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MODERNE PROPAGANDA – Aus philosophischer Sicht. Erste Überlegungen

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Zeit: 26.Dez 2023 – 8.Jan 2024, 09:45h

Email: gerd@doeben-henisch.de

ENGLISCH: Es entsteht parallel eine Englische Version dieses Blog-Eintrags mit verändertem Titel „There exists only one big Problem for the Future of Human Mankind: The Belief in false Narratives“. Gegenüber dem Deutschen Original ist der Englische Text leicht revidiert.

Dieser Blogeintrag wird heute abgeschlossen werden. Er hat jedoch den Grundstein für Überlegungen gelegt, die in einem neuen Blogeintrag weiterverfolgt werden sollen.

EINLEITUNG

UNSCHEINBARER ANFANG

Auslöser für den folgenden Text war die Lektüre eines Buches, das 2023 in 3.Aufl vorliegt und welches das Label führt ‚Spiegel Bestseller‘. Ob das Buch wirklich mal auf der Bestseller Liste stand, konnte ich nicht verifizieren, da der Spiegel nur die jeweils aktuellen Liste anzeigt.

Wie auch immer, ich habe begonnen das Buch zu lesen, weil es mir von einer nahestehenden Person geschenkt wurde… Daraus folgt zwar nicht immer, dass ich dies dann auch lese (die Stapel der ‚zu lesenden Bücher‘ sind hoch), in diesem Fall habe ich es aber getan.

Während der Lektüre beschlich mich immer wieder und immer mehr der Verdacht, dass es sich bei diesem Buch um eine klassische Propagandaschrift handelt.

Beim Versuch, mein Konzept von ‚Propaganda‘ so zu präzisieren, dass ich damit klar argumentieren kann, gewann ich den Eindruck, dass mein Verständnis von Propaganda doch etwas unscharf war.

Ich entschied mich daher, mich zum Thema ‚Propaganda‘ weiter einzulesen (die Liste von Quellen unten auf der Seite enthält davon einige Titel). Dabei wurde offenbar, dass der Begriff der ‚Propaganda‘ in der Literatur eine große Bandbreite von Phänomenen anspricht, ohne dass ein ‚klares, konsistentes Konzept‘ sichtbar wird.

Dies war unbefriedigend.

Kann man über ‚Propaganda‘ entweder gar nicht oder nur ‚vage‘ reden?

WO WIR JEDEN TAG KOMMUNIZIEREN

Ich entschloss mich daher, mich dem Phänomen der ‚Propaganda‘ so zu nähern, dass ich zunächst versuche, das Phänomen der ‚allgemeinen Kommunikation‘ zu charakterisieren, um ein paar ‚härtere Kriterien‘ zu finden, die es erlauben würden, den Begriff der ‚Propaganda‘ doch einigermaßen verständlich vor diesem allgemeinen Hintergrund abzuheben.

Die Umsetzung dieses Ziels führte dann tatsächlich zu einer immer grundlegenderen Untersuchung unserer normalen (menschlichen) Kommunikation, so dass Formen von Propaganda als ‚Spezialfälle‘ unserer Kommunikation erkennbar werden. Das Beunruhigende daran: auch die sogenannte ’normale Kommunikation‘ umfasst zahlreiche Elemente, die das Erkennen und das Weitergeben von ‚Wahrheit‘ (*) sehr schwer machen können. ‚Massive Fälle von Propaganda‘ haben also ihre ‚Heimat‘ dort, wo wir jeden Tag miteinander kommunizieren. Wenn wir Propaganda verhindern wollen, müssen wir also im Alltag ansetzen.

(*) Der Begriff der ‚Wahrheit‘ wird in dem anschließenden langen Text sehr ausführlich untersucht und erläutert. Leider habe ich dafür noch keine ‚Kurzformel‘ gefunden. Im Kern geht es darum, einen Bezug zu ‚realen‘ Ereignissen und Abläufen in der Welt — einschließlich des eigenen Körpers — so herzustellen, dass sie im Prinzip von anderen nachvollzogen und überprüft werden können.

DIKTATORISCHER KONTEXT

Schwierig wird es allerdings, wenn es genügend viel politische Macht gibt, die die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen derart festsetzen kann, dass für den einzelnen Menschen im Alltag — dem Bürger ! — die allgemeine Kommunikation mehr oder weniger vorgeschrieben — ‚diktiert‘ — wird. Dann findet ‚Wahrheit‘ immer weniger bis gar nicht mehr statt. Eine Gesellschaft wird dann durch Unterdrückung von Wahrheit auf ihren eigenen Untergang gleichsam ‚programmiert‘. ([3], [6]).

ALLTAG ALS DIKTATOR ?
Die Stunde der Narrative

Aber — und dies ist die weit gefährlichere Form von ‚Propaganda‘ ! — auch wenn es nicht einen flächendeckenden Machtapparat gibt, der bestimmte Formen von ‚Wahrheit‘ vorschreibt, kann eine Verstümmelung oder eine grobe Verzerrung von Wahrheit dennoch im großen Stil stattfinden. Weltweit können wir heute im Zeitalter von Massenmedien, insbesondere im Zeitalter des Internets, feststellen, dass einzelne Menschen, kleine Gruppen, spezielle Organisationen, politische Gruppierungen, ganze Religionsgemeinschaften, eigentliche alle Menschen und ihre gesellschaftlichen Ausprägungen, einem bestimmten ‚Narrativ‘ [*11] folgen, wenn sie handeln. Typisch für das Handeln nach einem Narrativ ist, dass diejenigen, die dies tun, individuell glauben, dass es ‚ihre eigene Entscheidung‘ ist und dass das Narrativ ‚wahr‘ ist, und dass sie daher ‚im Recht sind‘, wenn sie danach handeln. Dieses sich ‚im Recht fühlen‘, kann bis dahin gehen, dass man für sich das Recht in Anspruch nimmt, andere zu töten, weil sie im Sinne des ‚Narrativ‘ ‚falsch handeln‘. Man sollte hier daher von einer ’narrativen Wahrheit‘ sprechen: Im Rahmen des Narrativs wird ein Bild von der Welt gezeichnet, das ‚als Ganzes‘ eine Perspektive ermöglicht, die von den Anhängern des Narrativ ‚als solche‘ ‚gut gefunden‘ wird, als ‚Sinn stiftend‘. Im Normalfall ist die Wirkung eines Narrativs, was als ‚Sinn stiftend‘ erlebt wird, so groß, dass der ‚Wahrheitsgehalt‘ im einzelnen nicht mehr überprüft wird.

RELIGIÖSE NARRATIVE

In der Geschichte der Menschheit gab es dies zu allen Zeiten. Besonders wirkungsvoll waren Narrative, die als ‚religiöse Überzeugungen‘ auftraten. Von daher ist es auch kein Zufall, dass fast alle Regierungen der letzten Jahrtausende religiöse Überzeugungen als Staatsdoktrin übernahmen; ein wesentlicher Bestandteil religiöser Überzeugungen ist, dass sie ’nicht beweisbar‘, sprich ’nicht wahrheitsfähig‘ sind. Damit ist ein religiöses Narrativ ein wunderbares Werkzeug in der Hand von Mächtigen, Menschen ohne Androhung von Gewalt für bestimmte Verhaltensweisen zu motivieren.

POPULÄRE NARRATIVE

In den letzten Jahrzehnten erleben wir aber neue, ‚moderne Formen‘ von Narrativen, die nicht als religiöse Erzählungen daher kommen, die aber dennoch eine sehr ähnliche Wirkung entfalten: Menschen empfinden diese Narrative als ‚Sinn stiftend‘ in einer Welt, die für jeden heute immer unübersichtlicher und daher bedrohlich wird. Einzelne Menschen, die Bürger, empfinden sich zudem als ‚politische hilflos‘, so dass sie — selbst in einer ‚Demokratie‘ — das Gefühl haben, nichts direkt bewirken zu können: die ‚da oben‘ machen doch, was sie wollen. In einer solchen Situation sind ‚vereinfachende Erzählungen‘ eine Wohltat für die geschundene Seele; man hört sie und hat das Gefühl: ja, so ist es; das ist genau das, was ich ‚fühle‘! Solche ‚populären Narrative‘, die ‚gute Gefühle‘ ermöglichen, gewinnen eine immer größere Kraft. Mit religiösen Narrativen haben sie gemeinsam, dass die ‚Anhänger‘ von populären Narrativen die ‚Wahrheitsfrage‘ nicht mehr stellen; die meisten sind auch nicht genügend ‚trainiert‘, um den Wahrheitsgehalts eines Narrativs überhaupt klären zu können. Typisch für Anhänger von Narrativen ist, dass sie in der Regel individuell kaum in der Lage sind, ihr eigenes Narrativ anderen zu erklären. Man schickt sich typischerweise Links von Texten/ Videos, die man ‚gut‘ findet, weil diese Texte/ Videos irgendwie das populäre Narrativ zu unterstützen scheinen, und überprüft die Autoren und Quellen eher nicht, weil dies doch so ‚anständige Leute‘ sind, weil sie immer genau das Gleiche sagen, wie es das ‚populäre Narrativ‘ vorgibt.(Schönes Beispiel: [10])

FÜR DIE MACHT SIND NARRATIVE SEXY

Wenn man jetzt noch berücksichtigt, dass die ‚Welt der Narrative‘ für alle, die Macht über Menschen haben oder gerne Macht über Menschen erringen wollen, ein äußerst verlockendes Angebot ist, genau solche Narrative ‚in die Welt zu setzen‘ oder bestehende Narrative ‚für sich zu instrumentalisieren‘, dann darf man sich nicht wundern, dass viele Regierungen in dieser Welt, viele andere Machtgruppen, heute genau dies tun: sie versuchen nicht Menschen ‚direkt‘ zu zwingen, sondern sie ‚produzieren‘ populäre Narrative oder ‚Monitoren‘ schon bestehende populäre Narrative‘, um über den Umweg über diese Narrative Macht über die Herzen und den Verstand von immer mehr Menschen zu bekommen. Die einen sprechen hier von ‚hybrider Kriegführung‘, andere von ‚moderner Propaganda‘, aber letztlich geht dies am Kern des Problems vorbei.

DAS NARRATIV ALS KULTURELLES GRUNDMUSTER
Das ‚Irrationale‘ wehrt sich gegen das ‚Rationale‘

Der Kern des Problems ist die Art und Weise, wie menschliche Gemeinschaften schon immer ihr gemeinsames Handeln organisieren, nämlich durch Narrative; über eine andere Möglichkeit verfügen wir Menschen nicht. Solche Narrative — dies zeigen die Überlegungen weiter unten im Text — sind aber hoch komplex und extrem anfällig für ‚Falschheit‘, für eine ‚Verzerrung des Bildes von der Welt‘. Im Rahmen der Entwicklung von Rechtssystemen wurden Ansätze entwickelt, um den Missbrauch von Macht in einer Gesellschaft durch Unterstützung von wahrheitserhaltenden Mechanismen zu ‚verbessern‘. Graduell hat dies sicherlich geholfen, bei allen Defiziten, die bis heute bestehen. Zusätzlich fand vor ca. 500 Jahren eine echte Revolution statt: es gelang der Menschheit, mit dem Konzept eines ‚überprüfbaren Narrativs (empirische Theorie)‘ ein Format zu finden, das den ‚Erhalt von Wahrheit‘ optimiert und das Abgleiten in Unwahrheit minimiert. Dieses neue Konzept von ‚überprüfbarer Wahrheit‘ hat seitdem großartige Einsichten ermöglicht, die ohne dieses neue Konzept jenseits aller Vorstellungen lagen. Die ‚Aura des Wissenschaftlichen‘ hat mittlerweile fast die gesamte menschliche Kultur durchdrungen, fast! Wir müssen konstatieren, dass das wissenschaftliche Denken zwar die Welt des Praktischen durch moderne Technologien umfassend gestaltet hat, dass aber die Art und Weise des wissenschaftlichen Denkens alle anderen Narrative nicht außer Kraft gesetzt hat. Im Gegenteil, die ‚wahrheitsfernen Narrative‘ sind mittlerweile wieder so stark geworden, dass sie in immer mehr Bereichen unserer Welt das ‚Wissenschaftliche‘ zurückdrängen, es bevormunden, es verbieten, es auslöschen. Die ‚Irrationalität‘ der religiösen und populären Narrative ist so stark wie nie zuvor. ‚Irrationale Narrative‘ sind so anziehend, weil sie es dem einzelnen ersparen, selber ’nachdenken zu müssen‘. Echtes Nachdenken ist anstrengend, unpopulär, lästig, behindert den Traum von der einfachen Lösung.

DAS ZENTRALE MENSCHHEITSPROBLEM

Vor diesem Hintergrund erscheint die weit verbreitete Unfähigkeit von Menschen, ‚irrationale Narrative‘ erkennen und überwinden zu können, das zentrale Problem der Menschheit zu sein, um die aktuellen globalen Herausforderungen zu meistern. Bevor wir mehr Technik brauchen (die brauchen wir auf jeden Fall), brauchen wir vor allem mehr Menschen, die fähig und bereit sind, mehr und besser nachzudenken, und auch in der Lage sind, gemeinsam mit anderen ‚echte Probleme‘ zu lösen. Echte Probleme erkennt man darin, dass sie weitgehend ’neu‘ sind, dass es keine ‚einfachen Lösungen von der Stange‘ für sie gibt, dass man gemeinsam wirklich um mögliche Einsichten ‚ringen muss‘; das ‚Alte‘ reicht‘ prinzipiell nicht, um das ‚wahre Neue‘ zu erkennen und umzusetzen!

Der folgende Text untersucht diese hier dargestellte Sicht im Detail.

MODERNE PROPAGANDA ?

Im Beitrag der Englischen Wikipedia zu ‚Propaganda [1b] wird eine ganz ähnliche Strategie versucht, wenn auch in der Ausführung mit nicht ganz scharfen Konturen. Es findet sich dort aber ein breiter Überblick über verschiedenste Formen von Kommunikation, eingebettet darin jene Formen, die ’speziell‘ (‚biased‘) sind, also den zu kommunizierenden Inhalt nicht so wiedergeben, wie man ihn nach ‚objektiven überprüfbaren Kriterien‘ wiedergeben würde. Die Vielfalt der Beispiele deutet aber an, dass es nicht ganz einfach zu sein scheint, eine ’spezielle‘ von einer ’normalen‘ Kommunikation abzugrenzen: Was sind denn diese ‚objektiven überprüfbaren Kriterien‘? Wer legt sie fest?

Nehmen wir für einen Moment mal an, dass es klar sei, welches dies ‚objektiven überprüfbaren Kriterien‘ sind, kann man versuchsweise für einen Ausgangspunkt eine Arbeitsdefinition für den allgemeinen (normalen?) Fall von Kommunikation versuchen:

  1. Den allgemeinen Fall von Kommunikation könnte man versuchsweise beschreiben als schlichten Versuch, dass eine Person — nennen wir sie den ‚Autor‘ — einer anderen Person — nennen wir sie den ‚Ansprechpartner‘ — versucht, ‚etwas zur Kenntnis zu bringen‘. Das, was zur Kenntnis gebracht werden soll, nennen wir versuchsweise ‚die Botschaft‘. Aus dem Alltag wissen wir, dass ein Autor zahlreiche ‚Eigenschaften‘ aufweisen kann, die sich auf den Inhalt seiner Botschaft auswirken können.

Zum Autor:

  1. Das verfügbare Wissen des Autors — bewusst wie unbewusst — entscheidet darüber, welche Botschaft der Autor überhaupt erstellen kann.
  2. Seine Wahrheitsfähigkeit entscheidet darüber, ob und in welchem Umfang er unterscheiden kann, was an seiner Botschaft in der realen Welt — gegenwärtig oder vergangen — nachprüfbar ‚zutrifft‘ bzw. ‚wahr ist‘.
  3. Seine Sprachfähigkeit bestimmt darüber, ob und wie viel er von seinem verfügbaren Wissen sprachlich kommunizieren kann.
  4. Die Welt der Emotionen entscheidet darüber, ob er z.B. überhaupt etwas mitteilen möchte, wann, wie, wem, wie intensiv, wie auffällig, usw.
  5. Der gesellschaftliche Kontext kann sich dahingehend auswirken, ob er eine bestimmte gesellschaftliche Rolle innehat, für die festgelegt ist, wann er wie mit wem was kommunizieren darf oder sollte.
  6. Die realen Kommunikationsbedingungen entscheiden darüber, ob ein geeignetes ‚Kommunikationsmedium‘ verfügbar ist (Sprachschall, Schrift, Ton, Film, …) und ob und wie dieses für potentielle Ansprechpartner zugänglich ist.
  7. Die körperliche Beschaffenheit entscheidet darüber, wie weit der Autor überhaupt und in welchem Umfang er kommunizieren kann.

Zum Ansprechpartner:

  1. Ganz allgemein gelten die Eigenschaften für den Autor auch für den Ansprechpartner. Man kann aber für die Rolle des Ansprechpartners einige Punkte besonders hervorheben:
  2. Das verfügbare Wissen des Ansprechpartners entscheidet darüber, welche Aspekte der Botschaft des Autors überhaupt verstanden werden können.
  3. Die Wahrheitsfähigkeit des Ansprechpartners entscheidet darüber, ob und in welchem Umfang auch dieser unterscheiden kann, was an der übermittelten Botschaft nachprüfbar ‚zutrifft‘ bzw. ‚wahr ist‘.
  4. Die Sprachfähigkeit des Ansprechpartners bedingt, ob und wie viel er von der Botschaft rein sprachlich aufnehmen kann.
  5. Die Emotionen entscheiden darüber, ob der Ansprechpartner z.B. überhaupt etwas aufnehmen möchte, wann, wie, wie viel, mit welcher inneren Einstellung, usw.
  6. Der gesellschaftliche Kontext kann sich ebenfalls dahingehend auswirken, ob der Ansprechpartner eine bestimmte gesellschaftliche Rolle innehat, für die festgelegt ist, wann er wie mit wem was kommunizieren darf oder sollte.
  7. Ferner kann es wichtig sein, ob das Kommunikationsmedium dem Ansprechpartner so vertraut ist, dass er es hinreichend gut nutzen kann.
  8. Auch bei dem Ansprechpartner kann die körperliche Beschaffenheit darüber entscheiden, wie weit der Ansprechpartner überhaupt und in welchem Umfang kommunizieren kann.

Schon diese kleine Auswahl an Faktoren zeigt, wie vielfältig die Situationen sein können, in denen ’normale Kommunikation‘ durch die ‚Wirkung der verschiedenen Umstände‘ einen ’speziellen Charakter‘ gewinnen kann. So kann z.B. eine eigentlich ‚harmlose Begrüßung‘ bei bestimmten Rollenvorgaben zu einem gesellschaftlichen Problem führen mit vielerlei Konsequenzen. Ein scheinbar ’normaler Bericht‘ kann zum Problem werden, weil der Ansprechpartner die Botschaft rein sprachlich missversteht. Ein an sich ’sachlicher Bericht‘ kann durch die Art und Weise des Vortrags zu emotionalen Wirkungen bei dem Ansprechpartner führen, die dazu führen, dass dieser die Botschaft geradezu begeistert aufgreift oder — ganz im Gegenteil — vehement ablehnt. usw.

Liegen handfeste Interessen beim Autor vor, aufgrund deren er den Ansprechpartner zu einer bestimmten Verhaltensweise bewegen will, dann kann dies dazu führen, dass ein bestimmter Sachverhalt nicht ‚rein sachlich‘ dargestellt wird, sondern es werden dann auch viele Aspekte mitkommuniziert, die dem Autor geeignet erscheinen, den Ansprechpartner dazu zu bewegen, den Sachverhalt in einer ganz bestimmten Weise aufzufassen und entsprechend sich zu eigen machen. Diese ‚zusätzlichen‘ Aspekte können sich über die reine Botschaft hinaus auf viele reale Gegebenheiten der Kommunikationssituation beziehen.

Typen von Kommunikation …

Angesichts dieser potentiellen ‚Vielfalt‘ stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich sein wird, so etwas wie eine normale Kommunikation zu definieren?

Um diese Frage sinnvoll beantworten zu können, müsste man über eine Art ‚Überblick‘ über alle möglichen Kombinationen von Eigenschaften Autor (1-7) sowie Ansprechpartner (1-8) verfügen und man müsste zusätzlich in der Lage sein, jede dieser möglichen Kombinationen mit Blick auf ‚Normalität‘ zu bewerten.

Dazu sei angemerkt, dass den beiden Listen Autor (1-7) und Ansprechpartner (1-8) ein gewisse ‚Willkür‘ anheftet: Man kann die Listen so aufbauen, wie sie hier aufgebaut wurden, man muss aber nicht.

Dies hängt mit der allgemeinen Art und Weise zusammen, wir wir Menschen denken: auf der einen Seite haben wir ‚einzelne Ereignisse, die passieren‘ — oder an die wir uns ‚erinnern‘ können –, auf der anderen Seite können wir zwischen ‚beliebigen einzelnen Ereignissen‘ ‚beliebige Beziehungen‘ in unserem Denken ’setzen‘. In der Wissenschaft nennt man dies ‚Hypothesenbildung‘. Ob man solche Bildung von Hypothesen vornimmt oder nicht und welche, dies ist nirgends normiert. Ereignisse als solche erzwingen keine bestimmte Hypothesenbildungen. Ob sie ’sinnvoll‘ sind oder nicht erweist sich ausschließlich im späteren Verlauf bei ihrer ‚praktischen Verwendung‘. Man könnte sogar sagen, dass eine solche Hypothesenbildung eine rudimentäre Form von ‚Ethik‘ ist: in dem Moment, wo man eine Hypothese bzgl. einer bestimmten Beziehung zwischen Ereignissen annimmt, hält man sie minimal für ‚wichtig‘, ansonsten würde man diese Hypothesenbildung nicht vornehmen.

Insofern kann man sagen, dass der ‚Alltag‘ der primäre Ort ist für mögliche Arbeitshypothesen und mögliche ‚minimale Werte‘.

Das folgende Schaubild demonstriert eine mögliche Anordnung der Eigenschaften vom Autor und seinem Ansprechpartner:

BILD : Mögliche Verschränkung von Eigenschaft 1 des Autors — hier: Au1 — und Eigenschaft 2 des Ansprechpartners — hier: An2 –.

Was man unschwer erkennen kann, ist die Tatsache, dass ein Autor natürlich über eine Konstellation von Wissen verfügen kann, die aus einer schier ‚unendlichen Menge von Möglichkeiten‘ schöpft. Das gleiche gilt für den Ansprechpartner. Rein abstrakt ist die Anzahl der möglichen Kombinationen aufgrund der Annahmen Au1 und An2 vom Ansatz her ‚quasi unendlich groß‘, was die Frage nach der ‚Normalität‘ auf der abstrakten Ebene letztlich unentscheidbar macht.

Da aber sowohl Autoren wie Ansprechpartner keine sphärische Wesen aus irgendeinem abstrakten Winkel der Möglichkeiten sind, sondern in der Regel ‚konkrete Menschen‘ mit einer ‚konkreten Geschichte‘ in einer ‚konkreten Lebenswelt‘ zu einer ‚bestimmten historischen Zeit‘ schränkt sich der quasi unendliche abstrakte Möglichkeitsraum ein auf eine endliche überschaubare Menge von Konkretheiten. Doch auch diese können bezogen auf zwei konkrete Menschen immer noch beträchtlich groß sein. Welcher Mensch mit seiner Lebenserfahrung aus welcher Gegend soll jetzt als ‚Norm‘ genommen werden für eine ’normale Kommunikation‘?

Eher scheint es nahe zu liegen, dass man einzelne Menschen irgendwie ‚typisiert‘ z.B. nach Alter und Lerngeschichte, wobei eine ‚Lerngeschichte‘ auch kein klares Bild ergeben muss. Absolventen der gleichen Schule können im Anschluss — wie wir wissen — über ein sehr unterschiedliches Wissen verfügen, wenngleich Gemeinsamkeiten möglicherweise ‚minimal typisch‘ sein können.

Generell erscheint also der Ansatz über die Eigenschaften des Autors und des Ansprechpartners keine wirklich klaren Kriterien für eine Norm zu liefern, auch wenn eine Angabe wie ‚das humanistische Gymnasium in Hadamar 1960 – 1968‘ rudimentäre Gemeinsamkeiten nahelegen würde.

Man könnte jetzt versuchen, die weiteren Eigenschaften Au2-7 sowie An3-8 in die Überlegungen einzubeziehen, aber die ‚Konstruktion einer normalen Kommunikation‘ scheint aufgrund der Annahmen Au1 und An2 eher in immer weitere Ferne zu rücken.

Was bedeutet dies für die Typisierung einer Kommunikation als ‚Propaganda‘. Ist nicht letztlich jede Kommunikation auch ein Stück Propaganda oder gibt es doch die Möglichkeit, die Form der ‚Propaganda‘ hinreichend genau zu kennzeichnen obwohl es nicht möglich erscheint, einen Standard für ’normale Kommunikation‘ zu finden. … oder wird eine bessere Charakterisierung von ‚Propaganda‘ indirekt Hinweise für eine ‚Nicht-Propaganda‘ liefern?

Wahrheit und Bedeutung – Schlüssel ‚Sprache‘

Der spontane Versuch, die Bedeutung des Begriffs ‚Propaganda‘ soweit zu klären, dass man ein paar konstruktive Kriterien an die Hand bekommt, um bestimmte Formen von Kommunikation entweder als ‚Propaganda‘ charakterisieren zu können oder eben nicht, gerät in immer ‚tieferes Fahrwasser‘. Gibt es nun ‚objektive überprüfbare Kriterien‘, mit denen man arbeiten kann, oder nicht? Und: Wer legt sie fest?

Halten wir vorläufig an der Arbeitshypothese 1 fest, dass wir es mit einem Autor zu tun haben, der eine Botschaft artikuliert, für einen Ansprechpartner, und erweitern wir diese Arbeitshypothese um folgenden Zusatz 1: solche eine Kommunikation spielt sich immer in einem gesellschaftlichen Kontext ab. Dies bedeutet, dass die Wahrnehmung und das Wissen der einzelnen Akteure (Autor, Ansprechpartner) kontinuierlich mit diesem gesellschaftlichen Kontext interagieren kann bzw. ‚automatisch interagiert‘. Letzteres liegt daran, dass wir Menschen so gebaut sind, dass unser Körper mit seinem Gehirn dies einfach tut, ohne dass dafür von ‚uns‘ ‚bewusste Entscheidungen‘ getroffen werden müssen.[*1]

Für diesen Abschnitt möchte ich die bisherige Arbeitshypothese 1 samt Zusatz 1 um eine weitere Arbeitshypothese 2 erweitern (Lokalisierung von Sprache) [*4]:

  1. Jedes Medium (Sprache, Ton, Bild, …) kann eine ‚potentielle Bedeutung‘ beinhalten.
  2. Beim Erstellen des medialen Ereignisses kann der ‚Autor‘ versuchen, mögliche ‚Inhalte‘, die von ihm ‚mitgeteilt werden sollen‘, mit dem Medium ‚zu verbinden‘ (‚ins Wort/ in den Klang/ in das Bild bringen‘, ‚Enkodieren‘, ….). Diese ‚Zuordnung‘ von Bedeutung geschieht sowohl ‚unbewusst/ automatisiert‘ als auch ‚(teilweise) bewusst‘.
  3. Bei der Wahrnehmung des medialen Ereignisses kann der ‚Ansprechpartner‘ versuchen, diesem wahrgenommenen Ereignis eine ‚mögliche Bedeutung‘ zuzuordnen. Auch diese ‚Zuordnung‘ von Bedeutung geschieht sowohl ‚unbewusst/ automatisiert‘ als auch ‚(teilweise) bewusst‘.
  4. Die Zuordnung von Bedeutung setzt sowohl beim Autor wie auch beim Ansprechpartner voraus, dass der jeweilige Akteur ‚Lernprozesse‘ (meist Jahre, viele Jahre) ‚durchlaufen‘ hat, die es möglich gemacht haben, bestimmte ‚Ereignisse der Außenwelt‘ wie auch ‚innere Zustände‘ mit bestimmten medialen Ereignissen zu verknüpfen.
  5. Das ‚Erlernen von Bedeutungsbeziehungen‘ geschieht immer in gesellschaftlichen Kontexten, da eine mediale Struktur, die zwischen Menschen ‚Bedeutung transportieren‘ soll, immer allen gehört, die an dem Kommunikationsprozess beteiligt sind.[*2]
  6. Diejenigen medialen Elemente, die für den ‚Austausch von Bedeutungen‘ tatsächlich benutzt werden, bilden alle zusammen das, was man eine ‚Sprache‘ nennt: die ‚medialen Elemente selbst‘ bilden die ‚Oberflächenstruktur‘ der Sprache, ihre ‚Zeichendimension‘, und die ‚inneren Zustände‘ in jedem beteiligten ‚Akteur‘, bilden den ‚individuell-subjektiven Raum möglicher Bedeutungen‘. Dieser innere subjektive Raum umfasst zwei Komponenten: (i) die innerlich verfügbaren Elemente als potentielle Bedeutungsinhalte und (ii) eine dynamische ‚Bedeutungsbeziehung‘, die wahrgenommene Elemente der Oberflächenstruktur und der potentiellen Bedeutungsinhalte ‚miteinander verknüpft‘.[*3]

Will man die Leitfrage, ob man „bestimmte Formen von Kommunikation entweder als ‚Propaganda‘ charakterisieren oder nicht“ beantworten, benötigt man ‚objektive überprüfbare Kriterien‘, anhand deren man eine Aussage formulieren kann. Diese Frage kann man benutzen, um zurück zu fragen, ob es im ’normalen Alltagsdialog‘ ‚objektive Kriterien‘ gibt, anhand deren wir im Alltag gemeinsam entscheiden können, ob ein ‚behaupteter Sachverhalt‘ ‚zutrifft‘ oder eben nicht; in diesem Kontext wird auch das Wort ‚wahr‘ benutzt. Kann man dies ein wenig genauer fassen?

