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Buch: Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab? – Kapitel 4

VORBEMERKUNG: Der folgende Text ist ein Vorabdruck zu dem Buch Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab?, das im November 2015 erscheinen soll

Rahmenbedingungen des Wissens

Wenn wir aufwachen in unserer schönen neuen Welt, können wir nachlesen, welch Böses Menschen anderen Menschen bisher zugefügt haben. Wir können Verhalten beobachten, das solch Böses hervorbringt: konkreten Handlungen, Aktionen, Objekte und Werkzeuge, die dazu benutzt werden. Was wir nicht können, nicht so ohne weiteres, das ist, in das Innere des Menschen zu schauen, warum Menschen anderen Menschen Böses zufügen.

Was geht in Menschen vor, wenn sie sich so verhalten? Wissen sie selbst so genau, was sie da tun, wenn sie etwas tun?

Was geht in Menschen vor, die andere Menschen foltern, um mit Gewalt heraus zu finden, was andere Menschen Denken oder Wissen (Siehe hier einen kurzen Überblick zur Folter)? Da auch Unschuldige unter Folter Handlungen gestehen können, die sie nie begangen haben, geht der Anwendung von Folter eine Vorverurteilung voraus: man ist schon überzeugt, dass man einen Täter vor sich hat. Zugleich verachtet man diesen Menschen, da man bereit ist, ihn zu zerstören, obgleich er möglicherweise unschuldig ist.

Und es gibt auch dies: Menschen helfen Menschen, Menschen ermöglichen Leben. Warum tun sie das?

Dort hinter den Augen

Die Antwort auf die Frage, warum Menschen dies und jenes tun, liegt offensichtlich im ‚Inneren‘ des Menschen. Dort, hinter seinen Augen, hinter seinem Gesicht, das mal lächelt, mal weint, mal zürnt, dort gibt es ‚geheimnisvolle Kräfte‘, die ihn, uns, Dich und mich, dazu bringen das eine zu tun, und das andere zu lassen.

Und, wie die moderne Biologie uns in Gestalt der Gehirnforschung lehrt, ist es vor allem das Gehirn, in dem ca. 100 Milliarden Gehirnzellen miteinander ein Dauergespräch führen, dessen Nebenwirkungen die eine oder andere Handlung ist, die wir vornehmen.

Wenn wir uns auf die moderne Biologie einlassen, auf die Gehirnwissenschaft, dann erkennen wir sehr schnell, dass das Gehirn, das unser Verhalten bestimmt, selbst keinen Kontakt mit der Welt hat. Es ist im Körper eingeschlossen, quasi abgeschottet, oder auch isoliert von der Welt jenseits des Körpers.

Das Gehirn bezieht sein Wissen über die Welt jenseits der Gehirnzellen quasi von ‚Mittelsmännern‘, von speziellen Kontaktpersonen, von Übersetzern; dies sind unsere Sinnesorgane (Augen, Ohren, Haut, Geschmackszellen, Gleichgewichtsorgan, …)(Anmerkung: Siehe: Sinnesorgan, Sensory receptor, Sensory system), die bestimmte Ereignisse aus der Welt jenseits der Gehirnzellen in die ‚Sprache des Gehirns‘ übersetzen.

Wenn wir sagen, dass wir Musik hören, wunderschöne Klänge, harmonisch oder dissonant, laut oder leise, hoch oder tief, mit unterschiedlichen Klangfarben, dann sind dies für das Gehirn ’neuronale Signale‘, elektrische Potentialänderungen, die man als ‚Signal‘ oder ‚Nicht-Signal‘ interpretieren kann, als ‚An‘ oder ‚Aus‘, oder einfach als ‚1‘ oder ‚0‘, allerdings zusätzlich eingebettet in eine ‚Zeitstruktur‘; innerhalb eines Zeitintervalls können ‚viele‘ Signale auftreten oder ‚wenige‘. Ferner gibt es eine ‚topologische‘ Struktur: das gleiche Signal kann an einem Ort im Gehirn ein ‚Klang‘ bedeuten, an einem anderen Ort eine ‚Bild‘, wieder an einem anderen Ort ein ‚Geschmack‘ oder ….

