen Zeichenmaterial und Bedeutung wird über eine Bedeutungsbeziehung hergestellt, welche immer eine prozesshafte Instanz sein muss, die sowohl die Kodierung wie auch die Dekodierung leisten kann. Innerhalb einer realisierten Bedeutungsbeziehung erscheint das Zeichenmaterial dann als Zeichen für die Bedeutung und umgekehrt wird die bezeichnete Realität zur Bedeutung des Zeichens.
  2. Außerhalb der Bedeutungsbeziehung gibt es weder Bedeutung noch Zeichen. Zeichen und Bedeutung sind an eine prozesshafte Instanz gebunden, durch die diese Beziehung generiert und realisiert wird. Nennt man jene prozesshafte Instanz, die Zeichenbeziehungen ermöglicht, einen semiotischen Akteur, dann ist die erste biologische Zelle der erste semiotische Akteur des Universums. Das Prozessmodell, das hier zum Tragen kommt ist – jenseits der molekularbiologischen Perspektive – das eines Automaten, das einer Turingmaschine, und damit repräsentiert die biologische Zelle – in philosophisch formaler Sicht – den ersten algorithmischen semiotischen Akteur des Universums.
  3. Zum Zeichenkonzept gehört auch, dass es konventionell ist: es ist beliebig, welches Ausdrucksmaterial die Prozessinstanz welchen möglichen Realitäten zuordnet. Das Beschränkende daran ist, dass die Zeichenbeziehung, die dann faktisch eingerichtet wurden, spezifisch sind: alle semiotischen Akteure, die die gleiche Zeichenbeziehung benutzen wollen, müssen sich bezüglich der Zeichenbeziehung koordinieren. Das Entgrenzende an einer Zeichenbeziehung ist, dass sie im Prinzip die gesamte Realität in sich aufnehmen kann. Durch einen semiotischen Prozess kann man die empirische Realität in eine abstrakt-virtuelle Realität transformieren und dabei zugleich verändern. Die veränderte virtuelle Realität kann dann dazu benutzt werden, um die empirische Realität im Hinblick auf mögliche zukünftige empirische Zustände zu befragen und neue Varianten voraus zu denken.
  4. Die Verfügbarkeit einer Zeichenbeziehung gibt damit einem individuellen System eine potentiell unbegrenzte Macht zum Verändern. Andererseits funktioniert dies nur, wenn der semiotische Akteur nicht alleine agiert, sondern als Teil einer Kollektion von semiotischen Akteuren. Jeder kann zwar die Zeichenbeziehung für sich ändern, sie gehört aber niemandem alleine. Es ist ein kollektives Wissen, das sich den einzelnen schafft und durch die Aktivität des einzelnen partiell, graduell modifizierbar ist.
  5. In der Phase der ersten semiotischen Revolution des Lebens wurde die Einheit der Zeichenbeziehung gewahrt durch die gemeinsame Nutzung der RNA- und DNA-Moleküle samt deren molekularen Kodierungs- und Dekodierungsstrukturen, die allen Zellen gleich sind. Und diese gesamte Zeichenstruktur war realisiert als eine universelle Turingmaschine.

 

REPRÄSENTATIONSPROBLEME

 

  1. Man kann sich fragen, in welcher Weise sich diese biologisch vorfindbaren Strukturen und Dynamiken im bisherigen Komplexitätskonzept identifizieren lassen? Wie lässt sich eine algorithmische semiotische Prozessstruktur mit Gedächtnis systemtheoretisch fassen? Was sagen schon Input-Output Mengen, interne Level, mit Blick auf solch komplexe Eigenschaften?
  2. Zeitlich punktuelle und beziehungsmäßig isolierte repräsentierende Strukturen können offensichtlich Phänomene, die sich in der Zeit erstrecken und in Wechselwirkungen stattfinden, nicht angemessen repräsentieren. Dazu kommen semiotische Eigenschaften und auch Erfolgskriterien der empirischen Systeme, die sich neben der Zeit auch in übergeordneten Strukturen repräsentieren (wenn überhaupt).
  3. Zusätzlich gibt es das Phänomen der Strukturveränderung STR im Laufe der Zeit, die zugleich einhergeht mit Verhaltensänderungen f. Und diese Veränderungen erfolgen nicht isoliert, sondern in einem Feld anderer Strukturen {<STR1,f1>, …, <STRn,fn>}(t1) ==> {<STR1,f1>, …, <STRn,fn>}(t1+1) und von Umgebungskontexten {C1, …, Cn}(t1)==> {C1, …, Cn}(t1+1) , die sich mit verändern.
  4. Jede einzelne biologische Struktur ist zudem Teil einer übergreifenden biologischen Population POP, die einen ähnlich kodierten Wissensspeicher G teilt, also POP = {Menge aller STRi für die gilt, dass ihr kodiertes Wissen Gi zur einer Ähnlichkeitsklasse Gi gehört}.
  5. Hier deuten sich komplexe Vernetzungsstrukturen in der Zeit an, die in dem bisherigen Komplexitätskonzept nicht befriedigend repräsentiert sind.
  6. Mit diesen ungelösten Fragen im Hinterkopf stellt sich die weitere Frage, welche der nachfolgenden Ereignisse in der biologischen Evolution eine weitere Steigerung der Komplexität manifestieren?

 

GEHIRN – BEWUSSTSEIN – GEIST

 

  1. Man kann beobachten, wie biologische Zellen sich in nahezu alle Lebensbereiche der Erde ausbreiten: im Meer, im Sediment, auf Land, in der Luft, in heißen und kalten Umgebungen, ohne und mit Sauerstoff, in immer komplexeren Verbänden von Zellen, mit immer komplexeren Strukturen innerhalb der Verbände, mit komplexer werdenden Kooperationen aufgrund von Kommunikation, als Pflanzen und Tiere, als Einzelgänger arbeitend, in Gruppen, Schwärmen, ganzen ‚Staaten‘, mit immer komplexeren Sprachen, mit Schriftsystemen, mit immer komplexeren Werkzeugen, …
  2. … die äußerlich beobachtbaren immer komplexer werdenden Verhaltensweisen korrelieren mit einer zunehmenden Verdichtung der internen Informationsverarbeitung mittels spezialisierter Zellverbände (Nervensystem, Gehirn). Die aktuelle Wahrnehmung der eigenen Körperzustände wie Eigenschaften der Umgebung wurde immer differenzierter. Die Informationsverarbeitung kann Wahrnehmungsereignisse abstrahieren, speichern und erinnern... Im Erinnerbaren lassen sich Unterschiede und Veränderungen erkennen, darin Beziehungen, zugleich kann Gegenwärtiges, Erinnertes neu kombiniert (Denken, Planen) werden. Dazu entwickelt sich die Fähigkeit, aktuell Wahrgenommenes symbolisch zu benennen, es mit anderen zu kommunizieren. Dies erschließt neue Dimensionen der Orientierung in der Gegenwart und über die Gegenwart hinaus.
  3. Wichtig ist, dass man diese neuen Fähigkeiten und Leistungen nicht direkt am Nervensystem ablesen kann (obgleich dies immer größer und dichter wird), sondern nur über das beobachtbare Verhalten, über die Wechselwirkungen mit anderen Systemen und der Umgebung. So ist das Gehirn von Säugetieren strukturell systemisch nicht wirklich verschieden, aber die Verhaltensweisen der jeweiligen Systeme im Verbund sind markant anders.
  4. Dies deutet auf eine neue Form von Dualität (oder wie andere vielleicht sagen würden), von Dialektik hin: die zunehmende Komplexität des Verhaltens korrespondiert mit einer entsprechend anwachsenden komplexen Umgebung, die ihre empirische Fundierung im Körper, im Gehirn zu haben scheint, aber andererseits kann sich diese Komplexität nur entfalten, nur zeigen, nur manifestieren, in dem Maße, wie diese äußere Komplexität empirisch verfügbar ist. Von daher ist es möglicherweise fruchtlos, zu fragen, was hier Ursache für was ist: das Gehirn für die Umgebung oder die Umgebung für das Gehirn. Manche sprechen hier ja auch von Ko-Evolution. Entscheidend ist offensichtlich der Prozess, durch den sich diese Wechselbeziehungen entfalten und wirken können. Dies impliziert, dass die beteiligten Strukturen plastisch, veränderlich sind.
  5. In der klassischen Philosophie nannte man ein komplexes Verhalten dieser Art ‚geistig‘, da man es im Organismus auf das Prinzip des Pneumas, der Psyche, des Geistes zurückführte (ohne letztlich zu wissen, was das jeweils ‚an sich‘ sein sollte). In diesem Verständnis könnte man formulieren, dass Lebensformen entstanden, deren Verhalten eine Komplexität zeigén, die man als geistig bezeichnen könnte.
  6. Dieses Aufkommen des Geistes (‚Emerging Mind‘) definiert sich damit nicht über die direkt messbaren Strukturen (Nervensystem, Struktur, Umfang,..), sondern über den Umfang der möglichen Zustände des Verhaltens, das direkt abhängig ist sowohl von den möglichen Zuständen des Gehirns, des zugehörigen Körpers, aber auch über die Gegebenheiten der Umwelt. Anders ausgedrückt, das neue Potential dieser Lebensform erkennt man nicht direkt und alleine an ihren materiellen Strukturen, sondern an der Dynamik ihrer potentiellen inneren Zustände in Wechselwirkung mit verfügbaren Umwelten. Es ist nicht nur entscheidend, dass diese Systeme symbolisch kommunizieren konnten, sondern auch WAS; nicht entscheidend alleine, dass sie Werkzeuge bilden konnten, sondern auch WIE und WOZU, usw.
  7. Es ist nicht einfach, dieses neue Potential angemessen theoretisch zu beschreiben, da eben die rein strukturellen Elemente nicht genügend aussagestark sind. Rein funktionelle Aspekte auch nicht. Es kommen hier völlig neue Aspekte ins Spiel.
  8. Für die Frage, wann ungefähr zeitlich solche Lebensformen auf der Erde auftreten, gibt es möglicherweise nicht den einen Zeitpunkt, sondern eher ein Zeitkorridor, innerhalb dessen sich unterschiedliche Phänomene angesammelt haben, die zusammen dann solch einen neuen Komplexitätshöhepunkt anzeigen. (Beginn Hominisation ca. -7 bis -5 Mio ; Migrationswellen ausgehend von Afrika (-130.000 bis -115.000 und -100.000 bis -50.000) ; Entstehung der Schrift  ca. -4000 im Gebiet des fruchtbaren Halbmonds)