Hier eine weitere Arbeitshypothese 3:

  1. Mindestens zwei Akteure können sich darüber einigen, dass eine bestimmte Bedeutung, verbunden mit dem medialen Konstrukt, als sinnlich wahrnehmbarer Sachverhalt so vorliegt, dass sie zustimmen können, dass der ‚behauptete Sachverhalt‘ tatsächlich vorliegt. Ein solches punktuelles Zutreffen soll ‚wahr 1‘ bzw. ‚Wahrheit 1‘ genannt werden. Ein ‚punktuelles Zutreffen‘ kann sich aufgrund der Dynamik der realen Welt (einschließlich der Akteure selbst) jederzeit und schnell ändern (z.B.: der Regen hört auf, die Kaffeetasse ist leer, das Autor von eben ist weg, der leere Gehweg wir von einer Gruppe von Menschen belegt, ….)
  2. Mindestens zwei Akteure können sich darüber einigen, dass eine bestimmte Bedeutung, verbunden mit dem medialen Konstrukt, aktuell nicht als realer Sachverhalt vorliegt. Bezogen auf die aktuelle Situation des ‚Nicht-Zutreffens‘ würde man davon sprechen, dass die Aussage ‚falsch 1‘ ist; der behauptete Sachverhalt liegt entgegen der Behauptung real nicht vor.
  3. Mindestens zwei Akteure können sich darüber einigen, dass eine bestimmte Bedeutung, verbunden mit dem medialen Konstrukt aktuell nicht vorliegt, aber aufgrund des bisherigen Erfahrungswissens ‚ziemlich sicher‘ in einer ‚möglichen zukünftigen Situation‘ eintreten könnte. Dieser Aspekt soll hier ‚potentiell wahr‘ genannt werden oder ‚wahr 2‘ bzw. ‚Wahrheit 2‘. Sollte der Sachverhalt dann irgendwann ‚tatsächlich vorliegen‘ würde sich Wahrheit 2 in Wahrheit 1 verwandeln.
  4. Mindestens zwei Akteure können sich darüber einigen, dass eine bestimmte Bedeutung, verbunden mit dem medialen Konstrukt aktuell nicht vorliegt, und aufgrund des bisherigen Erfahrungswissens ‚ziemlich sicher unklar ist‘, ob der gemeinte Sachverhalt in einer ‚möglichen zukünftigen Situation‘ tatsächlich eintreten könnte. Dieser Aspekt soll hier ’spekulativ wahr‘ genannt werden oder ‚wahr 3‘ bzw. ‚Wahrheit 3‘. Sollte der Sachverhalt dann irgendwann ‚tatsächlich vorliegen‘ würde sich Wahrheit 3 in Wahrheit 1 verwandeln.
  5. Mindestens zwei Akteure können sich darüber einigen, dass eine bestimmte Bedeutung, verbunden mit dem medialen Konstrukt aktuell nicht vorliegt, und aufgrund des bisherigen Erfahrungswissens ‚es ziemlich sicher ist‘, dass der gemeinte Sachverhalt in einer ‚möglichen zukünftigen Situation‘ nie eintreten könnte. Dieser Aspekt soll hier ’spekulativ falsch‘ genannt werden oder falsch 2‚.

Bei näherer Betrachtung dieser 4 Annahmen der Arbeitshypothese 3 wird man feststellen können, dass es in all diesen Unterscheidungen zwei ‚Pole‘ gibt, die zueinander in bestimmten Beziehungen stehen: einerseits gibt es als Pole reale Sachverhalte, die ‚aktuell von allen Beteiligten wahrgenommen bzw. nicht wahrgenommen werden‘ und andererseits gibt es eine ‚gewusste Bedeutung‘ in den Köpfen der Beteiligten, die mit einem aktuellen Sachverhalt in Beziehung gesetzt werden kann oder nicht. Dies ergibt folgende Verteilung von Werten:

Realer SachverhaltBeziehung zu Gedacht
Gegeben1Passt (wahr 1)
Gegeben2Passt nicht (falsch 1)
Nicht gegeben3Könnte in der Zukunft passen (wahr 2)
Nicht gegeben4Passen in der Zukunft unklar (wahr 3)
Nicht gegeben5Kann in der Zukunft nicht passen (falsch 2)

In diesem — noch etwas grobem — Schema kann ‚Gedachtes‘ qualifiziert werden zu einem aktuell Gegebenem als ‚passend‘ oder ’nicht passend‘, oder in Abwesenheit von etwas real Gegebenem als ‚könnte passen‘ oder ‚unklar, ob es passen kann‘ oder ’sicher, dass es nicht passen könnte‘.

Hierbei ist aber zu beachten, dass diese Qualifizierungen ‚Einschätzungen‘ sind, welche die Akteure aufgrund ihres ‚eigenen Wissens‘ vornehmen. Wie wir wissen, ist solch eine Einschätzung immer fehleranfällig! Neben Fehlern in der Wahrnehmung [*5] kann es Fehlern im eigenen Wissen geben. [*6] Also entgegen den Überzeugungen der Akteure kann ‚wahr 1‘ tatsächlich ‚falsch 1‘ sein oder umgekehrt, ‚wahr 2‘ könnte ‚falsch 2‘ sein und umgekehrt.

Aus all diesem folgt, dass eine ‚klare Qualifizierung‘ von Wahrheit und Falschheit letztlich immer fehlerbehaftet ist. Für eine Gemeinschaft von Menschen, die ‚positiv‘ denken ist dies kein Problem: sie wissen um diese Sachlage und sie bemühen sich, ihre ’natürliche Fehleranfälligkeit‘ durch bewusstes methodisches Vorgehen ‚möglichst klein‘ zu halten.[*7] Menschen, die — aus vielerlei Gründen — eher negativ denken, die fühlen sich in dieser Situation dazu motiviert, überall und immer nur Fehler oder gar Bosheit zu sehen. Sie tun sich schwer damit, mit ihrer ’natürlichen Fehlerbehaftetheit‘ positiv-konstruktiv umzugehen.

WAHRHEIT UND BEDEUTUNG – Im Prozess

In dem vorausgehenden Abschnitt sind die verschiedenen Begriffe (‚wahr1,2‘, ‚falsch 1,2‘, ‚wahr 3‘) noch eher unverbunden, sind noch nicht wirklich in einem fassbaren Zusammenhang verortet. Dies soll hier mit Hilfe der Arbeitshypothese 4 (Skizze eines Prozessraums) versucht werden.

BILD : Der Prozessraum in der realen Welt und im Denken samt möglicher Wechselwirkungen

Die Grundelemente der Arbeitshypothese 4 lassen sich wie folgt charakterisieren:

  1. Es gibt die reale Welt mit ihren kontinuierlichen Veränderungen und innerhalb eines Akteurs einen virtuellen Raum für Prozesse mit Elementen wie Wahrnehmungen, Erinnerungen und gedachte Vorstellungen.
  2. Das Bindeglied zwischen realem Raum und virtuellem Raum läuft über Wahrnehmungsleistungen, die spezielle Eigenschaften der realen Welt für den virtuellen Raum repräsentieren, und zwar so, dass ‚wahrgenommene Inhalte‘ und ‚gedachte Inhalte‘ unterscheidbar sind. Auf diese Weise ist ein ‚gedanklicher Abgleich‘ von Wahrgenommenem und Gedachtem möglich.
  3. Veränderungen in der realen Welt zeigen sich nicht explizit sondern manifestieren sich nur indirekt durch die wahrnehmbaren Veränderungen, die durch sie hervorgerufen werden.
  4. Es ist Aufgabe der ‚denkerischen Rekonstruktion‘ Veränderungen zu ‚identifizieren‘ und die sprachlich so zu beschreiben, dass nachvollziehbar ist, aufgrund welcher Eigenschaften eines gegebenen Zustands daraus ein möglicher Nachfolgezustand entstehen kann.
  5. Zusätzlich zur Unterscheidung von ‚Zuständen‘ und ‚Veränderungen‘ zwischen Zuständen muss auch geklärt werden, wie man eine gegebene Veränderungsbeschreibung auf einen gegebenen Zustand so ‚anwendet‘, dass daraus ein ‚Nachfolgezustand‘ entsteht. Dies wird hier ‚Nachfolger-Generierungs-Vorschrift‘ (symbolisch: ⊢) genannt. Ein Ausdruck wie Z ⊢V Z‘ würde dann bedeuten, dass man mit der Nachfolger-Generierungs-Vorschrift ⊢V unter Benutzung der Veränderungsregel V den nachfolgenden Zustand Z‘ aus dem Zustand Z generieren kann. Dabei kann allerdings auch mehr als eine Veränderungsregel V zum Einsatz kommen, also z.B. {V1, V2, …, Vn} mit den Veränderungsregeln V1, …, Vn.
  6. Bei der Formulierung von Veränderungsregeln können immer Fehler unterlaufen. Sofern sich bestimmte Veränderungsregeln in der Vergangenheit schon in Ableitungen ‚bewährt‘ haben, würde man für den ‚gedachten Folgezustand‘ tendenziell annehmen, dass er vermutlich auch real eintreten wird. Wir hätten es also mit dem Fall ‚wahr 2‚ zu tun. Ist eine Veränderungsregel neu und es liegen noch keine Erfahrungen mit ihr vor, hätten wir es für den gedachten Folgezustand mit dem Fall ‚wahr 3‘ zu tun. Währe eine bestimmte Veränderungsregel in der Vergangenheit schon mehrfach gescheitert, dann könnte Fall ‚falsch 2‘ vorliegen.
  7. Das skizzierte Prozessmodell lässt aber auch erkennen, dass die bisherigen Fälle (1-5 in der Tabelle) immer nur Teilaspekte beschreiben. Angenommen, eine Gruppe von Akteuren schafft es, mit vielen Zuständen und mit vielen Veränderungsregeln samt einer Nachfolger-Generierungs-Anweisung eine rudimentäre Prozess-Theorie zu formulieren, dann interessiert es natürlich, wie sich die ‚Theorie als Ganze‘ ‚bewährt‘. Dies bedeutet, dass jede ‚gedankliche Konstruktion‘ einer Abfolge möglicher Zustände entsprechend den angewendeten Veränderungsregeln unter Voraussetzung der Prozess-Theorie sich in allen Anwendungsfällen ‚bewähren muss‘, damit von der Theorie gesagt werden kann, dass sie ‚generisch wahr‘ ist. Während z.B. der Fall ‚wahr 1‘ sich nur auf einen einzigen Zustand bezieht, bezieht sich der Fall ‚generisch wahr‘ auf ‚ganz viele‘ Zustände, so viele, bis ein ‚Endzustand‘ erreicht wird, der als ‚Zielzustand‘ gelten soll. Der Fall ‚generisch widersprochen‘ soll vorliegen, wenn es wenigstens eine Folge von generierten Zuständen gibt, die immer wieder einen Endzustand generiert, der falsch 1 ist. Solange eine Prozess-Theorie noch nicht in allen möglichen Fällen mit wahr 1 für einen Endzustand bestätigt worden ist, bleibt ein ‚Rest an Fällen‘, die unklar sind. Dann würde eine Prozess-Theorie als ‚generisch unklar‘ bezeichnet werden, obgleich sie für die Menge der bislang erfolgreich getesteter Fälle als ‚generisch wahr‘ gelten darf.

BILD : Der individuelle erweiterte Prozessraum mit Andeutung der Dimension Weitere Meta-Ebenen‘ sowie ‚Bewertungen‘.

Wem das vorausgehende erste Bild mit dem Prozessraum schon arg ’schwierig‘ vorkommt, der wird bei diesem zweiten Bild zum ‚erweiterten Prozessraum‘ natürlich ‚ins Schwitzen‘ kommen. Aber der individuelle Denkraum ist nun mal ein Spitzenprodukt der Evolution, das einiges zu bieten hat.

So kann jeder bei sich selbst überprüfen, dass wir Menschen über die Fähigkeit verfügen, egal, was wir Denken, dieses Denken jederzeit selbst wieder zum ‚Gegenstand des Denkens‘ zu machen, und zwar eben ‚innerhalb des Denkens selbst‘. Mit diesem ‚Denken über das Denken‘ eröffnen sich eine ‚zusätzliche Ebene des Denkens‘ — hier ‚Meta-Ebene‘ genannt –, auf der wir Denkenden all das ‚thematisieren‘, was uns am vorausgehenden Denken auffällt und wichtig ist. [*8] Neben dem ‚Denken über das Denken‘ verfügen wir auch über die Fähigkeit, das, was wir Wahrnehmen und Denken zu ‚bewerten‘. Diese ‚Bewertungen‘ werden gespeist aus dem Raum unserer ‚Emotionen‘ [*9] und ‚gelernten Bevorzugungen‘. Dies ermöglicht uns, mit Hilfe unserer Emotionen und gelernten Bevorzugungen zu ‚lernen‘: Wenn wir also bestimmte Handlungen vornehmen und dabei ‚Schmerzen‘ erleiden, dann werden wir diese Handlungen beim nächsten Mal eher vermeiden. Wenn wir im Restaurant X Essen gehen, weil jemand uns dies ‚empfohlen‘ hat, und das Essen und/ oder der Service waren richtig schlecht, dann werden wir diesen Vorschlag künftig eher nicht mehr berücksichtigen. Von daher kann unser Denken (und unser Wissen) zwar ‚Möglichkeiten sichtbar machen‘, aber es sind die Emotionen, die das kommentieren, was bei Umsetzung des Wissens ‚gut‘ oder ’schlecht‘ passiert. Doch, Achtung, auch Emotionen können irren, und zwar massiv. [*10]

WAHRHEIT UND BEDEUTUNG – Als eine kollektive Leistung

Die bisherigen Überlegungen zum Thema ‚Wahrheit und Bedeutung‘ im Kontext individueller Prozesse haben umrisshaft angedeutet, dass und wie ‚Sprache‘ eine zentrale Rolle spielt, um Bedeutung und darauf aufbauend Wahrheit zu ermöglichen. Ferner wurde ebenfalls skizzenhaft umrissen, dass und wie man Wahrheit und Bedeutung in einem dynamischen Kontext einordnen muss, in ein ‚Prozessmodell‘, wie es in einem Individuum in enger Interaktion mit der Umgebung stattfindet. Dieses Prozessmodell umfasst die Dimension des ‚Denkens‘ (auch ‚Wissen‘) wie auch die Dimension der ‚Bewertungen‘ (Emotionen, Präferenzen); innerhalb des Denkens gibt es potentiell viele ‚Betrachtungsebenen‘, die aufeinander Bezug nehmen können (natürlich können sie auch ‚parallel‘ stattfinden ohne direkten Kontakt zueinander (die unverbundene Parallelität ist aber der weniger interessante Fall).

So faszinierend die dynamische emotional-kognitive Struktur im Innern eines einzelnen Akteurs sein kann, die ‚wahr Kraft‘ des expliziten Denkens zeigt sich erst dort, wo verschiedene Menschen beginnen, sich mittels Kommunikation in ihrem Handeln zu koordinieren. Wenn auf diese Weise das individuelle Handeln sich in ein kollektives Handeln transformiert, wird eine Dimension von ‚Gesellschaft‘ sichtbar, welche die ‚einzelnen Akteure‘ in gewisser Weise ‚vergessen‘ lässt, weil die ‚Gesamtleistung‘ der ‚kollektiv miteinander verbundenen einzelnen‘ um Dimensionen komplexer und nachhaltiger sein kann als dies jemals ein einzelner realisieren könnte. Während ein einzelner Mensch maximal in seiner individuellen Lebenszeit einen Beitrag leisten kann, können kollektiv verbundene Menschen Leistungen vollbringen, die viele Generationen umfassen.

Andererseits wissen wir aus der Geschichte, dass kollektive Leistungen nicht automatisch ’nur Gutes‘ bewirken müssen; die bekannte Geschichte von Unterdrückung, blutigen Kriegen und Zerstörung ist umfangreich und findet sich in allen zeitlichen Abschnitten der menschlichen Geschichte.

Dies verweist darauf, dass die Frage von ‚Wahrheit‘ und ‚Gut sein‘ nicht nur eine Frage für den jeweils individuellen Prozess ist, sondern sehr wohl auch eine Frage für den kollektiven Prozess, und hier, im kollektiven Fall, ist diese Frage eher noch wichtiger, da ja im Fehlerfall nicht nur einzelne unter negativen Wirkungen leiden müssen, sondern eher sehr viele; schlimmstenfalls alle.

Anmerkungen

[*1] In einer systemtheoretischen Betrachtung des Systems ‚menschlicher Körper‘ kann man die Arbeitshypothese formulieren, dass weit mehr als 99% der Ereignisse in einem menschlichen Körper Nicht bewusst sind. Dies kann man erschreckend finden oder beruhigend. Ich tendiere zum Letzteren, zur ‚Beruhigung‘. Denn wenn man sieht, was ein menschlicher Körper als ‚System‘ aus sich heraus zu tun in der Lage ist, in jeder Sekunde, viele Jahre, sogar Jahrzehnte lang, dann erscheint dies äußerst beruhigend angesichts der vielen, auch groben Fehler, die wir mit unserem kleinen ‚Bewusstsein‘ vollbringen können. In Kooperation mit anderen Menschen können wir unsre bewussten menschlichen Leistungen zwar dramatisch verbessern, aber immer nur unter Voraussetzung der Systemleistung eines menschlichen Körpers. In ihm stecken immerhin 3.5 Milliarden Jahre Entwicklungsarbeit des BIOMs auf diesem Planeten; die Bausteine dieses BIOMs, die Zellen, funktionieren wie ein gigantischer Parallelcomputer, verglichen mit dem die heutigen technischen Supercomputer (einschließlich der viel gepriesenen ‚Quantencomputer‘) so klein und schwach aussehen, dass man diese Relation praktisch nicht ausdrücken kann.

[*2] Eine ‚Alltagssprache‘ setzt immer ‚die Vielen‘ voraus, die miteinander kommunizieren wollen. Einer alleine kann keine Sprache haben, die andere verstehen können sollen.

[*3] Eine Bedeutungsbeziehung tut real das, was mathematisch ‚Abbildung‘ genannt wird: Elemente der einen Sorte (Elemente der Oberflächenstruktur der Sprache) werden Elementen einer anderen Sorte (die potentiellen Bedeutungselemente) zugeordnet. Während eine mathematische Abbildung normalerweise fest definiert ist, kann sich die ‚reale Bedeutungsbeziehung‘ beständig ändern; sie ist ‚flexibel‘, Teil eines übergeordneten ‚Lernprozesses‘, der in Abhängigkeit von der Wahrnehmung und inneren Zuständen die Bedeutungsbeziehung beständig ’neu anpasst‘.

[*4] Die Inhalte von Arbeitshypothese 2 stammen aus den Erkenntnissen der modernen Kognitionswissenschaften (Neurowissenschaften, Psychologie, Biologie, Linguistik, Semiotik, …) und der Philosophie; sie verweisen auf viele tausend Artikel und Bücher. Die Arbeitshypothese 2 stellt daher eine hochverdichtete Zusammenfassung von all diesem dar. Ein direktes Zitieren ist dazu rein praktisch nicht möglich.

[*5] Wie aus Forschungen zu Zeugenaussagen und aus der allgemeinen Wahrnehmungsforschung bekannt ist, gibt es neben allerlei direkten Wahrnehmungsfehlern sehr viele Fehler in der ‚Interpretation der Wahrnehmung‘, die weitgehend unbewusst/ automatisiert ablaufen. Gegen solche Fehler sind die Akteure normalerweise machtlos; sie merken es einfach nicht. Nur methodisch bewusste Kontrollen der Wahrnehmung können partiell auf diese Fehler aufmerksam machen.

[*6] Menschliches Wissen ist ’notorisch Fehlerbehaftet‘. Dafür gibt es viele Gründe. Einer liegt in der Arbeitsweise des Gehirns selbst. Ein ‚korrektes‘ Wissen ist nur möglich, wenn die aktuellen Wissensprozesse immer wieder ‚abgeglichen‘, ‚kontrolliert‘ werden, um sie korrigieren zu können. Wer dies nicht tut, hat notgedrungen ein unvollständiges und vielfach falsches Wissen. Wie bekannt hindert dies Menschen nicht daran, zu glauben, alles ist ‚wahr‘, was sie im Kopf mit sich herum tragen. Wenn es ein großes Problem in dieser Welt gibt, dann gehört dieses dazu: die Unwissenheit über die eigene Unwissenheit.

[*7] In der bisherigen Kulturgeschichte der Menschheit gab es erst sehr spät (seit ca. 500 Jahren?) die Entdeckung eines Erkenntnisformats, das es beliebig vielen Menschen ermöglicht, sich ein Tatsachenbasiertes Wissen aufzubauen, das, verglichen mit allen anderen bekannten Wissensformaten, die ‚besten Ergebnisse‘ ermöglicht (was Fehler natürlich nicht vollständig ausschließt, aber extrem minimiert). Dieses bis heute revolutionäre Wissensformat hat den Namen ‚empirische Theorie‘, von mir mittlerweile erweitert zu ’nachhaltiger empirischer Theorie‘. Wir Menschen sind einerseits die Hauptquelle für ‚wahres Wissen‘, zugleich sind wir selbst aber auch die Hauptquelle für ‚falsches Wissen‘. Dies erscheint auf den ersten Blick wie ein ‚Paradox‘, hat aber eine ‚einfache‘ Erklärung, die in ihrer Wurzel aber ’sehr tief blicken lässt‘ (vergleichbar mit der kosmischen Hintergrundstrahlung, die gegenwärtig einfach ist, aber aus den Anfängen des Universums stammt).(Anmerkung: eine kurze Beschreibung der Begriffe ‚empirische Theorie‘ und ’nachhaltige empirische Theorie‘ finde sich ab Abschnitt 6 in folgendem Blog-Eintrag: https://www.cognitiveagent.org/2023/11/06/kollektive-mensch-maschine-intelligenz-im-kontext-nachhaltiger-entwicklung-brauchen-wir-ein-neues-menschenbild-vorlesung-fuer-ag-enigma-im-rahmen-von-u3l-der-goethe-universitaet/ )

[*8] Von seiner Architektur her kann unser Gehirn beliebig viele solcher Meta-Ebenen eröffnen, aber aufgrund seiner konkreten Endlichkeit bietet es für verschiedene Aufgaben nur eine begrenzte Zahl von Neuronen an. So ist bekannt (und mehrfach experimentell nachgewiesen), dass z.B. unser ‚Arbeitsgedächtnis‘ (auch ‚Kurzzeitgedächtnis genannt oder ‚Short Term Memory‘) nur auf ca. 6-9 ‚Einheiten‘ limitiert ist (wobei der Begriff ‚Einheit‘ kontextabhängig zu definieren ist). Wollen wir also umfangreiche Aufgaben durch unser Denken lösen, brauchen wir ‚externe Hilfsmittel‘ (Blatt Papier und Schreibstift oder einen Computer, …), um die vielen Aspekten festzuhalten und entsprechend zu notieren. Obwohl die bekannten Computer heutzutage nicht einmal ansatzweise in der Lage sind, die komplexen Denkprozesse von Menschen zu ersetzen, können sie begrenzt für die Durchführung komplexer Denkprozesse ein fast unersätzliches Hilfsmittel sein. Allerdings nur dann, wenn WIR tatsächlich WISSEN, was wir da tun!

[*9] Das Wort ‚Emotionen‘ ist ein ‚Sammelbegriff‘ für sehr viele verschiedene Phänomene und Sachverhalte. Trotz umfangreicher Forschungen seit über hundert Jahren können die verschiedenen Disziplinen der Psychologie noch kein einheitliches Bild, geschweige denn eine einheitliche’Theorie‘ zum Thema anbieten. Dies verwundert auch nicht, da vieles davon weitgehend ‚unbewusst‘ abläuft bzw. ausschließlich als ‚internes Ereignis‘ im Individuum direkt verfügbar ist. Klar scheint nur zu sein, dass wir als Menschen niemals ‚emotionsfrei‘ sind (dies gilt auch für sogenannte ‚coole‘ Typen, denn das scheinbare ‚verdrängen‘ oder ‚unterdrücken‘ von Emotionen ist selbst wieder Teil unserer angeborenen Emotionalität.

[*10] Natürlich können Emotionen uns auch gewaltig in die Irre oder gar in den Untergang führen (sich in anderen Menschen irren, sich in sich selbst irren, …). Es ist also nicht nur wichtig, die sachlichen Dinge in der Welt durch ‚Lernen‘ in nützlicher Weise zu ’sortieren‘, sondern man muss auch tatsächlich die ‚eigenen Emotionen im Blick haben‘ und überprüfen, wann und wie diese auftreten und ob sie uns tatsächlich helfen. Primäre Emotionen (wie z.B. Hunger, Sexualtrieb, Wut, Sucht, ‚Verknallt sein‘, …) sind punktuell, Situationsbezogen , können eine große ‚psychische Kraft‘ entwickeln, und verstellen damit den Blick auf die möglichen oder sehr wahrscheinlichen ‚Folgen‘, die für uns erheblich schädigend sein können.

[*11] Der Begriff ‚Narrativ‘ wird heutzutage immer mehr benutzt, um zu beschreiben, dass eine Gruppe von Menschen in ihrem Denken für ihre Wahrnehmung der Welt ein bestimmtes ‚Bild‘, eine bestimmte ‚Erzählung‘ benutzt, um ihr gemeinsames Handeln koordinieren zu können. Letztlich gilt dies für jedes gemeinsame Handeln, selbst für Ingenieure, die eine technische Lösung erarbeiten wollen. Insofern ist die Darstellung in der deutschen Wikipedia ein bisschen ‚eng‘: https://de.wikipedia.org/wiki/Narrativ_(Sozialwissenschaften)

QUELLEN

Die folgenden Quellen bilden nur eine winzige Auswahl aus vielen hunderten, eher tausenden von Artikeln, Büchern, Tondokumenten und Filmen, die zum Thema gehören. Vielleicht können sie dennoch für einen ersten Einstieg hilfreich sein. Die Liste wird gelegentlich erweitert.

[1a] Propaganda, siehe z.B. hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Propaganda oder [1b] die Englische Version : https://en.wikipedia.org/wiki/Propaganda /* Die Englische Version wirkt systematischer, überdeckt grössere Zeiträume und mehr unterschiedliche Anwendungsgebiete */

[2] Florian Schaurer, Hans-Joachim Ruff-Stahl, (21.10.2016), Hybride Bedrohungen Sicherheitspolitik in der Grauzone, Bundeszentrale für politische Bildung, Adenauerallee 86, 53113 Bonn, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/235530/hybride-bedrohungen/

[3] Propaganda der Russischen Föderation, hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Propaganda_der_Russischen_F%C3%B6deration

[4] Russische Einflussnahme auf den Wahlkampf in den Vereinigten Staaten 2016, hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Russische_Einflussnahme_auf_den_Wahlkampf_in_den_Vereinigten_Staaten_2016 /* Sehr ausführlich */

[5] Meduza, hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Meduza

[6] Mischa Gabowitsch, Mai 2022, Von »Faschisten« und »Nazis«, https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/mai/von-faschisten-und-nazis#_ftn4

[7] L. Wienand, S. Steurenthaler und S. Loelke, 30.8.22, Infokrieg Putins Troll-Armee greift Deutschland an

[8] Pomerantsev, Peter, (2019), This Is Not Propaganda: Adventures in the War Against Reality, Faber & Faber. Kindle-Version.

[9] Propaganda in China, hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Propaganda_in_der_Volksrepublik_China /* Nur fragmentarisch; müsste deutlich ergänzt werden */

[10]  Lena Bäunker, 25.12.2023, Reden ist Gold. Über die Kehrseiten von Flugreisen, Kreuzfahrten oder Fleischkonsum zu sprechen, ist nicht einfach. Wissenschaftler:innen haben untersucht, wie sich effektivere Klimagespräche führen lassen. https://www.klimareporter.de/gesellschaft/reden-ist-gold

DER AUTOR

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Worte aufschreiben … sonst nichts …

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 15.November 2021 – 17.Nov 2021, 08:30h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

KONTEXT

In diesem Blog mit seinen geschätzten mehr als 6000 Seiten, die bislang geschrieben worden sind, fand — äußerlich betrachtet — ein einfacher Vorgang stand: es wurden ‚Worte aufgeschrieben‘. … sonst nichts …

Wären wir Maschinen …

Wären wir eine ‚Maschine‘, vielleicht sogar eine ‚intelligente Maschine‘, dann würden die maschinellen Strukturen uns vorgeben, ob wir schreiben, was und wie. Mit ein bisschen ‚künstlicher Intelligenz‘ könnten wir Datenquellen beimischen, ‚Variationen‘ einbauen, mit Satzformen ’spielen‘, und wir könnten vielleicht sogar den einen oder anderen Menschen verblüffen, bei ihm den Eindruck erwecken, hier schreibt ein Mensch.

Menschen brechen das Klischee

Menschen haben allerdings die Besonderheit, dass für sie die Ausdrücke einer Sprache — vornehmlich der ‚Alltagssprache‘ — nie isoliert stehen, sondern eingewoben sind in ein unfassbares Netzwerk von Eindrücken der Außenwelt, des eigenen Körpers, des eigenen ‚Inneren‘, eingebettet in eine Vielzahl von wahrnehmbaren Veränderungen … aber auch darüber hinaus: da das Gehirn sich selbst gegenüber weitgehend unbewusst arbeitet (was nicht gleichzusetzen ist mit ’sinnlos‘), sind die meisten Vorgänge ‚in uns‘ nicht bewusst zugänglich, obwohl sie für uns — soweit wir heute sehen — fundamental zu sein scheinen. Dazu gehört auch die Sprache mit ihrer ‚Bedeutungswolke‘.

Wenn Kinder in die Welt eintauchen …

Wenn Kinder in diese Welt ‚eintauchen‘, wenn sie anfangen, die Luft des Planeten zu atmen, den ‚Rausch ihrer Sinne‘ erleben, ihren eigenen Körper in einer ‚Wolke von Eindrücken‘ erspüren, dann formt das Gehirn aus all diesen Eindrücken, Muster, Abstraktionen, Kategorien als Teil assoziativer Netze, konnotiert mit einer Unzahl von Bedürfnissen und Gefühlen. Dies macht das Gehirn ‚voll automatisch‘, in ‚eigener Regie‘, folgt seiner ‚eingebauten Logik der Wahrscheinlichkeiten‘. So entsteht langsam aber stetig nicht nur ein unfassbares Netzwerk von verbundenen Ereignissen, sondern das Netzwerk wirkt wie ein ‚Bild‘, eine ‚Gesamtschau‘, wie ein ‚Modell‘ dessen ‚was ist‘: das virtuelle Bild einer Welt im Gehirn, die für das Kind, für uns, die ‚primäre Welt‘ ist.

Virtuelle Welt im Gehirn

Die Ausdrücke unserer Alltagssprache beziehen sich in ihrer ‚Bedeutungsdimension‘ ausschließlich auf diese ‚virtuelle Welt des Gehirns‘ als ‚ihrer Welt‘. Und — falls jemand darauf achtet — man kann leicht beobachten, dass die Ausdrücke der Alltagssprache meistens ‚Allgemeinbegriffe‘ sind (‚Haus‘, ‚Stuhl‘, ‚Auto‘, ‚Handy‘, ‚Tasse, …), wohingegen die Gegenstände in unserer realen Umgebung ‚konkret‘ sind, ’speziell‘, ‚einzigartig‘, usw. Wenn ich zu jemandem sage: „Kannst Du mir bitte meine Tasse rüber reichen“, dann kann das Wort (der Ausdruck) ‚Tasse‘ auf tausende verschiedene konkrete Objekte angewendet werden, in der aktuellen Situation aber — falls man über ein aktuelles ‚Situationswissen‘ verfügt — wissen alle Beteiligten, welche der vielen konkreten Gegenstände ‚meine Tasse‘ ist und genau dieses konkrete Objekt wird dann rüber gereicht.