Was hier am Beispiel des Hörens gesagt wurde, gilt für alle anderen Sinnesorgane gleichermaßen: bestimmte physikalische Umwelteigenschaften werden von einem Sinnesorgan so weit ‚verarbeitet‘, dass am Ende immer alles in die Sprache des Gehirns, in die neuronalen ‚1en‘ und ‚0en‘ so übersetzt wird, dass diese Signale zeitlich und topologisch geordnet zwischen den 100 Milliarden Gehirnzellen hin und her wandern können, um im Gehirn Pflanzen, Tiere, Räume, Objekte und Handlungen jenseits der Gehirnzellen neuronal-binär repräsentieren zu können.

Alles, was in der Welt jenseits des Gehirns existiert (auch die anderen Körperorgane mit ihren Aktivitäten), es wird einheitlich in die neuronal-binäre Sprache des Gehirns übersetzt. Dies ist eine geniale Leistung der Natur(Anmerkung: Dass wir in unserem subjektiven Erleben keine ‚1en‘ und ‚0en‘ wahrnehmen, sondern Töne, Farben, Formen, Geschmäcker usw., das ist das andere ‚Wunder der Natur‘; siehe weiter unten.}.

Die Welt wird zerschnitten

Diese Transformation der Welt in ‚1en‘ und ‚0en‘ ist aber nicht die einzige Übersetzungsbesonderheit. Wir wissen heute, dass die Sinnesinformationen für eine kurze Zeitspanne (in der Regel deutlich weniger als eine Sekunde) nach Sinnesarten getrennt in einer Art ‚Puffer‘ zwischen gespeichert werden (Anmerkung: Siehe Sensory memory). Von dort können sie für weitere Verarbeitungen übernommen werden. Ist die eingestellte Zeitdauer(Anmerkung: Zeitfenster zwischen den aufeinanderfolgenden Zeitpunkten t1 und t2 (t1,t2)} verstrichen, wird der aktuelle Inhalt von neuen Daten überschrieben. Das voreingestellte Zeitfenster (t1,t2) definiert damit, was ‚gleichzeitig‘ ist.

Faktisch wird die sinnlich wahrnehmbare Welt damit in Zeitscheiben ‚zerlegt‘ bzw. ‚zerschnitten‘. Was immer passiert, für das Gehirn existiert die Welt jenseits seiner Neuronen nur in Form von säuberlich getrennten Zeitscheiben(Anmerkung: In Diskussionen, ob und wieweit ein Computer das menschliche Gehirn ’nachahmen‘ könnte, wird oft betont, der Computer sei ja ‚diskret‘, ‚binär‘, zerlege alles in 1en und 0en im Gegensatz zum ‚analogen‘ Gehirn. Die empirischen Fakten legen hingegen nahe, auch das Gehirn als eine ‚diskrete Maschine‘ zu betrachten.).

Unterscheiden sich die ‚Inhalte‘ von Zeitscheiben, kann dies als Hinweis auf mögliche ‚Veränderungen‘ gedeutet werden.

Beachte: jede Sinnesart hat ihre eigene Zeitscheibe, die dann vom Gehirn zu ’sinnvollen Kombinationen‘ ‚verrechnet‘ werden müssen.

Die Welt wird vereinfacht

Für die Beurteilung, wie das Gehirn die vielen unterschiedlichen Informationen so zusammenfügt, auswertet und neu formt, dass daraus ein ’sinnvolles Verhalten‘ entsteht, reicht es nicht aus, nur die Gehirnzellen selbst zu betrachten, was zum Gegenstandsbereich der Gehirnwissenschaft (Neurowissenschaft) gehört. Vielmehr muss das Wechselverhältnis von Gehirnaktivitäten und Verhaltenseigenschaften simultan betrachtet werden. Dies verlangt nach einer systematischen Kooperation von wissenschaftlicher Verhaltenswissenschaft (Psychologie) und Gehirnwissenschaft unter der Bezeichnung Neuropsychologie (Anmerkung: Siehe Neuropsychology).

Ein wichtiges theoretisches Konzept, das wir der Neuropsychologie verdanken, ist das Konzept des Gedächtnisses(Anmerkung: Memory). Mit Gedächtnis wird die generelle Fähigkeit des Gehirns umschrieben, Ereignisse zu verallgemeinern, zu speichern, zu erinnern, und miteinander zu assoziieren.