 

KOEXISTENZ VON GEIST UND GESELLSCHAFT

  1. Da alle Handlungen des Menschen, die über den Augenblick hinausgehen, an seine Erinnerungs- und Denkfähigkeit gebunden sind, durch die der Augenblick in real erfahrene oder virtuell vorstellbare Zusammenhänge nach hinten und vorne eingebettet werden kann, wird man die gesamte Entwicklung komplexer Gesellschaften immer nur unter Voraussetzung einer entsprechenden Kommunikation und entsprechender Wissensmodelle verstehen können. Das verfügbare Wissen kann stabilisieren, konservieren und – im negativen Fall – blockieren, und im positiven Fall Alternativen aufzeigen, neue Möglichkeiten, Ursache-Wirkung Zusammenhänge deutlich machen.
  2. Daraus legt sich nahe, dass eine Theorie der Gesellschaft die handelnden semiotischen Akteure als Grundelemente umfassen sollte.
  3. Während eine biologische Population von Systemen durch den gemeinsamen biologischen Bauplan (realisiert im DNA-Molekül samt zugehöriger Dekodierungsstruktur) charakterisiert ist, definiert sich eine Gesellschaft von Systemen über gemeinsamen Wissensmodelle mit den zugehörigen semiotischen Prozessen (die Redeweise von den Memen, die Dawkins 1976 eingeführt hat, ist hier möglicherweise zu schwach) sowie den zugehörigen empirischen Umweltkontexten. Zu sagen, dass es eine Ko-Evolution zwischen Umgebung und Gesellschaft gibt ist zu schwach: entscheidend ist die Mikrostruktur des Prozesses und der hier wirkenden Faktoren in einem Multi-Agenten-Prozess mit Wissensanteilen und Bedeutung.

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NICK LANE – LIFE ASCENDING – BESPRECHUNG – Teil 1b – Nachtrag zu Teil 1

Nick Lane, „Life Ascending“, London: Profile Books Ltd, 2009 (Paperback 2010)

  1. Hir ein paar weitere Nachbemerkungen zum Teil 1 der Besprechung von Nick Lane’s Buch

GESPALTENE WELT IM KOPF

  1. Viele (die meisten?) Menschen haben in ihrem Kopf ein Bild von der Welt, in der die Welt mindestens zweigeteilt ist: hier sie selbst als Menschen, als Wesen mit Gefühlen, Geist, Seele, Werten usw., dort die restliche, unbelebte, materielle Welt, so anders, ganz anders. Wenn man diese Menschen fragt, warum sie die Welt so sehen, wissen sie oft keine Antwort. Es ist halt so; so wurde es ihnen erzählt, das sagen die Religionen. Sonst wäre ja alles so sinnlos, leer. Selbst Menschen mit Studium, mit Doktortitel, Menschen die selber wissenschaftlich arbeiten, haben solche (naiven?) Anschauungen.

WO SIND DIE HELFER?

  1. Umgekehrt bieten die Naturwissenschaftler oft (sehr oft? meistens?) wenig Hilfestellungen, Verstehensbrücken zu schlagen zwischen naturwissenschaftlichen Konzepten und den alten Bildern vom Menschen als Krone der Schöpfung, mit Gefühlen, Seele und Geist. Eigentlich wäre hier die Philosophie zuständig. Die zerfällt aber in zwei große Lager: jene, die die alten Menschenbilder konservieren und sich selbst den neuen Entwicklungen im Denken verweigern, und jene, die sich voll auf die Seite der neueren Wissenschaften geschlagen haben und die Vermittlung mit den alten Weltbildern gar nicht erst versuchen. Eine sehr missliche Lage. Ein anderer Parteigänger des alten Menschenbildes sind alle großen Religionen (Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam, …). Aber diese sind ihren eigenen sehr speziellen Glaubensgrundlagen und gewachsenen Traditionen so sehr verpflichtet, dass sie sich in ihrem Wahrnehmen und Denken selbst gefesselt haben. Wehe jemand denkt anders als man es bislang gewohnt ist zu denken; ein solcher macht sich verdächtig, fällt aus dem Rahmen, wird möglicherweise zum Ungläubigen, und – wie wir wissen – kann massiv bestraft werden, bis hin zum Tod.
  2. Und dann die empirischen Wissenschaften selbst: schon die Physik hat ihre Probleme mit der Biologie, die Biologie mit der Psychologie und Soziologie und all den anderen komplexen Wissenschaften vom menschlichen Leben.
  3. Auch ein Detail wie die Sprache der Wissenschaften hält viele Überraschungen bereit: es gibt viele Sprachen in der Wissenschaft. Zentral ist eigentlich die Mathematik. Aber auch diese zerfällt in viele Teilgebiete, die sich erst im 20.Jahrhundert im Umfeld der Algebra zu einer allgemeinen Strukturwissenschaft geformt hat, mit einer eigenen Metamathematik, die allerdings auch eher nur ein Randdasein führt, ein Exotenfach. (siehe Corry 1996 (2.Aufl. 2004)).

AUS DER GESCHICHTE LERNEN?

  1. Aus der Geschichte können wir wissen, dass Änderungen im Denken von Menschen weitgehend über die umgebende Gesellschaft gesteuert wurden. Änderungen konnten hunderte von Jahren dauern. Im Falle der Rezeption der griechischen Philosophie und Wissenschaft im westlichen Europa (in dem durch die katholische Kirche Wissen, Bildung, Wissenschaft – entgegen vielfacher Meinung – mehrere Jahrhunderte fast ausgerottet worden ist) hat es fast 1000 Jahre gedauert, bis Teile dieses Wissens dank der (damals) hochstehenden islamischen Kultur über großartige und umfassende Übersetzungstätigkeiten wieder zurückfanden in die Köpfe von Westeuropäern.

ENGSTELLE INDIVIDUELLE LEISTUNGSFÄHIGKEIT

  1. Heute werden wir Dank Computer und Internet (und speziellen Unternehmen) von Wissen überflutet. Aber was nützt dies, wenn wir pro Tag vielleicht nur 10-20 Seiten komplexe Texte verarbeiten können? Was nützen Terabytes von Daten, wenn wir in unserem individuellen Denken zusätzlich zur Kapazitätsbegrenzung Voreinstellungen besitzen, die uns dazu bringen, nur ganz bestimmte Dingen wahrnehmen und denken zu wollen, alles andere aber nicht? Und dazu die Algorithmen vieler Inhaltsanbieter: man bekommt mehr und mehr nur noch die Dinge zu sehen, die man am häufigsten anklickt: genau das Gegenteil wäre hilfreich, auch mal etwas anderes zu sehen, was es auch noch gibt, um sich aus seiner eigenen kleinen Welt zu befreien. Oder, in lichten Momenten, wollen wir vielleicht doch mal etwas anderes wahrnehmen und denken und müssen dann feststellen, dass uns viele Voraussetzungen fehlen, das Andere zu verstehen; wir sinken mutlos in uns zurück und kapitulieren, bevor wir angefangen haben, Neues wahrzunehmen. Das Neue, das Andere ist sehr wohl da, aber wir sind in uns selbst gefangen; die Schwerkraft des eigenen Nichtwissens hält uns quasi fest, bindet uns, lähmt uns, macht uns mutlos.
  2. Wie also können wir uns aus dieser Sackgasse befreien? In Computerspielen haben die Programmierer meistens einen Ausweg eingebaut, für den es Belohnungspunkte gibt. Wie sieht es im realen Leben aus?

GEHEIMNIS DES ERFOLGS BISHER

  1. Schauen wir auf die Entwicklung des biologischen Lebens, dann können wir ein sonderbares Schauspiel beobachten: seit dem Auftreten der ersten Bakterien (ca. zwischen -4 Mrd und -3.4 Mrd Jahren vor unserer Zeit) und dann speziell seit dem ersten Auftreten der ersten komplexen Zellen (vor ca. -1.0 Mrd Jahren) können wir beobachten, wie ein Selbstreproduktionsmechanismus, der als solcher blind war (und ist) für seine Umgebung und für das was kommen wird, so viele geniale neue Lebensformen hervorgebracht hat, dass es irgendwann dann auch Wesen gab wie den homo sapiens sapiens (heute meist nur homo sapiens, weil der postulierte homo sapiens als Bindeglied zum homo sapiens sapiens keine rechte Funktion besitzt), dessen Körper von ca. 34 Billionen (10^12) Zellen gebildet wird, lauter Individuen, die miteinander kooperieren (und noch mehr Bakterien, die wiederum mit den Körperzellen kooperieren). Das Geheimnis des Erfolgs ist, dass trotz lokaler Unwissenheit, lokaler Blindheit, eine Population bei der Selbstreproduktion so viele Varianten erzeugt hat, so viele kreative Abweichungen, dass immer dann, wenn die Umwelt sich geändert hatte und die bisherigen Lebensformen ein Problem bekamen, genügend andere Formen verfügbar waren (glücklicherweise), dass die Geschichte des Lebens bis heute anhält (unter den Problemen der Umgebungen gab es alleine 5 große Eiszeiten von 2×20 Mio, ca. 60 Mio, ca. 100 Mio und sogar ca. 300 Mio Jahren Dauer!!!!! Den homo sapiens – also uns – gibt es gerade mal ca. 200.000 Jahre).