Abstrakt – Konkret

Dies ist eines der vielen Geheimnisse von sprachlicher Bedeutung: die reale Welt um uns herum — die Alltagswelt — zeigt sich uns als eine ‚Meer an konkreten Eigenschaften‘, und unser Gehirn filtert daraus ‚Teilmengen‘ heraus, transformiert diese in einfache (abstrakte) Strukturen, die dann das ‚Baumaterial‘ für mögliche ‚abstrakte virtuelle kognitive ‚Objekte‘ sind. Das tieferliegende ‚Wunder‘ dieses Prozesses ist aber, dass das Gehirn in der Lage ist, zu späteren Zeitpunkten die ’neu erworbenen abstrakten Strukturen (Objekte)‘ auf einer unbewussten Ebene mit aktuellen sinnlichen Eindrücken so zu ‚vergleichen‘, dass es — einigermaßen — entscheiden kann, ob irgendwelche der aktuell sinnlich wahrgenommenen konkreten Strukturen zu irgendwelchen dieser neu erworbenen Strukturen ‚als Beispiel‘ passen! Also, auch wenn wir mittels Sprache immer nur mit Allgemeinbegriffen operieren können (eine geniale Erfindung), kann unser Gehirn jederzeit eine Beziehung des Allgemeinen zum aktuell sinnlich Besonderen herstellen. Es ist halt so ‚gebaut‘.[1]

Dies ist nur die ‚Spitze des Eisbergs‘ vom ‚Wunder des Gehirns‘. Wie man schon ahnen kann, gibt es ja noch die Dimension ‚der anderen Menschen‘ aus Sicht eines einzelnen Menschen.

Gehirn-Kooperationen

Man kann — muss — sich die Frage stellen, wie kann denn ein Gehirn im Körper eines Menschen A mit dem Gehirn im Körper eines Menschen B ‚kooperieren‘? Wie können beide ‚umeinander wissen‘? Wie kann das Gehirn von A, das seine eigene individuelle ‚Lerngeschichte‘ hat, seine ‚Inhalte‘ mit dem Gehirn von B ‚teilen‘?

‚Besoffen‘ vom Alltag mögen diese Fragen im ersten Moment sehr ‚künstlich‘ klingen, ‚unwirklich‘, vielleicht gar sinnlos: Reden wir nicht ständig miteinander? Tun wir denn nicht ständig etwas miteinander? Unterricht in Schulen? Projektarbeit in Firmen? Mannschaftssport? Management eines größeren Unternehmens? …

Der Verweis auf solche ‚Praxis‘ ersetzt aber keine Antwort auf die Frage. Der Alltag deutet nur an, ‚dass‘ wir es irgendwie können, sagt aber nichts darüber, warum und wie wir das können.

Offensichtlich benutzen wir sprachliche Ausdrücke, die wir ‚austauschen‘ (Sprechen, Schreiben, …). Wie oben schon angedeutet wurde, sind Ausdrücke nicht in eins zu setzen mit ihren Bedeutungen. Letztere sind ‚im‘ Sprecher-Hörer‘ lokalisiert, im jeweiligen Gehirn. Die moderne Forschung mit vielen Fachdisziplinen legt nahe, dass es koordinierende‘ Mechanismen gibt, wodurch zwei Gehirne sich für den Bereich der realen Außenwelt einigermaßen verständigen können, welche ‚Aspekte er realen Außenwelt‘ mit welchen Ausdrücken assoziiert werden. Und diese ‚Koordinierung‘ basiert nicht alleine auf den konkreten Aspekten der Außenwelt, sondern wesentlich auch auf jene ‚im Gehirn‘ anhand der Außenweltereignisse prozedural aufgearbeiteten Strukturen. Nur so kann Sprache zugreifen. Die wechselseitige Zustimmung, dass dies konkrete weiße, runde Ding da mit einer inneren Aushöhlung und einem Henkel die ‚Tasse von Gerd‘ ist, setzt also ziemlich viele ‚individuellen Lernprozesse‘ voraus, die sich in hinreichend vielen strukturellen Eigenschaften hinreichend stark ‚ähneln‘. Irrtum inbegriffen.

Fehleranfällige Kommunikation

Das alles erscheint bei näherer Betrachtung alles ’schwindelerregend komplex‘, aber nach vielen Millionen Jahren kontinuierlichen Veränderungen scheint es ‚einigermaßen‘ zu funktionieren. Allerdings weiß jeder aus seinem eigenen Alltag auch wie ‚fragil‘ solche Kommunikation ist. Selbst unter Paaren, die schon viele Jahre, gar Jahrzehnte, zusammen leben, können noch Irrtümer und Missverständnisse auftreten. Umgekehrt weiß jeder, wie aufwendig es ist, aus verschiedenen Menschen ein ‚Team‘ zu formen, das angesichts von komplexen Aufgaben in der Lage ist, sich jederzeit hinreichend gut zu koordinieren. Die hohe Quote an Projektabbrüchen spricht eine eigene Sprache.

Ähnlichkeit als Gefahr

Bei Gruppen, Teams tritt noch ein ganz anderer Aspekt hervor: die partielle ‚Ähnlichkeit‘ der Bedeutungsstrukturen der einzelnen Teammitglieder, die im Laufe der gemeinsamen Arbeit in der Regel weiter zunimmt, vereinfacht zwar die Kommunikation und Abstimmung im Team, sie bietet aber auch eine Gefahr, die umso größer wird, je länger ein Team ‚unter sich‘ ist. Dies hat wiederum damit zu tun, wie unsere Gehirne arbeiten.

Ohne unser bewusstes Zutun sammelt unser Gehirn beständig Eindrücke, verarbeitet sie, und bildet vernetzte abstrakte Einheiten. Dies ist aber nicht alles. Dieser sehr aufwendige Prozess hat den Nebeneffekt, dass die ‚aktuellen‘ sinnlichen Eindrücke mit dem, was ‚bisher Bekannt geworden ist‘ kontinuierlich ‚abgeglichen‘ wird. Das berühmte Glas, das ‚halbvoll‘ oder ‚halbleer‘ erscheinen kann, ist keine Fata Morgana. Dieses Beispiel demonstriert — wenn auch vereinfacht –, dass und wie unser Gehirn seine ‚gespeichertes Wissen‘ (Alt) mit den ‚aktuellen Eindrücken‘ (Neu) ‚abgleicht‘. Je mehr ein Gehirn weiß, um so größer die Wahrscheinlichkeit, dass es ’nichts Neues‘ mehr gibt, weil alles ’scheinbar Neue‘ mit dem ‚Alten‘ ‚erklärt‘ werden kann. [3] Dies — zur Erinnerung — immer auch mit Bedürfnissen, Emotionen und sonstigen Gefühlen/ Stimmungen ‚konnotiert‘.[2]

Tendenz zur ‚Verfestigung‘

Zwar gibt es viele Verhaltenseigenschaften und Strategien, mit denen man dieser Tendenz des Gehirns zur ‚Verfestigung‘ gegensteuern kann, aber sowohl die Geschichte wie die Gegenwart zeigen, dass es immer starke Strömungen gab und gibt, die auf dieser ‚Selbstabschließung‘ des Gehirns basieren (so eine Art ‚mentales locked-in Syndrom‘).

Da es für ein Gehirn (und damit für eine Person) ‚leichter‘ und ‚bequemer‘ ist, das Bild von der Welt — mit all den daran geknüpften Verhaltensgewohnheiten — ‚konstant‘ zu halten, ‚einfach‘, tendieren die meisten Menschen dazu, sich vorzugsweise mit solchen Menschen zu treffen, die ihnen ähnlich sind; solche Meinungen zu teilen, die die eigene Meinung verstärken; das zu tun, was die Mehrheit tut; und vieles dergleichen.

Wenn einzelne Menschen, ganze Gruppen ihr Leben so gestalten, dass sie ‚Neues‘ eher — oder sogar ‚grundsätzlich‘! — ausblenden, verurteilen, ‚verdammen‘, dann reduzieren sie ihr eigenes Potential um grundlegend wichtige Eigenschaften für eine nachhaltige Zukunft: Vielfalt, Diversität, Kreativität, Neugierde, Experimente, Alternativen. Die Biosphäre heute — und damit uns — gibt es nur, weil diese grundlegenden Eigenschaften über 3.5 Milliarden Jahre stärker waren als die reduktiven Tendenzen.

Sprache als System

Betrachtet man die Sprache von einem ‚übergeordneten‘ Standpunkt aus z.B. als ein System ‚als solches‘, dann sind die einzelnen Sprecher-Hörer individuelle Akteure, die von der Sprache individuell ‚Gebrauch machen‘. Ein Akteur kann dann Sprache lernen, weil er/sie/x die Sprache vorfindet, und der Akteur wird einen Teil der ‚möglichen Bedeutungszuordnungen‘ ‚lernen‘. Je nach Lerngeschichte können dann die verschiedenen individuellen Bedeutungsräume sich mehr oder weniger ‚überlappen‘. In dieser Perspektive ist dann klar, dass ein einzelner Akteur nicht die Sprache als solche verändern kann, es sei denn, er/sie/x ist sehr ‚prominent‘ und einzelne seiner Formulierungen werden von einer großen Teilpopulation übernommen. Entsprechend können sich in Teilpopulationen ‚Sprachmoden’/ ‚Sprachtrends‘ ausbilden, die dann zumindest partiell für eine bestimmte Zeit ‚Teil der Sprache‘ werden können.

Diese ‚Eigenwirklichkeit‘ von Sprache hat verschiedene Nebeneffekte. Einer verbindet sich mit erstellten Texten, Textsammlungen, die als Texte den individuellen Autor übersteigen/ überdauern können. Selbst wenn ein Text so alt ist, dass ein potentieller Leser aus der Gegenwart die ‚Bedeutungswelt des Autors‘ kaum oder gar nicht kennt, können Texte ‚Wirkung‘ entfalten. So zeigt z.B. die Interpretation des Buches, das allgemein als ‚Bibel‘ bezeichnet wird, im Laufe von ca. 2000 Jahren eine große Vielfalt und Breite mit offensichtlich z.T. gänzlich konträren Positionen, die selbst ca. 2000 Jahre später noch Wirkungen bei Menschen zeigen.

Tradition ist ambivalent

Dies bedeutet, nicht nur das einzelne Gehirn kann zur Ausbildung von bestimmten ‚Bildern von der Welt‘ kommen, die es mit anderen ‚Gleichgesinnten‘ teilen kann, sondern die konservierten Texte können solche Weltbilder über Jahrhunderte wenn nicht gar Jahrtausende hinweg ‚transportieren‘. Dies kann im Einzelfall konstruktiv sein, es kann aber auch ‚destruktiv‘ sein, wenn alte Weltbilder den Aufbau neuer Weltbilder in einer sich verändernden Welt verhindern.

Wunder des Schreibens

Nach diesen — keinesfalls vollständigen — Hinweisen auf sehr viele eher ‚technische‘ Aspekte von Sprache/ Sprechen/ Schreiben hier doch auch für einen Moment ein paar Worte zum ‚Wunder des Schreibens‘ selbst.

Wenn ich also Worte aufschreibe, jetzt, dann gibt es eigentlich keine bestimmte ‚Regel‘, nach der ich schreibe, kein klar definiertes ‚Ziel‘ (wie sollte solch eine Zielbeschreibung aussehen?), keine …. es ist ziemlich hoffnungslos hier eine endliche Liste von klar definierten Kriterien zu formulieren. Ich selbst bin ‚mir‘ ‚undurchsichtig‘ … ein Nebeneffekt der Tatsache, dass nahezu alles ‚in mir‘ im Jetzt ‚unbewusst‘ ist… Zu keinem Zeitpunkt weiß ich (= ist mir explizit bewusst), was ich ‚tatsächlich weiß‘. Wie denn? Unser Gedächtnis ist eine unfassbar große Sammlungen von dynamischen Strukturen, die entweder nur bei expliziten Aufgaben ‚reagieren‘ (aber nicht zuverlässig), oder aber ein gedanklicher Prozesse in mir läuft unbewusst ab und dieser tritt zu einem bestimmten Zeitpunkt an die ‚Oberfläche‘ indem ich Worte wie diese aufschreibe. Bevor ich diese Worte aufschreibe, weiß ich nicht, was ich aufschreibe. Ich kann dieses Aufschreiben auch nicht planen.’Es‘ denkt in mir, ‚es‘ schreibt… dieses ‚Es‘ ist aber nur scheinbar etwas ‚Fremdes‘; es ist Teil von mir, ich fühle mich damit verbunden, ich bin es, …. die Zuordnung von sprachlichen Ausdrücken zu ‚inneren Vorgängen‘ ist prinzipiell schwierig und ungenau. Ich selbst bin ein ganzer Kosmos von unterschiedlichen Dingen, weitgehend unbewusst, fokussiert in meinem Körper ….

Wir wissen, dass wir sehr viele Abläufe explizit, Schritt für Schritt, so trainieren können, dass sie zu scheinbar ‚automatisch ablaufenden Prozessen‘ werden. Die eigentliche Dynamik ‚dahinter‘ ist aber etwas ganz anderes. Sie bedient sich der vielen Gegebenheiten ’nach Belieben’… sie ‚ereignet sich‘ und ‚im Ereignen‘ ist sie ‚real‘ und darin partiell fassbar …. Menschen sind in ihrem ‚Inneren‘ der totale ‚Anti-Gegenstand‘. Ich kenne kein einziges Bild, keine einzige Metapher, kein irgendwie bekanntes Muster/ Schema, keine bekannte Formel, die dieser un-realen Realität irgendwie nahe kommt … [4],[5]

In diesem Konzert, ab ca. Minute 41, der Song ‚Wind of Change‘ daran erinnernd, dass es auch in Moskau einmal geschah, wenngleich die Ängste der Mächtigen wieder mal stärker waren als die Kraft der Zukunft, die in jedem Menschen anwesend ist …

ANMERKUNGEN

[1] Die Formulierung ‚ist halt so gebaut‘ ist eine ‚Abkürzung‘ für die komplexen Erkenntnisse der Evolutionsbiologie, dass sich das Gehirn des Menschen als Teil des ganzen Körpers mit diesem Körper über nicht nur Millionen, sondern hunderte von Millionen Jahre schrittweise ‚entwickelt‘ hat. Der Begriff ‚entwickelt‘ ist eine weitere Abkürzung für einen komplexen Mechanismus, durch den sich biologische Populationen aus einem Zustand zum Zeitpunkt T in einen ‚anderen Zustand‘ zu einem späteren Zeitpunkt T ‚verändern‘ können. Ob solche Veränderungen nun in irgendeinem Sinne ‚gut‘ oder ’schlecht‘ sind, entscheidet sich in erster Linie an der Frage, ob die Population zum späteren Zeitpunkt T+ noch ‚existiert‘. Die Fähigkeit ’nachhaltig zu existieren‘ ist primär eine ‚Leistungseigenschaft‘: in einer sich ständig veränderten Welt — nicht zuletzt auch deswegen, weil sich die Biosphäre selbst kontinuierlich weiter entwickelt — können nur jene Populationen überleben, die den Anforderungen einer solchen komplexen dynamischen Umwelt gerecht werden

[2] Die Psychologie kennt zahllose Beispiele, wie eigentlich ‚zufällige Ereignisse‘, in denen Menschen entweder etwas ‚Schönes‘, ‚Positives‘ erlebt haben oder umgekehrt etwas ‚Ungutes‘, ‚Trauriges‘, ‚Schreckliches‘, dass sich dann die Gefühle an konkrete Dinge/ Handlungen/ Situationen ‚anheften‘ können, und dann zukünftig die Wahrnehmung, das Verstehen und das Verhalten beeinflussen.

[3] Leute die ‚bewusst anders‘ sein wollen als ‚alle anderen‘ denken oft, sie wären damit ‚besonders‘. Das stimmt, sie sind ‚besonders‘ weil sie ‚für sich‘ sind. Vielfalt im Sinne der Nachhaltigkeit heißt aber nicht, individuell ‚für sich sein‘, sondern individuelle in einem Verbund leben, in dem man seine ‚Besonderheit‘ — so man eine hat! — im Kontext mit anderen so einbringt, dass sie auf die anderen real einwirken kann und umgekehrt. Dieses Interaktionsgeschehen realisiert einen Prozess mit ‚Zustandsfolgen‘, die so sein sollten, das nach einer gewissen Zeit möglichst alle ‚dazu gelernt haben‘. … was allerdings nicht ‚erzwingbar‘ ist … Menschen sind in einem unfassbar radikalen Sinne ‚frei‘ …

[4] Die ‚Beschreibbarkeit‘ eines Phänomens hängt generell von der Frage ab, welche Ausdrücke einer Sprache verfügbar sind, um sich auf Gegenstände, Sachverhalte, Ereignisse der Alltagswelt oder auf ‚innere Zustände‘ eines Menschen beziehen zu lassen. Hier lassen sich leicht Beispiele finden von ‚einfachen Beschreibungen von beobachtbaren Gegenständen‘ („Die Ampel da vorne ist auf Rot“) bis hin zu Asdrücken, wo man nicht mehr so richtig weiß, was gemeint sein kann („Die Demokratie ist gefährdet“; „Mein Gefühl sagt mir, dass dies nicht geht“; „Ich denke“… ).

[5] Ein Beispiel zur Frage der Zuschreibung des Ausdrucks ‚Geist‘ zum Phänomen unseres ‚Inneren‘, sofern es ‚erfahrbar‘ ist, kann das Buch von Friedhelm Decher sein „Handbuch der Philosophie des Geistes„, das ich in vier einzelnen Posts diskutiere: (i) https://www.cognitiveagent.org/2015/12/28/decher-handbuch-philosophie-des-geistes-einleitung-diskurs/, (ii) https://www.cognitiveagent.org/2016/01/05/decher-handbuch-philosophie-des-geistes-vorsokratiker-diskurs-teil-2/, (iii) https://www.cognitiveagent.org/2016/01/18/decher-handbuch-philosophie-des-geistes-platon-diskurs-teil-3/, (iv) https://www.cognitiveagent.org/2016/01/25/decher-handbuch-philosophie-des-geistes-aristoteles-diskurs-teil-4/.

DER AUTOR

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WAS IST DER MENSCH?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062 20.Juli 2020
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

AKTUALISIERUNGEN: Letzte Aktualisierung 21.7.2020 (Korrekturen; neue Links)

KONTEXT

In den vielen vorausgehenden Beiträgen in diesem Blog wurde die Frage nach dem Menschen, was das angemessene Bild vom Menschen sein könnte, schon oft gestellt. Möglicherweise wird diese Frage auch in der Zukunft sich immer wieder neu stellen, weil wir immer wieder auf neue Aspekte unseres Menschseins stoßen. Ich bin diese Tage auf einen Zusammenhang gestoßen, der mir persönlich in dieser Konkretheit neu ist (was nicht ausschließt, dass andere dies schon ganz lange so sehen). Hier einige weitere Gedanken dazu.

DER MENSCH IN FRAGMENTEN

In der evolutionsbiologischen Perspektive taucht der homo sapiens — also wir — sehr, sehr spät auf. Vom Jahr 2020 aus betrachtet, bilden wir den aktuellen Endpunkt der bisherigen Entwicklung wohl wissend, dass es nur ein Durchgangspunkt ist in einem Prozess, dessen Logik und mögliche Zielrichtung wir bislang nur bedingt verstehen.

Während man bei der Betrachtung der letzten Jahrtausende Menschheitsgeschichte bisweilen den Eindruck haben könnte, dass die Menschen sich als Menschen als etwas irgendwie Besonderes angesehen haben (was die Menschen aber nicht davon abgehalten hat, sich gegenseitig zu bekämpfen, sich zu bekriegen, sich regelrecht abzuschlachten), könnte man bei der Betrachtung der letzten 100 Jahre den Eindruck gewinnen, als ob die Wissenschaft die Besonderheit des Menschen — so es sie überhaupt gab — weitgehend aufgelöst hat: einmal durch die Einbettung in das größere Ganze der Evolution, dann durch einen vertieften Blick in die Details der Anatomie, des Gehirns, der Organe, der Mikro- und Zellbiologie, der Genetik, und schließlich heute durch das Aufkommen digitaler Technologien, der Computer, der sogenannten künstlichen Intelligenz (KI); dies alles lässt den Menschen auf den ersten Blick nicht mehr als etwas Besonders erscheinen.

Diese fortschreitende Fragmentierung des Menschen, des homo sapiens, findet aber nicht nur speziell beim Menschen statt. Die ganze Betrachtungsweise der Erde, des Universums, der realen Welt, ist stark durch die empirischen Wissenschaften der Gegenwart geprägt. In diesen empirischen Wissenschaften gibt es — schon von ihrem methodischen Ansatz her — keine Geheimnisse. Wenn ich nach vereinbarten Messmethoden Daten sammle, diese in ein — idealerweise — mathematisches Modell einbaue, um Zusammenhänge sichtbar zu machen, dann kann ich möglicherweise Ausschnitte der realen Welt als abgeschlossene Systeme beschreiben, bei denen der beschreibende Wissenschaftler außen vor bleibt. Diese partiellen Modelle bleiben notgedrungen Fragmente. Selbst die Physik, die für sich in Anspruch nimmt, das Ganze des Universums zu betrachten, fragmentiert die reale Welt, da sich die Wissenschaftler selbst, auch nicht die Besonderheiten biologischen Lebens generell, in die Analyse einbeziehen. Bislang interessiert das die meisten wenig. Je nach Betrachtungsweise kann dies aber ein fataler Fehler sein.

DER BEOBACHTER ALS BLINDE FLECK

Die Ausklammerung des Beobachters aus der Beschreibung des Beobachtungsgegenstands ist in den empirischen Wissenschaften Standard, da ja das Messverfahren idealerweise invariant sein soll bezüglich demjenigen, der misst. Bei Beobachtungen, in denen der Beobachter selbst das Messinstrument ist, geht dies natürlich nicht, da die Eigenschaften des Beobachters in den Messprozess eingehen (z.B. überall dort, wo wir Menschen unser eigenes Verhalten verstehen wollen, unser Fühlen und Denken, unser Verstehen, unser Entscheiden, usw.). Während es lange Zeit eine strenge Trennung gab zwischen echten (= harten) Wissenschaften, die strikt mit dem empirischen Messideal arbeiten, und jenen quasi (=weichen) Wissenschaften, bei denen irgendwie der Beobachter selbst Teil des Messprozesses ist und demzufolge das Messen mehr oder weniger intransparent erscheint, können wir in den letzten Jahrzehnten den Trend beobachten, dass die harten empirischen Messmethoden immer mehr ausgedehnt werden auch auf Untersuchungen des Verhaltens von Menschen, allerdings nur als Einbahnstraße: man macht Menschen zwar zu Beobachtungsgegenständen partieller empirischer Methoden, die untersuchenden Wissenschaftler bleiben aber weiterhin außen vor. Dieses Vorgehen ist per se nicht schlecht, liefert es doch partiell neue, interessante Einsichten. Aber es ist gefährlich in dem Moment, wo man von diesem — immer noch radikal fragmentiertem — Vorgehen auf das Ganze extrapoliert. Es entstehen dann beispielsweise Bücher mit vielen hundert Seiten zu einzelnen Aspekten der Zelle, der Organe, des Gehirns, aber diese Bücher versammeln nur Details, Fragmente, eine irgendwie geartete Zusammenschau bleibt aus.

Für diese anhaltende Fragmentierung gibt es sicher mehr als einen Grund. Einer liegt aber an der Wurzel des Theoriebegriffs, der Theoriebildung selbst. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Anschauung entstehen Theorien, Modelle, also jene begrifflichen Gebilde, mit denen wir einzelne Daten deuten, nicht aus einem Automatismus, sondern sie beruhen auf gedanklichen Entscheidungen in den Köpfen der Wissenschaftler selbst: grundsätzlich gibt es immer mehr als eine Option, wie ich etwas angehen will. Jede Option verlangt also eine Entscheidung, eine Wahl aus einem großen Bereich von Möglichkeiten. Die Generierung einer Theorie ist von daher immer ein komplexer Prozess. Interessanterweise gibt es in kaum einer der heutigen empirischen Disziplinen das Thema Wie generieren wir eine Theorie? als eigene Themenstellung. Obwohl hier viele Grundentscheidungen fallen, obwohl hier viel Komplexität rational aufgehellt werden müsste, betreiben die sogenannten harten Wissenschaften hier ein weitgehend irrationales Geschäft. Das Harte an den empirischen Wissenschaften gründet sich in diesem Sinne nicht einmal in einer weichen Reflexion; es gibt schlicht gar keine offizielle Reflexion. Die empirischen Wissenschaften sind in dieser Hinsicht fundamental irrational. Dass sie trotz ihrer fundamentalen Irrationalität interessante Detailergebnisse liefern kann diesen fundamentalen Fehler in der Wurzel nur bedingt ausgleichen. Die interessante Frage ist doch, was könnten die empirischen Wissenschaften noch viel mehr leisten, wenn sie ihre grundlegende Irrationalität an der Wurzel der Theoriebildung schrittweise mit Rationalität auffüllen würden?

HOMO SAPIENS – DER TRANSFORMER

(Ein kleiner Versuch, zu zeigen, was man sehen kann, wenn man die Grenzen der Disziplinen versuchsweise (und skizzenhaft) überschreitet)

Trotz ihrer Irrationalität an der Wurzel hat die Evolutionsbiologie viele interessante Tatbestände zum homo sapiens sichtbar gemacht, und andere Wissenschaften wie z.B. Psychologie, Sprachwissenschaften, und Gehirnwissenschaft haben weitere Details beigesteuert, die quasi ‚auf der Straße‘ herumliegen; jeder produziert für sich fleißig partielle Modelle, aber niemand ist zuständig dafür, diese zusammen zu bauen, sie versuchsweise zu integrieren, mutig und kreativ eine Synthese zu versuchen, die vielleicht neue Aspekte liefern kann, mittels deren wir viele andere Details auch neu deuten könnten. Was Not tut ist eine Wissenschaft der Wissenschaften, nicht als Privatvergnügen eines einzelnen Forschers, sondern als verpflichtender Standard für alle. In einer Wissenschaft der Wissenschaften wäre der Beobachter, der Forscher, die Forschergruppe, selbst Teil des Untersuchungsgegenstandes und damit in der zugehörigen Meta-Theorie aufzuhellen.

Anmerkung: Im Rahmen der Theorie des Engineering gibt es solche Ansätze schon länger, da das Scheitern eines Engineeringprozesses ziemlich direkt auf die Ingenieure zurück schlägt; von daher sind sie äußerst interessiert daran, auf welche Weise der Faktor Mensch — also auch sie selbst — zum Scheitern beigetragen hat. Hier könnte die Wissenschaft eine Menge von den Ingenieuren lernen.

Neben den vielen Eigenschaften, die man am homo sapiens entdecken kann, erscheinen mir drei von herausragender Bedeutung zu sein, was sich allerdings erst so richtig zeigt, wenn man sie im Zusammenspiel betrachtet.

Faktor 1: Dass ein homo sapiens einen Körper [B, body] mit eingebautem Gehirn [b, brain] hat, unterscheidet ihn nicht unbedingt von anderen Lebensformen, da es viele Lebensformen im Format Körper mit eingebautem Gehirn gibt. Dennoch ist schon mal festzuhalten, dass der Gehirn-Körper [b_B] eines homo sapiens einen Teil der Eigenschaften seiner Realwelt-Umgebung [RW] — und der eigene Körper gehört aus Sicht des Gehirns auch zu dieser Realwelt-Umgebung — ausnahmslos in neuronale Zustände [NN] im Gehirn verwandelt/ transformiert/ konvertiert und diese neuronale Zustände auf vielfältige Weise Prozesshaft bearbeitet (Wahrnehmen, Speichern, Erinnern, Abstrahieren, Assoziieren, bewerten, …). In dieser Hinsicht kann man den Gehirn-Körper als eine Abbildung, eine Funktion verstehen, die u.a. dieses leistet: b_B : RW —–> RW_NN. Will man berücksichtigen, dass diese Abbildung durch aktuell verfügbare Erfahrungen aus der Vergangenheit modifiziert werden kann, dann könnte man schreiben: b_B : RW x RW_NN —–> RW_NN. Dies trägt dem Sachverhalt Rechnung, dass wir das, was wir aktuell neu erleben, automatisch mit schon vorhandenen Erfahrungen abgleichen und automatisch interpretieren und bewerten.

Faktor 2: Allein schon dieser Transformationsprozess ist hochinteressant, und er funktioniert bis zu einem gewissen Grad auch ganz ohne Sprache (was alle Kinder demonstrieren, wenn sie sich in der Welt bewegen, bevor sie sprechen können). Ein homo sapiens ohne Sprache ist aber letztlich nicht überlebensfähig. Zum Überleben braucht ein homo sapiens das Zusammenwirken mit anderen; dies verlangt ein Minimum an Kommunikation, an sprachlicher Kommunikation, und dies verlangt die Verfügbarkeit einer Sprache [L].

Wir wir heute wissen, ist die konkrete Form einer Sprache nicht angeboren, wohl aber die Fähigkeit, eine auszubilden. Davon zeugen die vielen tausend Sprachen, die auf dieser Erde gesprochen werden und das Phänomen, dass alle Kinder irgendwann anfangen, Sprachen zu lernen, aus sich heraus.

Was viele als unangenehm empfinden, das ist, wenn man als einzelner als Fremder, als Tourist in eine Situation gerät, wo alle Menschen um einen herum eine Sprache sprechen, die man selbst nicht versteht. Dem Laut der Worte oder dem Schriftzug eines Textes kann man nicht direkt entnehmen, was sie bedeuten. Dies liegt daran, dass die sogenannten natürlichen Sprachen (oft auch Alltagssprachen genannt), ihre Bedeutungszuweisungen im Gehirn bekommen, im Bereich der neuronalen Korrelate der realen Welt RW_NN. Dies ist auch der Grund, warum Kinder nicht von Geburt an eine Sprache lernen können: erst wenn sie minimale Strukturen in ihren neuronalen Korrelaten der Außenwelt ausbilden konnten, können die Ausdrücke der Sprache ihrer Umgebung solchen Strukturen zugeordnet werden. Und so beginnt dann ein paralleler Prozess der Ausdifferenzierung der nicht-sprachlichen Strukturen, die auf unterschiedliche Weise mit den sprachlichen Strukturen verknüpft werden. Vereinfachend kann man sagen, dass die Bedeutungsfunktion [M] eine Abbildung herstellt zwischen diesen beiden Bereichen: M : L <–?–> RW_NN, wobei die sprachlichen Ausdrücke letztlich ja auch Teil der neuronalen Korrelate der Außenwelt RW_NN sind, also eher M: RW_NN_L <–?–>RW_NN.

Während die grundsätzliche Fähigkeit zur Ausbildung einer bedeutungshaltigen Sprache [L_M] (L :_ Ausrucksseite, M := Bedeutungsanteil) nach heutigem Kenntnisstand angeboren zu sein scheint, muss die Bedeutungsrelation M individuell in einem langen, oft mühsamen Prozess, erlernt werden. Und das Erlernen der einen Sprache L_M hilft kaum bis gar nicht für das Erlernen einer anderen Sprache L’_M‘.