Ausgehend von den oben erwähnten zeitlich begrenzten sensorischen Speichern unterteilt man das Gedächtnis z.B. nach der Zeitdauer (kurz, mittel, unbegrenzt), in der Ereignisse im Gedächtnis verfügbar sind, und nach der Art ihrer Nutzung. Im Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis kann eine kleine Zahl von Ereignissen im begrenzten Umfang verarbeitet und mit dem Langzeitgedächtnis in begrenztem Umfang ausgetauscht werden (speichern, erinnern). Die Kapazität von sinnespezifischen Kurzzeit- und multimodalem Arbeitsgedächtnisses liegt zwischen ca. 4 (im Kurzzeitgedächtnis) bis 9 (im Arbeitsgedächtnis) Gedächtniseinheiten. Dabei ist zu beachten, dass schon im Übergang vom oben erwähnten sensorischen Speichern zum Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis eine starke Informationsreduktion stattfindet; grob von 100% auf etwa 25%.

Nicht alles, was im Kurz- und Arbeitsgedächtnis vorkommt, gelangt automatisch ins Langzeitgedächtnis. Ein wichtiger Faktor, der zum Speichern führt, ist die ‚Verweildauer‘ im Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis, und die ‚Häufigkeit‘ des Auftretens. Ob wir nach einer Speicherung etwas ‚wiederfinden‘ können, hängt ferner davon ab, wie ein Ereignis abgespeichert wurde. Je mehr ein Ereignis sich zu anderen Ereignissen in Beziehung setzen lässt, umso eher wird es erinnert. Völlig neuartige Ereignisse (z.B. die chinesischen Schriftzeichen in der Ordnung eines chinesischen Wörterbuches, wenn man Chinesisch neu lernt) können Wochen oder gar Monate dauern, bis sie so ‚verankert‘ sind, dass sie bei Bedarf ‚mühelos‘ erinnern lassen.

Ein anderer Punkt ist die Abstraktion. Wenn wir über alltägliche Situationen sprechen, dann benutzen wir beständig Allgemeinbegriffe wie ‚Tasse‘, ‚Stuhl‘, ‚Tisch‘, ‚Mensch‘ usw. um über ‚konkrete individuelle Objekte‘ zu sprechen. So nennen wir ein konkretes rotes Etwas auf dem Tisch eine Tasse, ein anderen blaues konkretes Etwas aber auch, obgleich sie Unterschiede aufweisen. Desgleichen nennen wir ein ‚vertikales durchsichtiges Etwas‘ eine Flasche, ein vertikales grünliches Etwas auch; usw.

Unser Gedächtnis besitzt die wunderbare Eigenschaft, alles, was sinnlich wahrgenommen wird, durch einen unbewussten automatischen Abstraktionsprozess in eine abstrakte Struktur, in einen Allgemeinbegriff, in eine ‚Kategorie‘ zu übersetzen. Dies ist extrem effizient. Auf diese Weise kann das Gedächtnis mit einem einzigen Konzept hunderte, tausende, ja letztlich unendlich viele konkrete Objekte klassifizieren, identifizieren und damit weiter arbeiten.

Welt im Tresor

Ohne die Inhalte unseres Gedächtnisses würden wir nur in Augenblicken existieren, ohne vorher und nachher. Alles wäre genau das, wie es gerade erscheint. Nichts hätte eine Bedeutung.

Durch die Möglichkeit des ‚Speicherns‘ von Ereignisse (auch in den abstrakten Formen von Kategorien), und des ‚Erinnerns‘ können wir ‚vergleichen‘, können somit Veränderungen feststellen, können Abfolgen und mögliche Verursachungen erfassen, Regelmäßigkeiten bis hin zu Gesetzmäßigkeiten; ferner können wir Strukturen erfassen.

Eine Besonderheit sticht aber ins Auge: nur ein winziger Teil unseres potentiellen Wissens ist ‚aktuell verfügbar/ bewusst‘; meist weniger als 9 Einheiten! Alles andere ist nicht aktuell verfügbar, ist ’nicht bewusst‘!