WO DER ERFOLG WOHNEN KANN

  1. In der Kunst lebt die Bereitschaft zum kreativen Denken und Verhalten ansatzweise weiter. Die gesamte Wissenschaft ist eigentlich dem Prinzip der kontrollierten Änderung des aktuellen Wissens verpflichtet; jedes Unternehmen lebt eigentlich von der Innovation seiner Produkte. Jeder einzelne Mensch erlebt heute schmerzhaft, dass die Planung einer Ausbildung oder die Ausübung eines Berufes immer kurzlebiger, immer unsicherer wird. Und doch, wir tun uns mit den Weltbildern in unseren Köpfen schwer. Sie haben ein großes Beharrungsvermögen, können die Festigkeit von Beton besitzen.
  2. Im Kern haben wir also das Problem, dass wir zu jedem Zeitpunkt, an dem wir gerade leben, ein Wissen haben, das als solches zwar begrenzt wertvoll ist, das aber gemessen an dem, was wir noch nicht wissen, nur begrenzt hilfreich ist. Es gänzlich außer Acht zu lassen wäre sicher falsch, da es ja bisherige Erfolgsrezepte (im positiven Fall) beinhaltet; aber es ausschließlich zu benutzen, wäre auch falsch, sehr wahrscheinlich tödlich. Wir brauchen zu jedem Zeitpunkt ein schwer bestimmbares Maß an Neuem, das insoweit neu ist, als es wirklich anders ist als das, was wir bislang kennen. Damit verbindet sich unausweichlich ein Risiko, dass das so gewählte Neue nicht zum Ziel führen muss. Dieses Risiko ist quasi der Preis des möglichen Überlebens. Genauso wenig wie aus dem Nichts irgendetwas entstehen kann, genauso wenig können wir kostenlos die Zukunft gewinnen.
  3. Ich kritisiere ja – wie leicht zu sehen – die bestehenden Religionen oft und stark. Aber es ist interessant, dass sich in den überlieferten Worten eines Jesus von Nazareth (sofern man sie ihm wirklich zuordnen kann), das Bild von einer je größeren Zukunft sehr deutlich findet; dass das Weizenkorn sterben muss, um dem je größeren Leben Raum zu geben; dass das, was er selber getan hat, jeder andere nicht nur auch tun kann, sondern dass jeder andere sogar noch viel mehr tun kann; dass man über andere nicht urteilen sollte, weil das eigene Wissen grundsätzlich falsch sein kann (und oft falsch ist), usw. Dies sind Gedanken, die nicht notwendigerweise etwas mit Religion zu tun haben müssen; es sind grundsätzliche Sachverhalte, die sich dem zeigen, der das biologische Leben betrachtet, wie es sich nun mal manifestiert.

Es gibt eine weitere Fortsetzung als Teil 2.

WEITERE QUELLEN/ LINKS (Selektiv)

  • Text des Neuen Testaments: https://www.bibelwissenschaft.de/online-bibeln/novum-testamentum-graece-na-28/lesen-im-bibeltext/ //* Das ist der griechische Urtext. Wir sind daran gewöhnt, immer irgendwelche Übersetzungen zu lesen und dabei zu vergessen, dass jede Übersetzung eine Interpretation ist. Zudem hat jeder Text eine Überlieferungsgeschichte, d.h. es gibt in der Regel nicht nur einen Text, sondern viele Handschriften, aus denen dann der ‚plausibelste‘ Text zusammengestellt wird/ wurde (was auf dieser Webseite leider nicht angezeigt wird). Und wenn man den Urtext liest, wird man fast über jedes Wort stolpern und sich fragen, was soll dieses Wort eigentlich bedeuten? Woher wissen wir, was die schwarzen Zeichen auf dem weißen Papier bedeuten können/ sollen? Meist ist ja bei alten Texten gar nicht klar, wer sie verfasst hat. Letztlich kann jeder sie geschrieben haben, oder viele verschiedene, oder verschiedene hintereinander, und jeder hat seine Änderungen angebracht….
  • Leo Corry, Modern Algebra and the Rise of Mathematical Structures, Basel – Boston – Berlin: Birkhäuser Verlag, 1996 (2.rev.Aufl. 2004)
  • Harold Morowitz: https://en.wikipedia.org/wiki/Harold_J._Morowitz (ein großes Thema: Wechselwirkung von Thermodynamik und Leben)
  • Michael J.Russel et al: http://www.gla.ac.uk/projects/originoflife/html/2001/pdf_articles.htm: The Origin of Life research project by Michael J. Russell & Allan J. Hall , University of Glasgow, May 2011
  • Krebs-Zyklus: https://en.wikipedia.org/wiki/Citric_acid_cycle
  • Martin W, Russell MJ., On the origin of biochemistry at an alkaline hydrothermal vent. , Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci. 2007 Oct 29; 362(1486):1887-925.
  • Martin W, Baross J, Kelley D, Russell MJ., Hydrothermal vents and the origin of life., Nat Rev Microbiol. 2008 Nov; 6(11):805-14.
  • Harold Morowitz und Eric Smith , Energy flow and the organization of life , Journal Complexity archive, Vol. 13, Issue 1, September 2007, SS. 51 – 59 ,John Wiley & Sons, Inc. New York, NY, USA

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DECHER – HANDBUCH PHILOSOPHIE DES GEISTES – PLATON – DISKURS (Teil 3)

Decher, Friedhelm, Handbuch der Philosophie des Geistes, Darmstadt: WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2015 (Im Folgenden abgekürzt: HPG)

KONTEXT

  1. Nach der kurzen Einführung in das Phänomen Geist beginnt Decher seine gedankliche Expedition zum Begriff Geist bei den  alten Ägyptern und den Vorsokratikern. In Teil 2 habe ich darauf hingewiesen, dass die Verwendung der zentralen Begriffe wie Noos/ Nous, Thymos, Psyché, Aisthesis, Noema, Logos und deren Interpretation grundsätzlich eine Herausforderung darstellt, die aus der Art und Weise resultiert, wie Sprache und Erkennen beim Menschen funktionieren.
  2. Im nächsten Kapitel wendet sich Decher Platon zu, und hier speziell dem Verhältnis von Geist (Nous) und Seele (Psyché).
  3. An dieser Stelle sei wiederum darauf aufmerksam gemacht (vgl.  die Anmerkungen im ersten Teil dieser Besprechung, besonders Nr.4), dass diese Besprechung in keiner Weise die eigene Lektüre des Buches von Decher ersetzen kann. Ich lese das Buch im Lichte meiner Fragen, andere werden möglicherweise etwas anderes in dem Buch erkennen. Die Lektüre eines Buches ist niemals eine 1-zu-1 Angelegenheit (ein Umstand, warum auch die sogenannte Offenbarungsschriften im Judentum, Christentum und im Islam im Gang der Geschichte immer wieder – und zwar unvermeidbar – unterschiedlich interpretiert werden).

PLATON: NOUS UND PSYCHE (SS.41 – 44)

Platon: Seele und Geist, Grundstruktur
Platon: Seele und Geist, Grundstruktur
  1. Decher weist darauf hin, dass es bis heute schwierig ist, in den Werken Platons – speziell in seinen früheren Werke – den Einfluss der sokratischen Denkweise von den eigenen Überlegungen Platons klar abzugrenzen. Sokrates (ca. -469 bis -399) lebte vor Platon (-428/7 bis – 348/7) und Platon kannte Sokrates nicht nur, sondern war auch sein Schüler (ca. ab -407).
  2. Decher fasst dann die Lehre von Platon in einigen Kernthesen zusammen, die im Schaubild (erweitert) illustriert werden.
  3. Grundsätzlich geht Platon von einer Trennung von Körper und Seele (Psyché) aus, wobei der Geist (Nous) ein Teil der Seele ist. Die Seele gehört zum unkörperlichen immateriellen überindividuellen und unsterblichen Lebensprinzip im Gegensatz zum materiellen sterblichen Körper. Entsprechend den verschiedenen Körperteilen (Kopf, Brust, Unterleib) zeigt sich die Seele auf unterschiedliche Weise (Nous als Geist, Verstand; Thýmos als antreibende Gefühle; Epithymiai als Begierden, Triebe, Bedürfnisse). Anlässlich von sinnlichen Erregungen wird der Geist in der Weise angeregt, stimuliert, dass er sich erinnert (Erinnerung, Anamnesis) an ein allgemeines, ideales, immaterielles Wissen, das auf die Ideen zurückgeht, die die Seele vor ihrer Wiedergeburt kannte, und die sie auf dem Weg zur Wiedergeburt in einem Körper beim Durchqueren des Flusses Lethe (Fluss des Vergessens) vergessen hatte. Die allgemein Wahrheit ist also etwas, was unabhängig von materieller Körperwelt und sinnlicher Erfahrung existiert und nur erinnert werden kann. Je nachdem, wie die verschiedenen Seelenteile miteinander im Einklang sind, ist ein Mensch eher krank oder gesund.