Faktor 3: Neben sehr vielen Eigenschaften im Kontext der menschlichen Sprachfähigkeit ist einer — in meiner Sicht — zusätzlich bemerkenswert. Im einfachen Fall kann man unterscheiden zwischen den sprachlichen Ausdrücken und jenen neuronalen Korrelaten, die mit Objekten der Außenwelt korrespondieren, also solche Objekte, die andere Menschen zeitgleich auch wahrnehmen können. So z.B. ‚die weiße Tasse dort auf dem Tisch‘, ‚die rote Blume neben deiner Treppe‘, ‚die Sonne am Himmel‘, usw. In diesen Beispielen haben wir auf der einen Seite sprachliche Ausdrücke, und auf der anderen Seite nicht-sprachliche Dinge. Ich kann mit meiner Sprache aber auch sagen „In dem Satz ‚die Sonne am Himmel‘ ist das zweite Wort dieses Satzes grammatisch ein Substantiv‘. In diesem Beispiel benutze ich Ausdrücke der Sprache um mich auf andere Ausdrücke einer Sprache zu beziehen. Dies bedeutet, dass ich Ausdrücke der Sprache zu Objekten für andere Ausdrücke der Sprache machen kann, die über (meta) diese Objekte sprechen. In der Wissenschaftsphilosophie spricht man hier von Objekt-Sprache und von Meta-Sprache. Letztlich sind es zwei verschiedenen Sprachebenen. Bei einer weiteren Analyse wird man feststellen können, dass eine natürliche/ normale Sprache L_M scheinbar unendlich viele Sprachebenen ausbilden kann, einfach so. Ein Wort wie Demokratie z.B. hat direkt kaum einen direkten Bezug zu einem Objekt der realen Welt, wohl aber sehr viele Beziehungen zu anderen Ausdrücken, die wiederum auf andere Ausdrücke verweisen können, bis irgendwann vielleicht ein Ausdruck dabei ist, der Objekte der realen Welt betrifft (z.B. der Stuhl, auf dem der Parlamentspräsident sitzt, oder eben dieser Parlamentspräsident, der zur Institution des Bundestages gehört, der wiederum … hier wird es schon schwierig).

Die Tatsache, dass also das Sprachvermögen eine potentiell unendlich erscheinende Hierarchie von Sprachebenen erlaubt, ist eine ungewöhnlich starke Eigenschaft, die bislang nur beim homo sapiens beobachtet werden kann. Im positiven Fall erlaubt eine solche Sprachhierarchie die Ausbildung von beliebig komplexen Strukturen, um damit beliebig viele Eigenschaften und Zusammenhänge der realen Welt sichtbar zu machen, aber nicht nur in Bezug auf die Gegenwart oder die Vergangenheit, sondern der homo sapiens kann dadurch auch Zustände in einer möglichen Zukunft andenken. Dies wiederum ermöglicht ein innovatives, gestalterisches Handeln, in dem Aspekte der gegenwärtigen Situation verändert werden. Damit kann dann real der Prozess der Evolution und des ganzen Universums verändert werden. Im negativen Fall kann der homo sapiens wilde Netzwerke von Ausdrücken produzieren, die auf den ersten Blick schön klingen, deren Bezug zur aktuellen, vergangenen oder möglichen zukünftigen realen Welt nur schwer bis gar nicht herstellbar ist.

Hat also ein entwickeltes Sprachsystem schon für das Denken selbst eine gewisse Relevanz, spielt es natürlich auch für die Kommunikation eine Rolle. Der Gehirn-Körper transformiert ja nicht nur reale Welt in neuronale Korrelate b_B : RW x RW_NN —–> RW_NN (mit der Sprache L_B_NN als Teil von RW_NN), sondern der Gehirn-Körper produziert auch sprachliche Ausdrücke nach außen b_B : RW_NN —–> L. Die sprachlichen Ausdrücke L bilden von daher die Schnittstelle zwischen den Gehirnen. Was nicht gesagt werden kann, das existiert zwischen Gehirnen nicht, obgleich es möglicherweise neuronale Korrelate gibt, die wichtig sind. Nennt man die Gesamtheit der nutzbaren neuronalen Korrelate Wissen dann benötigt es nicht nur eine angemessene Kultur des Wissens sondern auch eine angemessene Kultur der Sprache. Eine Wissenschaft, eine empirische Wissenschaft ohne eine angemessene (Meta-)Sprache ist z.B. schon im Ansatz unfähig, mit sich selbst rational umzugehen; sie ist schlicht sprachlos.

EIN NEUES UNIVERSUM ? !

Betrachtet man die kontinuierlichen Umformungen der Energie-Materie vom Big Bang über Gasnebel, Sterne, Sternenhaufen, Galaxien und vielem mehr bis hin zur Entstehung von biologischem Leben auf der Erde (ob auch woanders ist komplexitätstheoretisch extrem unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich), dort dann die Entwicklung zu Mehrzellern, zu komplexen Organismen, bis hin zum homo sapiens, dann kommt dem homo sapiens eine einzigartig, herausragende Rolle zu, der er sich bislang offensichtlich nicht richtig bewusst ist, u.a. möglicherweise auch, weil die Wissenschaften sich weigern, sich professionell mit ihrer eigenen Irrationalität zu beschäftigen.

Der homo sapiens ist bislang das einzig bekannte System im gesamten Universum, das in er Lage ist, die Energie-Materie Struktur in symbolische Konstrukte zu transformieren, in denen sich Teile der Strukturen des Universums repräsentieren lassen, die dann wiederum in einem Raum hoher Freiheitsgrade zu neue Zuständen transformiert werden können, und diese neuen — noch nicht realen — Strukturen können zum Orientierungspunkt für ein Verhalten werden, das die reale Welt real transformiert, sprich verändert. Dies bedeutet, dass die Energie-Materie, von der der homo sapiens ein Teil ist, ihr eigenes Universum auf neue Weise modifizieren kann, möglicherweise über die aktuellen sogenannten Naturgesetze hinaus.

Hier stellen sich viele weitere Fragen, auch alleine schon deswegen, weil der Wissens- und Sprachaspekt nur einen kleinen Teil des Potentials des homo sapiens thematisiert.

VERANTWORTUNGSBEWUSSTE DIGITALISIERUNG: Fortsezung 1

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

So 16.Februar 2020

KONTEXT DEMOKRATIE

In einem vorausgehenden Beitrag hatte ich am Beispiel der Demokratie aufgezeigt, welche zentrale Rolle eine gemeinsame funktionierende Öffentlichkeit spielt. Ohne eine solche ist Demokratie nicht möglich. Entspechend der Komplexität einer Gesellschaft muss die große Mehrheit der Bürger daher über ein hinreichendes Wissen verfügen, um sich qualifiziert am Diskurs beteiligen und auf dieser Basis am Geschehen verantwortungsvoll partizipieren zu können. Eine solche Öffentlichkeit samt notwendigem Bildungsstand scheint in den noch existierenden Demokratien stark gefährdet zu sein. Nicht ausdrücklich erwähnt wurde in diesem Beitrag die Notwendigkeit von solchen Emotionen und Motivationen, die für das Erkennen, Kommunizieren und Handeln gebraucht werden; ohne diese nützt das beste Wissen nichts.

KONTEXT DIGITALISIERUNG

In einem Folgebeitrag hatte ich das Phänomen der Digitalisierung aus der Sicht des Benutzers skizziert, wie eine neue Technologie immer mehr eine Symbiose mit dem Leben der Gesellschaft eingeht, einer Symbiose, der man sich kaum oder gar nicht mehr entziehen kann. Wo wird dies hinführen? Löst sich unsere demokratische Gesellschaft als Demokratie schleichend auf? Haben wir überhaupt noch eine funktionierende Demokratie?

PARTIZIPATION OHNE DEMOKRATIE?

Mitten in den Diskussionen zu diesen Fragen erreichte mich das neue Buch von Manfred Faßler Partizipation ohne Demokratie (2020), Fink Verlag, Paderborn (DE). Bislang konnte ich Kap.1 lesen. In großer Intensität, mit einem in Jahrzehnten erarbeiteten Verständnis des Phänomens Digitalisierung und Demokratie, entwirft Manfred Faßler in diesem Kapitel eine packende Analyse der Auswirkungen des Phänomens Digitalisierung auf die Gesellschaft, speziell auch auf eine demokratische Gesellschaft. Als Grundidee entnehme ich diesem Kapitel, dass der Benutzer (User) in Interaktion mit den neuen digitalen Räumen subjektiv zwar viele Aspekte seiner realweltlichen sozialen Interaktionen wiederfindet, aber tatsächlich ist dies eine gefährliche Illusion: während jeder User im realweltlichen Leben als Bürger in einer realen demokratischen Gesellschaft lebt, wo es der Intention der Verfassung nach klare Rechte gibt, Verantwortlichkeiten, Transparenz, Kontrolle von Macht, ist der Bürger in den aktuellen digitalen Räumen kein Bürger, sondern ein User, der nahezu keine Rechte hat. Als User glaubt man zwar, dass man weiter ein Bürger ist, aber die individuellen Interaktionen mit dem digitalen Raum bewegen sich in einem weitgehend rechtlosen und demokratiefreiem Raum. Die allgemeinen Geschäftsbedingungen kaschieren diesen Zustand durch unendliche lange Texte, die kaum einer versteht; sprechen dem User nahezu alle Rechte ab, und lassen sich kaum bis gar nicht einklagen, jedenfalls nicht in einem Format, das der User praktisch einlösen könnte. Dazu kommt, dass der digitale Raum des Users ein geliehener Raum ist; die realen Maschinen und Verfügungsgewalten liegen bei Eignern, die jenseits der gewohnten politischen Strukturen angesiedelt sind, die sich eher keiner demokratischen Ordnung verpflichtet fühlen, und die diese Verfügungsgewalt — so zeigt es die jüngste Geschichte — skrupellos an jeden verkaufen, der dafür Geld bezahlt, egal, was er damit macht.

Das bisherige politische System scheint die Urgewalt dieser Prozesse noch kaum realisiert zu haben. Es denkt noch immer in den klassischen Kategorien von Gesellschaft und Demokratie und merkt nicht, wie Grundpfeiler der Demokratie täglich immer mehr erodieren. Kapitel 1 von Faßlers Buch ist hier schonungslos konkret und klar.

LAGEPLAN DEMOKRATISCHE DIGITALISIERUNG

Möglicher Lageplan zur Auseinandersetzung zwischen nicht-demokratischer und demokratischer Digitalisierung

Erschreckend ist, wie einfach die Strategie funktioniert, den einzelnen bei seinen individuellen privaten Bedürfnissen abzuholen, ihm vorzugaukeln, er lebe in den aktuellen digitalen Räumen so wie er auch sonst als Bürger lebe, nur schneller, leichter, sogar freier von üblichen analogen Zwängen, obwohl er im Netz vieler wichtiger realer Recht beraubt wird, bis hin zu Sachverhalten und Aktionen, die nicht nur nicht demokratisch sind, sondern sogar in ihrer Wirkung eine reale Demokratie auflösen können; alles ohne Kanonendonner.

Es mag daher hilfreich sein, sich mindestens die folgenden Sachverhalte zu vergegenwärtigen:

  • Verankerung in der realen Welt
  • Zukunft gibt es nicht einfach so
  • Gesellschaft als emergentes Phänomen
  • Freie Kommunikation als Lebensader

REALE KÖRPERWELT

Fasziniert von den neuen digitalen Räumen kann man schnell vergessen, dass diese digitalen Räume als physikalische Zustände von realen Maschinen existieren, die reale Energie verbrauchen, reale Ressourcen, und die darin nicht nur unseren realen Lebensraum beschneiden, sondern auch verändern.

Diese physikalische Dimension interagiert nicht nur mit der übrigen Natur sehr real, sie unterliegt auch den bisherigen alten politischen Strukturen mit den jeweiligen nationalen und internationalen Gesetzen. Wenn die physikalischen Eigentümer nach alter Gesetzgebung in realen Ländern lokalisiert sind, die sich von den Nutzern in demokratischen Gesellschaften unterscheiden, und diese Eigentümer nicht-demokratische Ziele verfolgen, dann sind die neuen digitalen Räume nicht einfach nur neutral, nein sie sind hochpolitisch. Diese Sachverhalte scheinen in der europäischen Politik bislang kaum ernsthaft beachtet zu werden; eher erwecken viele Indizien den Eindruck, dass viele politische Akteure so handeln, als ob sie Angestellte jener Eigner sind, die sich keiner Demokratie verpflichtet fühlen (Ein Beispiel von vielen: die neue Datenschutz-Verordnung DSGVO versucht erste zaghafte Schritte zu unternehmen, um der Rechtlosigkeit der Bürger als User entgegen zu wirken, gleichzeitig wird diese DSGVO von einem Bundesministerium beständig schlecht geredet …).

ZUKUNFT IST KEIN GEGENSTAND

Wie ich in diesem Blog schon mehrfach diskutiert habe, ist Zukunft kein übliches Objekt. Weil wir über ein Gedächtnis verfügen, können wir Aspekte der jeweiligen Gegenwart speichern, wieder erinnern, unsere Wahrnehmung interpretieren, und durch unsere Denkfähigkeit Muster, Regelhaftigkeiten identifizieren, denken, und neue mögliche Kombinationen ausmalen. Diese neuen Möglichkeiten sind aber nicht die Zukunft, sondern Zustände unseres Gehirns, die auf der Basis der Vergangenheit Spekulationen über eine mögliche Zukunft bilden. Die Physik und die Biologie samt den vielen Begleitdisziplinen haben eindrucksvoll gezeigt, was ein systematischer Blick zurück zu den Anfängen des Universums (BigBang) und den Anfängen des Lebens (Entstehung von Zellen aus Molekülen) an Erkenntnissen hervor bringen kann. Sie zeigen aber auch, dass die Erde selbst wie das gesamt biologische Leben ein hochkomplexes System ist, das sich nur sehr begrenzt voraus sagen lässt. Spekulationen über mögliche zukünftige Zustände sind daher nur sehr begrenzt möglich.

Ferner ist zu berücksichtigen, dass das Denken selbst kein Automatismus ist. Neben den vielen gesellschaftlichen Faktoren und Umweltfaktoren, die auf unser Denken einwirken, hängt unser Denken in seiner Ausrichtung entscheidend auch von unseren Bedürfnissen, Emotionen, Motiven und Zielvorstellungen ab. Wirkliche Innovationen, wirkliche Durchbrüche sind keine Automatismen. Sie brauchen Menschen, die resistent sind gegen jeweilige ‚Mainstreams‘, die mutig sind, sich mit Unbekanntem und Riskantem auseinander zu setzen, und vieles mehr. Solche Menschen sind keine ‚Massenware’…

GESELLSCHAFT ALS EMERGENTES PHÄNOMEN

Das Wort ‚Emergenz‘ hat vielfach eine unscharfe Bedeutung. In einer Diskussion des Buches von Miller und Page (2007) Complex Adaptive Systems. An Introduction to Computational Models of Social Life habe ich für meinen Theoriezusammenhang eine Definition vorgeschlagen, die die Position von Miller und Page berücksichtigt, aber auch die Position von Warren Weaver (1958), A quarter century in then natural sciences. Rockefeller Foundation. Annual Report,1958, pages 7–15, der von Miller und Page zitiert wird.

Die Grundidee ist die, dass ein System, das wiederum aus vielen einzelnen Systemen besteht, dann als ein organisiertes System verstanden wird, wenn das Wegnehmen eines einzelnen Systems das Gesamtverhalten des Systems verändert. Andererseits soll man aber durch die Analyse eines einzelnen Mitgliedssystems auch nicht in der Lage sein, auf das Gesamtverhalten schließen zu können. Unter diesen Voraussetzungen soll das Gesamtverhalten als emergent bezeichnet werden: es existiert nur, wenn alle einzelnen Mitgliedssysteme zusammenwirken und es ist nicht aus dem Verhalten einzelner Systeme alleine ableitbar. Wenn einige der Mitgliedssysteme zudem zufällige oder lernfähige Systeme sind, dann ist das Gesamtverhalten zusätzlich begründbar nicht voraussagbar.

Das Verhalten sozialer Systeme ist nach dieser Definition grundsätzlich emergent und wird noch dadurch verschärft, dass seine Mitgliedssysteme — individuelle Personen wie alle möglichen Arten von Vereinigungen von Personen — grundsätzlich lernende Systeme sind (was nicht impliziert, dass sie ihre Lernfähigkeit ’sinnvoll‘ nutzen). Jeder Versuch, die Zukunft sozialer Systeme voraus zu sagen, ist von daher grundsätzlich unmöglich (auch wenn wir uns alle gerne der Illusion hingeben, wir könnten es). Die einzige Möglichkeit, in einer freien Gesellschaft, Zukunft ansatzweise zu erarbeiten, wären Systeme einer umfassenden Partizipation und Rückkopplung aller Akteure. Diese Systeme gibt es bislang nicht, wären aber mit den neuen digitalen Technologien eher möglich.

FREIE KOMMUNIKATION UND BILDUNG

Die kulturellen Errungenschaften der Menschheit — ich zähle Technologie, Bildungssysteme, Wirtschaft usw. dazu — waren in der Vergangenheit möglich, weil die Menschen gelernt hatten, ihre kognitiven Fähigkeiten zusammen mit ihrer Sprache immer mehr so zu nutzen, dass sie zu Kooperationen zusammen gefunden haben: Die Verbindung von vielen Fähigkeiten und Ressourcen, auch über längere Zeiträume. Alle diese Kooperationen waren entweder möglich durch schiere Gewalt (autoritäre Gesellschaften) oder durch Einsicht in die Sachverhalte, durch Vertrauen, dass man das Ziel zusammen schon irgendwie erreichen würde, und durch konkrete Vorteile für das eigene Leben oder für das Leben der anderen, in der Gegenwart oder in der möglichen Zukunft.

Bei aller Dringlichkeit dieser Prozesse hingen sie zentral von der möglichen Kommunikation ab, vom Austausch von Gedanken und Zielen. Ohne diesen Austausch würde nichts passieren, wäre nichts möglich. Nicht umsonst diagnostizieren viele Historiker und Sozialwissenschaftler den Übergang von der alten zur neuen empirischen Wissenschaft in der Veränderung der Kommunikation, erst Recht im Übergang von vor-demokratischen Gesellschaften zu demokratischen Gesellschaften.

Was aber oft zu kurz kommt, das ist die mangelnde Einsicht in den engen Zusammenhang zwischen einer verantwortlichen Kommunikation in einer funktionierenden Demokratie und dem dazu notwendigen Wissen! Wenn ich eine freie Kommunikation in einer noch funktionierenden Demokratie haben würde, und innerhalb dieser Diskussion würden nur schwachsinnige Inhalte transportiert, dann nützt solch eine Kommunikation natürlich nichts. Eine funktionierende freie Kommunikation ist eine notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie, aber die Verfügbarkeit von angemessenen Weltbildern, qualitativ hochwertigem Wissen bei der Mehrheit der Bürger (nicht nur bei gesellschaftlichen Teilgruppen, die sich selbst als ‚Eliten‘ verstehen) ist genauso wichtig. Beides gehört zusammen. Bei der aktuellen Zersplitterung aller Wissenschaften, der ungeheuren Menge an neuem Wissen, bei den immer schneller werdenden Innovationszyklen und bei der zunehmenden ‚Fragmementierung der Öffentlichkeit‘ verbunden mit einem wachsenden Misstrauen untereinander, ist das bisherige Wissenssystem mehr und mehr nicht nur im Stress, sondern möglicherweise kurz vor einem Kollaps. Ob es mit den neuen digitalen Technologien hierfür eine spürbare Unterstützung geben könnte, ist aktuell völlig unklar, da das Problem als solches — so scheint mir — noch nicht genügend gesellschaftlich erkannt ist und diskutiert wird. Außerdem, ein Problem erkennen ist eines, eine brauchbare Lösung zu finden etwas anderes. In der Regel sind die eingefahrenen Institutionen wenig geeignet, radikal neue Ansätzen zu denken und umzusetzen. Alte Denkgewohnheiten und das berühmte ‚Besitzstanddenken‘ sind wirkungsvolle Faktoren der Verhinderung.

AUSBLICK

Die vorangehenden Gedanken mögen auf manche Leser vielleicht negativ wirken, beunruhigend, oder gar deprimierend. Bis zum gewissen Grad wäre dies eine natürliche Reaktion und vielleicht ist dies auch notwendig, damit wir alle zusammen uns wechselseitig mehr helfen, diese Herausforderungen in den Blick zu nehmen. Der Verfasser dieses Textes ist trotz all dieser Schwierigkeiten, die sich andeuten, grundlegend optimistisch, dass es Lösungen geben kann, und dass es auch — wie immer in der bisherigen Geschichte des Lebens auf der Erde — genügend Menschen geben wird, die die richtigen Ideen haben werden, und es Menschen gibt, die sie umsetzen. Diese Fähigkeit zum Finden von neuen Lösungen ist eine grundlegende Eigenschaft des biologischen Lebens. Dennoch haben Kulturen immer die starke Tendenzen, Ängste und Kontrollen auszubilden statt Vertrauen und Experimentierfreude zu kultivieren.

Wer sich das Geschehen nüchtern betrachtet, der kann auf Anhieb eine Vielzahl von interessanten Optionen erkennen, sich eine Vielzahl von möglichen Prozessen vorstellen, die uns weiter führen könnten. Vielleicht kann dies Gegenstand von weiteren Beiträgen sein.

Einen Überblick über alle Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

PROBLEME und LÖSUNGEN. Überlegungen zur Zukunftsfähigkeit

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 17.Sept. 2019
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Das Reden von der ‚Zukunft‘ klingt oft so isoliert, so abgetrennt, so fern, so unerreichbar, und doch begleitet uns die potentielle Zukunft — unsere potentielle Zukunft — auf Schritt und Tritt in unserem Handeln.

Es sind unsere eigenen Entscheidungen, was wir tun wollen, die immer wieder einen kleinen Schritt in eine bestimmte Richtung nach nicht ziehen, die unsere Zukunft eröffnen.

Natürlich sind diese individuellen Entscheidungen nicht isoliert vom Kontext, vom gesamten Lebenszusammenhang, aber doch, ja, wir kopieren nicht irgendetwas, wir mit unserer konkreten Persönlichkeit erzeugen ein kleines Stück Wirklichkeit, das eine Teil des je größeren Zukunftsszenariums darstellt.

Diese unseren individuellen konkreten Handlungen können zufällig sein, intuitiv, mögen planlos erscheinen, aber in der Regel stehen dahinter konkrete Motivationen, bestimmte Bilder, die wir aktuell von der Welt haben, und das Ganze meistens mit anderen vernetzt durch Kommunikation.

Im allgemeineren Fall, dort, wo es etwas professioneller wird, begegnet uns die Zukunft im Rahmen von Problemlösungen. Einer bestimmten Gruppe von Menschen stellt sich ein ‚Problem‘ verbunden mit einer minimalen ‚Vision‘ wie es denn stattdessen sein sollte, und dann versucht man diese Vision möglich zu machen, ein Stück Arbeit für die Zukunft und dann deren Realisierung.

Probleme müssen in vielen Bereichen gelöst werden und entsprechend haben sich in vielen Bereichen unterschiedliche Vorgehensweisen etabliert, wie man das macht: in den empirischen Wissenschaften, bei den Ingenieuren, bei Ärzten, Architekten, Kriminalpolizei, im Case Management, und vielem mehr.

Im folgenden Text soll von diesen speziellen Verfahren abstrahiert werden und der Frage nachgegangen werden, wie eine Problemlösung im Alltag funktionieren kann bei der beliebige Menschen beteiligt sind, vorzugsweise Gruppen von Bürgern, Kommunalverwaltungen, ganze Kommunen (Gemeinden, Städte).

ALLTAGSPROBLEME AUS DEN MEDIEN

Wenn man sich heutzutage in den Medien umschaut, mit Freunden und Bekannten spricht, dann kann man den Eindruck gewinnen, wir sind von Problemen umzingelt. Hier ein kleine Stichprobe aus drei Zeitungen von wenigen Tagen:

  1. Ortsbeiräte und Stadtverordnete sollen durch eine bürgernahe Stadtwerkstatt ergänzt werden, um die Anliegen der Bürger besser einbinden zu können
  2. Das Problem des bezahlbaren Wohnraumes wird in den Städten immer schlimmer. Jährlich fallen deutlich mehr Wohnungen aus der Sozialbindung als neue geschaffen werden
  3. Eine Großstadt verweigert sich offiziell, Sozialwohnungen ohne Befristung zu bauen.
  4. Forscher konstatieren zum Teil dramatischen Rückgang bei bestimmten Vogelarten. Dies verweist auf einen Mangel an geeignete Lebensräume.
  5. Die Waldbesitzer in ganz Deutschland melden riesige Schäden durch Trockenheit.
  6. Die Bedrohung von BürgermeisterInnen durch radikale Gruppierungen nimmt beständig zu; einige geben auf
  7. Ortsbeiräte sollen das besondere Ohr zum Bürger darstellen. Aber, welcher Bürger kennt seinen Ortsbeirat? Und in der Stadtverordnetenversammlung, wer hört die Ortsbeiräte?
  8. Immer wieder Auffälligkeiten, dass der Verfassungsschutz Bezüge zu rechten Gefährdern unterbewertet
  9. Ein Kultusministerium will ein Schulamt weg verlegen aus seinem Bezirk und bürdet damit seinen Mitarbeitern zusätzliche Belastungen auf.
  10. Das ganze politische System Deutschlands benötigt ein Update, um zukunftsfähig zu werden
  11. Die großen Internetkonzerne merken, dass ihre Wirkung auf die Gesellschaft langsam Rückwirkungen erzeugen, die in immer größeres Misstrauen, wenn nicht gar partiell Feindschaft umschlagen. Plötzlich sprechen sie davon, dass Vertrauen das Wichtigste sei, sowohl in der Firma wie auch zur umgebenden Gesellschaft.
  12. Saubere Motoren alleine reichen nicht für eine weltweite Verbesserung des Verkehrs in den Metropolen
  13. International ist viel Geld da, das nach Anlage drängt, gleichzeitig gibt es aber zu wenige gute Anlageobjekte. Das Anlegen geschieht dennoch, vorbei an regulierten Finanzmärkten; Wertsteigerungen auf dem Papier werden verbucht, denen immer weniger realer Gegenwert entspricht (dies erzeugt eine massive Inflation, die von den Zentralbanken nicht erfasst wird)
  14. Der Chef eines der größten internationalen Ölkonzerns verkündet den nachhaltigen Umbau des Konzerns in Richtung Unterstützung erneuerbaren Energien, investiert aber bis auf Weiteres immer noch den größten Teil des Geldes in das Ölgeschäft
  15. Während der größten internationalen (Auto)-Mobil(itäts)-Ausstellung stehen sich tausende von Demonstranten und zehntausende Besucher ideell gegenüber.
  16. Keiner der weltweit größten Erdöl- und Erdgas-Konzerne ist auf Klimakurs
  17. Während die Reduzierung den Einsatz von EMobilität pushed, zeigen Fachleute vielfältige Probleme auf, die damit noch nicht gelöst sind oder gar durch EMobilität erst neu erzeugt werden.
  18. Bahn und Nahverkehr sollen ausgebaut werden, beim Bahnhofsumbau z.B. in Frankfurt sind viele Fragen noch offen; es wird Jahre dauern…
  19. Eine Buchbesprechung thematisiert die neue Sichtweise der Neurowissenschaften und die Wirkung auf andere bisherige Sichtweisen auf den Menschen. Vereinfacht gesagt: Die Reduktion des Menschenbildes auf Gehirnfunktionen.
  20. Der Konflikt zwischen einem Whistleblower (Snowden), der von seinem eigenen Staat nicht als solcher anerkannt wird, und der für die Interessen einer offenen, demokratischen Gesellschaft gegen ihre scheinbar übermächtig gewordenen geheimen Institutionen eintritt.
  21. Eine Diskussion um das rechte Verhältnis von Import/ Export, Realzinsen, und Fiskalpolitik im globalen Miteinander. Missverhältnisse können zu Verzerrungen, Abschottungen und mehr führen.
  22. Die intransparente Rolle von politischen Beratern jenseits der demokratischen Verfahren.
  23. Weltweit steigen die Schäden für Rückversicherer.
  24. Weltkonzerne stehen vor der Aufgabe, sich global neu zu orientieren ohne aber verlässliche politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu haben.
  25. Der starke Verfall von demokratischen Rechten und Gepflogenheiten in Hongkong am Beispiel der Fluggesellschaft
  26. Mikroplastik ist überall (Weltmeere, Flüsse, auch durch die Luft) auf dem Vormarsch
  27. Das Ringen um eine europäische Cloud als Alternative für mehr Unabhängigkeit im Datenverkehr.
  28. Der Zuwachs an Rechenkapazität in der Forschung wird durch technische Barrieren verlangsamt. Die Forschung wird durch Vorlieben der Bundesregierung nur einseitig gefördert.

Schon diese kleine Auswahl lässt ganz unterschiedliche Kontexte aufblitzen, die jeweils vorausgesetzt werden:

  1. Es geht um Menschen, verschiedene Tierarten und den Wald, deren Lebensräumen sich wechselseitig beeinflussen.
  2. Es geht um die Umwelt, die durch die Aktivitäten des Menschen unterschiedlich verändert wird.
  3. Es geht um Kommunen/ Städte, die den direkten Lebensraum für die Menschen (und viele Tiere) darstellen.
  4. Es geht um staatliche Institutionen, die bestimmte Aufgaben erfüllen sollen.
  5. Es geht um Bürgerrechte und die Demokratische Öffentlichkeit.
  6. Es geht um globale Konzerne, die sich mit unterschiedlichen nationalen Forderungen arrangieren müssen.
  7. Es geht um Technologien, um technologischen Abhängigkeiten und deren Bedeutung für die Wirtschaft und die staatliche Autonomie.
  8. Es geht um Weltbilder, die von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen gespeist werden.
  9. Es geht bei allem auch immer um einzelne (Bürger, Bürgermeister, Stadtverordnete, Ortsbeiräte, Präsidenten, Firmenchefs, …), die sich in den jeweiligen Kontexten ‚verwirklichen‘ wollen.
  10. Einzelne lassen sich von dem jeweiligen Weltbild in ihrem Kopf leiten oder holen sich spezielle Berater, die ihr Weltbild unterstützen sollen.

WANN IST ETWAS EIN PROBLEM?

Dies aufgelisteten Fälle vorausgesetzt kann man die Frage aufwerfen, ob man bei den eingangs erwähnten Beispielen tatsächlich von ‚Problemen‘ sprechen sollte. Warum soll eine bestimmte geschilderte Sachlage als ein ‚Problem‘ bezeichnet werden? Warum sollte man in der mangelnden Einbindung von Bürgern in den Kommunen ein Problem sehen? Warum ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ein Problem? usw.

WELTBILD UND ZIELVORSTELLUNGEN

Offensichtlich setzt das Sprachspiel ‚Problem‘ voraus, dass die Beteiligten als Teil ihres jeweiligen Weltbildes bestimmte ‚Zielvorstellungen‚ haben, die für sie als ‚erstrebenswert‘ gelten, und im Lichte dieser Zielvorstellungen kann dann eine bestimmte Sachlage als ‚Problem‘ klassifiziert werden. So z.B.: Wenn man die Einbindung der Bürger innerhalb einer Kommune als erstrebenswert ansieht (Begründung?), dann kann man eine mangelnde Einbindung als ‚Problem‘ klassifizieren; wenn hinreichend verfügbarer bezahlbarer Wohnraum als erstrebenswert angesehen wird (Begründung?), dann kann man den Mangel als Problem klassifizieren. Und analog in all den anderen Fällen.

Was sich schon in diesen wenigen Beispielen andeutet, ist die Notwendigkeit, dass man zur Diagnose von Problemen über ‚erstrebenswerte Zielvorstellungen‘ verfügt, die auch von den anderen Beteiligten geteilt werden.