Man kann dies so sehen, dass die schier unendliche Menge der bisher von uns wahrgenommenen Ereignisse im Langzeitgedächtnis weggesperrt ist wie in einem großen Tresor. Und tatsächlich, wie bei einem richtigen Tresor brauchen auch wir selbst ein Codewort, um an den Inhalt zu gelangen, und nicht nur ein Codewort, nein, wir benötigen für jeden Inhalt ein eigenes Codewort. Das Codewort für das abstrakte Konzept ‚Flasche‘ ist ein konkretes ‚Flaschenereignis‘ das — hoffentlich — genügend Merkmale aufweist, die als Code für das abstrakte Konzept ‚Flasche‘ dienen können.

Wenn über solch einen auslösenden Merkmalscode ein abstraktes Konzept ‚Flasche‘ aktiviert wird, werden in der Regel aber auch alle jene Konzepte ‚aktiviert‘, die zusammen mit dem Konzept ‚Flasche‘ bislang aufgetreten sind. Wir erinnern dann nicht nur das Konzept ‚Flasche‘, sondern eben auch all diese anderen Ereignisse.

Finden wir keinen passenden Code, oder wir haben zwar einen Code, aber aus irgendwelchen Emotionen heraus haben wir Angst, uns zu erinnern, passiert nichts. Eine Erinnerung findet nicht statt; Blockade, Ladehemmung, ‚blackout‘.

Bewusstsein im Nichtbewusstsein

Im Alltag denken wir über unser Gehirn nicht so. Im Alltag haben wir subjektiv Eindrücke, Erlebnisse, Empfindungen, Gedanken, Vorstellungen, Fantasien. Wir sind ‚in‘ unserem Erleben, wir selbst ‚haben‘ diese Eindrücke. Wir empfinden alles so, als ob ‚wir‘ selbst (bei jedem einzelnen das ‚Ich‘: ‚ich habe das Erlebnis‘) diese Erlebnisse haben; es sind ‚unsere‘ Erlebnisse‘.

Die Philosophen haben diese Erlebnis- und Erkenntnisweise den Raum unseres ‚Bewusstseins‘ genannt. Sie sprechen davon, dass wir ‚Bewusstsein haben‘, dass uns die Ding ‚bewusst sind‘; sie nennen die Inhalte unseres Bewusstseins ‚Qualia‘ oder ‚Phänomene‘, und sie bezeichnen diese Erkenntnisperspektive den Standpunkt der ‚ersten Person‘ (‚first person view‘) im Vergleich zur Betrachtung von Gegenständen in der Außenwelt, die mehrere Personen gleichzeitig haben können; das nennen sie den Standpunkt der ‚dritten Person‘ (‚third person view‘)(Anmerkung: Ein Philosoph, der dies beschrieben hat, ist Thomas Nagel. Siehe zur Person: Thomas Nagel. Ein Buch von ihm, das hier einschlägig ist, ist ‚The view from nowhere‘ von 1986, New York, Oxford University Press).

Nach den heutigen Erkenntnissen der Neuropsychologie gibt es zwischen dem, was die Philosophen ‚Bewusstsein‘ nennen und dem, was die Neuropsychologen ‚Arbeitsgedächtnis‘ nennen, eine funktionale Korrespondenz. Wenn man daraus schließen kann, dass unser Bewusstsein sozusagen die erlebte ‚Innenperspektive‘ des ‚Arbeitsgedächtnisses‘ ist, dann können wir erahnen, dass das, was uns gerade ‚bewusst‘ ist, nur ein winziger Bruchteil dessen ist, was uns ’nicht bewusst‘ ist. Nicht nur ist der potentiell erinnerbare Inhalt unseres Langzeitgedächtnisses viel größer als das aktuell gewusste, auch die Milliarden von Prozessen in unserem Körper sind nicht bewusst. Ganz zu schweigen von der Welt jenseits unseres Körpers. Unser Bewusstsein gleicht damit einem winzig kleinen Lichtpunkt in einem unfassbar großen Raum von Nicht-Bewusstsein. Die Welt, in der wir bewusst leben, ist fast ein Nichts gegenüber der Welt, die jenseits unseres Bewusstseins existiert; so scheint es.

Außenwelt in der Innenwelt

Der Begriff ‚Außenwelt‘, den wir eben benutzt haben, ist trügerisch. Er gaukelt vor, als ob es da die Außenwelt als ein reales Etwas gibt, über das wir einfach so reden können neben dem Bewusstsein, in dem wir uns befinden können.