DISKURS

  1. Diese Bemerkungen sind sehr knapp. Entsprechen aber den allgemeinen Lehrmeinungen über Platons Position.
  2. Interessant ist hier die Wechselbeziehung zwischen Geist und Seele.
  3. Offensichtlich kommt der Seele die Priorität zu. Der Geist scheint zwar der Ort zu sein, wo die aus der Materialität herrührenden sinnlichen Erregungen sich zu ersten bewussten Vorstellungen formen können und wo diese Anregungen zur Erinnerung an präexistierende immaterielle unendliche Ideen führen können, die ebenfalls im Geist bewusst werden können, aber der Geist ist nur ein Moment an der Seele, die als solche als immateriell und unsterblich gilt.
  4. Der Hauptgrund für die Unsterblichkeit der Seele scheint aus der Annahme zu resultieren (vgl. dazu Hirschberger, SS.118-128), dass die Seele als Lebensprinzip alles Lebendigen gesehen wird (auch der Tiere und Pflanzen), und dieses Lebensprinzip erkennt man an der Bewegung, und zwar an der spontanen Selbstbewegung. Die Selbstbewegung liegt jeglicher Bewegung zugrunde, auch den Himmelsbewegungen; sie ist das Erste von Allem, und darin ewig.
  5. Dies bedeutet, dass ein ewiges, immaterielles Prinzip erkannt wurde auf der Basis eines Naturphänomens, das zu Zeiten Platons von vielen nicht anders verstanden werden konnte, als etwas ganz Anderes, für das man keine Erklärung in der bekannten Welt finden konnte.
  6. Unterstützung fand diese Hypothese von der ganz anderen Bewegung noch durch die Phänomene des Erkennens, dass man in der empirischen Erfahrungswelt immer nur endliche und unvollkommene Objekte, Verhältnisse und Strukturen findet, sich im Denken aber Verhältnisse zeigen und denken lassen, die unendlich erscheinen und ideal. Lässt diese scheinbare Unerklärlichkeit der (spontanen) Bewegung kombiniert mit der Unerklärlichkeit der idealen Erkenntnisse von daher berechtigt einen Schluss auf etwas Immaterielles, Unendliches, Präexistierendes, Überindividuelles zu, das man Seele (Psyché) nennt und das vorab und begleitend zur erfahrbaren empirischen Welt existiert und wirkt?
  7. Auf den ersten Blick tut sich hier ein Dualismus von endlichem unvollkommenem Materiellen und endlichem vollkommenem Immateriellen auf. Dies aber nur solange, als man die Wechselwirkung zwischen beiden nicht ernst nimmt. Wenn das endliche Materielle mit dem unendlichen Immateriellen in Erkenntnisweisen zusammenwirken können, dann kann und muss man fragen, wie dies möglich ist.
  8. Sowohl die sinnlich angeregten Vorstellungen sind bewusst und im Geist (Nous) wie auch die von den ewigen Ideen gespeisten Erinnerungen an ideale Verhältnisse sind bewusst, da ansonsten unbekannt. Im platonischen Denkmodell gibt es für dieses Zusammentreffen von unvereinbaren Gegensätzen keine wirkliche Erklärung. Im Lichte der neuzeitlichen Erkenntnisse der letzten 50 (!) Jahre gibt es aber Ansatzpunkte, die möglicherweise neue Denkmodelle ermöglichen könnten, die aber – so scheint mir – bislang noch nicht konsequent öffentlich zu Ende gedacht wurden.

SELBSTBEWEGUNG

  1. Nach heutigem Kenntnisstand wissen wir, dass es ein Charakteristikum biologischen Lebens ist, dass es über eine Konfiguration von Molekülen verfügt, die es in die Lage versetzen, Energie aus der Umgebung zu entziehen, um damit eine Eigenbewegung (Selbstbewegung) zu organisieren. Die Selbstbewegung resultiert also aus dem Zusammenwirken einer (nach heutigem Kenntnisstand) vorauszusetzenden Energie, die allem Empirischen zugrunde liegt, und einer bestimmten molekularen Struktur, die in der Lage ist, diese Energie in Bewegung zu transformieren. Dies ist ein Eigenschaft jeder biologischen Zelle, die sich im Falle des homo sapiens in ca. 37 Billionen (10^12) Zellen in Form eines Gesamtorganismus (Körper) so präsentiert, dass eine Vielzahl von Bewegungen in Erscheinung treten können. Die ca. 100 Mrd (10^9) Gehirnzellen nutzen ihre Energie weniger zu mechanischen Bewegungen sondern zum elektrischen Signalaustausch. Dieser Signalaustausch ermöglicht Wahrnehmung, Erinnern, Denken, Fühlen usw.
  2. Mit diesen Erkenntnissen können wir zwar auch sagen, dass die primären Prinzipien von biologischer Belebtheit auf überindividuelle Gesetze und Eigenschaften zurückverweisen (Energie), dass aber das Zusammenwirken von materiellen (atomaren, molekularen) Strukturen und freier Energie eine Eigenschaft ist, die schon jeder einzelnen Zelle zukommt, und damit jeglicher Lebensform auf der Erde.

IDEALE ERKENNTNIS

  1. Bleibt das Phänomen der idealen Erkenntnis. In der Tat sind alle sinnlich wahrnehmbaren Sachverhalte endlich, unvollkommen, singulär verglichen mit allgemeinen, strukturellen Dachverhalten, wie sie sich im Denken erschließen können.
  2. Hält man sich aber vor Augen, dass unser sinnliches Wahrnehmen und unser ideales Denken von einem Netzwerk von ca. 100 Mrd (10^9) Zellen ermöglicht wird, die völlig uniform arbeiten, dann kann man zumindest die Frage stellen, ob es möglicherweise ein (sehr hilfreicher) Artefakt dieses neuronalen Netzwerkes ist, dass wir mit endlichen Strukturen unendliche Strukturen denken können?
  3. Gerade dieser Punkt ist in der modernen Grundlagenforschung merkwürdigerweise noch nicht hinreichend abgeklärt. Hier nur ein paar Stichworte, um anzudeuten, in welcher Richtung die Antwort liegen kann.
  4. Wichtigster Kronzeuge für ideale unendliche Objekte des Denkens ist die Mathematik. Ein Beispiel ist hier die Menge der abzählbar-unendlichen natürlichen Zahlen. Die Menge der natürlichen Zahlen gilt als unendlich groß. Man definiert diese Unendlichkeit durch einen endlichen Zählprozess, der als Prozess aber keinen Endpunkt besitzt. Analog verhält es sich mit den komplexeren Zahlmengen wie z.B. den rationalen Zahlen, den reellen Zahlen usw. Diese Mengen gelten auf unterschiedliche Weise als unendlich, besitzen einen Namen, mit denen man sie benennen kann, und indem Mathematiker ständig die Namen von Objekten im Munde führen können, die als unendlich gelten, kann der Eindruck entstehen, dass es solche unendlichen Objekte tatsächlich gibt. Was es aber nur gibt, das sind endliche Prozeduren, durch die unterschiedliche Begriffe von Unendlichkeit definiert werden. Alle Arten von endlichen Prozeduren können – nach heutigem Wissensstand – von neuronalen Netzen simuliert – sprich: gedacht — werden.
  5. Ein anderes Beispiel ist die Welt der Begriffe, wie sie sich im Sprachgebrauch und in der Alltagslogik finden. Wir sind gewohnt (meist unbewusst), beständig Allgemeinbegriffe benutzen. Z.B. wir sehen ein Objekt vor uns auf dem Tisch, das genügend Eigenschaften aufweist, dass wir es als eine Tasse klassifizieren können. Und bekanntlich können wir beliebig viele einzelne Objekte als Tasse bezeichnen, sofern die charakterisierenden Eigenschaften gegeben sind. Dies bedeutet, mit einigen wenigen (endlich vielen) Eigenschaften können wir einen einzigen, individuellen Namen mit potentiell (= abzählbar) unendlich vielen Objekten verknüpfen. Dies ist mit einem neuronalen Netzwerk leicht zu bewerkstelligen.
  6. Dies bedeutet, am Beispiel von zwei sehr wichtigen Typen von denkbarer Unendlichkeit kann man sehen, dass sich diese mit endlichen Mitteln realisieren lassen.
  7. Allerdings ist klar, dass diese quasi-unendlichen endlichen Prozesse nur möglich sind, insoweit von außerhalb des Systems beständig genügend Energie zugeführt werden kann, durch die diese Prozesse aufrecht erhalten werden können.
  8. Wollte man die platonische Dualität von Materiell-Immateriell, von Seele – Körper, beibehalten, dann wäre nach heutigem Wissensstand der Körper die Anordnung der Atome/ Moleküle und das Seelische die verfügbare freie Energie, durch die Veränderungen/ Transformationen/ Signale/ Bewegungen dieser Moleküle möglich sind. Aufgrund der endlichen Konstellation der Moleküle kann zugeführte (unendliche?) Energie ein Denken von quasi unendlichen Mengen mit Hilfe endlicher Strukturen realisiert werden.

SEIN – WAHRHEIT

  1. Die Rückführung von quasi unendlichen Objekten auf endliche (Denk-)Prozesse lässt aber die Frage unbeantwortet, ob diese mit endlichen Mitteln sichtbar werdenden quasi-unendlichen Objekte (Strukturen) über das Denken hinaus eine ontologische Bedeutung haben können, oder, anders formuliert, ob diese quasi-unendlichen Objekte (Strukturen) über das Denken hinaus tatsächlich existieren, obgleich sie sich für unsere begrenzte Wahrnehmung immer nur als punktuelle, individuelle Messereignisse in Raum und Zeit manifestieren?
  2. Dies wäre die Frage nach der Wahrheit unserer Erkenntnisse.

Fortsetzung mit Aristotles HIER

SONSTIGE QUELLEN

  • Hirschberger, Johannes; GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE. Altertum und Mittelalter, Freiburg – Basel – Wien: Herder, 14.Aufl. 1976
  • Holenstein, Elmar; Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens, Zürich: Amman Verlag & Co, 2004

Einen Überblick über alle Blogbeiträge des Autors cagent nach Titeln findet sich HIER.