Wie diese ersten Beispiele aber auch zeigen, kann man nicht unterstellen, dass alle Beteiligten tatsächlich über eine Zielvorstellungen verfügen und falls doch, dass diese bei allen Beteiligten gleich sind.

So ist das Wort Bürgerbeteiligung in vieler Munde, man kann aber wenig konkrete Maßnahmen erkennen, die dies real unterstützen. Fachabteilungen in Kommunen sind einer Bürgerbeteiligung gegenüber tendenziell eher ablehnend, weil es die Arbeit ‚verkompliziert‘. Über hinreichend viel bezahlbaren Wohnraum wird seit Jahren diskutiert, seit Jahren aber tut sich nichts. Die Zerstörung von Lebensräumen von bestimmten Tierarten wird von Naturschützern angeklagt, aber viele handelnde Gruppierungen interessiert dies nicht. Fehlleistungen des Verfassungsschutzes (im Bund und auf Landesebene) werden immer wieder diagnostiziert, aber diese öffentliche Kritik zeigt bislang keine erkennbare Wirkung. Die einen ziehen aus den bisherigen Erkenntnissen zur Klimaänderung bestimmte Schlüsse (z.B. für den ganzen Bereich Verkehr, Mobilität), andere sehen dies als überzogen und unrealistisch an. Und so weiter.

Schon beim Aufsammeln von Problembeschreibungen stößt man also auf eine nicht einfache Problematik: die Ausgangslage für die Problemfeststellung liegt in den jeweiligen Weltbildern der Beteiligten, und dort insbesondere im Bereich der ‚erstrebenswerten Zielvorstellungen‘. Setzt man diese ‚erstrebenswerten Zielvorstellungen‘ ‚absolut‘, dann gibt es harte, unversöhnliche Fronten.

Andererseits, Weltbilder und erstrebenswerte Zielvorstellen sind nicht angeboren sondern resultieren aus Interaktionen des einzelnen mit seiner Lebenswelt. Im allgemeinsten Sinne kann man dies ‚Lernen‚ nennen: die Aneignung von Vorstellungen über die Welt, mit Hilfe deren man sich die Welt ‚erklärt‚ und mit deren Hilfe man sein Verhalten ‚orientiert‚.

Grundsätzlich kann man also immer versuchen, die eigene gelernte Sicht der Welt auf den Tisch zu legen und dabei deutlich machen, warum man bestimmte Ansichten für erstrebenswert hält.

FAKTOR MOTIVATION

Der Faktor Weltbild inklusive möglicher Zielvorstellungen ist im Alltag allerdings nur ein Faktor. Zusätzlich wirksam sind noch viele psychische Faktoren, die hier aus Sicht des Verhaltens zusammenfassend angenommen werden als ‚Motivation‚, also jene internen subjektiven Faktoren, die einen Menschen dazu bringen, sich eher einer Sache ‚zuzuwenden‘, sie ‚aktiv zu betreiben‘, oder, ganz im Gegenteil, sich ‚zu verschließen‘, eine ‚ablehnende Haltung‘ einzunehmen, eine Mitwirkung ‚zu verweigern‘.

Überall dort, wo es gilt, gemeinsame Entscheidungen zu fällen, ist neben allen Arten von Argumenten für oder gegen eine Sache immer auch die Motivation der einzelnen im Spiel. Direkt oder indirekt unterstützen sie den Prozess positiv oder blockieren ihn negativ. Rationale Argumente alleine reichen oft nicht aus, die motivationalen Faktoren zu beeinflussen.

Die Faktoren, die eine Motivation beeinflussen können, sind äußerst vielfältig, in der heutigen Forschung nur partiell geklärt, und können von Person zu Person, von Situation zu Situation fast beliebig variieren. Persönliche Vorlieben, persönliche Erlebnisse, Sympathie und Antipathie, Einbindung in Milieus mit bestimmten fixierten Rollen oder speziellen Werten, und vieles mehr. Ein unbeliebtes Beispiel: wenn ein Politiker bestimmten Lobbyisten nahe steht, deren konkrete wirtschaftliche Interessen durch Bürgerinteressen betroffen sind, wird es für die Bürger schwer, sich politisch Gehör zu verschaffen.

OHNE KOMMUNIKATION GEHT NICHTS

Sollte jemand über genügend Wissen verfügen (was praktisch nie der Fall ist, weil man als Spezialist viele andere Spezialisten benötigt) und sollte jemand zugleich auch noch motiviert sein, sein Wissen wirksam einzusetzen (keinesfalls selbstverständlich, nicht für alle denkbaren Situationen), wird es zusätzlich notwendig sein, mit all jenen Menschen in Verbindung zu treten, die für eine Lösung des Problems wichtig sind. Das geht nicht ab ohne Kommunikation. Überwiegend wird diese Kommunikation eine sprachliche Kommunikation sein, oft zusätzlich unterstützt durch Bilder, Videos, Pläne, Modelle, und vieles mehr.

Kommunikation ist nicht einfach. Nicht nur, dass man überhaupt in der Lage sein sollte vor und mit anderen sinnvoll sprechen zu können, man muss auch alle wichtige Punkte durch die Kommunikation dem anderen verständlich machen. Jeder, der spezielle Ausbildungen durchlaufen hat (was letztlich schon in der Schule beginnt), weiß, dass es oft viele Monate, Jahre, oder gar Jahrzehnte an Lernen und Praxis braucht, um gewisse Wissensgebiete zu verstehen und sie zur Anwendung bringen zu können. Fachgespräche sind hier nur mit solchen Menschen möglich, die eine ähnliche Ausbildung durchlaufen haben und ähnliche Expertise anhäufen konnten. Was aber, wenn solch eine Experte von Gebiet A auf einen Nicht-Experten trifft (z.B. einen Stadtverordneten) oder auf einen Experten auf Gebiet B? Eine solche Kommunikation kommt nicht wirklich zustande, oder verläuft pro forma, oder aber, ist man ernsthaft an wirklichem Verstehen interessiert, man nimmt sich füreinander hinreichend viel Zeit.

In einer Welt wie der unseren, ist aber Zeit ein äußerst knappes Gut geworden. Ich selbst habe es über Jahre erlebt, dass wir zwar einen interdisziplinären, viele Fachbereiche und Disziplinen übergreifenden Studiengang gründen durften, aber die geltenden Kapazitätspläne, die festlegen, wie viel Zeit ein Lehrender für eine bestimmte Zahl von Studierenden aufwenden darf, sehen nicht vor, dass Lehrende aus verschiedenen Disziplinen natürlich einen erheblich höheren Zeitbedarf für die Vorbereitung, Abstimmung und Nachbereitung benötigen, da sie sich ja auch mit den verschiedenen Wissenshorizonten ihrer Kollegen-innen auseinander setzen müssen. Bei einem Lehrdeputat, das sowieso schon grenzwertig ist, führen daher freiwillige zusätzliche Kommunikationszeiten zu einer erheblichen Mehr- und letztlich grenzwertigen Belastung. Dabei ist diese individuelle Belastung ja gar nicht das zentrale Problem, sondern die Möglichkeit, einen pädagogisch und wissenschaftlich vertretbaren Konsens herzustellen (eine ähnliche Situation findet sich heute in vielen Schulen, wo durch Inklusion und erhöhten Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund die Anforderungen an das Lehrpersonal sehr gestiegen ist, ohne dass dafür von Kultusministerien zusätzlich hinreichende Unterstützungen bereitgestellt wurden).

Während also der Aufwand an Kommunikation erheblich steigt, wenn die Zahl der Beteiligten und die Anzahl der unterschiedlichen Wissenskulturen zunimmt, wird die Zeit für Prozesse konträr eher immer knapper, was die Prozessqualität unausweichlich verschlechtert.

SIMULIERTES DENKEN

Angesichts der wachsenden Komplexität von Sachverhalten und der Zunahme an unterschiedlichen Erfahrungswerten, die die einzelnen Personen in einem Problemlösungsprozess einbringen, hat sich im Bereich des Engineering schon seit Jahrzehnten durchgesetzt, dass man das versammelte Wissen zum Problem in Form von ‚Simulationen‚ für alle in gewisser Weise sichtbar macht. In besonderen Kontexten benutzt man sogar ‚interaktive Simulationen‚, die es erlauben, dass der einzelne direkte eigene Erfahrungen sammeln kann, wie das System, die Umgebung, die anderen Beteiligten, auf die eigenen Handlungen reagieren (plakative Beispiele: Flugsimulator, Autosimulator, Schiffssimulator). Die Komplexität heutiger Anwendungen und Situationen erlauben es nicht mehr, dass man alle Eventualitäten rein gedanklich ‚vorweg nimmt‘.

Lange Zeit waren solche Simulationen vornehmlich bei den Ingenieuren zu Hause. Militärische Manöver, Unternehmensspiele oder vielfältige Rollenspielszenarien verdeutlichen aber, dass Simulationen nicht auf rein technische Anwendungen beschränkt sein müssen. Und wenn heute (laut Statistik) im Jahr 2018 ca. 40 Mio Bundesbürger regelmäßig Computerspiele spielen (auch jenseits der 50!), online, auch in Teams mit anderen, dann zeigt dies, das das Format ‚interaktive Simulation‘ ein sehr allgemeines, leistungsfähiges Lern- und Kommunikationsformat ist.

Umso erstaunlicher ist es, dass dieses Format seinen Weg noch nicht in den Bereich von allgemeinen Kommunikations- und Problemlösungsverfahren (Planungsverfahren) gefunden hat.

NUR DREI SIND EINS

So grob die bisherige Systematik erscheint, die Faktoren Wissen (Erfahrung), Motivation und Kommunikation sind alle drei bis zu einem gewissen minimalen Grad notwendig, damit ein einzelner zu einem konstruktiven Prozess beitragen kann. Mangelndes Wissen kann prinzipiell mit Hilfe von Motivation und Kommunikation ‚aktiviert‘ werden; mangelnde Kommunikation kann auch mit Hilfe von Motivation und Wissen ‚aktiviert‘ werden; Mangelnde Motivation jedoch ist sehr schwer ‚aktivierbar‘. Dabei erscheint der Faktor Motivation der wichtigste und zugleich heikelste Faktor von allen dreien zu sein. Das ‚Aktivieren‘ eines Faktors, das heißt der nachträgliche ‚Erwerb‘ von Wissen oder Kommunikationsfähigkeit – oder auch Motivation — ist prinzipiell möglich, erfordert aber echte Anstrengungen und real Zeit, ohne Erfolgsgarantie.

FORTSETZUNG

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Populismus – Kultur der Freiheit – Ein Rezept?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 24.März 2019
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

In einem Beitrag vom 7.Februar 2019 hatte ich mir die Frage gestellt, warum sich das alltägliche Phänomen des Populismus nahezu überall in allen Kulturen, in allen Bildungsschichten — eigentlich auch zu allen Zeiten — mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit findet, die einem Angst und Bange machen kann. Und gerade in der Gegenwart scheinen wir geradezu wieder eine Hochblüte zu erleben. In diesem ersten Beitrag hatte ich einige Faktoren angesprochen, die unser normales menschliches Lern- und Sozialverhalten charakterisieren und die genügend Anhaltspunkte liefern, um eine erste ‚Erklärung‘ dafür zu geben, warum das Auftreten populistischer Tendenzen keine Überraschung ist, sondern eben genau in den Strukturen unserer personalen Strukturen als grundlegende Überlebensstrategie angelegt sind. In einem Folgebeitrag am 11.Februar 2019 habe ich diese Gedanken ein wenig weiter verfolgt. Auf die Frage, wie man der starken Verhaltenstendenz des Populismus gegensteuern könnte, habe ich versucht, anhand der Hauptfaktoren des alltäglichen Lernens und der Gruppenbildungen Ansatzpunkte zu identifizieren, die normalerweise die Bildung populistischer Meinungsbilder begünstigen bzw. deren Modifikation dem möglicherweise entgegen wirken könnte. Durch zahlreiche Gespräche und Veranstaltungen der letzten Wochen haben sich die Themen für mich weiter entwickelt bis dahin, dass auch erste Ideen erkennbar sind, wie man den starken Verhaltenstendenzen in jedem von uns möglicherweise entgegen wirken könnte. Gegen Verhaltenstendenzen zu arbeiten war und ist immer sehr herausfordernd.

POPULISMUS – Eine Nachbemerkung

Bislang wird das Thema ‚Populismus‘ in der Öffentlichkeit tendenziell immer noch wie eine ‚religiöse‘ Frage behandelt, stark versetzt mit ‚moralischen Kategorien‘ von ‚gut‘ und ‚böse‘, mit starken Abgrenzungen untereinander, vielfach fanatisch mit der Bereitschaft, diejenigen mit der ‚anderen Meinung‘ zu bekämpfen bis hin zur ‚Ausrottung‘. Diese Meinungen verknüpfen sich mit Ansprüchen auf politische Macht, oft mit autoritären Führungsstrukturen. Die Frage nach Transparenz und Wahrheit spielt keine zentrale Rolle. Und, falls man zu einer Meinungsgruppe gehört, die ‚anders‘ ist, versteht man selten, warum die einen jetzt so unbedingt von Meinung A überzeugt sind, weil man selbst doch eher B oder C favorisiert. Das verbal aufeinander Einschlagen und das Demonstrieren mit Gegenparolen ändert an den grundlegenden Meinungsunterschieden wenig; es fördert möglicherweise eher die Abgrenzung, verhärtet die Fronten.

Dies alles ist nicht neu; die vielen blutigen Religionskriege in der Vergangenheit sind nur ein Beispiel für das Phänomen gewalttätiger Populismen; viele weitere Beispiele liesen sich anführen.

Die Tatsache, dass wir heute, im Jahr 2019, nach vielen tausend Jahren Geschichte mit einer unfassbaren Blutspur hervorgebracht durch Meinungsunterschiede, verteufelnden Abgrenzungen, Schlechtreden ‚der Anderen‘, immer noch, und zwar weltweit (!), in diese Muster zurückfallen, ist ein sehr starkes Indiz dafür, dass die Ursachen für diese Verhaltensmuster tief in der menschlichen Verhaltensdynamik angelegt sein müssen. Bei aller Freiheit, die jedem biologischen System zukommt und dem Menschen insbesondere, scheint es genügend Faktoren zu geben, die die Weltbilder in den Köpfen der Menschen in einer Weise beeinflussen, dass sie im großen Maßstab Bilder von der Welt — und darin auch von den anderen und sich selbst — in ihren Köpfen mit sich herumtragen, die sie in maschinenhafte Zombies verwandeln, die sie daran hindern, die Differenziertheit der Welt wahr zu nehmen, komplexe dynamische Prozesse zu denken, mit der Vielfalt und der Dynamik von biologischem Leben, ökologischen und technischen Systemen nutzbringend für das Ganze umzugehen.

Viele kluge Leute haben dazu viele dicke Bücher geschrieben und es kann hier nicht alles ausgerollt werden.

Dennoch wäre eine sachliche Analyse des Populismus als einer starken Verhaltenstendenz äußerst wichtig als Referenzpunkt für Strategien, wie sich die Menschen quasi ‚vor sich selbst‘, nämlich vor ihrer eigenen, tief sitzenden Tendenz zum Populismus, schützen könnten.

Eine Antwort kann nur in der Richtung liegen, dass die jeweilige Gesellschaft, innerhalb deren die Menschen ihr Leben organisieren, in einer Weise gestaltet sein muss, dass sie die Tendenzen zur Vereinfachung und zur überdimensionierten Emotionalisierung im Umgang miteinander im alltäglichen Leben gegen steuern. Für eine angemessene Entwicklung der grundlegenden Freiheit, über die jeder Mensch in einer faszinierenden Weise verfügt, müssten maximale Anstrengungen unternommen werden, da die Freiheit die kostbarste Eigenschaft ist, die die Evolution des Lebens als Teil der Evolution des ganzen bekannten Universums bis heute hervorgebracht hat. Ohne die Nutzung dieser Freiheit ist eine konstruktive Gestaltung der Zukunft im Ansatz unmöglich.

KULTUR DER FREIHEIT – Eine Nachbemerkung

In dem erwähnten Beitrag vom 11.Februar 2019 hatte ich erste Gedanken vorgestellt, welche Faktoren sich aus dem Geschehen der biologischen Evolution heraus andeuten, die man berücksichtigen müsste, wollte man das Geschenk der Freiheit gemeinsam weiter zum Nutzen aller gestalten.

Neben der Dimension der Kommunikation, ohne die gar nichts geht, gibt es die fundamentale Dimension der jeweiligen Präferenzen, der ‚Bevorzugung von Zuständen/ Dingen/ Handlungen …, weil man sich von ihnen mehr verspricht als von möglichen Alternativen.

KOMMUNIKATION

Obwohl die Menschen allein in den letzten 100 Jahren viele neue Technologien entwickelt haben, die den Austausch, den Transport von Kommunikationsmaterial hinsichtlich Menge und Geschwindigkeit dramatisch gesteigert haben, ist damit das zugehörige Verstehen in den Menschen selbst nicht schneller und tiefer geworden. Die Biologie des menschlichen Körpers hat sich nicht parallel zu den verfügbaren Technologien mit entwickelt. Auf diese Weise entstehen völlig neue Belastungsphänomene: zwar kann der Mensch noch wahrnehmen, dass es immer schneller immer mehr gibt, aber diese Überflutung führt nur begrenzt zu mehr Verstehen; überwiegend macht sich heute in dieser Situation ein wachsendes Ohnmachtsgefühl breit, eine Hilflosigkeit, in der nicht erkennbar ist, wie man als einzelner damit klar kommen soll. Die gleichzeitige Zunahme von ‚falschen Nachrichten‘, ‚massenhaften Manipulationen‘ und ähnlichen Phänomenen tut ihr Übriges, um in den Menschen das Gefühl zu verstärken, dass ihnen der Boden unter den Füßen gleichsam weggezogen wird. Wenn sich dann selbst in offiziellen demokratischen Gesellschaften Politiker (und Teile der Verwaltung oder Staatstragenden Institutionen) diesem Stil des Verbergens, Mauerns, geheimer Absprachen und dergleichen mehr anzuschließen scheinen, dann gerät das gesellschaftliche Referenzsystem ganz gefährlich ins Schwimmen. Was kann der einzelne dann noch tun?


PRÄFERENZEN (WERTE)

Der andere Faktor neben der aktuell mangelhaften Kommunikation sind die Präferenzen, nach denen Menschen ihr Lernen und Handeln ordnen. Ohne irgendwelche Präferenzen geht gar nichts, steht jedes System auf der Stelle, dreht sich im Kreis.

Ein Teil unserer Präferenzen ist in unserem Verhalten angelegt als unterschiedliche starke Tendenz eher A als B zu tun. Andere Präferenzen werden innerhalb gesellschaftlicher Systeme durch Mehrheiten, privilegierten Gruppen oder irgendwelche andere Mechanismen ausgezeichnet als das, was in der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppierung gelten soll (im Freundeskreis, in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz, im Strafgesetz, in einer religiösen Vereinigung, …). Zwischen den gesellschaftlich induzierten Normen und den individuellen Verhaltenstendenzen gibt es unterschiedlich viele und unterschiedliche starke Konflikte. Ebenso wissen wir durch die Geschichte und die Gegenwart, dass es zwischen den verschiedenen gesellschaftlich induzierten Präferenzsystemen immer mehr oder weniger starke Konflikte gab, die alle Formen von möglichen Auseinandersetzungen befeuert haben: zwischen kriegerischer Totalausrottung und wirtschaftlich-kultureller Vereinnahmung findet sich alles.

Der Sinn von Präferenzen ist schlicht, dass sich Gruppen von Menschen einigen müssen, wie sie ihre Fähigkeiten am besten ordnen, um für alle einen möglichst großen Nutzen in der jeweiligen Lebenswelt zu sichern.

Der eine Bezugspunkt für diese Regeln ist die Lebenswelt selbst, die sogenannte Natur, die heute mehr und mehr von technologischen Entwicklungen zu einer Art Techno-Natur mutiert ist und — das wird gerne übersehen — zu der der Mensch gehört! Der Mensch ist nicht etwas Verschiedenes oder Getrenntes von der Natur, sondern der Mensch ist vollständig Teil der Natur. Im Menschen werden Eigenschaften der Natur sichtbar, die ein besonderes Licht auf das ‚Wesen‘ der Natur werfen können, wenn man es denn überhaupt wissen will. Der andere Bezugspunkt ist die Welt der Bilder in den Köpfen der Beteiligten. Denn was immer man in einer Lebenswelt tun will, es hängt entscheidend davon ab, was jeder der Beteiligte in seinem Kopf als Bild von der Welt, von sich selbst und von den anderen mit sich herum trägt.

An diesem Punkt vermischt sich die Präferenz-/Werte-Frage mit der Wissensfrage. Man kann beide nicht wirklich auseinander dividieren, und doch repräsentieren die Präferenzen und das Weltwissen zwei unterschiedliche Dimensionen in der Innendynamik eines jeden Menschen.

EIN EPOCHALER WENDEPUNKT?

Fasst man die bisherigen ‚Befunde‘ zusammen, dann zeichnet sich ein Bild ab, dem man eine gewisse Dramatik nicht absprechen kann:

  1. In der Kommunikationsdimension hat sich eine Asymmetrie aufgebaut, in der die Technologie die Menge und die Geschwindigkeit des Informationsmaterials in einer Weise intensiviert hat, die die biologischen Strukturen des Menschen vollständig überfordern.
  2. In der Präferenzdimension haben wir eine mehrfache Explosion im Bereich Komplexität der Lebenswelt, Komplexität der Präferenzsysteme, Komplexität der Weltbilder.
  3. Die Anforderungen an mögliche ‚praktische Lösungen‘ steigen ins ‚gefühlt Unermessliche‘, während die Kommunikationsprozesse, die verfügbaren Weltbilder und die verfügbaren Präferenzen sich immer mehr zu einem ‚gefühlten unendlichen Komplexitätsknäuel‘ verdichten
  4. Alle bekannten Wissenstechnologien aus der ‚Vergangenheit (Schulen, Bücher, Bibliotheken, empirische Wissenschaften, …) scheinen nicht mehr auszureichen. Die Defizite sind täglich immer mehr spürbar.

WAS BEDEUTET DIES FÜR EINE MÖGLICHE NEUE STRATEGIE?

Obwohl die soeben aufgelisteten Punkte nur als eine sehr grobe Charakterisierung der Problemlage aufgefasst werden können, bieten sie doch Anhaltspunkte, in welcher Richtung man suchen sollte.

Ich deute die Asymmetrie zwischen der technologisch ermöglichten Turbo-Daten-Welt und dem individuellen Gehirn mit seiner nenschentypischen Arbeitsweise als eine Aufforderung, dass man die Verstehensprozesse auf Seiten des Menschen deutlich verbessern muss. Wenn jemand über ein — bildhaft gesprochen — ‚Schwarz-Weiß‘ Bild der Welt verfügt, wo er doch ein ‚Vielfarbiges‘ Bild benötigen würde, um überhaupt wichtige Dinge erkennen zu können, dann muss man bei den Bildern selbst ansetzen. Wie kommen sie zustande? Was können wir dazu beitragen, dass jeder von uns die Bilder in den Kopf bekommt, die benötigt werden, wollen wir gemeinsame eine komplexe Aufgabe erfolgreich bewältigen? Einzelne Spezialisten reichen nicht. Ein solcher würde als Einzelgänger ‚veröden‘ oder — viel wahrscheinlicher — auf lange Sicht von der Mehrheit der anderen als ‚Verrückter‘ und ‚Unruhestifter‘ ‚ausgestoßen‘ werden.

Vom Ende her gedacht, von der praktisch erwarteten Lösung, muss es möglich sein, dass die jeweilige gesellschaftliche Gruppe in der Lage ist, gemeinsam ein Bild der Welt zu erarbeiten, das die Gruppe in die Lage versetzt, aktuelle Herausforderungen so zu lösen, dass diese Lösung noch in einem überschaubaren Zeitabschnitt (wie viele Jahre? Auch noch für die Enkel?) funktionieren. Dies schließt eine sachliche Funktion genauso ein wie die Übereinstimmung mit jenen Präferenzen, auf sich die Gruppierung zu Beginn geeinigt hat.

Die Ermöglichung hinreichend leistungsfähiger Bilder von der Welt in allen Beteiligten verlangt auf jeden Fall einen Kommunikationsprozess, bei dem alle Beteiligten aktiv mitwirken können. Nun kennen wir in demokratischen Gesellschaften heute die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligungen aus vielen politischen Bekundungen und auch von zahllosen realen Initiativen. Die reale Auswirkung auf die Politik wie auch die Qualität dieser Beteiligungen ist bislang — in meiner Wahrnehmung — nicht sehr groß, meistens sehr schlecht, und auch eher folgenlos. Diese Situation kann auch die gefühlte Ohnmacht weiter verstärken.

EINE PARALLELWELT – Bislang ungenutzt

Bei der Frage, was kann man in dieser Situation tun, kann es hilfreich sein, den Blick vom ‚alltäglichen politischen Normalgeschehen‘ mal in jene Bereiche der Gesellschaft zu lenken, in denen es — unbeachtet von der öffentlichen Aufmerksamkeit und den Mainstream-Medien — weltweit eine Gruppe von Menschen gelingt, täglich die kompliziertesten Aufgaben erfolgreich zu lösen. Diese Menschen arbeiten in Gruppen von 10 bis 10.000 (oder gar mehr), sprechen viele verschiedene Sprachen, haben ganz unterschiedliches Wissen, arbeiten parallel in verschiedenen Ländern und gar auf verschiedenen Kontinenten in unterschiedlichen Zeitzonen, und errichten riesige Bauwerke, bauen riesige Flugzeuge, Raketen, ermöglichen die Arbeit von riesigen Fabriken, bauen eine Vielzahl von Autos, bauen tausende von Kraftwerken, immer komplexere Datennetzwerke mit Rechenzentren und Kontrollstrukturen, Roboter, und vieles, vieles mehr …

Was von außen vielleicht wie Magie wirken kann, wie ein Wunder aus einer anderen Welt, entpuppt sich bei näherem Zusehen als ein organisiertes Vorgehen nach transparenten Regeln, nach eingeübten und bewährten Methoden, in denen alle Beteiligten ihr Wissen nach vereinbarten Regeln gemeinsam ‚auf den Tisch‘ legen, es in einer gemeinsamen Sprache tun, die alle verstehen; wo alles ausführlich dokumentiert ist; wo man die Sachverhalte als transparente Modelle aufbaut, die alle sehen können, die alle ausprobieren können, und wo diese Modelle — schon seit vielen Jahren — immer auch Simulierbar sind, testbar und auch ausführlich getestet werden. Das, was am Ende eines solche Prozesses der Öffentlichkeit übergeben wird, funktioniert dann genauso, wie geplant (wenn nicht Manager und Politiker aus sachfremden Motiven heraus, Druck ausüben, wichtige Regel zu verletzten, damit es schneller fertig wird und/ oder billiger wird. Unfälle mit Todesfolgen sind dann nicht auszuschließen).

Normalerweise existiert die Welt des Engineerings und die soziale und politische Alltagswelt eher getrennt nebeneinander her, wenn man sie aber miteinander verknüpft, kann sich Erstaunliches ereignen.

KOMMUNALPLANUNG UND eGAMING

Bei einem Kongress im April 2018 kam es zu einer denkwürdigen Begegnung zwischen Städteplanern und einem Informatiker der UAS Frankfurt. Aus dem Kongress ergab sich eine erste Einsicht in das Planungsproblem von Kommunen, das schon bei ‚kleinen‘ Kommunen mit ca. 15.000 Einwohner eigentlich alle bekannten Planungsmethoden überfordert. Von größeren Gebilden, geschweige denn ‚Mega-Cities‘, gar nicht zu reden.

Mehrere Gespräche, Workshops und Vorträge mit Bürgern aus verschiedenen Kommunen und Planungseinheiten von zwei größeren Städten ermöglichten dann die Formulierung eines umfassenden Projektes, das von Mai – August 2019 einen realen Testlauf dieser Ideen ermöglicht.

Aus nachfolgenden Diskussionen entstand eine erste Vision unter dem Titel Kommunalplanung und eGaming , in der versuchsweise die Methoden der Ingenieure auf das Feld der Kommunalplanung und der Beteiligung der Bürger angedacht wurde. Es entstand eine zwar noch sehr grobe, aber doch vielseitig elektrisierende Vision eines neuen Formates, wie die Weisheit der Ingenieure für die Interessen der Bürger einer Kommune nutzbar gemacht werden könnte.

REALWELT EXPERIMENT SOMMER 2019

Im Rahmen einer alle Fachbereiche übergreifenden Lehrveranstaltung haben Teams von Studierenden die Möglichkeit (i) die ingenieurmäßigen Methoden kennen zu lernen, mit denen man Fragestellungen in einer Kommune ausgehend von den Bürgern (!) analysieren kann; (ii) mit diesen Fragestellungen können dann — immer auch in Absprache mit den Bürgern — Analysemodelle erarbeitet werden, die dann — unter Klärung möglicher Veränderbarkeit — zu (interaktiven) Simulationsmodellen erweitert werden. Diese lassen sich dann (iii) mit allen Beteiligten durchspielen. Dadurch eröffnen sich Möglichkeiten des direkten ‚Erfahrungsaustausches zwischen Studierenden und Bürgern und ein gemeinsames Lernen, was die Wirklichkeit einer Stadt ist und welche Potentiale eine solche Kommune hat. Insbesondere eröffnet solch ein Vorgehen auch Einsichten in vielfältige Wechselwirkungen zwischen allen Faktoren, die ohne diese Methoden völlig unsichtbar blieben. In nachfolgenden Semestern soll noch die wichtige Orakelfunktion hinzugefügt werden.

Parallel zum Vorlesungsgeschehen bereitet ein eigenes Software-Team eine erste Demonstrationssoftware vor, mit der man erste Analysemodelle und Simulationsmodelle erstellen kann, um — auch interaktive — Simulationen vornehmen zu können. Wenn alles klappt, würde diese Juni/ Juli zur Verfügung stehen.

AUSBLICK

Vereinfachend — und vielleicht auch ein wenig überspitzt polemisch — ausgedrückt, kann man sagen, dass in diesem Projekt (vorläufige Abkürzung: KOMeGA) das Verhältnis zwischen Menschen und digitaler Technologie umgekehrt wird: während bislang die Menschen mehr und mehr nur dazu missbraucht werden, anonyme Algorithmen zu füttern, die globalen Interessen dienen, die nicht die des einzelnen Bürgers sind, wird hier die Technik den Interessen der Bürger vollständig untergeordnet. Die Technologie hat einzig die Aufgabe, den Bürgern zu helfen ihr gemeinsames Wissen über die Kommune :

  • zu klären
  • sichtbar zu machen
  • auszuarbeiten
  • durch zuspielen
  • zu verbessern
  • nach Regeln, die die Bürger selbst formulieren
  • für alle transparent
  • jederzeit änderbar
  • rund um die Uhr über das Smartphone abrufbar
The power of the future is your freedom … breaking the chains of the colonization of your mind …

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Relektüre von Edelman 1992: Welche Theorie von was?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 5.Dez. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

 

DAS PROBLEM

Bei der Relektüre von Edelman (siehe Überblick über alle bisherigen Beiträge HIER) stellt sich die Frage, um welche Theorie es hier überhaupt geht?