Wenn wir die Erkenntnisse der Neuropsychologie ernst nehmen, dann findet die Erkenntnis der ‚Außenwelt‘ ‚in‘ unserem Gehirn statt, von dem wir wissen, dass es ‚in‘ unserem Körper ist und direkt nichts von der Außenwelt weiß.

Für die Philosophen aller Zeiten war dies ein permanentes Problem. Wie kann ich etwas über die ‚Außenwelt‘ wissen, wenn ich mich im Alltag zunächst im Modus des Bewusstseins vorfinde?

Seit dem Erstarken des empirischen Denkens — spätestens seit der Zeit Galileis(Anmerkung: Galilei) — tut sich die Philosophie noch schwerer. Wie vereinbare ich die ‚empirische Welt‘ der experimentellen Wissenschaften mit der ’subjektiven Welt‘ der Philosophen, die auch die Welt jedes Menschen in seinem Alltag ist? Umgekehrt ist es auch ein Problem der empirischen Wissenschaften; für den ’normalen‘ empirischen Wissenschaftler ist seit dem Erstarken der empirischen Wissenschaften die Philosophie obsolet geworden, eine ’no go area‘, etwas, von dem sich der empirische Wissenschaftler fernhält. Dieser Konflikt — Philosophen kritisieren die empirischen Wissenschaften und die empirischen Wissenschaften lehnen die Philosophie ab — ist in dieser Form ein Artefakt der Neuzeit und eine Denkblokade mit verheerenden Folgen.

Die empirischen Wissenschaften gründen auf der Annahme, dass es eine Außenwelt gibt, die man untersuchen kann. Alle Aussagen über die empirische Welt müssen auf solchen Ereignissen beruhen, sich im Rahmen eines beschriebenen ‚Messvorgangs‘ reproduzieren lassen. Ein Messvorgang ist immer ein ‚Vergleich‘ zwischen einem zuvor vereinbarten ‚Standard‘ und einem ‚zu messenden Phänomen‘. Klassische Standards sind ‚das Meter‘, ‚das Kilogramm‘, ‚die Sekunde'(Anmerkung: Siehe dazu: Internationales Einheitensystem (SI)), usw. Wenn ein zu messendes Phänomen ein Objekt ist, das z.B. im Vergleich mit dem Standard ‚Meter [m]‘ die Länge 3m aufweist, und jeder, der diese Messung wiederholt, kommt zum gleichen Ergebnis, dann wäre dies eine empirische Aussage über dieses Objekt.

Die Einschränkung auf solche Phänomene, die sich mit einem empirischen Messstandard vergleichen lassen und die von allen Menschen, die einen solchen Messvorgang wiederholen, zum gleichen Messergebnis führen, ist eine frei gewählte Entscheidung, die methodisch motiviert ist. Sie stellt sicher, dass man zu einer Phänomenmenge kommt, die allen Menschen(Anmerkung: die über gleiche Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Denkens verfügen. Blinde Menschen, taube Menschen usw. könnten hier Probleme bekommen!) in gleicher Weise zugänglich und für diese nachvollziehbar ist. Erkenntnisse, die allen Menschen in gleicher Weise zugänglich und nachprüfbar sind haben einen unbestreitbaren Vorteil. Sie können eine gemeinsame Basis in einer ansonsten komplexen verwirrenden Wirklichkeit bieten.

Die ‚Unabhängigkeit‘ dieser empirischen Messvorgänge hat im Laufe der Geschichte bei vielen den Eindruck vertieft, als ob es die ‚vermessene Welt‘ außerhalb und unabhängig von unserem Bewusstsein als eigenständiges Objekt gibt, und dass die vielen ‚rein subjektiven‘ Empfindungen, Stimmungen, Vorstellungen im Bewusstsein, die sich nicht direkt in der vermessbaren Welt finden, von geringerer Bedeutung sind, unbedeutender ’subjektiver Kram‘, der eine ‚Verunreinigung der Wissenschaft‘ darstellt.

Dies ist ein Trugschluss mit verheerenden Folgen bis in die letzten Winkel unseres Alltags hinein.