VORSCHAU TERMINE PHILOSOPHIEWERKSTATT FEBRUAR – MAI 2016

Da der Start zur neuen Serie etwas ‚ruckelig‘ war (Krankheit, Weihnachtsfeiertage, Terminkollisionen), hier – in Rücksprache mit Reinhard Graeff von der DENKBAR – der Versuch eines Neustarts für die Zeit Februar – Mai 2016, jeweils 2.Sonntag im Monat 16:00 – 19:00h:

TERMINE

VORGEHENSWEISE

Wir werden den bisherigen dialogischen (sokratischen) Stil der Bedeutungsfindung beibehalten, aber ergänzt um folgende Momente:

  • Zu Beginn eine thematisch passende Eingangsmusik ca.5-8 Min aus dem PHILOSPHY-IN-CONERT Programm des Emerging Mind Projektes
  • Vorstellung einer klassischen Position aus der Geschichte der Philosophie (Platon, Aristoteles, Augustinus, Thomas v.Acquin) ca. 10 – 15Min im Umfeld der Begriffe ‚Geist‘ und ‚Seele‘.
  • Gesprächsprozess zum vertiefenden Verständnis und geleitet von der Frage, ob und wie sich diese Positionen im Lichte heutiger Philosophie und Wissenschaft noch aufrecht erhalten lassen; falls nicht, was folgt daraus?
  • Im Anschluss an die Sitzung wird wie gewohnt ein Memo der Sitzung im Blog PHILOSOPHIE JETZT veröffentlicht. Jeder ist eingeladen, diese Darstellung mit eigenen Beiträgen zu ergänzen.

SPEZIELLER HINWEIS

Für alle die es interessiert, am

Mi, 20.Januar 2016, 19:30h

findet die Eröffnung des Emerging Mind Projektes im Institut für Neue Medien (INM) (Frankfurt) statt in Form eines Werkstattgesprächs. Das Emerging Mind Projekt (EMP) ist ein philosophisch motiviertes Projekt zur theoretischen und praktischen Erforschung der Zukunft von Menschen und intelligenten Maschinen. Es kooperiert eng mit der Emergent Life Academy (ELA), die diese Frage in dem größeren Kontext einer allgemeinen Entwicklungswissenschaft stellt, ebenfalls mit einem starken philosophischen Einschlag.

PHILOSOPHIEWERKSTATT BISHER

Einen Überblick über alle Beiträge zur Philosophiewerkstatt nach Themen findet sich HIER

IST DIE SELBSTVERSKLAVUNG DER MENSCHEN UNTER DIE MASCHINEN EVOLUTIONÄR UNAUSWEICHLICH?

  1. In diesem Blog gab es in der Vergangenheit schon mehrere Einträge (z.B. den ersten großen Beitrag Kann es doch einen künstlichen Geist geben?), die sich mit der Frage beschäftigt haben, inwieweit Maschinen die Lernfähigkeit und die Intelligenz von Menschen erreichen oder sogar übertreffen können.
  2. In vielen wichtigen Punkten muss man diese Frage offensichtlich bejahen, obgleich es bis heute keine Maschine gibt, die das technische Potential voll ausnutzt.
  3. Umso bemerkenswerter ist es, welche Wirkungen Maschinen (Computer) auf die Gesellschaft erzielen können, obgleich sie noch weitab von ihrem Optimum agieren.
  4. In einem Blogeintrag anlässlich eines Vortrags Über Industrie 4.0 und Transhumanismus. Roboter als Volksverdummung? Schaffen wir uns selbst ab? hatte ich noch eine grundsätzlich positive Grundstimmung bzgl. dessen, was auf uns zukommt. Ich schrieb damals:
  5. Das Ganze endet in einem glühenden Plädoyer für die Zukunft des Lebens in Symbiose mit einer angemessenen Technik. Wir sind nicht das ‚Endprodukt‘ der Evolution, sondern nur eine Durchgangsstation hin zu etwas ganz anderem!
  6. Mittlerweile beschleicht mich der Verdacht, dass wir aktuellen Menschen die nächste Phase der Evolution möglicherweise unterschätzen.
  7. Auslöser war der persönliche Bericht eines Managers in einem weltweiten IT-Konzern, der – von Natur aus ein Naturwissenschaftler, ‚knochentrocken‘, immer sachlich, effizient – zum ersten Mal nach vielen Jahren Ansätze von Emotionen zeigte, was die Entwicklung seiner Firma angeht. Die Firma (und nicht nur diese Firma, s.u.) entwickelt seit vielen Jahren ein intelligentes Programm, das eine Unzahl von Datenbanken auswerten kann, und zwar so, dass die Anfrage von Menschen ‚interpretiert‘, die Datenbanken daraufhin gezielt abgefragt und dem anfragenden Menschen dann mitgeteilt werden. Das Ganze hat die Form eines passablen Dialogs. Das Verhalten dieses intelligenten Programms ist mittlerweile so gut, dass anfragende Menschen nicht mehr merken, dass sie ’nur‘ mit einer Maschine reden, und dass die Qualität dieser Maschine mittlerweile so gut ist, dass selbst Experten in vielen (den meisten?) Fällen schlechter sind als diese Maschine (z.B. medizinische Diagnose!). Dies führt schon jetzt dazu, dass diese Beratungsleistung nicht nur nach außen als Dienstleistung genutzt wird, sondern mehr und mehr auch in der Firma selbst. D.h. die Firma beginnt, sich von ihrem eigenen Produkt – einem in bestimmtem Umfang ‚intelligenten‘ Programm – ‚beraten‘ (und damit ‚führen‘?) zu lassen.
  8. Wenn man sich in der ‚Szene‘ umhört (man lese nur den erstaunlichen Wikipedia-EN-Eintrag zu deep learning), dann wird man feststellen, dass alle großen global operierenden IT-Firmen (Google, Microsoft, Apple, Facebook, Baidu und andere), mit Hochdruck daran arbeiten, ihre riesigen Datenbestände mit Hilfe von intelligenten Maschinen (im Prinzip intelligenten Algorithmen auf entsprechender Hardware) dahingehend nutzbar zu machen, dass man aus den Nutzerdaten nicht nur möglichst viel vom Verhalten und den Bedürfnissen der Nutzer zu erfahren, sondern dass die Programme auch immer ‚dialogfähiger‘ werden, dass also Nutzer ’natürlich (= menschlich)‘ erscheinende Dialoge mit diesen Maschinen führen können und die Nutzer (= Menschen) dann zufrieden genau die Informationen erhalten, von denen sie ‚glauben‘, dass es die ‚richtigen‘ sind.
  9. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob die Manager dieser Firmen dank ihrer überlegenen Fähigkeiten die Firmen technologisch aufrüsten und damit zum wirtschaftlichen Erfolg führen.
  10. Tatsache ist aber, dass allein aufgrund der Möglichkeit, dass man ein bestimmtes Informationsverhalten von Menschen (den aktuellen ‚Kunden‘!) mit einer neuen Technologie ‚bedienen‘ könnte, und dass derjenige, der dies zu ‚erschwinglichen Preisen‘ als erster schafft, einen wirtschaftlichen Erfolg erzielen kann (zu Lasten der Konkurrenz), diese rein gedachte Möglichkeit einen Manager zwingt (!!!), von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Tut der Manager es nicht läuft er Gefahr, dass die Konkurrenz es tut, und zwar vor ihm, und dass er dadurch möglicherweise auf dem Markt so geschwächt wird, dass die Firma sich davon u.U. nicht mehr erholt. Insofern ist der Manager (und die ganze Firma) ein Getriebener (!!!). Er kann gar nicht anders!
  11. Das, was den Manager ‚treibt‘, das ist die aktuelle technische Möglichkeit, die sich aufgrund der bisherigen technischen Entwicklung ergeben hat. Für die bisherige technische Entwicklung gilt aber für jeden Zeitpunkt die gleiche Logik: als die Dampfmaschine möglich wurde, hatte nur noch Erfolg, wer sie als erster und konsequent eingesetzt hat; als die Elektrizität verfügbar, nicht anders, dann Radio, Fernsehen, Auto, Computer, ….
  12. Die ‚Manager‘ und ‚Unternehmensgründer‘, die wir zurecht bewundern für ihre Fähigkeiten und ihren Mut (nicht immer natürlich), sind trotz all dieser hervorstechenden Eigenschaften und Leistungen dennoch nicht autonom, nicht freiwillig; sie sind und bleiben Getriebene einer umfassenderen Logik, die sich aus der Evolution als Ganzer ergibt: die Evolution basiert auf dem bis heute nicht erklärbaren Prinzip der Entropie-Umkehr, bei dem freie Energie dazu genutzt wird, den kombinatorischen Raum möglicher neuer Zustände möglichst umfassend abzusuchen, und in Form neuer komplexer Strukturen in die Lage zu versetzen, noch mehr, noch schneller, noch effizienter zu suchen und die Strukturen und Dynamiken der vorfindlichen Welt (Universum) darin zu verstehen.
  13. Während wir im Falle von Molekülen und biologischen Zellen dazu tendieren, diese eigentlich ungeheuren Vorgänge eher herunter zu spielen, da sie quasi unter unserer Wahrnehmungsschwelle liegen, wird uns heute vielleicht dann doch erstmalig, ansatzweise, etwas mulmig bei der Beobachtung, dass wir Menschen, die wir uns bislang für so toll halten, dazu ganze riesige globale Firmen, die für Außenstehende beeindruckend wirken und für Firmenmitglieder wie überdimensionale Gefängnisse (? oder Irrenanstalten?), dass wir ‚tollen‘ Menschen also ansatzweise spüren, dass die wahnwitzige Entwicklung zu immer größeren Metropolen und zu immer intelligenteren Maschinen, die uns zunehmen die Welt erklären (weil wir es nicht mehr schaffen!?), uns dies alles tun lassen, weil der einzelne sich machtlos fühlt und die verschiedenen Chefs auf den verschiedenen Hierarchieebenen total Getriebene sind, die ihre Position nur halten können, wenn sie hinreichend effizient sind. Die Effizienz (zumindest in der freien Wirtschaft) wird jeweils neu definiert durch das gerade Machbare.
  14. Politische Systeme haben zwar immer versucht – und versuchen es auch heute – sich ein wenig vor dem Monster der Innovation abzuschotten, aber dies gelingt, wenn überhaupt, in der Konkurrenz der Gesellschaftssysteme nur für begrenzte Zeiten.
  15. Was wir also beobachten ist, dass die immense Informationsflut, die das einzelne Gehirn hoffnungslos überfordert, Lösungen mit intelligente Maschinen auf den Plan ruft, die das Sammeln, Sortieren, Klassifizieren, Aufbereiten usw. übernehmen und uns Menschen dann auf neue Weise servieren. So betrachtet ist es hilfreich für alle, nützlich, praktisch, Lebensfördernd.
  16. Beunruhigend ist einmal die Art und Weise, das Wie: statt dass es wirklich allen hilft, hat man den Eindruck, dass es die globalen Konzerne sind, die einseitig davon Vorteile haben, dass das bisherige Ideal der Privatheit, Freiheit, Selbstbestimmung, Würde usw. aufgelöst wird zugunsten einer völlig gläsernen Gesellschaft, die aber nur für einige wenige gläsern ist. Demokratische Gesellschaften empfinden dies u.U, stärker als nicht-demokratische Gesellschaften.
  17. Beunruhigend ist es auch, weil wir als Menschen erstmalig merken, dass hier ein Prozess in Gang ist, der eine neue Qualität im Verhältnis Mensch – Technik darstellt. In primitiveren Gesellschaften (und auch noch in heutigen Diktaturen) war es üblich , dass wenige Menschen die große Masse aller anderen Menschen quasi ‚versklavt‘ haben. Unter absolutistischen Herrschern hatten alle einem Menschen zu gehorchen, ob der nun Unsinn redete oder Heil verkündete. Nach den verschiedenen demokratischen Revolutionen wurde dieser Schwachsinn entzaubert und man wollte selbst bestimmen, wie das Leben zu gestalten ist.
  18. In der fortschreitenden Komplexität des Alltags merken wir aber, dass das sich selbst Bestimmen immer mehr vom Zugang zu Informationen abhängig ist und von der kommunikativen Abstimmung mit anderen, die ohne erheblichen technischen Aufwand nicht zu leisten sind. Die dazu notwendigen technischen Mittel gewinnen aber im Einsatz, im Gebrauch eine solche dominante Rolle, dass sie immer weniger nur die neutralen Vermittler von Informationen sind, sondern immer mehr ein Eigenleben führen, das sich ansatzweise und dann immer mehr auch von denen abkoppelt, die diese vermittelnden Technologien einsetzen. Kunden und Dienstleister werden werden gleichzeitig abhängig. Wirtschaftlich können die Dienstleister nicht mehr dahinter zurück und lebenspraktisch ist der Verbraucher, der Kunde immer mehr von der Verfügbarkeit dieser Leistung abhängig. Also treiben beide die Entwicklung zu noch größerer Abhängigkeit von den intelligenten Vermittlern voran.
  19. Eine interessante Entwicklung als Teil der übergreifenden Evolution. Wo führt sie uns hin?
  20. Die Frage ist spannend, da die heute bekannten intelligenten Maschinen noch weitab von den Möglichkeiten operieren, die es real gibt. Die Schwelle ist bislang die Abhängigkeit von den begrenzten menschlichen Gehirnen. Unsere Gehirne tun sich schwer mit Komplexität. Wir brauchen Computer, um größere Komplexität bewältigen zu können, was zu noch komplexeren (für uns Menschen) Computern führt, usw. Dabei haben wir noch lange nicht verstanden, wie die etwa 200 Milliarden einzelne Nervenzellen in unserem Gehirn es schaffen, im Millisekundenbereich miteinander so zu reden, dass all die wunderbaren Leistungen der Wahrnehmens, Denkens, Erinnerns, Bewegens usw. möglich sind.
  21. Heutige Computer haben mittlerweile eine begrenzte lokale Lernfähigkeit realisiert, die ihnen den Zugang zu begrenzter Intelligenz erlaubt. Heutige Computer sind aber weder im lokalen wie im strukturellen voll Lernfähig.
  22. Einige meinen, dass die Zukunft im Sinne von technischer-Singularität zu deuten ist, dass die intelligenten Maschinen dann irgendwann alles übernehmen. Ich wäre mir da nicht so sicher. Das Hauptproblem einer vollen Lernfähigkeit ist nicht die Intelligenz, sondern die Abhängigkeit von geeigneten Präferenzsystemen (Werte, Normen, Emotionen, Bedürfnissen, …). Dieses Problem begegnen wir beim Menschen auf Schritt und Tritt. Die vielen Probleme auf dieser Welt resultieren nicht aus einem Mangel an Intelligenz, sondern aus einem Mangel an geeigneten von allen akzeptierten Präferenzsystemen. Dass Computer die gleichen Probleme haben werden ist den meisten (allen?) noch nicht bewusst, da die Lernfähigkeit der bisherigen Computer noch so beschränkt ist, dass das Problem nicht sichtbar wird. Sobald aber die Lernfähigkeit von Computern zunehmen wird, wird sich dieses Problem immer schärfer stellen.
  23. Das einzige wirklich harte Problem ist jetzt schon und wird in der Zukunft das Werteproblem sein. Die bisherigen Religionen haben unsere Blicke mit vielen falschen Bildern vernebelt und uns im Glauben gelassen, das Werteproblem sei ja gelöst, weil man ja an Gott glaubt (jede Religion tat dies auf ihre Weise). Dieser Glaube ist aber letztlich inhaltsleer und nicht geeignet, die realen Wertprobleme zu lösen.
  24. Man kann nur gespannt sein, wie die Menschheit als Teil des umfassenden Lebensphänomens mit einer immer leistungsfähigeren Technik auf Dauer das Werteproblem lösen wird. Die einzige Hoffnung ruht in der Logik des Prozesses selbst. Der Mensch in seiner unfassbaren Komplexität ist ein Produkt der Evolutionslogik; wir selbst sind weit entfernt davon, dass wir etwas Vergleichbares wie uns selbst schaffen könnten. Darf man also darauf vertrauen, dass die in allem Leben innewohnende Logik der Evolution uns Menschen als Werkzeuge benutzt zu noch mehr Komplexität, in der wir alle kleine Rädchen im Ganzen sind (als was erscheint uns  ein einzelner Mensch in einer 30-Millionen Metropole?)