Es ist ein großes Verdienst von Edelman, dass er versucht, die Gehirnforschung nicht isoliert zu betrachten, sondern sehr wohl im Kontext von Bewusstsein und Verhalten, sehr wohl auch im Kontext einer Evolution des Lebens bzw. auch im Kontext von ontogenetischen Wachstumsprozessen. Als wäre dies noch nicht genug, stellt er gelegentlich auch explizite philosophische Überlegungen an oder wagt sich vor in den Bereich des Engineering, insofern er konkrete materielle Modelle von Gehirnen baut (mittels künstlicher neuronaler Netze), um die Plausibilität seiner Überlegungen zum Gehirn zu überprüfen. Nimmt man all dies ernst, dann findet man sich unversehens in einer Situation wieder, wo man nicht mehr so richtig weiß, um ‚welche Theorie von was‘ es hier eigentlich geht.

PANORAMA VON PHÄNOMENEN

Vom BigBang zum homo sapiens, reflektiert in einer Vielzahl von Einzelwissenschaften
Vom BigBang zum homo sapiens, reflektiert in einer Vielzahl von Einzelwissenschaften

Versucht man die vielen Aspekte irgendwie zu ‚ordnen‘, die im Buch von Edelman aufscheinen, dann eröffnet sich ein breites Panorama von Phänomenen, die alle ineinander greifen (siehe Schaubild), und die – strenggenommen – auch genauso, in diesem dynamischen Zusammenhang, zu betrachten sind, will man die Eigenart dieser Phänomene ‚voll‘ erfassen.

Eigentlich geht es Edelman um ein besseres Verständnis des ‚Gehirns‘. Doch kommt das Gehirn ja schon im Ansatz nicht alleine, nicht isoliert vor, sondern als Teil eines übergeordneten ‚Körpers‘, der von außen betrachtet (Dritte-Person Perspektive) ein dynamisches ‚Verhalten‘ erkennen lässt. Dieses Verhalten ist – im Fall des homo sapiens, also in unserem Fall als Menschen – nicht isoliert, sondern ist sowohl durch ‚Kommunikation‘ mit anderen Menschen ‚vernetzt‘ als auch durch vielfältige Formen von Interaktionen mit einer Welt der Objekte, von Artefakten, von Maschinen, und heute sogar ‚programmierbaren Maschinen‘, wobei letztere ein Verhalten zeigen können, das zunehmend dem menschliche Verhalten ‚ähnelt‘. Ferner konstatieren wir im Fall des homo sapiens in der Ersten-Person Perspektive noch etwas, das wir ‚Bewusstsein‘ nennen, das sich aber nur schwer in seiner Beschaffenheit kommunizieren lässt.

WISSENSCHAFTLICHE DISZIPLINEN

Im Versuch, die Vielfalt der hier beobachtbaren Phänomene beschreiben zu können, hat sich eine Vielzahl von Disziplinen herausgebildet, die sich — neben der Sonderstellung der Philosophie — als ‚wissenschaftliche Disziplinen‘ bezeichnen. ‚Wissenschaftlich‘ heißt hier in erster Linie, dass man die Phänomene des Gegenstandsbereichs nach zuvor vereinbarten Standards reproduzierbar ‚misst‘ und man nur solche so vermessenen Phänomene als Basis weitergehender Überlegungen akzeptiert. Das Paradoxe an dieser Situation ist – was Edelman auf S.114 auch notiert –, dass sich dieses wissenschaftliche Paradigma nur umsetzen lässt, wenn man Beobachter mit Bewusstsein voraussetzt, dass man aber zugleich im Ergebnis der Messung und der Überlegungen von dem ermöglichenden Bewusstsein (samt Gehirn) abstrahiert.

PHILOSOPHIE FÜR DEN ‚REST‘

Eine Konsequenz dieser ‚Abstraktion von den Voraussetzungen‘ ist, dass ein Wissenschaftler letztlich keine Möglichkeit hat, in ‚offizieller‘ Weise, über sich selbst, über sein  Tun, und speziell auch nicht über die Voraussetzungen seines Tuns, zu sprechen. Ein solches sich selbst reflektierende Denken und Sprechen bleibt damit der Philosophie überlassen, die als solche bei der Entstehung der empirischen Wissenschaften offiziell vom Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen wurde. Als Wissenschaftsphilosophie hat die Philosophie zwar immer wieder versucht, sich dem empirischen Wissenschaftsbetrieb offiziell anzunähern, aber bis heute ist das Verhältnis von empirischen Wissenschaften und (Wissenschafts-)Philosophie aus Sicht der empirischen Wissenschaften ungeklärt. Für die empirischen Wissenschaften wundert dies nicht, da sie sich von ihrem methodischen Selbstverständnis her auf ihre isolierte Betrachtungsweisen verpflichtet haben und von diesem Selbstverständnis her sich jeder Möglichkeit beraubt haben, diese Isolation mit den typischen wissenschaftlichen Bordmitteln aufzubrechen. Allerdings produziert dieses ’selbst isolierende Paradigma‘ immer mehr Einzeldisziplinen ohne erkennbaren Zusammenhang! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wann sich diese Explosion der nicht-integrierten Einzelbilder selbst zerstört.

ANSPRUCH, ALLES ZU ERKLÄREN

Die Wissenschaften selbst, allen voran die Physik, kennen sehr wohl den Anspruch, mit ihrer Arbeit letztlich ‚alles aus einer Hand‘ zu erklären (z.B. formuliert als ‚Theory of Everything (ToE)‘ oder mit dem Begriff der ‚Weltformel‘), doch sowohl die konkrete Realität als auch grundlegende philosophische und meta-theoretische Untersuchungen legen eher den Schluss nahe, dass dies vom Standpunkt einer einzelnen empirischen Wissenschaft aus, nicht möglich ist.

VISION EINES RATIONALEN GESAMT-RAHMENS

Um also die Vielfalt der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen zu bewahren, mehr noch, um sie in ihren inhaltlichen und methodischen Beschränkungen untereinander transparent und verständlich zu machen, wird man die (philosophische) Arbeitshypothese aufstellen müssen, dass die Rationalität der Einzelwissenschaften letztlich nur aufrecht erhalten werden kann, wenn man sowohl für jede Einzelwissenschaft wie auch für ihr Zusammenspiel eine rationale Begründung sichtbar machen kann, die für alle ‚gilt‘. Ein solcher Rationalitätsanspruch ist nicht zu verwechsel mit der alten Idee einer einzelwissenschaftlichen ‚Weltformel‘ oder einer einzelwissenschaftlichen ‚Theory of Everything‘. Eher eignet sich hier das Paradigma einer kritischen Philosophie von Kant, die nach der Voraussetzung für den Wahrheitsanspruch einer Theorie fragt. Während Kant allerdings die Frage nach den Voraussetzungen bei den Grenzen des Bewusstseins mangels verfügbarem Wissens enden lassen musste, können wir heute – auch Dank der Arbeiten von Edelman und anderen – diese Grenzen weiter hinausschieben, indem wir die Voraussetzungen des Bewusstseins einbeziehen. Eine solche bewusste Erweiterung der philosophischen Frage nach den Voraussetzungen des menschlichen Erkennens über die Grenzen des Bewusstseins hinaus führt dann nicht nur zum ermöglichenden Gehirn und dem zugehörigen Körper, sondern geht dann weiter zur umgebenden Welt und ihrer Dynamik, die sich im Evolutionsgeschehen und in der Entstehung des bekannten Universums zeigt.

PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFTEN

Die schon immer nicht leichte Aufgabe des philosophischen Denkens wird mit diesen methodischen Erweiterungen keinesfalls einfacher, sondern erheblich schwieriger. Andererseits muss die Philosophie diese Reflexionsarbeit nicht mehr alleine leisten, sondern sie kann die ganze Fülle der einzelwissenschaftlichen Arbeiten aufgreifen, um sie dann in einem gemeinsamen Rationalitätsrahmen neu anzuordnen.

Beispiele für Integrationsbemühungen gibt es sogar seitens der Einzelwissenschaften, wenngleich meistens methodisch wenig überzeugend. So versuchen Gehirnforscher schon seit vielen Jahren Zusammenhänge zwischen messbaren Aktivitäten des Gehirns und des beobachtbaren Verhaltens (unter dem Label ‚Neuropsychologie‘) oder zwischen messbaren Aktivitäten des Gehirns und Erlebnissen des Bewusstseins (kein wirkliches Label; man würde ‚Neurophänomenologie‘ erwarten) heraus zu finden. Bislang mit begrenztem Erfolg.

Bei aller Problematik im Detail kann es aber nur darum gehen, die ungeheure Vielfalt der Phänomene, wie sie die Einzelwissenschaften bislang zutage gefördert haben, vor-sortiert in einer Vielzahl von Arbeitshypothesen, Modellen und Theoriefragmenten, in einen von allen akzeptierbaren Rationalitätsrahmen einordnen zu können, der eine Gesamt-Theorie reflektiert, die als solche möglicherweise immer unvollendet bleiben wird

WOMIT FANGEN WIR AN?

Damit stellt sich ganz praktisch die Frage, wo und wie soll man anfangen? Das Buch von Edelman kann erste Hinweise liefern.

  1. KEINE WISSENSINSELN: Am Beispiel des homo sapiens wird deutlich, dass ein Verständnis von Bewusstsein, Gehirn, Körper, Verhalten und hier insbesondere die symbolische Kommunikation je für sich nicht gelingen kann. Und Edelman demonstriert eindrücklich, dass man zusätzlich die ontogenetische und evolutive Dimension einbeziehen muss, will man zu einem befriedigenden Verständnis kommen.
  2. INTEGRATION VON EINZELWISSEN: Man muss also Wege finden, wie man diese verschiedenen Aspekte in einem gemeinsamen Rationalitätsrahmen so anordnen kann, dass sowohl die einzelwissenschaftliche Methodik gewahrt bleibt, wie auch eine ‚Integration‘ all dieser Aspekte auf einer ‚gemeinsamen Ebene‘ möglich wird, die dabei von den Einzelwissenschaften nicht ‚isoliert‘ ist.
  3. META-WISSEN ALS LEITFADEN: Das geforderte Vorgehen betrachtet die konkreten einzelwissenschaftlichen Erklärungsansätze als einen ‚Gegenstand sui generis‘, macht also die Einzelwissenschaften zu ‚Untersuchungsgegenständen‘. Dies entspricht dem Paradigma der Wissenschaftsphilosophie.
  4. NEUE WISSENSCHAFTSPHILOSOPHIE: Mit Blick auf die Geschichte der modernen Wissenschaftsphilosophie (etwa seit dem Wiener Kreis) muss man dafür offen sein, dass das Paradigma der Wissenschaftsphilosophie für diese Aufgabenstellung möglicherweise neu zu formatieren ist.
  5. KOMMUNIKATIONSPROZESS ALS RAHMEN: So liegt es nahe, zu sagen, es gehe nicht primär um einen isolierten Theoriebegriff, sondern um einen Kommunikationsprozess, der Kommunikationsinhalte generiert, die im Rahmen des Kommunikationsprozesses ‚verstehbar‘ sein sollen.
  6. SYSTEMS-ENGINEERING ALS BEISPIEL: Ein modernes Beispiel für einen problemorientierten Kommunikationsprozess findet sich im Paradigma des modernen Systems-Engineering. Auslöser des Kommunikationsprozesses ist eine ‚Frage‘ oder eine ‚Problemstellung‘, und der Kommunikationsprozess versucht nun durch Ausnutzung des Wissens und der Erfahrungen von allen Beteiligten einen gemeinsames Bild von möglichen Lösungen zu generieren. Zu Beginn werden alle Kriterien kenntlich gemacht, die für die intendierte Lösung berücksichtigt werden sollen.
  7. EINBEZIEHUNG AUTOMATISIERTEN WISSENS: Insbesondere soll der Kommunikationsprozess so ausgelegt sein, dass er den Einsatz moderner Wissenstechnologien wie z.B.. ‚Interaktive Simulationen‘, ‚Kommunikationstests‘, ‚benutzerzentrierte künstliche Intelligenz‘, sowie automatisierte ‚Simulationsbibliotheken‘ erlaubt.

Dies ist nur eine erste, noch sehr vage Formulierung. Es wird notwendig sein, diese anhand von vielen Beispielen weiter zu konkretisieren und zu verfeinern.

 

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LUHMANN-1991-GESELLSCHAFT. Kap.1:I-II, Diskussion und Übersetzung

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
29.März 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

INHALT

I Evolutionäre Ausgangslage
I-A Ältere Blogeinträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I-B Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II Luhmann 1991: Vorwort 3
III Diskussion 4
IV Luhmann 1991 Kap.1: Bewusstsein und Kommunikation
IV-A Abschnitt I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV-A1 Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV-A2 Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . .
IV-A3 Gehirn – Nervensystem . . . . . . . . . . .
IV-B Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV-C Abschnitt II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV-C1 Systemtheorie, Autopoiesis . . . . . . . . .
IV-C2 Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV-C3 Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . .
Quellen

ÜBERBLICK

Im Rahmen des ’Wahrheitsprojektes’ gibt es den Bereich ’Individuum und Gesellschaft’. Dieser Bereich setzt historisch ein mit dem Auftreten des Homo sapiens und interessiert sich für eine formale Theorie des menschlichen Individuums innerhalb einer Population, eingebettet in eine Umwelt. In Ermangelung einer allgemein akzeptierten und funktionierenden allgemeinen formalen Theorie von Individuum und Gesellschaft wird hier Niklas Luhmann als Referenzpunkt gewählt. Er gilt u.a. als wichtiger (der wichtigste?) deutschsprachiger Vertreter der soziologischen Systemtheorie und der Soziokybernetik. Da Luhmann viele Bücher geschrieben hat muss man für den Start einen ’Eingangspunkt’ in seine Denkwelt wählen. Ich habe mich für das Buch ’Die Wissenschaft von der Gesellschaft’ (1991, 2.Aufl.) [Luh91] entschieden. Alle
Interpretationen des Autors zu Luhmanns Theorie stehen grundsätzlich unter dem Vorbehalt, dass diese Rekonstruktionen keine vollständige Werkanalyse darstellen. Die Vorgehensweise in diesem Beitrag ist der Versuch des Verstehens durch rekonstruierende Analyse mit formalen Mitteln. Für die Logik, die Luhmann
im Detail benutzt, sei verwiesen auf das Buch ’Laws of Form’ von Spencer Brown (1969, 1971) [Bro72] .

I. EVOLUTIONÄRE AUSGANGSLAGE
Vorab zur Analyse von Luhmann sei hier kurz die Lage skizziert, die sich nach 3.8 Mrd Jahren Evolution mit dem Auftreten des homo sapiens bietet. Da das entsprechende Kapitel hier noch nicht geschrieben wurde, seien hier nur jene Blogbeiträge kurz erwähnt, die sich bislang mit dem Thema beschäftigt haben.

A. Ältere Blogeinträge
1) Nr.124 vom April 2013: RANDBEMERKUNG: KOMPLEXITÄTSNTWICKLUNG (SINGULARITÄT(en))

2) Nr.132 vom Mai 2013: RANDBEMERKUNG: KOMPLEXITÄTSNTWICKLUNG (SINGULARITÄT(en)) Teil 2

3) Nr. 314 vom November 2015: STUNDE DER ENTSCHEIDUNG – Ist irgendwie
immer, aber manchmal mehr als sonst

4) Nr.333 vom März 2016: DENKEN UND WERTE – DER TREIBSATZ FÜR
ZUKÜNFTIGE WELTEN (Teil 1)

5) Nr.342 vom Juni 2016: EIN EVOLUTIONSSPRUNG PASSIERT JETZT UND NIEMAND BEMERKT ES?

6) Nr.381 vom 13.März 2017: DIE ZUKUNFT WARTET NICHT – 2117 – PHILOSOPHISCHE WELTFORMEL – FAKE-NEWS ALS TODESENGEL

7) Nr. 382 vom 18.März 2017: DIE ZUKUNFT WARTET NICHT – 2117 – PHILOSOPHISCHE WELTFORMEL – Teil 4 – MIND-GEIST . . .

8) Nr.383 vom 19.März 2017: INDIVIDUUM ALS BINDEGLIED ZWISCHEN BIOLO-
GISCHEM UND SOZIALEM – Nachtrag

9) Nr.400 vom Aug.2017: MENSCHENBILD – VORGESCHICHTE BIS ZUM
HOMO SAPIENS – Überlegungen

10) Nr. 401 vom Sept.2017: MENSCHENBILD – VORGESCHICHTE BIS ZUM HOMO SAPIENS – Ergänzungen

B. Resümee
Aus den bisherigen Untersuchungen ergibt sich als Zwischenstand, dass der homo sapiens die erste Lebensform auf der Erde ist, die neben der üblichen biologischen Ausstattung von Lebewesen zusätzlich über die Eigenschaften Bewusstsein,  Gedächtnis, Abstraktionsvermögen, Kombinatorik, selbst definierte Ziele und symbolische Kommunikation in einer Weise verfügt, die anderen Lebensformen in dieser Weise bislang unzugänglich waren und bisher auch weiterhin unzugänglich sind.

Aufgrund dieser herausragenden Eigenschaften konnte der homo sapiens in den letzten ca. 12.000 Jahren in Bereichen wie z.B. Handwerk und Technologie, Landwirtschaft, Siedlungsbau, Infrastrukturen, Transport und Verkehr, Wissensweitergabe und Wissensspeicherung, Verwaltung großer Gesellschaftssysteme, Kunst und Kultur, Wirtschaftsformen, und vielem mehr Leistungen erbringen, die ihn weit, weit ab von den anderen bekannten Lebensformen stellen.

Diese objektiven Erfolge scheinen allerdings aktuell einen Zustand erzeugt zu haben, in dem die Menge der alltäglichen Ereignisse, ihre Auftretensgeschwindigkeit sowie ihre inhärente Komplexität die biologischen Kapazitäten eines normalen homo sapiens Gehirns mehr und mehr überschreiten. Neue Informationstechnologien aus den letzten ca. 40 Jahren konnten diese Überforderungen einerseits entlasten, führen aber bislang gleichzeitig zu einer Verstärkung der Belastung, da diese Technologien separiert von dem einzelnen Individuum gehostet und entwickelt werden (das ’Cloud-Syndrom’).

Für die übergreifende Fragestellung, ob und wieweit die neuen digitalen Technologien – möglicherweise in Kombination mit einer Art ’Cyborg-Strategie’ – noch besser als bisher für die Stärkung des Individuums genutzt werden können, soll hier eine Analyse der generellen Situation des Individuums in der Gesellschaft eingeschoben werden.

Diese Analyse nimmt ihren Ausgang bei der Annahme, dass der homo sapiens als einzelnes Individuum Teil einer Population ist, die durch ihre auf Kommunikation gründenden Aktivitäten spezifische ’gesellschaftliche Strukturen’ geformt hat und weiter formt, die das Leben in einer vorausgesetzten Umwelt gestalten. Zugleich wirken diese Strukturen auf den einzelnen zurück. Ob die aktuelle Gestaltung von Gesellschaft letztlich ’nachhaltig’ ist oder nicht bleibt an dieser Stelle noch offen. Erst soll die Frage
nach der allgemeinen Struktur geklärt werden, innerhalb deren das ’Leben’ der homo sapiens Individuen stattfindet.

 

II. LUHMANN 1991: VORWORT
Im folgenden Text wird auf eine Unterscheidung zwischen dem Eigentext von Luhmann und einer davon abgehobenen Interpretation verzichtet. Der gesamte Text ist von Anfang an eine Interpretation des Textes von Luhmann im Lichte der vorwiegend wissenschaftsphilosophischen Annahmen des Autors. Man könnte auch sagen, es handelt sich um eine Art ’Übersetzung’ in einen anderen begrifflichen Rahmen.
Wer wissen will, was Luhmann selbst sagt, der muss den Text von Luhmann direkt lesen. Hier geht es um eine ’theoretische Verwertung’ der Gedanken von Luhmann in einem formalen Rahmen, den Luhmann selbst zu Lebzeiten so nirgends artikuliert hat.

Vorgreifend kann man an dieser Stelle anmerken, dass diese durchgehende  ’Übersetzung’ des Textes von Luhmann in den Text des Autors nur gelingen kann, weil Luhmann als ’roten Faden’ seiner Überlegungen einen ’Systembegriff’ benutzt, der es erlaubt, dass Systeme ’strukturell gekoppelt’ sind und dass sie ’Sub-Systeme’ enthalten können. Diese Auffassung teilt auch der Autor dieses Textes. Dennoch wird diese ’Übersetzung’ von dem Text Luhmanns in vielen Positionen – gerade in seinen zentralen Konzepten – radikal abweichen. Dies ist kein Paradox sondern ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass der Autor an einigen entscheidenden Stellen die ’Selektion der Unterschiede’ anders vorgenommen hat als Luhmann; die ’Freiheit’ des Gehirns, des Bewusstseins, der Kommunikation wie auch der aktuellen gesellschaftlichen Situation des Autors lässt dies zu.

Im Vorwort thematisiert Luhmann einleitend das wissenschaftsphilosophische Problem, dass eine Soziologie, die eine wissenschaftliche Theorie der Gesellschaft erarbeiten will, trotz aller notwendigen methodischen Distanzierung zum   Untersuchungsgegenstand doch auch zugleich Teil genau jener Gesellschaft ist, die untersucht werden soll. Die Bedingungen der Möglichkeit solch einer wissenschaftlichen Erkenntnis liegen der wissenschaftlichen Aktivität selbst voraus und werden traditionellerweise an die Philosophie delegiert, bzw. heutzutage vielleicht einer Erkenntnistheorie, die Hand in Hand mit der Wissenschaftsphilosophie arbeitet. Will eine einzelwissenschaftliche Disziplin – wie z.B. das System der Wissenschaft – ihr eigenes Tun in diesem Sinne von den impliziten Voraussetzungen her befragen, erhellen, klären, dann bedarf sie der Fähigkeit einer ’Autologie’, d.h. einer Selbstreflexion auf das eigene Tun, die sehr wohl auch eine Fremdbeobachtung der anderen Mit-Forschenden einbeziehen kann. Solch eine autologische Reflexion
kann nur in dem Maße die Besonderheiten eines Tuns zur Sprache bringen und kommunizieren, insoweit diese Disziplin über eine hinreichend ausdrucksstarke Metasprache verfügt. Diese wird gespeist durch das Fachwissen der Philosophie wie auch durch das spezifische Fachwissen der jeweiligen Disziplin, sofern letztere überhaupt schon über hinreichendes Spezialwissen verfügt.

Tatsächlich kann eine solche philosophische Selbstvergewisserung – hier der gesamte
Wissenschaftsbetrieb – nur gelingen, sofern diese zum Zeitpunkt der Untersuchung schon soweit als eigenes gesellschaftliches Subsystem vorkommt, dass durch gesellschaftlich legitimierte Setzungen und Verhaltensweisen ’vor-definiert’ ist, worin ’gesellschaftlich’ das Substrat dieser Disziplin besteht. Nur dann kann eine ’nach-sinnende’ autologische Reflexion die Eigenart aller beteiligten Komponenten und
Interaktionsprozesse identifizieren und analysieren. In diesem Sinne ist eine  Fachdisziplin – bzw. hier der gesamte Wissenschaftsbetrieb – zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt nicht ’Voraussetzungsfrei’ (Anmerkung: Wäre dem so, dann hätte man es mit einem eigenschaftslosen Neutrum zu tun, das nicht weiter bestimmbar wäre.) , sondern zeichnet sich gerade durch ein historisch gereiftes und darin durch Eigenschaften beschreibbares System zu tun, das innerhalb der Gesamtgesellschaft als Sub-System erscheint. Diese Unterscheidung lässt zugleich zu, dass jedes gegenwärtige System sich durch seine Eigenaktivitäten weiter verändert.

Die Aktualität der Gegenwart bildet damit tendenziell nicht das Gesamtsystem ab noch einen dauerhaften Zustand.

III. DISKUSSION
Es sei hier angenommen, dass ein historisch gewachsenes und gesellschaftlich ausgezeichnetes ’Subsystem Wissenschaft (SW)’ neben möglichen ’menschlichen Akteuren’ (A) zusätzlich über hinreichend viele Dokumente (D) verfügt, in denen Zielsetzung, typische Arbeitsweisen und der dynamische Bezug zum übergreifenden fundierenden gesellschaftlichen Gesamtsystem hinreichend beschrieben ist. Ein
gesellschaftliches wissenschaftliches Subsystem umfasst also minimal folgende Struktur:

SW (x) iff x = <A, D, h> (1)
A := Akteure (2)
D := Dokumente (3)
h := A × D —> A × D (4)

Das Symbol h repräsentiert die Menge der möglichen Handlungen, mit denen die Akteure im Sinne der offiziellen Dokumente neue Dokumente generieren können bzw. auch die Menge der Akteure verändern können. Was in dieser expliziten Darstellung noch fehlt ist der Aspekt der Gesellschaft (G). Denn eine Gesellschaft hat ja meistens mehr als ein Subsystem (Anmerkung: Wobei jedes Subsystem noch weitere Subsysteme haben kann). Zwischen einem Subsystem S und der Gesellschaft G kann es typische Interaktionen geben, ebenso auch zwischen Subsystemen direkt. Man
müsste daher mindestens eine weitere Interaktionsebene einbeziehen:

G(x) iff x = <A, D, Σ, h> (5)
A := Akteure (6)
D := Dokumente (7)
Σ := Menge von Subsystemen (8)
h := A × D × Σ —> A × D × Σ (9)

Die Akteure (A)  auf der Ebene der Gesellschaft (G) sind einerseits die ’Grundmenge’ aller Akteure, andererseits unterscheiden sich Subsysteme von der umgebenden Gesellschaft G dadurch, dass sie sich in mindestens einer Eigenschaft vom globalen System ’unterscheiden’. Es wird hier angenommen, dass diese minimale Verschiedenheit sich auf auf die Akteure A  bezieht, auf die beschreibenden Dokumente D  sowie auf die jeweilige Veränderungsfunktion h . Um Verwechslungen in der Kommunikation zu vermeiden könnte man die jeweiligen Symbole immer mit einem ’Index’ versehen, der den jeweiligen ’Kontext’ anzeigt, z.B. A_G
im Unterschied zu A_SW   oder h_G im Unterschied zu h_SW .

Aufgrund der minimalen Unterscheidbarkeit gilt dann generell, dass A_SW ⊆ A_G , d.h. die Akteure aus einem Subsystem sind spezieller als jene Akteure, die als Akteure einer globalen Gesellschaft gelten. Entsprechend verhält es sich in der Beziehung der Veränderungsfunktionen: h_SW ⊆ h_G.

Denkbar ist allerdings – und dies entspricht den empirischen Fakten –, dass es aufgrund der räumlichen Verteilung des homo sapiens auf der Erde (und zukünftig vielleicht auch im Weltall) gesellschaftliche Systeme gibt, die räumlich getrennt sind und die in ihrer ’Region’ das ’oberste’ gesellschaftliche System G darstellen, das  unterschiedliche Subsysteme haben kann. Faktisch gibt es dann viele gesellschaftliche
Systeme G_1 , …, G_n , die aufgrund ihrer separierten Existenz ’gleichberechtigt’ sind.
Andererseits wissen wir aufgrund der historischen Daten, dass es zwischen solchen räumlich verteilten gesellschaftlichen Systemen G sowohl ’kriegerische Handlungen’ gegeben hat, in denen das eine System G das andere System G_0 mit Gewalt erobert hat, oder es gab ’Wanderungsbewegungen’, die zu einer Vermischung der Akteure A_G , A_G_0 geführt hat. Solche Vermischung ( μ) – durch Eroberung oder Wanderung – konnten durch die unterschiedlichen ’Präferenz- und Wissensmodelle’ der Neuankömmlinge über die Interaktionen auf die bestehenden Dokumente und auf die Veränderungsfunktion h_G so einwirken, dass Modifikationen entstanden, etwa:

μ : A_G × A_G_0 × D_G × D_G_0 —> A_(G∪G_0) × D_(G∪G_0) × h_(G∪G_0)

Die führt zu einer Erweiterung des Referenzsystems zu einer ’Weltgesellschaft (WG)’:

G(x) iff x = <A, D, Σ, h> (5)
SW (x) iff x = <A, D, h> (1)
A_SW ⊆ A_G (12)
h_SW ⊆ h_G (13)
WG(x) iff x =<R3 , Γ, ∆, AF, μ>(14)
R3 :=  3 − dimensionale Koordinaten
Γ = U(A1 , …, An)
∆ =U(D1 , …, Dn )
AF := Artefakte
μ = 2^(R3 ×AF ×Γ×∆) —>  2^(R3 ×AF ×Γ×∆)

Die Grundidee ist die, dass die regional getrennten Gesellschaften miteinander vermischt werden können, was eine räumliche Umgruppierung von Akteuren und Dokumenten bedeuten kann. Andere wirksame Faktor sind z.B. der ’Handel’ oder neue ’Technologien’, die rein praktisch das alltägliche Leben verändert haben.

Im nächsten Kapitel 1 beschreibt Luhmann in erster Linie die Begriffe ’Bewusstsein’ und ’Kommunikation’ sowie deren Wechselwirkungen. Für diese Rekonstruktion werden die bisherigen begrifflichen Festlegungen berücksichtigt.