Der Trugschluss beginnt dort, wo man übersieht, dass die zu messenden Phänomene auch für den empirischen Wissenschaftler nicht ein Sonderdasein führen, sondern weiterhin nur Phänomene seines Bewusstseins sind, die ihm sein Gehirn aus der Sinneswahrnehmung ‚herausgerechnet‘ hat. Vereinfachend könne man sagen, die Menge aller Phänomene unseres Bewusstseins — nennen wir sie PH — lässt sich aufteilen in die Teilmenge jener Phänomene, auf die sich Messoperationen anwenden lassen, das sind dann die empirischen Phänomene PH_EMP, und jene Phänomene, bei denen dies nicht möglich ist; dies sind dann die nicht-empirischen Phänomene oder ‚rein subjektiven‘ Phänomene PH_NEMP. Die ‚Existenz einer Außenwelt‘ ist dann eine Arbeitshypothese, die zwar schon kleine Kindern lernen, die aber letztlich darauf basiert, dass es Phänomene im Bewusstsein gibt, die andere Eigenschaften haben als die anderen Phänomene.

In diesen Zusammenhang gehört auch das Konzept unseres ‚Körpers‘, der sich mit den empirischen Phänomenen verknüpft.

Der Andere als Reflektor des Selbst

Bislang haben wir im Bereich der Phänomene (zur Erinnerung: dies sind die Inhalte unseres Bewusstseins) unterschieden zwischen den empirischen und den nicht-empirischen Phänomenen. Bei genauerem Hinsehen kann man hier viele weitere Unterscheidungen vornehmen. Uns interessiert hier nur der Unterschied zwischen jenen empirischen Phänomenen, die zu unserem Körper gehören und jenen empirischen Phänomenen, die unserem Körper ähneln, jedoch nicht zu uns, sondern zu jemand ‚anderem‘ gehören.

Die Ähnlichkeit der Körperlichkeit des ‚anderen‘ zu unserer Körperlichkeit bietet einen Ansatzpunkt, eine ‚Vermutung‘ ausbilden zu können, dass ‚in dem Körper des anderen‘ ähnliche innere Ereignisse vorkommen, wie im eigenen Bewusstsein. Wenn wir gegen einen harten Gegenstand stoßen, dabei Schmerz empfinden und eventuell leise aufschreien, dann unterstellen wir, dass ein anderer, wenn er mit seinem Körper gegen einen Gegenstand stößt, ebenfalls Schmerz empfindet. Und so in vielen anderen Ereignissen, in denen der Körper eine Rolle spielt (Anmerkung: Wie wir mittlerweile gelernt haben, gibt es Menschen, die genetisch bedingt keine Schmerzen empfinden, oder die angeboren blind oder taub sind, oder die zu keiner Empathie fähig sind, usw.).

Generalisiert heißt dies, dass wir dazu neigen, beim Auftreten eines Anderen Körpers unser eigenes ‚Innenleben‘ in den Anderen hinein zu deuten, zu projizieren, und auf diese Weise im anderen Körper ‚mehr‘ sehen als nur einen Körper. Würden wir diese Projektionsleistung nicht erbringen, wäre ein menschliches Miteinander nicht möglich. Nur im ‚Übersteigen‘ (‚meta‘) des endlichen Körpers durch eine ‚übergreifende‘ (‚transzendierende‘) Interpretation sind wir in der Lage, den anderen Körper als eine ‚Person‘ zu begreifen, die aus Körper und Seele, aus Physis und Psyche besteht.

Eine solche Interpretation ist nicht logisch zwingend. Würden wir uns solch einer Interpretation verweigern, würden wir im Anderen nur einen leblosen Körper sehen, eine Ansammlung von unstrukturierten Zellen, und was immer der Andere tun wird, nichts von alledem könnte uns zwingen, unsere Interpretation zu verändern. Die ‚personale Wirklichkeit des Anderen‘ lebt wesentlich von unserer Unterstellung, dass er tatsächlich mehr ist als der Körper, den wir sinnlich wahrnehmen können.