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Wieweit können wir den ‘biologischen Geist’ durch einen ‘künstlichen Geist’ nachbilden? – Nachreflexion zur Philosophiewerkstatt vom 12.April 2015

Gedankenskizze von der Philosophiewerkstatt am 12-April 2015 in der DENKBAR
Gedankenskizze von der Philosophiewerkstatt am 12-April 2015 in der DENKBAR

1. Trotz wunderbarem Wetter draußen fand sich wieder eine interessante Gruppe von Philosophierenden am 12.April 2015 zur Philosophiewerkstatt in der DENKBAR zusammen.

2. Mittlerweile bildet sich ein ’spezifischer Stil‘ in der Philosophiewerkstatt heraus: Immer weniger vorgefertigter Input durch einen Eingangsvortrag, sondern stattdessen von Anfang an ein ‚gemeinsames Denken‘ entlang einer Fragestellung. Das ‚Gemeinsame‘ wird in einem aktuellen ‚Gedankenbild‘ festgehalten, ‚visualisiert‘, so dass die Vielfalt der Gedanken für alle sichtbar wird. Nichts geht verloren. Dies eröffnet dann jedem die Möglichkeit, anhand der sichtbaren Unterschiede, Lücken und Gemeinsamkeiten ‚fehlende Stücke‘ zu suchen, zu ergänzen, oder vorhandene Begriffe weiter zu erläutern.

3. Als ‚Rhythmus‘ des gemeinsamen Denkens erweist sich ein gemeinsamer Einstieg, dann ‚Blubberpause‘, dann Schlussrunde als sehr produktiv.

GEIST – BIOLOGISCH UND KÜNSTLICH

4. Ausgangspunkt waren die Begriffe ‚Geist‘, ‚Biologisch‘ sowie ‚Künstlich‘.

5. Auf einer Zeitachse betrachtet kann man grob sagen, dass der Begriff ‚Geist‘ in der antiken griechischen Philosophie eine zentrale Rolle gespielt hat, sich bis mindestens ins 19.Jahrhundert durchgehalten hat, dann aber – zumindest im Bereich der Naturwissenschaft – nahezu jegliche Verwendung verloren hat. In den heutigen Naturwissenschaften herrscht der Eindruck vor, man bräuchte den Begriff ‚Geist‘ nicht mehr. Zugleich fehlen damit auch alle ‚Unterstützungsmerkmale‘ für jenes Wertesystem, das einer demokratischen Staatsform wie der deutschen Demokratie zugrunde liegt. ‚Menschenwürde‘ in Art.1 des Grundgesetzes hat im Lichte der aktuellen Naturwissenschaften keine Bedeutung mehr.

6. Gleichfalls auf der Zeitachse beobachten wir, dass das Paradigma der ‚Maschine‘ mit dem Aufkommen des theoretischen Begriffs des Automaten (erste Hälfte des 20.Jahrhunderts) und der Bereitstellung von geeigneter Technologie (Computer) einen neuen Begriff von ‚Künstlichkeit‘ ermöglicht: der Computer als programmierbare Maschine erlaubt die Nachbildung von immer mehr Verhaltensweisen, die wir sonst nur von biologischen Systemen kennen. Je mehr dies geschieht, umso mehr stellt sich die Frage, wieweit diese neue ‚Künstlichkeit‘ letztlich alle ‚Eigenschaften‘ des Biologischen, insbesondere auch ‚intelligentes Verhalten‘ bzw. den ‚Geist im Biologischen‘ nachbilden kann?