IV. LUHMANN 1991 KAP .1: BEWUSSTSEIN UND KOMMUNIKATION

A. Abschnitt I

Luhmann beginnt diesen Abschnitt mit der Frage nach dem ’Träger von Wissen‘
bzw.  Bewusstsein: Nach allerlei historischen Betrachtungen findet er einen ersten ’Ankerpunkt’ seiner Überlegungen in der grundlegenden Fähigkeit des Bewusstseins im Rahmen der Wahrnehmung grundsätzlich ’ein anderes’ wahrnehmen zu können. Es ist ein ’dass’, ein reiner ’Unterschied’, kein interpretierendes ’wie’. Diese Unterscheidung vom anderen ist die ’primäre Differenz’, die einen möglichen ’Anschluss’ für eine Kommunikation bietet und einen möglichen Referenzpunkt für eine mögliche ’sekundäre Zuschreibung’ von weiterem Wissen. (vgl. S.17)

Das ’Bewusstsein’, das Unterschiede wahrnehmen kann, operiert unter  stillschweigender Voraussetzung des ’Gehirns’ (= Nervensystem), ohne das Gehirn zu ’bemerken’. Der ’eigene Leib’ wird als bewusstseinsexterner ’Gegenstand’ erlebt. Damit externalisiert das Bewusstsein seine Zustände in die Welt hinein.(vgl.S.20)
Die Besonderheit des Bewusstseins liegt im ’Wahrnehmen’ und ’anschaulichen Imaginieren’. Ferner wird in der Wahrnehmung das Unterschiedene zugleich in einer ’Einheit’ erfasst.(vgl.S.20)

2) Kommunikation: Mit Rückgriff auf die Entwicklungspsychologie postuliert er, dass basierend auf dieser primären Unterscheidung im Bewusstsein eine erste ’Kommunikation’ angestoßen wird, noch vorab zum Spracherwerb. Und es ist diese erste Kommunikation die es nahelegt, ein ’alter ego’ im erfahrbaren Anderen zu unterstellen, und an dieses im Laufe der Zeit mehr Wissen anzulagern.(vgl. S.18f)

Und es wundert bei dieser Ausgangslage nicht, dass Luhmann postuliert, dass die Kommunikation Bedingung für ’Intersubjektivität’ ist und nicht umgekehrt. Innerhalb dieser Kommunikation wird zwischen ’Mitteilung’ und ’Information’ unterschieden. Diese Differenz soll dann nachgeordnet mit ’Sinngehalten’ angereichert werden.(vgl.S.19)

Kommunikation setzt Bewusstsein voraus, unterscheidet sich aber vom Bewusstsein, da ’Irrtum’, ’Täuschung’, ’Symbolmissbrauch’ der Kommunikation zugeordnet wird, nicht dem Bewusstsein.(vgl.S.21) Mit dem Grundsatz, dass die Wahrnehmung selbst nicht kommunizierbar ist (vgl.S.20), ergibt sich, dass logisches, kreatives Denken ohne Effekt bleibt, wenn es nicht kommunizierbar wird.(vgl.S.22)

Da Luhmann ferner annimmt, dass Wissen der Kommunikation zuzurechnen ist, nicht dem Bewusstsein (vgl.S.23), kann er weiter folgern, dass sich kein individuell bewusstes Wissen isolieren lässt.(vgl.S.22) Obwohl Kommunikation nicht zwingend auf Bewusstsein wirkt (vgl.S.22), kann Kommunikation das Leben und das Bewusstsein von Menschen auslöschen.(vgl.S.23)

3) Gehirn – Nervensystem: Das ’Nervensystem’ kann nur körpereigene Zustände unterscheiden und operiert daher ohne Bezug auf die Umwelt.(vgl.S. 19)

B. Diskussion
Luhmann bringt eine Reihe von Begriffen ins Spiel { z.B. ’Gehirn’, ’Bewusstsein’,  ’Wahrnehmung’, ’Differenz’, ’Kommunikation’, ’Mitteilung’, ’Information’, ’Sinngehalt’,
’Irrtum’, ’Täuschung’, ’Symbolmissbrauch’, usw. } , die zunächst relativ undifferenziert und nur locker in Beziehung gesetzt werden.

Nach der vorausgehenden Diskussion haben wir als bisherigen Referenzrahmen die beiden Begriffe ’Subsystem Wissenschaft’, ’System Gesellschaft’, und – falls es mehrere regional unterschiedene Gesellschaften gibt – die ’Weltgesellschaft’ (für einen erster Formalisierungsansatz siehe oben).

Davon unterschieden wird für die Begriffe { ’Gehirn’, ’Bewusstsein’,
’Wahrnehmung’, ’Differenz’ } In einer ersten Annäherung   angenommen, dass diese einem einzelnen Akteur A zuzurechnen sind. Dies erfordert, dass man den Akteur selbst als ein System sieht, der verschiedene Sub-Systeme umfasst, etwa so:

A(x) iff  x = <BR, PERC, PH, CONSC, ψ> (30)
BR := Gehirn (31)
ψ :  BR —> PERC × PH × CONSC (32)
PERC := Wahrnehmung (33)
PH := Phaenomene (34)
CONSC ⊆ 2^PH (35)

Das ’Gehirn (BR)’ erzeugt mittels der Funktion ψ ’Wahrnehmungen (PERC)’, die aufgrund von erfassbaren ’Differenzen’ unterscheidbare ’Phänomene (PH)’ erkennen lassen. Diese Phänomene bilden den ’Raum’ des ’Bewusstseins (CONSC)’. Weitere Aussagen sind an dieser Stelle noch schwierig.

Darüber hinaus muss man die Begriffe { ’Kommunikation’, ’Mitteilung’, ’Information’, ’Sinngehalt’,’Irrtum’, ’Täuschung’, ’Symbolmissbrauch’ } einordnen. Da Luhmann die Kommunikation als eigenes System sehen will, innerhalb dessen Mitteilungen und Informationen auftreten können, die mit Sinngehalten irgendwie in Beziehung stehen, dazu die Phänomene ’Irrtum’, ’Täuschung’ und ’Symbolmissbrauch’, muss man ein weiteres System annehmen, etwa so:

COM (x) iff x = <MT, INF, …>(36)
MT := Mitteilungen (37)
INF := Informationen (38)
… := Weitere Eigenschaften (39)

Wie genau dann das System Kommunikation (COM) funktionieren soll, wie das Zusammenspiel seiner unterschiedlichen Eigenschaften ist, wie genau das Wechselspiel mit dem Bewusstsein zu sehen ist, das ist an dieser Stelle noch unklar.

Ganz allgemein kann man schon an dieser frühen Stelle der Lektüre feststellen, dass Luhmann trotz seiner systemanalytischen Intentionen keinerlei Anstalten trifft, seine Überlegungen in Form einer wissenschaftlichen Theorie zu organisieren. Weder macht er sich Gedanken über eine notwendige Sprache noch über einen formalen Aufbau. Dementsprechend ist auch nicht klar, wie in seine ’Theorie’ Begriffe ’neu eingeführt’ werden können (andere nennen dies ’Definitionslehre’). Genauso wenig wie er irgendwelche überprüfbaren Qualitätskriterien für seine ’Theorie’ formuliert. Wann ist seine Theorie ’erfolgreich’? Wann ist sie ’wahr/ falsch’? … oder was auch immer man als Kriterium benutzen möchte.

Das gänzliche Fehlen dieser Überlegungen rächt sich im weiteren Verlauf nahezu auf jeder Seite.

C. Abschnitt II
In diesem Abschnitt werden die Begriffe ’Bewusstsein’ und ’Kommunikation’ als Systeme von Luhmann weiter ausdifferenziert; dazu ein paar Bemerkungen zur Autopoiesis.

1) Systemtheorie, Autopoiesis: Luhmann hält nochmals fest, dass eine fundamentale Annahme der Systemtheorie darin besteht, dass man eine Differenz von ’System’ und ’Umwelt’ annimmt. Daraus folgt einerseits, dass kein System außerhalb seiner eigenen Grenzen operieren kann, (vgl.S. 28) aber auch, dass jedes System in einer Umwelt existiert. Zwischen Umwelt und System darf man Kausalbeziehungen annehmen, die aber nur ein externer Beobachter beobachten kann.(vgl.S. 29) Zugleich gilt, dass ein
System immer schon an die Umwelt ’gekoppelt’ ist. Er behauptet sogar weiter, dass ein System immer schon angepasst sei.(vgl.S. 29)

Mit dieser Formulierung steht Luhmann im Gegensatz zu den Erkenntnissen der Evolutionsbiologie, die offengelegt hat, dass alle zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachtbaren ’Passungen’ Ergebnisse langwieriger dynamischer  Anpassungsprozesse sind. In diesem Licht sind – zumindest lebende – Systeme in einer Umwelt niemals völlig unabhängig von dieser. Der von Luhmann gewählte
Begriff der ’Systemkopplung’ erfüllt zwar formal zunächst seinen Zweck, aber er wird der komplexen Interaktionsdynamik von (lebenden) Systemen und Umwelt nicht voll gerecht.

Insofern ist in diesem Zusammenhang sein Hinweis interessant, dass ’Autopoiesis’  (Anmerkung: Zum Begriff finden sich zahlreiche online-Quellen von Whitaker (2010) [Whi10]) nicht besage, dass das System allein aus sich heraus… ohne jeden Beitrag aus der Umwelt existiere.(vgl. S.30) Er schließt damit formal weitere  Interaktionsbeziehungen nicht grundsätzlich aus, klammert sie aber aus seiner formalen Analyse hier aus. Solange diese Ausklammerung den Hauptinhalt seiner Analysen nicht wesentlich verändert, kann er dies machen. Wenn aber – und der weitere Fortgang erweckt diesen Eindruck – dadurch wichtige grundlegenden Eigenschaften des Hauptgegenstandes durch formal angeregte Selektionen eliminiert werden, dann ist dieser Sachverhalt für die Untersuchung erheblich.

Aufgrund der zuvor vorgenommenen Selektion und der damit einhergehenden Vereinfachung kann Luhmann sich auf die ’Innensicht’ der isolierten Systeme fokussieren. Und er schreibt dann ganz klar, dass es vielmehr nur darum geht, ”dass die Einheit des Systems und mit ihr alle Elemente, aus denen das System besteht, durch das System selbst produziert werden. Selbstverständlich ist dies nur auf der
Basis eines Materialkontinuums möglich … Selbstverständlich braucht solch ein Prozess Zeit…”(S.30)

Die Begriffe ’Materialkontinuum’ und ’Zeit’ verweisen auf eine empirische Umwelt, ohne die es beides nicht geben würde. Und obwohl er auf die ’Autonomie’ der Systeme abhebt, kommt er nicht umhin, festzustellen, ”… der Begriff der strukturellen Kopplung wird uns daran erinnern, dass das System laufend Irritationen aus der Umwelt registriert und zum Anlass nimmt, die eigenen Strukturen zu respezifizieren. (S. 30)

Solange man die ’Irritationen’, die durch eine strukturelle Kopplung hervorgerufen werden (Anmerkung: Beruhen diese ’Irritationen’ auf einer Kausalbeziehung?) , in der
Unbestimmtheit belässt, in der sie Luhmann präsentiert, spielen diese ’Irritationen’ keine ’inhaltlich fassbare’ Rolle. Eigentlich erscheinen sie überflüssig. Andererseits erwähnt Luhmann sie aber, weil sie irgendwo offensichtlich wichtig sind. In welchem Sinne sind sie wichtig? Von lebendigen Systemen wissen wir, dass diese Kopplungen für das System ’wesentlich’ sind (z.B. die Energiezufuhr einer eukaryotischen Zelle).

Man muss daher die Frage stellen, ob eine Systembeschreibung nicht so angelegt sein sollte, dass sie den für das System erheblichen Grund der strukturellen Kopplung für das System sichtbar machen sollte, so dass die weiteren ’Systemfunktionen’ auf der Basis der grundlegenden Struktur ’verständlich’ werden? Eine Systembeschreibung, die wesentliche Systemeigenschaften und Systemdynamiken von vornherein ausklammert wirkt ansonsten ein wenig ’willkürlich’, ’voreingenommen’, ’dogmatisch’. Diese
wissenschaftsphilosophische Kritik stellt damit nicht den Systembegriff als solchen in Frage, sondern nur eine spezielle Anwendung auf einen der Theoriebildung vorgelagerten Phänomenbereich.

Für Luhmann folgt aus seiner Verwendung des Systembegriffs, dass ”’lebende  Systeme’, ’Bewusstseinssysteme’ und ’Kommunikationssysteme’ verschiedenartige, getrennt operierende selbstreferentielle Systeme [sind]”.(S. 28). Damit sendet er ein klares Signal aus, dass er die möglicherweise gegebenen wichtigen strukturellen und funktionellen Zusammenhänge dieser identifizierten Systeme durch eine andere Verwendungsweise des Systembegriffs im Falle der angesprochenen Phänomene bewusst ausklammert.

Als methodisch motiviertes Gedankenexperiment kann eine solche begriffliche Anordnung Sinn machen, für die theoretische Rekonstruktion der erfahrbaren Wirklichkeit kann dieses Vorgehen aber in die Irre führen. Dies umso mehr, als Luhmann nirgendwo entscheidbare Kriterien etabliert hat, anhand deren man in minimaler Weise einen ’Erfolg’ oder ’Misserfolg’ seines Gedankenexperiments ablesen
könnte.

Das Beispiel lebender Systeme zeigt seit vielen Milliarden Jahren, dass Anpassungsprozesse nur durch das Wirken von sehr harten Kriterien funktionieren. Das harte Kriterium ist im Fall lebender Systeme die (i) Aufrechterhaltung eines Prozesses, dessen innere Logik in der (ii) individuellen Ausnutzung von freier Energie besteht, die in einer (iii) populationsweiten Abfolge von Systementwürfen (iv) die Population im Spiel hält. Das einzelne System ist hier eindeutig nur zu verstehen als ein Element einer größeren Population, die ein spezifisches Prozessmodell umsetzt. Man müsste in diesem Fall daher von vornherein einerseits (a) das System ’Population’ selektieren, das als Teil des Systems (b) ’Umwelt’ im Rahmen eines ’Prozesses’ den sowohl populären wie individuellen (c) ’Lebensprozess’ realisiert. Ferner wissen
wir heute, dass eine Population nicht ausreicht, sondern dass wir es mit einem (a*) ’Netzwerk von Populationen’ zu tun haben, die wechselseitig füreinander wichtige Funktionsleistungen erbringen. Will man diese Realität erfassen, dann kann man mit dem stark reduktionistischen Ansatz von Luhmann eigentlich nur scheitern.

Wohlgemerkt: das Problem ist nicht der Systembegriff als solcher, sondern die
Art seiner Anwendung auf eine empirisch vorhandene Realität.

2) Bewusstsein: Nach dem Vorausgehenden ist bekannt, dass Luhmann das Phänomen ’Bewusstsein’ als ein eigenständiges System selektiert hat. Er spricht im Fall des Bewusstseins auch von einem ’psychischen System’.(vgl. S.23) Entsprechend seiner allgemeinen Annahme zu Systemen kommt er dann zu Aussagen wie ”… psychische Systeme operieren selbstreferentiell-geschlossen und sind
füreinander unzugänglich…” (S. 23), oder auch ”Dem Verstehen psychischer Systeme … fehlt die für den Kommunikationsprozess notwendige Diskretheit. Psychisch gibt es hier kein entweder/oder. Genau das braucht aber der Kommunikationsprozess, um seine eigene Autopoiesis fortsetzen zu können. …Innere Unendlichkeit der psychischen Systeme…”(S. 26)

Neben den schon angemerkten eliminierenden Selektionen, die Luhmann zuvor schon vorgenommen hat, erscheint die Behauptung, dass es psychisch kein ’entweder/oder’ gibt gewagt, da ja (was Luhmann über viele Seiten schlicht ausklammert) das Bewusstsein sich gerade dadurch auszeichnet, dass grundlegend mindestens folgendes möglich ist. (i) die Unterscheidung von Bewusstseinsinhalten anhand von Eigenschaften; (ii) die Identifizierung des Unterschiedenen in der Unterscheidung, eben
die Eigenschaftskomplexe, die oft ’Phänomene’ genannt werden; (iii) die erlebbare ’Einheit’ trotz ’Unterscheidung’.

Das Bewusstsein erlebt     unterscheidbare Phänomene nicht nur einfach so, sondern z.B. diese Phänomene auch als Elemente in einem ’Raum’, der unhintergehbarer Bestandteil des Erlebens ist. Nur deshalb kann das Bewusstsein diese Elemente auch ’in Beziehung setzen’, hier in räumliche Beziehungen wie z.B. a ist ’über’ b oder a ist ’unter b’. Zum aktuellen Erleben gehört sogar die Befähigung, (iv) ’Aktuelles’ im Vergleich zu ’Erinnertem’ zu sehen, also in einer zeitlichen Relation. Das ’Gedächtnis’
als ’Quelle’ von Erinnerungen ist selbst zwar kein Bestandteil des Bewusstseins (ein eigenes strukturell gekoppeltes System), aber diese Kopplung zwischen Bewusstsein und Gedächtnis ist funktional so ausgelegt, dass das Gedächtnis die aktuellen Phänomene quasi simultan ’kommentiert’, unaufgefordert, aber kausal dazu genötigt.

Dies ist ein klarer Fall, in dem die strukturelle Kopplung auf der Ebene des Systems Bewusstsein zum Gedächtnis hin abgeschottet erscheint, aber auf der Ebene des Systems ’Gehirns’ sind sowohl Bewusstsein wie Gedächtnis Teilsysteme, die das System Gehirn so ’prozessiert’, dass Inhalte des Bewusstseins ’für das System Bewusstsein unsichtbar’ in das System ’Gedächtnis’ ’transportiert’ werden und umgekehrt. Für das Funktionieren des Systems Bewusstsein ist diese kausale
Maschinerie wesentlich!

Wenn Luhmann an anderer Stelle feststellt, dass ”das Bewusstsein an die neurophysiologischen Prozesse ’seines’ Organismus gekoppelt [ist] ohne sich diesen Prozessen anpassen zu können. Es kann sie nicht einmal wahrnehmen…”(S.29) dann nimmt er diesen fundamentalen Zusammenhang beiläufig zur Kenntnis, zieht daraus aber keine weiteren Konsequenzen für sein Gedankenexperiment. Die Realität des biologischen Systems Körper, in das das System Gehirn eingebettet ist, und darin Bewusstsein und Gedächtnis, ist aus der Sicht des Gesamtsystems Körper auf bestimmte Funktionen ausgelegt, für deren Erfüllung viele Teilsysteme zusammen arbeiten müssen. Im Fall Bewusstsein haben wir mindestens die Teilsysteme ’Wahrnehmung’, ’Gedächtnis’ und ’Bewusstsein’. Obwohl die Teilsysteme ’Wahrnehmung’ und ’Gedächtnis’ aus Sicht des Systems Bewusstsein strukturell so ’gekoppelt’ sind, dass das Bewusstsein keinen direkten Einfluss auf die kausal eingekoppelten Irritationen hat, sind diese Irritationen in Form
von Wahrnehmungsereignissen und Erinnertem für das Funktionieren des Bewusstseins wesentlich!

Luhmanns Verwendungsweise des Systembegriffs greift hier einfach zu kurz; er selektiert zu viele wichtige empirische Phänomene im Vorfeld, um seine Verwendungsweise ’passend’ zu machen. Seine Formulierung vom ’Gedächtnis’, ”… [das] nichts anderes [sei] als die Konsistenzprüfung in der jeweils aktuellen Operation, also Aktualisierung ihres jeweils nutzbaren Verweisungszusammenhangs)…” (S.31)
kann man zumindest so verstehen, als dass er weitergehende Funktionen des Gedächtnisses in Abrede stellt. Von der Psychologie wissen wir, dass das Gedächtnis erheblich mehr leistet als eine bloße ’Konsistenzprüfung’. Das Gedächtnis arbeitet kontinuierlich (auch ohne bewusste Anteile), selektiert, abstrahiert, assoziiert, bewertet, bildete Netzwerke, ändert, interpretiert durch ’ist-ein-Exemplar-von-
Struktur X’, und vieles mehr.

In diesen Zusammenhang passen auch die Bemerkungen Luhmanns zum Verhältnis von Sprache und Bewusstsein: ”Man wird vielleicht einwenden, dass das Bewusstsein ’sprachförmig denken’ könne. Gewiss! Aber solches Denken ist keine Kommunikation. Und wenn es für sich alleine läuft, sieht das Ergebnis ungefähr so aus …. Fast nimmt die Eigenproduktion von Worten und Satzstücken dann die Form von … fluktuierenden Wortwahrnehmungen an – befreit von jeder Rücksicht auf Verständlichkeit. Operativ besetzen und reproduzieren Wort- und Satzfetzen dann das Bewusstsein mit der Evidenz ihrer Aktualität, aber nur für den Moment”.(S. 32)

Diese Sätze beziehen ihre ’Wahrheit’ aus der vorausgehenden Selektion, dass die mögliche ’Bedeutung’ von Worten, der ’Sinn’ von Sätzen’ ausschließlich im System ’Kommunikation’ verortet ist (siehe unten im Text). Diese Selektion widerspricht aber nicht nur der Selbsterfahrung jeden Sprechers/ Hörers, sondern auch zahllosen empirischen Untersuchungen. Zwar hat Wittgenstein in seiner späteren Phase alles getan, um die Idee zu kommunizieren, dass die Bedeutung sprachlicher Äußerungen sich ausschließlich durch die Beobachtung der ’Verwendung’ dieser Äußerungen im ’Kontext’ erschließen lasse, aber jede nähere Analyse kann schnell zeigen, dass diese Annahme nur so lange funktioniert, wie man den Begriff ’beobachten’ und den vorausgesetzten ’Beobachter’ mehr oder weniger ’neutralisiert’.

Es ist zwar richtig, dass man die Verwendungsweise von sprachlichen Ausdrücken im Kontext ’beobachten’ kann, aber sobald man zu ergründen versucht, warum ein Sprecher-Hörer ein Umgebungsmerkmal mit einer bestimmten sprachlichen Äußerung  verknüpft oder umgekehrt bei Hören einer bestimmten sprachlichen Äußerung auf ein bestimmtes Umgebungsmerkmal verweist, wird man feststellen, dass ohne die Annahme einer entsprechenden ’Kodierung’ dieser Beziehungen zwischen
’Ausdruck’ und ’Umgebungseigenschaften’ (es gibt ja auch Bedeutungsverweise auf Sachverhalte, die nicht in der aktuellen Situation präsent sind!) ’im’ jeweiligen Sprecher-Hörer kein einziges Sprachspiel  funktioniert. (Anmerkung: Eine Erfahrung, die die ersten Sprachlernexperimente mit Robotern sehr schnell offen gelegt haben!)

Mit der Annahme der Verortung der fundamentalen Kodierungen von Ausdrücken und Gemeintem ’im’ Beobachter, im Akteur – und zwar primär im Gedächtnis und darüber indirekt im Bewusstsein – ist die Feststellung Luhmanns, dass sowohl ”die  Zeichenhaftigkeit der Mitteilung als auch die Information selbst … nicht als Bewusstseinsoperationen in das System, nicht als Wissen eines psychischen
Systems, das vorher da ist, dann in die Kommunikation eingegeben werden…” (vgl.S. 24) dann tendenziell irreführend. Natürlich kann die Kodierung im Bewusstsein (Gedächtnis) als solche nicht in die Kommunikation gelangen, aber das Auftreten von Worten in der Kommunikation setzt die Verfügbarkeit der zugrunde liegenden Kodierungen in den Bewusstseinen (bzw. Gedächtnissen) der beteiligten
Kommunikationsteilnehmer voraus! Das Konzept einer Kommunikation als eigenständiges System, das ohne Rückgriff auf die beteiligten Bewusstseins-Systeme ’Informationen’ transportieren könnte, ist buchstäblich ’haltlos’: die Worte und Wortfolgen als Kommunikationseinheiten funktionieren ’zwischen’ Bewusstseins-System semantisch nur unter simultaner Voraussetzung der individuell verankerten
Kodierungen. Nur unter dieser Voraussetzung ist es verstehbar, dass Kommunikationseinheiten, die gekoppelt ein Bewusstsein irritieren können, dies nicht unspezifisch tun, sondern unter Voraussetzung der semantischen Kodierung aufgrund der Kommunikationseinheiten dann Bedeutungsnetzwerke im angekoppelten Bewusstsein aktivieren, die z.B. im jeweiligen Bewusstsein bestimmte Erwartungen
auslösen können. (siehe dazu S.33)

3) Kommunikation: Obwohl im vorausgehenden Abschnitt verschiedentlich deutlich wurde, dass eine Abgrenzung von ’Bewusstsein’ gegenüber ’Kommunikation’ und umgekehrt im Sinne der Systemtheorie nur bedingt funktioniert, versucht Luhmann dennoch auch die Kommunikation als eigenständiges System zu konzipieren.

Für Luhmann besitzt das System ’Kommunikation’ seine Referenz in der ”Kommunikation im sozialen System der Gesellschaft”(S. 31). Es ist nicht der ’Mensch’, der kommuniziert, sondern ”nur die Kommunikation kann kommunizieren” (S. 31). Die ”Kommunikation ist ein operativ selbständiges System. Die Erzeugung von Kommunikation aus Kommunikation ist ein selbstreferentieller Prozess.”(S.24) ”Jede
Kommunikation erzeugt von Moment zu Moment… eine eigene  Nachfolgekommunikation.”( S. 31f) Oder: ”Wenn Kommunikation in Gang kommt, bildet sie ein eigenes autopoietisches System mit eigenen rekursiv vernetzten Operationen, das sich auf die Fähigkeit des Bewusstseins zur Transparenz auf der Grundlage von Intransparenz verlassen kann.”(S. 26)

Diese Formulierungen wirken sehr ’scholastisch’ in dem Sinne, dass hier der Eindruck erweckt wird, als ob es nur darum geht, die formalen Anforderungen einer Systemtheorie zu erfüllen, ohne Rücksicht auf die Phänomene selbst. Zu sagen, dass es nicht der Mensch sei, der kommuniziert, sondern die Kommunikation selbst, klingt formal korrekt, wenn man einen bestimmten Systembegriff voraus setzt, aber berücksichtigt man den zuvor hervorgehobenen Sachverhalt, dass die Kodierung von sprachlichen Ausdrücken mit potentiell ’Gemeintem’ nur jeweils in den beteiligten Bewusstseins-Systemen vorliegen kann, und deswegen auch nur diese mögliche ’Informationen’ der Kommunikation aktualisieren können, dann macht es so recht keinen Sinn, zu sagen, nur die Kommunikation ’kommuniziere’. Das System
’Kommunikation’ erscheint eher als ein ’Sub-System’ der agierenden Bewusstseins-Systeme, die je nach interner Konstellation unterschiedliche Kommunikationselemente aktivieren, deaktivieren, verändern.

Vor diesem Hintergrund macht die Formulierung ”Was als Verstehen erreicht ist, wird daher im Kommunikationsprozess souverän entschieden und als Bedingung fürs Weitermachen bzw. für klärende Zwischenkommunikation markiert….”(S.26) nur Sinn, wenn sowohl das ’Verstehen’ wie auch das ’Entscheiden zum Weitermachen’ im Bewusstseins-System verortet ist. Die Kommunikationselemente als solche bieten keinerlei Anknüpfungspunkte weder für Verstehen noch für Entscheiden.

Es ist dann schon merkwürdig, wenn Luhmann einerseits registriert, dass es bei Kommunikation einen ’Übertragungseffekt’ gibt, der ”System und Umwelt von Moment zu Moment [koordiniert]”, aber es dann als ”eine offene Frage” ansieht, ”wie weit das psychisch gehen muss”. Allerdings schließt er aus, dass diese Koordinierung weder zum ”Bewusstseinsinhalt noch zum Mitteilungsinhalt” wird.(vgl.S.27) Würde Luhmann die empirische Verankerung der semantischen Kodierung in den beteiligten
Kommunikationsteilnehmern akzeptieren, dann wäre klar, dass  Kommunikationsereignisse über die strukturelle Kopplung bewusstseinsrelevant werden würden, sie würden im einzelnen Bewusstsein als ’Mitteilung’ dekodiert.

Durch die Strategie der Ausklammerung des individuellen Bewusstseins aus dem Kommunikationsprozess reißt Luhmann mutwillig eine Lücke auf; plötzlich gibt es keinen wirklichen Adressaten mehr in der Kommunikation. Luhmann versucht dieses ’Loch’ dadurch zu ’stopfen’, dass er den alten ’Persona’-Begriff für seine Zwecke reaktiviert: ”Personen können Adressen für Kommunikation sein… Sie können als Aufzeichnungsstellen vorausgesetzt werden…als Zurechnungspunkte für  Kausalannahmen…All das … ohne jede determinierende Auswirkung auf Bewusstseinsprozesse.”(S. 34)

Immerhin denkt Luhmann sein formales System-Konzept auf seine Weise konsequent.
Abgekoppelt vom System Bewusstsein stellt sich die Frage, was denn dann  Kommunikation überhaupt noch ’tut’. Luhmann bezieht eine klare Position: ”Jenseits der psychischen Systeme differenziert und synthetisiert Kommunikation ihre eigenen Komponenten ’Information’, ’Mitteilung’ und ’Verstehen’.”(S.24) ”Die Mitteilung wird als ’Zeichen’ für eine ’Information’ genommen.”(S. 24) ”Mitteilung und Kommunikation
werden in der Kommunikation ’aufgebaut’, ’abgebaut’, ’aktualisiert’, evtl. ’aufgezeichnet’, ’evtl. erneut ’thematisiert’.(S.24)

Unterstellt man, dass Luhmann mit ’Mitteilung’ die Ausdruckselemente (einer Sprache) sieht, mittels deren Kommunikation ’realisiert’ wird, und mittels denen dann auf eine mögliche ’Information’ ’hingewiesen’ wird, die dann wiederum ein ’Verstehen’ implizieren können, dann verheddert sich diese Interpretation wieder mit den empirischen Fakten einer im Bewusstsein-System verorteten semantischen Kodierung (Anmerkung:   Luhmann verwendet an dieser Stelle den Begriff ’Information’ völlig losgelöst von Shannon (1948) [Sha48]. Er stellt aber auch nicht sicher, wie er die ‚Referenz‘ seines Begriffs ‚Information‘ sieht.).

In diesem Zusammenhang ist auch die Feststellung von Luhmann ”Die Kommunikation teilt die Welt nicht mit, sie teilt sie ein in das, was sie mitteilt und das, was sie nicht mitteilt” (S.27) formal korrekt für seine Systemannahmen, aber mit Blick auf die Empirie und ein Systemkonzept, was die semantische Kodierung berücksichtigt, eher fragwürdig. Die ’Kommunikation’ ist für Bewusstseins-Systeme mit semantischer
Kodierung nur eine ’für sich genommen’ bedeutungslose Ereigniskette, deren Elementgrenzen nur dann und insoweit etwas ’bedeuten’, als sie durch Verbindung mit einer semantischen Kodierung virtualisierte Weltbezüge aktivieren und durch die Art ihrer Anordnung diese virtualisierten Weltbezüge ’einteilen’ und ’anordnen’. Da die individuellen semantischen Kodierungen untereinander variieren können, kann der
gleiche Strom von Kommunikationsereignissen bei den Beteiligten ganz unterschiedliche Reaktionen auslösen.

QUELLEN

  • [Bro72] G.Spencer Brown. Laws of Form. The Julian Press, Inc., New York, 1 edition, 1972. Originally published London, 1969).
  • [Luh91] Niklas Luhmann. Die Wissenschaft der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt, 2 edition, 1991.
  • [Sha48] C.E. Shannon. A mathematical theory of communication. The Bell System Technical Journal, 27:379–423, 623–656,
    1948. July and October 1948.
  • [Whi10] Randall Whitaker. THE OBSERVER WEB: Autopoiesis and Enaction. The Biology of Cognition, Autopoietic Theory, and Enactive Cognitive Science. The Theories of Humberto Maturana and Francisco Varela. Dr. Randall Whitaker, 1 edition,
    2010.

KONTEXT BLOG

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MATHEMATIK UND WIRKLICHKEIT – DISKUTIERT AM BEISPIEL DES BUCHES VON TEGMARK: Our Mathematical Universe (2014) – Teil2

Max Tegmark (2014), Our Mathematical Universe. My Quest of the Ultimate Nature of Reality, New York: Alfred A.Knopf

Nachtrag: 3.Okt.13:55h, Bild zum letzten Abschnitt

KONTEXT

1. Diesem Teil ging ein einleitender Teil 1 voraus. In ihm wird ein erster Horizont aufgespannt. Darin u.a. die These, dass das Universum sich nicht nur mathematisch beschreiben lässt, sondern selbst auch ein mathematisches Objekt sei.
2. Für die weitere Diskussion werden die Kapitel 2-8 zunächst übersprungen und die Aufmerksamkeit gilt den Kapiteln 9ff. In diesen werden die erkenntnistheoretischen und physik- methodischen Voraussetzungen besprochen, die Tegmark in der modernen Physik am Werke sieht.

SELBSTBESCHREIBUNG EINES PHYSIKERS

Konzepte aus Kap.9 Tegmark (2014) herausgezogen und neu angeordnet von G.Doeben-Henisch (2016)
Konzepte aus Kap.9 Tegmark (2014) herausgezogen und neu angeordnet von G.Doeben-Henisch (2016)

3. Wir erinnern uns aus Kapitel 1, dass Tegmark selbst ein Mensch ist, ein homo sapiens (sapiens), der für sich die Methoden der Physik in Anspruch nimmt.
4. Von daher macht es Sinn, dass er sich selbst mit seinen Erkenntnis ermöglichenden Fähigkeiten in den Blick nimmt.
5. In diesem Zusammenhang (vgl. Bild 1) macht er darauf aufmerksam, dass wir nach den neuesten Erkenntnissen der Naturwissenschaften (und der Selbsterfahrung, die er in Beispielen in Form von Selbstexperimenten bemüht), davon ausgehen müssen, dass unsere bewusste Wahrnehmung einer Welt in unserem Körper, in unserem Gehirn stattfindet. Diese bewusste Wahrnehmung bildet für uns die primäre Realität, die man als interne Realität bezeichnen kann, wenn man außerhalb dieser inneren Realität eine externe Realität voraussetzt.
6. Nach allem, was wir heute wissen, übersetzen unsere Sinnesorgane Ereignisse der externen Realität (die in einer angenommenen externen Welt stattfinden), in komplexe Signalverarbeitungsprozesse in unserem Gehirn. Ein kleiner Teil dieser vom Gehirn automatisch – und daher nicht-bewusst – verarbeiteten Signale werden uns bewusst, bilden den Stoff unserer bewussten Wahrnehmung. Er nennt diese bewussten Signale auch Qualia. Sie werden automatisch so vom Gehirn aufbereitet, dass wir beständig z.B. ein konsistentes 3D-Model einer Wirklichkeit zur Verfügung haben, mittels dem wir uns im Raum des Bewusstseins orientieren. Wichtiges Detail: verschiedene Menschen können mit ihren Sinnesorganen u.U. unterschiedliche Signale von der gleichen Signalquelle empfangen (z.B. unterschiedliche Farbwahrnehmung). Trotzdem scheint das interne Modell zum Zwecke der Orientierung zu funktionieren.
7. Die wissenschaftlichen Untersuchungen zum Verhältnis zwischen messbaren externen Ereignissen und der Wahrnehmung dieser Ereignisse basierend auf den weitgehend nicht-bewussten sensorischen Prozessen im Körper deuten an, dass der Körper und das Gehirn keine 1-zu-1 Abbildung der externen Ereignisse liefern, sondern diese auf unterschiedliche Weise verändern: (i) hervorstechend ist, dass nur ein Bruchteil der (heute) messbaren externen Ereignisse erfasst und dann verarbeitet wird (z.B. nur ein kleiner Teil aus dem Wellenspektrum wird erfasst). Wir haben also den Sachverhalt der Auslassung (‚omission‘). (ii) Ferner liefert das Gehirn Eigenschaften in der bewussten Wahrnehmung (z.B. 3D-Modell), die in der auslösenden sensorischen Wahrnehmung (2D) nicht gegeben ist. Diesen Sachverhalt bezeichnet Tegmark als Illusion. (iii) Ferner kann das Gehirn eine Vielzahl von unterschiedlichen Halluzinationen erzeugen (z.B. Erinnerungen, Träume, Fantasien, Wahnvorstellungen …), die weder aktuell in der externen Realität vorkommen noch genau so, wie sie als halluziniertes Ereignis im Bewusstsein auftreten.

THEORIEN

Konzepte Nr.2 aus Kap.9 Tegmark (2014) herausgezogen und neu angeordnet von G.Doeben-Henisch (2016)
Konzepte Nr.2 aus Kap.9 Tegmark (2014) herausgezogen und neu angeordnet von G.Doeben-Henisch (2016)

8. Nach diesen vorbereitenden Überlegungen stellt sich die Frage, wo und wie in diesem Bild der Ort für physikalische Theorien ist?
9. Die große Mehrheit der Philosophen hatte in der Vergangenheit an dieser Stelle die interne Realität, das interne Weltmodell, als möglichen Ort weiterer Theoriebildung vermutet und dazu dann jeweils umfangreichste Überlegungen angestellt, wie man sich diese Maschinerie des bewussten Erkennens vorzustellen habe, damit man in diesem Rahmen das Denken einer physikalischen Theorie rekonstruieren könnte.
10. Tegmark klammert dieses Vorgehensweise vom Start weg aus. Bevor überhaupt ein Gedanke in diese Richtung aufscheinen kann erklärt er, dass der höchste Triumph der Physik darin bestehen würde, dass die Physik mit der externen Realität startet, diese mathematisch beschreibt, und zwar so, dass man innerhalb dieser Beschreibung dann die Entstehung und das Funktionieren der internen Realität ableiten (‚derive‘) kann. (vgl. S.237f)
11. Ihm ist schon bewusst, dass es für eine volle physikalische Theorie dieser Art notwendig wäre, eine vollständig detaillierte Beschreibung des Gehirns, speziell auch des Phänomens des Bewusstseins, mit zu liefern. (vgl. S.238) Aber er meint, man kann sich diese Aufgabe ersparen und den ganzen Komplex der subjektiven (und zugehörigen nicht-bewussten) Prozesse ausklammern (‚decouple‘), weil Menschen die Fähigkeit zeigen, sich trotz und mit ihrer individuellen Subjektivität auf eine Weise miteinander zu verständigen, die auf einer Sicht der externen Welt in der internen Welt beruht, die zwischen Menschen geteilt (‚shared‘) werden kann.
12. Diese zwischen Menschen in der Kommunikation gemeinschaftlichen Sicht der externen Welt (auf der Basis der internen Welt) nennt er Konsensus Realität (‚consensus reality‘).(vgl. S.238f)
13. Die Konsensus Realität verortet er zwischen der externen und der internen Realität.
14. Mit dieser begrifflichen Unterscheidung begründet er für sich, warum eine physikalische Theorie möglich ist, ohne dass man eine Theorie des Bewusstseins hat; er räumt aber ein, dass man natürlich für eine endgültige vollständige (physikalische) Theorie auch eine vollständige Theorie des Bewusstseins samt allen zugehörigen Aspekten bräuchte.
15. Während man sich als Leser noch fragt, wie denn die Physik diese nicht ganz leichte Aufgabe angehen will, erklärt Tegmark ohne weitere Begründung, dass diese delikate Aufgabe nicht von der Physik geleistet werden solle, sondern von der Kognitionswissenschaft (‚cognitive science‘). (vgl. S.238f)
16. Obwohl Tegmark selbst viele Beispiele bringt, die illustrieren sollen, dass es aus Sicht der Physik gerade die Wechselwirkung zwischen der externen und internen Realität war, um auf dem Weg zu einer umfassenden physikalischen Theorie voran zu schreiten (vgl. SS.240ff), delegiert er nun diese delikate Aufgabe an die Kognitionswissenschaft. Warum soll die Kognitionswissenschaft diese delikate Aufgabe lösen können und die Physik nicht? Bedeutet dies, dass die Kognitionswissenschaft ein Teil der Physik ist oder hat sie etwas Besonderes über die Physik hinaus? Letzteres würde seinem Anspruch widersprechen, dass die Physik das Ganze erklärt.
17. Tegmark lässt diese Fragen schlicht offen. Er meint nur, die Physik habe hier noch einen sehr langen Weg zu gehen. (vgl. S.242)
18. Er fällt einfach die Entscheidung, den Aspekt der ersten Realität innerhalb der allgemeinen Theoriebildung in seinem Buch auszuklammern und sich auf die Frage der Rolle der Mathematik in physikalischen Theorien zu beschränken, sofern sie sich mit der externen und der Konsensus Realität beschäftigen.(vgl. S.240)

DISKURS
EIN BISSCHEN ENTTÄUSCHT ….

19. Ich muss gestehen, dass ich als Leser an dieser Stelle des Buches irgendwie enttäuscht bin. Nachdem das Buch mit so viel Elan gestartet ist, so viel wunderbares Wissen aufbietet, um diese Fragen zu erhellen, kommt es an einer entscheidenden Stelle zu einer Art gedanklichen Totalverweigerung. Natürlich kann jeder verstehen – und ich besonders –, dass man aus Zeitgründen eine komplexe Fragestellung vorläufig ausklammert, deren Behandlung ‚nach hinten schiebt‘, aber es ist dennoch schade, nicht als Vorwurf, sondern als Erlebnis.
20. Trotz dieser Einschränkung der Perspektive des weiteren Vorgehens bleiben natürlich noch viele interessante Fragen im Raum, insbesondere das Hauptthema der Rolle der Mathematik in einer physikalischen Theorie verbunden mit der These von Tegmark, dass die externe Realität selbst ein mathematisches Objekt sei.
21. Bevor dieser Aspekt im Blog weiter untersucht wird, soll aber noch ein wenig an dieser Umschaltstelle in der Darstellung von Tegmark verweilt werden. Diese ist zu wichtig, als dass man sein Vorgehen einfach unkommentiert lassen sollte.

INNEHALTEN: EXTERN – INTERN

22. Tegmark geht davon aus, dass eine physikalische Theorie die externe und die Konsensus Realität beschreibt, und dies mit Hilfe der Mathematik.
23. Er stellt einleitend fest, dass wir direkt von der externen Realität aber nichts wissen. Unser Gehirn liefert uns ein Weltmodell W0, das uns als Basis des Verstehens und Verhaltens dient, das aber nicht die Welt ist, wie sie vielleicht jenseits dieses Modells W0 existiert. Die Geschichte des menschlichen Erkennens und die Untersuchungen zum modernen Alltagsverstehen belegen, dass die Erkenntnis, dass unser individuelles Welterleben auf Basis von W0 nicht die Welt sein kann, die jenseits des Gehirns existiert, nicht nur erst wenige tausend Jahre alt ist, sondern es in der Regel nur wenigen Menschen gelingt, dies explizit zu denken, selbst heute (die meisten – alle? – Naturwissenschaftler z.B. sind nicht in der Lage, die mögliche Welt jenseits von W0 unter expliziten Berücksichtigung von W0 zu denken!). Tegmark selbst demonstriert diese Unfähigkeit vor den Augen des Lesers.
24. Er beschreibt zwar empirische (und nicht-empirische) Fakten, die die Annahme der Unterscheidung von W0 und etwas jenseits von W0 nahelegen, aber er macht keine Anstalten, darüber nach zu denken, was dies für empirische Theorien über die Welt jenseits von W0 bedeutet.
25. Wie kann es sein, dass unser Denken in W0 verankert ist, aber doch über eine Welt jenseits von W0 redet, als ob es W0 nicht gibt?
26. Die Evolutionsbiologen sagen uns, dass im Laufe der Evolution von biologischen Systemen deren Gehirne in diesen Systemen so optimiert wurden, dass das jeweilige System nicht durch die internen (automatischen) Berechnungsprozesse des Gehirns abgelenkt wird, sondern nur mit jenen Aspekten versorgt wird, die für das Überleben in der umgebenden Welt (jenseits des Gehirns) wichtig sind; nur diese wurden dem System bewusst. Alles andere blieb im Verborgen, war nicht bewusst. Dies heißt, es war (und ist?) ein Überlebensvorteil, eine Identität von internem Weltmodell W0 und der jeweils umgebenden Welt zu ermöglichen. Hunderttausende von Jahren, Millionen von Jahren war dies überlebensförderlich.
27. In diesem Überlebenskampf war es natürlich auch wichtig, dass Menschen in vielen Situationen und Aufgaben kooperieren. Voraussetzung dafür war eine minimale Kommunikation und dafür eine hinreichend strukturell ähnliche Wahrnehmung von umgebender Welt und deren Aufbereitung in einem internen Modell W0.
28. Kommunikation in einer geteilten Handlungswelt benötigt Signale, die ausgetauscht werden können, die sich mit gemeinsamen wichtigen Sachverhalten assoziieren lassen, die sowohl Teil der äußeren Welt sind wie auch zugleich Teil des internen Modells. Nur durch diese Verbindung zwischen Signalen und signalverbundenen Sachverhalten einerseits und deren hinreichend ähnlichen Verankerung in den individuellen Weltmodellen W0 boten die Voraussetzungen, dass zwei verschiedene Weltmodelle – nämlich eines von einem biologischen System A mit W0_a und eines von einem biologischen System B mit W0_b – miteinander durch kommunikative Akte ausgetauscht, abgestimmt, verstärkt, verändert … werden konnten.
29. Dies ist der mögliche Ort der Konsensus Realität, von der Tegmark spricht.
30. Weil die individuellen Gehirne unterschiedlicher biologischer Systeme der Art homo sapiens (sapiens) eine hinreichend ähnliche Struktur von Signalverarbeitung und Modellgenerierung haben ist es ihnen möglich, Teile ihres Modells W0 mittels Kommunikation auszutauschen. Kommunikativ können sie austauschen, Ob etwas der Fall ist. Kommunikativ können sie sich zu bestimmten Handlungen koordinieren.
31. Die Zuordnung zwischen den benutzten Signalereignissen und den damit assoziierten Sachverhalten ist zu Beginn offen: sie müssen von Fall zu Fall im Bereich von möglichen Alternativen entschieden werden. Dies begründet arbiträre Konventionen, die dann – nach ihrer Einführung – zu pragmatischen Regeln werden können.
32. Die von Tegmark angesprochene Konsensus Realität ist von daher ein hybrides Konstrukt: primär ist es ein Produkt der internen Realität, Teil des internen Weltmodells W0, aber durch die Beziehung zwischen dem internen Modell W0 mit einer unterstellten externen Welt Wx (also z.B. wm0: Wx –→ W0, wm1:W0 –→ Wx*) und der Hypothese, dass diese Abbildungsprozesse bei unterschiedlichen Individuen A und B der gleichen Art homo sapiens (sapiens) hinreichend strukturell ähnlich sind, kann man annehmen, dass W0_a und W0_b strukturell hinreichend ähnlich sind – EQ(W0_a, W0_b) – und eine arbiträre Zuordnung von beliebigen Signalereignissen zu diesen unterstellten Gemeinsamkeiten damit synchronisierbar ist.
33. Man kann an dieser Stelle den fundamentalen Begriff der Zeichenrelation derart einführen, dass man sagt, dass diese grundlegenden Fähigkeit der Assoziierung von Signalereignissen S und zeitgleich auftretenden anderen Ereignissen O in der unterstellten äußeren Welt Wx sich über die Wahrnehmung dann im internen Weltmodell W0 eines biologischen Systems als S‘-O‘-Beziehung repräsentieren lässt. Diese interne Repräsentation einer in der Außenwelt Wx auftretenden Korrelation von Ereignissen S und O ist dann eine Zeichenrelation SR(S‘,O‘). Die an sich arbiträren Signalereignisse S und die davon unabhängigen zeitgleichen Ereignisse O können auf diese Weise in einer internen Beziehung miteinander verknüpft werden. Über diese intern vorgenommene Verknüpfung sind sie dann nicht mehr arbiträr. Ein Signalereignis s aus S und ein anderes Ereignis o aus O erklären sich dann gegenseitig: SR(s‘,o‘) liest sich dann so: das Signalereignis s‘ ist ein Zeichen für das andere Ereignis o‘ und das andere Ereignis o‘ ist die Bedeutung für das Zeichen s‘. Insofern verschiedene Systeme ihre Zeichenrelationen koordinieren entsteht ein Kode, ein Zeichensystem, eine Sprache, mittels deren sie sich auf Basis ihrer internen Weltmodelle W0 über mögliche äußere Welten verständigen können.
34. Die Konsensus Realität wäre demnach jener Teil des Bewusstseins eines biologischen Systems, dessen Phänomene (Qualia) sich über eine hinreichende Korrespondenz mit einer unterstellten Außenwelt Wx mit den internen Modellen W0 anderer Systeme koordinieren lassen.
35. Dass die beteiligten Signalereignisse als Zeichen mittels Symbolen realisiert werden, mittels Ausdrücken über einem Alphabet, später dann mit einem Alphabet, das man einer mengentheoretischen Sprache zuschreiben kann, die zur Grundsprache der modernen Mathematik geworden ist, ist für den Gesamtvorgang zunächst unwesentlich. Entscheidend ist die biologische Maschinerie, die dies ermöglicht, der ‚Trick‘ mit dem Bewusstsein, das das System von der unfassbaren Komplexität der beteiligten automatischen Prozessen befreit, von der Fähigkeit zu Abstraktionen (was hier noch nicht erklärt wurde), von dem fantastischen Mechanismus eines Gedächtnisses (was hier auch noch nicht erklärt wurde), und manchem mehr.
36. Dass Tegmark das Konzept der Konsensus Realität einführt, sich aber die Details dieser Realität ausspart, ist eine Schwachstelle in seiner Theoriebildung, die sich im weiteren Verlauf erheblich auswirken wird. Man kann schon an dieser Stelle ahnen, warum seine These von der äußeren Welt Wx als mathematischem Objekt möglicherweise schon im Ansatz scheitert.

SEMIOTIK GRUNDLEGENDER ALS PHYSIK?

37. Ohne diesen Punkt hier voll zu diskutieren möchte ich an dieser Stelle zu überlegen geben, dass der Erklärungsanspruch der Physik in weiten Teilen sicher berechtigt und unverzichtbar ist. Doch bei der Reflexion auf die Grundlagen einer physikalischen Theorie (die letztlich auch Teil einer wissenschaftlichen Erklärung sein sollte) müssen wir offensichtlich die Physik verlassen. Die klassische und die moderne Physik hat für ihre Existenz und ihr Funktionieren eine Reihe von Voraussetzungen, die nicht zuletzt den Physiker selbst mit einschließen. Sofern dieser Physiker als biologisches System ein Zeichenbenutzer ist, gehen die Gesetzmäßigkeiten eines Zeichenbenutzers als Voraussetzungen in die Physik ein. Sie hinterlassen nachhaltige Spuren in jeder physikalischen Theorie qua Zeichensystem. Diejenige Wissenschaft, die für Zeichen allgemein zuständig war und ist, ist die Semiotik. Bis heute hat die Semiotik zwar noch keine einheitliche, systematische Gestalt, aber dies muss nicht so sein. Man kann die Semiotik genauso wissenschaftlich und voll mathematisiert betreiben wie die moderne Physik. Es hat halt nur noch niemand getan. Aber die Physik hat ja auch noch niemals ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen vollständig reflektiert. Vielleicht können sich eine neue Semiotik und eine neue Physik die Hand geben für ein gemeinsames Abenteuer des Geistes, was die Denkhemmungen der Vergangenheit vergessen macht. Das Beharren auf tradierten Vorurteilen war schon immer das größte Hindernis für eine tiefere Erkenntnis.

NACHTRAG

Konzepte in Anlehnung an Tegmark (2014) Kap.9 von G.Doeben-Henisch
Konzepte in Anlehnung an Tegmark (2014) Kap.9 von G.Doeben-Henisch

In Ergänzung zum vorausgehenden Text kann es hilfreich sein, sich klar zu machen, dass Tegmark als Physiker ein biologisches System der Art homo sapiens (sapiens) ist, dessen primäre Wirklichkeit in einem internen Modell der Art W0 zu suchen ist. Um sich mit seinen Physikkollegen zu verständigen benutzt er mathematische Texte, die mit bestimmten Messwerten korreliert werden können, die ebenfalls als Zeichen von Messprozeduren generiert werden. Der Zusammenhang der Messwerte mit den mathematischen Texten wird intern (!!!) kodiert. Insofern spielt die Art und Weise der internen Modelle, ihre Beschaffenheit, ihre Entstehung, ihre Abgleichung etc. eine fundamentale Rolle in der Einschätzung der potentiellen Bedeutung einer Theorie. Physikalische Theorien sind von daher grundlegend nicht anders als alle anderen Theorien (sofern diese mathematische Ausdrücke benutzen, was jeder Disziplin freisteht). Sie unterscheiden sich höchstens durch die Art der Messwerte, die zugelassen werden. Sofern eine moderne philosophische Theorie physikalische Messwerte akzeptiert — und warum sollte sie dies nicht tun? — überlappt sich eine philosophische Theorie mit der Physik. Sofern eine moderne philosophische Theorie die Voraussetzungen einer physikalischen Theorie in ihree Theoriebildung einbezieht, geht sie transparent nachvollziehbar über die Physik hinaus. Semiotik sehe ich als Teilaspekt der Philosophie.

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NOTIZEN ZU DEN GROSSEN MEILENSTEINEN DER LEBENSPHÄNOMENE

  1. Wenn man Bücher wie z.B. das von B.Kegel zu den Mikroben oder jenes von Storch, Welsch und Wink zur Evolutionsbiologie (hier abgekürzt: EB) liest, dann kann man sich an der ungeheuren Vielfalt der Phänomene berauschen. Doch diese Bücher bieten zugleich Ansatzpunkte zum Verstehen, dass sich diesen Phänomenen Strukturen zuordnen lassen, innerhalb deren sie auftreten; mehr noch; man erkennt ansatzweise auch Prozesse, die solche Strukturen hervorbringen und verändern.
  2. Viele sprechen in diesem Zusammenhang von Evolution, doch darf man fragen, ob das, was normalerweise als Evolution bezeichnet wird, schon jenen Prozesse beschreibt, der tatsächlich ablaufen. Die Antwort hängt davon ab, welchen Rahmen man voraussetzt. Wieviele und welche Phänomene nehme ich ernst, will ich erklären.
  3. In EB nennen die Autoren auf S.90 zehn Ereignisse, von denen Sie sagen, dass Sie im Kontext der bekannten Lebensphänomene etwas Besonderes darstellen:
    1. Beginn des Lebens (erste Zellen), ca. -4Mrd
    2. Auftreten eukaryontischer Zellen, ca. -2Mrd
    3. Vielzellige Verbände, ca. -1.85 Mrd
    4. Hartstrukturen, ca. -0.6Mrd
    5. Räuber, ca. -0.57 Mrd
    6. Riffe, ca. -0.525
    7. Besiedlung des Landes, ca. -0.42
    8. Bäume/ Wald, ca. -0.365
    9. Flug, ca. -0.310
    10. Menschliches Bewusstsein, ca. -0.05Mrd
  4. Diesen Phänomenen ist gemeinsam, dass sie alle auf der Funktionsweise und der Kooperation von Zellen (Archaeen, Bakterien, Eukaryoten) basieren.
  5. Andererseits wissen wir, dass sie sich nicht im luftleeren Raum abgespielt haben, sondern unter sehr konkret realen Bedingungen der Erde in ihrer jeweiligen Verfassung. Dies bedeutet, diese Phänomene repräsentieren nur eine Seite, eine Hälfte, des Phänomens. Die andere Seite, die andere Hälfte ist die jeweilige Umgebung. Letztlich ist es diese Umgebung, die diktiert, vorgibt, was überhaupt möglich ist.
  6. So ist die Transformation der Umgebung von einer Nicht-Sauerstoffwelt zu einer Sauerstoffwelt ein extremes Ereignis: die biologischen Strukturen haben einen Trigger gefunden, mit dem sie die Verhältnisse unter und über Wasser so radikal geändert haben, dass nicht nur eine neue, verbesserte Form der Energieausnutzung aller Zellen möglich wurde, sondern zusätzlich entstand eine Atmosphäre, die das Wasser der Ozeane daran gehindert hat, dieses Wasser durch die UV-Strahlung praktisch verdunsten zu lassen.
    1. Beginn des Lebens (erste Zellen), ca. -4Mrd
    2. Beginn der Sauerstoffproduktion (ca. -3.5 bis -2.5 Mrd) und deren Umwandlung der Atmosphäre (ca. ab -2.4/ -2.3 Mrd)
    3. Auftreten eukaryontischer Zellen, ca. -2Mrd
    4. Vielzellige Verbände, ca. -1.85 Mrd
    5. Hartstrukturen, ca. -0.6Mrd
    6. Räuber, ca. -0.57 Mrd
    7. Riffe, ca. -0.525
    8. Besiedlung des Landes, ca. -0.42
    9. Bäume/ Wald, ca. -0.365
    10. Flug, ca. -0.310
    11. Menschliches Bewusstsein, ca. -0.05Mrd
  7. Obwohl die Entstehung der Sauerstoffwelt kein biologisches Phänomen im engeren Sinne ist, ist es dennoch ohne die Aktivität biologischer Lebensformen nicht erklärbar. Anders gesagt, zunächst ist die Erde, wie sie ist, und die biologischen Strukturen müssen sich innerhalb dieser Gegebenheiten einen Weg suchen. Nach ca. 1.5 Mrd Jahren führt aber die Aktivität der biologischen Strukturen in Interaktion mit der vorhandenen Welt dazu, diese Welt real so zu verändern, dass sie für die biologischen Strukturen eine andere Welt geworden ist. Die biologische Strukturen im Mikrobereich des Lebens hatten und haben eine solche Kraft, dass sie einen ganzen Planeten samt seiner Atmosphäre nachhaltig verändern konnten. Ohne die so entstandene Sauerstoffwelt wäre alles Leben auf der Erdoberfläche, so, wie wir es heute kennen, unmöglich.
  8. Nachdem ein Bewusstsein in der Form des menschlichen Bewusstseins auftrat, entwickelten die Menschen auf der Basis dieses Bewusstseins in relativ kurzer Zeit und dann immer schneller, Verhaltensweisen und Lebensformen mit einer Unzahl von Spielarten, bei denen es nicht ganz leicht ist, zu sagen, ob sie bedeutsam waren/ sind oder nicht. Letztlich hängt es immer von der Betrachtungsweise ab, ob etwas in einem gewählten Kontext bedeutsam erscheint. Die folgende Liste ist daher nicht zu lesen als eine dogmatische Festsetzung als vielmehr nur eine lockere Auswahl einiger Phänomene von vielen, die möglicherweise eine wichtige Rolle spielen.
    1. Beginn des Lebens (erste Zellen), ca. -4Mrd
    2. Beginn der Sauerstoffproduktion (ca. -3.5 bis -2.5 Mrd) und deren Umwandlung der Atmosphäre (ca. ab -2.4/ -2.3 Mrd)
    3. Auftreten eukaryontischer Zellen, ca. -2Mrd
    4. Vielzellige Verbände, ca. -1.85 Mrd
    5. Hartstrukturen, ca. -0.6Mrd
    6. Räuber, ca. -0.57 Mrd
    7. Riffe, ca. -0.525
    8. Besiedlung des Landes, ca. -0.42
    9. Bäume/ Wald, ca. -0.365
    10. Flug, ca. -0.310
    11. Menschliches Bewusstsein, ca. -0.05Mrd
    12. Erste Städte, ca. -10.000
    13. Schriftsprachen, ca. -3.000
    14. Gesetze
    15. Bücher
    16. Elektrizität
    17. Energiegewinnung mit fossilen Brennstoffen, Atomenergie,Wasser, Wind, Sonne, Bioreaktoren…
    18. Mobiler Verkehr
    19. Industrielle Ernährungswirtschaft
    20. Megastädte (mehr als 10 Mio Einwohner)
    21. Computer
    22. Gentechnik
    23. Vernetzte Computer
  9. Wir können heute definitiv feststellen, dass die Aktivitäten alleine des homo sapiens, einer absoluten Minderheit im Kontext des Lebens, das Ökosystem der Erde wie auch die Erde selbst schon so nachhaltig verändert hat, dass die Ressourcen für Nahrung knapp werden, dass ein gewaltiges Artensterben eingesetzt hat, dass wichtige Biotope zerstört werden, und dass das Klima sich in einer Weise zu verändern begonnen hat, das zu sehr nachhaltigen Störungen führen kann, die dann die Lebensbedingungen allgemein erschweren werden. Das komplexeste (? wie zu messen?) Produkt, was der Lebensprozess bislang hervorgebracht hat, der homo sapiens, hat offensichtlich Probleme, mit der vorfindlichen Komplexität, zu der der Mensch selbst auch gehört, fertig zu werden. Deutet man dies als mangelnde Anpassungsfähigkeit, dann sagt die bisherige Geschichte voraus, dass eine größere Katastrophe eintreten wird, durch die alle Organismen mit einem schlecht angepassten Verhalten aussterben werden.
  10. Das Besondere der aktuellen Situation ist, dass der Mensch sein Verhalten tatsächlich weitgehend selbst bestimmen kann. Wenn die Menschheit besser wüsste, was am besten zu tun ist, dann könnte sie dies einfach tun. Im Alltagsleben menschlicher Gesellschaften gibt es aber so viele Prozesse, die viel kurzsichtigere, egoistischere, emotional verblendete Ziele verfolgen, die keinerlei Bezug zum großen Ganzen haben. In dem Masse, wie diese kurzsichtigen Perspektiven die Mehrheit bilden, den Ton angeben, in dem Masse wird das gesamtmenschliche Verhalten die Erde weiterhin in wichtigen Bereichen nachhaltig zerstören und damit eine Anpassungskatastrophe einleiten.
  11. Man könnte in dieser Situation den Schluss ziehen, dass die Menschen neue geistige Konzepte, neue Verhaltensmodelle, ein neues=besseres Menschenbild, neue Regeln, neue Ethiken benötigen, um sich den veränderten Verhältnissen angemessen zu nähern. Nimmt man die allgemeinen Medien als Gradmesser für das alltägliche Denken, dann findet man hier derart primitive und rückwärtsgewandte Konzepte, dass nicht zu sehen ist, wie von hier eine ‚Erneuerung‘ des Denkens für eine gemeinsame Zukunft stattfinden soll. Begleitet wird diese regressive Medienwelt von einer – dann nicht verwunderlichen – Radikalisierung, Vereinfachung, Nationalisierung, Gewaltverherrlichung, die sich in der Politik dahingehend niederschlägt, dass Abgrenzungen, Nationalisierungen, Radikalisierungen bevorzugt werden. genau das Gegenteil wäre notwendig. Wenn das die einzige Antwort ist, die die Menschheit auf die gewachsenen Komplexitäten und zunehmenden Umweltzerstörungen zu bieten hat, dann wird es für eine nachhaltige Zukunft nicht reichen.
  12. Nachbemerkung: die obige Liste an Ereignissen könnte (und müsste) man natürlich auch nach hinten verlängern. Bis hin zum sogenannten Big Bang. Über die Stufen
    1. Big Bang
    2. Subatomare Teilchen
    3. Atome
    4. Gaswolken
    5. Sterne
    6. Moleküle
    7. Galaxien
  13. wäre auch eine Menge zu sagen. Alle wichtige Fragen hat die Physik bislang nicht gelöst. Dass die Physik bislang fantastische Ergebnisse erzielt hat ist wunderbar und anzuerkennen. Es wäre aber ein fataler Fehler, jetzt zu glauben, wir wüssten damit schon viel und könnten uns jetzt ausruhen. Nein, wir wissen gerade mal so viel, dass wir abschätzen können, dass wir fast nichts wissen. Alles hängt ab von der jeweils jungen Generation an Ingenieuren, Wissenschaftlern und Forschern. Wer hilft Ihnen, die entsprechenden Ziele zu setzen und die notwendigen Wege zu gehen?