GEIST – SUBJEKTIV UND OBJEKTIV NEURONAL

7. Im Bereich des Biologischen können wir seit dem 20.Jahrhundert auch zunehmend differenzieren zwischen der subjektiven Dimension des Geistes im Bereich unseres Erlebens, des Bewusstseins, und den körperlichen, speziell neuronalen Prozessen im Gehirn, die mit den subjektiven Prozessen korrelieren. Zwar ist die ‚Messgenauigkeit‘ sowohl des Subjektiven wie auch des Neuronalen noch nicht besonders gut, aber man kann schon erstaunlich viele Korrelationen identifizieren, die sehr vielen, auch grundsätzlichen subjektiv-geistigen Phänomenen auf diese Weise neuronale Strukturen und Prozesse zuordnen, die zur ‚Erklärung‘ benutzt werden können. Sofern man dies tun kann und es dann auch tut, werden die subjektiv-geistigen Phänomene in die Sprache neuronaler Prozesse übersetzt; damit wirken diese subjektiven Begriffe leicht ‚obsolet‘, ‚überflüssig‘. Zugleich tritt damit möglicherweise eine Nivellierung ein, eine ‚Reduktion‘ von spezifischen ‚Makrophänomenen‘ auf unspezifische neuronale Mechanismen, wie sie sich in allen Lebewesen finden. Erklärung im Stil von Reduktion kann gefährlich sein, wenn man damit interessante Phänomene ‚unsichtbar‘ macht, die eigentlich auf komplexere Mechanismen hindeuten, als die ‚einfachen‘ Bestandteile eines Systems.

MATERIE – INFORMATION1 und INFORMATION2

8. Im Bereich der materiellen Struktur unseres Universums hat es sich eingebürgert, dass man die physikalische Entropie mit einem Ordnungsbegriff korreliert und darüber auch mit dem statistischen Informationsbegriff von Shannon. Ich nenne diesen Informationsbegriff hier Information1.

9. Davon zu unterscheiden ist ein anderer Informationsbegriff – den ich hier Information2 nenne –, der über die Statistik hinausgeht und eine Abbildung impliziert, nämlich die Abbildung von einer Struktur auf eine andere. Im Sinne der Semiotik (:= allgemeine Lehre von den Zeichen) kann man dies als eine ‚Bedeutungsbeziehung‘ deuten, für die es auch den Begriff ’semantische Beziehung‘ gibt. Für die Realisierung einer Bedeutungsbeziehung im Sinne von Information2 benötigt man im physikalischen Raum minimal drei Elemente: eine Ausgangsgröße, eine Zielgröße und eine ‚vermittelnde Instanz‘.

10. Im Falle der Selbstreproduktion der biologischen Zellen kann man genau solch eine Struktur identifizieren: (i) die Ausgangsgröße sind solche Moleküle, deren physikalische Eigenschaften ‚für den Vermittler‘ als ‚Informationen2‘ gedeutet werden können; (ii) die Zielgröße sind jene Verbindungen von Molekülen, die generiert werden sollen; (iii) die vermittelnde Instanz sind jene Moleküle, die die Moleküle mit Information2 ‚lesen‘ und dann die ‚Generierungsprozesse‘ für die Zielgrößen anstoßen. Dies ist ein komplexes Verhalten, das sich aus den beteiligten Elementen nicht direkt ableiten lässt. Nur auf den Prozess als solchen zu verweisen, ‚erklärt‘ in diesem Fall eigentlich nichts.

11. Interessant wird dies nun, wenn man bedenkt, dass das mathematische Konzept, das den heutigen Computern zugrunde liegt, der Begriff des programmierten Automaten, ebenfalls solch eine Struktur besitzt, die es ermöglicht, Information2 zu realisieren.

12. Dies bedeutet, dass sowohl der ‚Kern‘ des Biologischen wie auch der ‚Kern‘ des neuen Künstlichen beide die Grundstruktur von Information2 repräsentieren.

13. Sofern nun das ‚Lebendige‘, das ‚Geistige‘ reduzierbar sind auf eine Information2-fähige Struktur, müsste man nun folgern, dass die Computertechnologie das gleiche Potential besitzt wie das Biologische.

OFFENE FRAGEN

14. Offen bleibt – und blieb bei dem Werkstattgespräch –, ob diese Reduktion tatsächlich möglich ist.

15. Die Frage, ob eine reduktionistische Erklärungsstrategie ausreichend und angemessen ist, um die komplexen Phänomene des Lebens zu deuten, wird schon seit vielen Jahren diskutiert.

16. Eine reduktionistische Erklärungsstrategie wäre ‚unangemessen‘, wenn man sagen könnte/ müsste, dass die Angabe einer Verhaltensfunktion f: I –-> O auf der Basis der beobachteten Reaktionen (Input I, Output O) eines Systems ‚Eigenschaften des Systems‘ sichtbar macht, die sich durch die bekannten Systembestandteile als solche nicht erklären lassen. Dies gilt verstärkt, wenn die Bestandteile eines Systems (z.B.die physikalischen Gatter im Computer oder die Neuronen im Gehirn) von sich aus keinerlei oder ein rein zufälliges Verhalten zeigen, es sei denn, man würde – im Falle des Computers – ‚in‘ die Menge der Gatter eine ‚Funktion‘ ‚hineinlegen‘, die dazu führt, dass sich die Gatter in dieser bestimmten Weise ‚verhalten‘. Würde man nun dieses spezifische Verhalten dadurch ‚erklären‘ wollen, dass man einfach die vorhandenen Gatter verweist, würde man gerade nicht erklären, was zu erklären wäre. Überträgt man diesen Befund auf biologische oder generell physikalische Systeme, dann müsste man mindestens mal die Frage stellen, ob man mit den reduktionistischen Strategien nicht genau das vernichtet, was man erklären sollte.

17. Eine Reihe von Physikern (Schrödinger, Davis) haben das Auftreten von Information2 im Kontexte des Biologischen jedenfalls als eigenständiges Phänomen gewürdigt, das man nicht einfach mit den bekannten physikalischen Erklärungsmodellen ‚erklären‘ kann.

AUSBLICK PHILOSOPHIEWERKSTATT MAI UND JUNI

18. Die nächste Philosophiewerkstatt am 10.Mai 2015 will sich der Frage widmen, wie ein einzelner innerhalb einer multikausalen Welt überhaupt noch sinnvoll entscheiden kann. Speziell auch die Frage, welche Wirkung man überhaupt noch erzielen kann? Ist nicht irgendwie alles egal?

19. Die Philosophiewerkstatt am 14.Juni ist die letzte Werkstatt vor der Sommerpause. Es wird im Anschluss an die Sitzung ein offener Abend mit voller Restauration angeboten werden und mit der Möglichkeit, über das weitere Vorgehen zu diskutieren (welche Formate, zusätzliche Ereignisse,…).

Einen Überblick über alle Beiträge zur Philosophiewerkstatt nach Themen findet sich HIER

PSYCHOLOGIE DER SUCHE – UND MANCH ANDERES. Zur Philosophiewerkstatt vom 9.Nov.2014

A) PSYCHOLOGIE DER SUCHE
B) SELBSTORGANISATION DES DENKENS
C) NEUE MUSIK
D) SUBJEKTIVE GEWISSHEIT – OBJEKTIVER RAHMEN
E) MENSCH UND COMPUTER
F) SELBSTVERNICHTUNG DES MENSCHEN?
G) PROGRAMMENTWURF FÜR So 14.Dez.2014

1. Nach dem Start der philosophieWerkstatt v2.0 am 12.Oktober (siehe einen subjektiven Bericht davon hier) hat sich die Zahl der TeilnehmerInnen mehr als verdoppelt. Dies erweiterte den Raum der Erfahrungen, die in das Gespräch eingehen können. Aber eine größere Anzahl verändert auch den Fluss eines Gespräches. Man muss lernen, wie man damit umgeht.

A) PSYCHOLOGIE DER SUCHE

2. Das Gespräch startete mit einem kurzen Bericht von der ersten Sitzung (siehe das Schaubild vom letzten Bericht). Darauf bezogen gab es unterschiedliche Rückmeldungen, die aber dieses Mal nicht alsbald zu dem ‚Gesprächsfluss‘ führte, wie er die erste Sitzung charakterisierte, sondern erweckte bei den Beteiligten den Eindruck eines auf der Stelle Tretens. Man hatte subjektiv individuell Erwartungen, aber diese fand man im aktuellen Gesprächsgeschehen nicht wieder.

Stichwortsammlung 9.Nov.2014 (rosa Ellipsen)
Stichwortsammlung 9.Nov.2014 (rosa Ellipsen)

3. In solchen Situationen einer ‚quälenden Ungewissheit‘ ist es eine häufige Versuchung, nach altbekannten Rezepten zu greifen, um ‚irgendetwas‘ zu machen, damit man überhaupt etwas macht; ‚quälende Ungewissheit‘ wird jedenfalls bei den meisten als ‚unangenehm‘ empfunden.

4. Jeder, der schon mal ein Problem in einer bestimmten Zeit lösen musste, kennt diese Situation. Man muss (oder will) eine Lösung finden, aber aktuell hat man sie noch nicht. Was tut man? Wo fängt man an? Wo sollte man suchen? Man spürt seine eigene Unzulänglichkeit. Man zweifelt an sich. Man wird unruhig? Man fragt sich, ob es die richtige Entscheidung war, sich in diese Situation zu bringen… und Ähnliches.

5. Die Gruppe hat diese Situation eines gemeinsamen Suchens ohne aktuell subjektiv befriedigende Situation sehr konstruktiv gelöst. Keiner stand auf und ging einfach weg. Jeder versucht, die Situation konstruktiv anzunehmen und doch noch eine Lösung zu finden.

6. Eine Phase von Gesprächen in kleineren Gruppen löste die Lähmung auf, führte zu lebhaften inspirierenden Gesprächen und führte dann zu einem ‚Plan‘ für das weitere Vorgehend bei der nächsten Sitzung.

B) SELBSTORGANISATION DES DENKENS

7. Die individuell-gemeinschaftliche Suche nach etwas, was in sich noch nicht so bekannt ist, wo der Weg tatsächlich ein wesentlicher Teil des Zieles ist, unterliegt gewissen Randbedingungen, die gewisse Verhaltensweisen bedingen.

8. So macht es natürlich einen Unterschied, ob man einen Abend bei ‚Punkt Null‘ beginnt, ohne Voraussetzungen in der Vergangenheit; man kann direkter zu den Punkten kommen. Da nur 1/3 der Teilnehmer vom 12.Okt.2014 auch am 9.Nov. anwesend waren, wussten 2/3 am aktuellen Abend nichts von der Vorgeschichte. Die Vermischung von letzter Sitzung und aktueller Sitzung wirkte daher weniger inspirierend sondern eher wie ein Bremsklotz. Die Gruppe erarbeitete die Hypothese, jede Sitzung mit einem bestimmten Thema anzufangen, das von einer Mehrheit als ‚gesprächswürdig‘ angesehen wird.

9. Ferner spielt natürlich die Anzahl eine Rolle. Je mehr Gesprächsteilnehmer anwesend sind, umso schwieriger wird ein Gespräch, da man auf immer mehr Erwartungshorizonte eingehen muss. Dies wird ab 4-5 Personen schon zunehmend schwer. Eine Klärung der eigenen Position zu einem Thema sollte daher einen Kommunikationsraum haben, der ‚Leichtgängig‘ ist. Die Gruppe erarbeitete daher die weitere Arbeitshypothese, zumindest zu Beginn des Treffens eine oder zwei Gesprächsphasen in kleinen Gruppen zu organisieren, die dann als Gruppe fokussiert ihre Ergebnisse allen anderen vorstellen. Anhand des Bildes, das dann aus diesen Gruppengesprächen entstehen, könnte man dann immer gemeinsame Reflexions- und Gesprächsphasen einschieben.

10. Auf diese Weise kann man überschaubare, persönliche Gesprächsprozesse erhalten, kann sich jede Gruppe dort abholen, wo sie steht, kann sich zusätzliche ein übergreifendes ‚Gedankenbild‘ entwickeln, das man im Kontext bekannter Erkenntnisse/ Modelle/ Theorien diskutiert.

C) NEUE MUSIK

11. Der Veranstalter macht unter dem Namen cagentArtist seit ca. 6 Jahren Experimente mit Klangräumen auf der Suche nach ’neuen Klängen‘. Dabei hat er vielfältige Erfahrungen gemacht beim ‚Suchen‘ nach neuen Klängen. Wie sucht man nach etwas, was man noch nicht kennt? Er hat dazu eine Methode entwickelt die das Individuum ins Zentrum stellt, die unabhängig ist von individuellen Fähigkeiten, von vieljährigen Trainingsprogrammen, unabhängig von ‚herrschendem Geschmack‘, von welchen Monopolen auch immer. Es geht um eine Begegnung mit neuen Klängen ‚für jeden‘, ‚zu jeder Zeit‘, ‚unabhängig‘ vom Monopol eines Senders, einer Redaktion, eines Sinfonieorchesters, vom Mainstream: ‚Bottom-Up‘, ‚Graswurzel‘ …. Das Bild vom großen Künstler, der eine ‚göttliche Inspiration‘ empfängt, die er ‚meisterlich‘ in eine ‚Form gießt‘, die die ‚hohe Musik‘ verkörpert, ist eine Ideologie. Sie begründet zu Unrecht eine Machtstruktur der ‚Musikwissenden hier‘ und der ‚Musikunmündigen‘ ansonsten. Dies führt zu einer Entmündigung fast aller Menschen in Sachen Musik. Oder der ‚Mainstream‘ als ‚Terror‘. Es geht um eine ‚Demokratisierung‘ des Umgangs mit Musik.

12. Es entstand im Gespräch die Idee, zu Beginn jeder Sitzung ein kurzes Musikstück aus dem Bereich der neuen Musik anzuhören und dann kurz über die ‚Emotionen‘ zu sprechen, die es auslöst, über den Weg, wie diese Klänge entstanden sind, und ob und wie man selbst einen Weg zu Klängen hätte.

D) SUBJEKTIVE GEWISSHEIT – OBJEKTIVER RAHMEN

13. In einer kurzen, aber ‚emotional wirksamen‘ Phase, gab es Dialoge zum Thema ’subjektive Gewissheit‘, z.B. dass hier ‚objektiv‘ ein Tisch sei, weil ich ihn anfassen kann, und den objektiven Erkenntnissen der modernen Physiologie und Gehirnforschung andererseits, dass das Gehirn als Zentrum vielfältiger Informationsverarbeitung im Körper, natürlich nicht den ‚Tisch als solchen‘ ‚wahrnimmt‘, sondern nur die ‚Wirkungen‘ übermittelt bekommt, die der ‚Tisch da draußen‘ auf die beteiligten Sinnesorgane auslöst. Aus den Daten der Sinnesorgane (auch der ‚inneren‘ (propriozeptiven) Sinnesorgane) konstruiert dann das Gehirn sein Bild von der ‚Welt da draußen‘.

14. Es gab bei einzelnen Schwierigkeiten, die subjektive Erkenntnis mit den Daten der modernen empirischen Wissenschaften zu verschränken. Die Schwierigkeit bestand darin, den Wahrheitsgehalt der subjektiven Erkenntisse in den objektiv-empirischen Erkenntniszusammenhang ‚einzubetten‘; die subjektive Erkenntnis wird damit nicht ‚aufgehoben‘, wohl aber ‚zusätzlich interpretiert‘.

15. Die ‚Objektivität‘ wird damit nicht vernichtet, sondern gestärkt. ‚Wahrheit‘ verschwindet nicht, sondern wird dadurch nur differenzierter. Dass es Menschen gibt, die sich ‚Philosophen‘ nennen und die aus den Erkenntnissen der modernen Wissenschaften eine allgemeine ‚Relativierung‘ ableiten, erscheint nicht zwingend, müsste aber in einem längeren differenzierten Gespräch erklärt werden.

E) MENSCH UND COMPUTER

16. Im Nachgespräch einer kleinen Gruppe wurde höchst intensiv die Frage diskutiert, ob und wieweit ein Computer einen Menschen ’nachbilden‘ oder gar ‚ersetzen‘ können. Es wurden sehr viele kluge Dinge gesagt. Die Kernfrage einer Teilnehmerin, wieweit das an die Körperlichkeit gebundene ‚Kinderkriegen‘ durch eine Frau und die damit einhergehende ‚Weiterentwicklung‘ eines Menschen/ der Menschheit durch Maschinen (Computer) ’nachgebildet‘ werden könnte, blieb trotz einiger Argumente noch etwas offen.

F) SELBSTVERNICHTUNG DES MENSCHEN?

17. Im Zusammenhang der aktuellen Diskussion um die kommende ‚Weltherrschaft der Maschinen‘ (Singularitätshypothese, Transhumanismus) kann man den Eindruck gewinnen, dass die Diskussionsteilnehmer ‚wie besoffen‘ von den Fähigkeiten der ’neuen Maschinen‘ sind, ohne sich dabei noch irgendwelche Gedanken über den Menschen zu machen. Das Wunder des Lebens auf der Erde (und damit im Universum), das sich seit ca. 4 Mrd.Jahren in extrem komplexen und erstaunlichen Prozessen abgespielt hat, wird vollständig ausgeklammert. Die vielen grundlegenden Fragen, die sich hier stellen, die alle noch nicht beantwortet sind, werden gar nicht erst diskutiert.

18. Dass die ‚alten Menschenbilder‘ der bisherigen Traditionen (insbesondere auch der großen Religionen (Hinduismus, Judentum, Buddhismus, Christentum, Islam) bei heutigem Wissensstand vielfach nicht mehr adäquat sind, ist eine Sache, aber dann den Menschen quasi einfach in der Versenkung schwinden zu lassen als sich der Herausforderung eines ’neuen Menschenbildes‘ zu stellen, ist nicht nur methodisch unsauber sondern natürlich ein direkter Angriff auf die Gesamtheit des Lebens im Universum schlechthin. Der Mensch schafft sich selbst ab; das ist mehr als Genozid (was eigentlich von der UN geächtet ist).

19. Während ‚Religion‘ eigentlich etwas Existentiell-Empirisches ist, das seine ‚Wurzeln‘ im ‚Transzendenten‘ zu ’spüren‘ meint, scheinen die ‚Institutionen‘ der Religionen eher ‚Machtgetrieben‘ zu sein, die im Konfliktfall das Existentiell-Empirische der Religion bekämpfen. Das Existentiell-Empirische wertet den einzelnen Menschen (jedes Lebewesen!?) grundlegend auf. Religiöse Erfahrung verbindet jeden potentiell mit Gott, was aber eine institutionelle Macht in Frage stellt.

20. Im Kontext der Diskussion um das ‚Neue Menschenbild‘ erscheinen die von den religiösen Institutionen ‚propagierten‘ Menschenbilder daher tendenziell ‚verzerrt‘, ‚partiell‘, ‚irreführend‘. Wenn dies zutrifft – als Autor gehe ich davon aus –, dann helfen die Menschenbilder der institutionellen Religionen uns momentan wenig in der Auseinandersetzung um das ‚Neue Menschenbild‘. Im Gegenteil, sie blockieren den Zugang zu dem ‚je größeren Bild‘ vom Menschen im Universum, vom Leben im Universum, und damit bedrohen sie die ‚Zukunft‘ des Lebens unmittelbar.

G) PROGRAMMENTWURF FÜR So 14.Dez.2014

21. Für die nächste Sitzung wurde von den Anwesenden daher folgender Programmvorschlag formuliert:
22. Eingangsbeispiel eines Experimentes zur ‚Neuen Musik‘ mit kurzem Gespräch
23. Kurze Einführung zum Thema ‚Emotionen‘
24. Erste Gesprächsrunde in kleinen Gruppen (3-4) zum Thema
25. Berichte der Gruppen und Diskussion
26. Eventuell Wiederholung Gesprächsgruppen und gemeinsame Diskussion
27. Mögliche Aufgabenstellung für nächstes Treffen
28. Offener Ausklang

Erste Vorübelegungen zur philosophieWerkstatt v2.0 am 14.12.2014 finden sich HIER.

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.