Dieses Dilemma zeigt sich sehr schön in dem berühmten ‚Turing Test‘ (Anmerkung: Turingtest), den Alan Matthew Turing 1950 vorgeschlagen hatte, um zu testen, wie gut ein Computer einen Menschen imitieren kann (Anmerkung: Es war in dem Artikel: Alan Turing: Computing Machinery and Intelligence, Mind 59, Nr. 236, Oktober 1950, S. 433–460). Da man ja ‚den Geist‘ selbst nicht sehen kann, sondern nur die Auswirkungen des Geistes im Verhalten, kann man in dem Test auch nur das Verhalten eines Menschen neben einem Computer beobachten, eingeschränkt auf schriftliche Fragen und Antworten(Anmerkung: heute könnte man dies sicher ausdehnen auf gesprochene Fragen und Antworten, eventuell kombiniert mit einem Gesicht oder gar mehr}. Die vielen Versuche mit diesem Test haben deutlich gemacht — was man im Alltag auch ohne diesen Test sehen kann –, dass das beobachtbare Verhalten eines Akteurs niemals ausreicht, um logisch zwingend auf einen ‚echten Geist‘, sprich auf eine ‚echte Person‘ schließen zu können. Daraus folgt nebenbei, dass man — sollte es jemals hinreichend intelligente Maschinen geben — niemals zwingend einen Menschen, nur aufgrund seines Verhaltens, von einer intelligenten Maschine unterscheiden könnte.

Rein praktisch folgt aus alledem, dass wir im Alltag nur dann und solange als Menschen miteinander umgehen können, solange wir uns wechselseitig ‚Menschlichkeit‘ unterstellen, an den ‚Menschen‘ im anderen glauben, und mein Denken und meine Gefühle hinreichend vom Anderen ‚erwidert‘ werden. Passiert dies nicht, dann muss dies noch nicht eine völlige Katastrophe bedeuten, aber auf Dauer benötigen Menschen eine minimale Basis von Gemeinsamkeiten, auf denen sie ihr Verhalten aufbauen können.

Im positiven Fall können Unterschiede zwischen Menschen dazu führen, dass man sich wechselseitig anregt, man durch die Andersartigkeit ‚Neues‘ lernen kann, man sich weiter entwickelt. Im negativen Fall kann es zu Missverständnissen kommen, zu Verletzungen, zu Aggressionen, gar zur wechselseitigen Zerstörung. Zwingend ist keines von beidem.

Zur Fortsetzung mit Kapitel 5.

Einen Überblick über alle Blogbeiträge des Autors cagent nach Titeln findet sich HIER.

Wieweit können wir den ‘biologischen Geist’ durch einen ‘künstlichen Geist’ nachbilden? – Nachreflexion zur Philosophiewerkstatt vom 12.April 2015

Gedankenskizze von der Philosophiewerkstatt am 12-April 2015 in der DENKBAR
Gedankenskizze von der Philosophiewerkstatt am 12-April 2015 in der DENKBAR

1. Trotz wunderbarem Wetter draußen fand sich wieder eine interessante Gruppe von Philosophierenden am 12.April 2015 zur Philosophiewerkstatt in der DENKBAR zusammen.

2. Mittlerweile bildet sich ein ’spezifischer Stil‘ in der Philosophiewerkstatt heraus: Immer weniger vorgefertigter Input durch einen Eingangsvortrag, sondern stattdessen von Anfang an ein ‚gemeinsames Denken‘ entlang einer Fragestellung. Das ‚Gemeinsame‘ wird in einem aktuellen ‚Gedankenbild‘ festgehalten, ‚visualisiert‘, so dass die Vielfalt der Gedanken für alle sichtbar wird. Nichts geht verloren. Dies eröffnet dann jedem die Möglichkeit, anhand der sichtbaren Unterschiede, Lücken und Gemeinsamkeiten ‚fehlende Stücke‘ zu suchen, zu ergänzen, oder vorhandene Begriffe weiter zu erläutern.

3. Als ‚Rhythmus‘ des gemeinsamen Denkens erweist sich ein gemeinsamer Einstieg, dann ‚Blubberpause‘, dann Schlussrunde als sehr produktiv.

GEIST – BIOLOGISCH UND KÜNSTLICH

4. Ausgangspunkt waren die Begriffe ‚Geist‘, ‚Biologisch‘ sowie ‚Künstlich‘.

5. Auf einer Zeitachse betrachtet kann man grob sagen, dass der Begriff ‚Geist‘ in der antiken griechischen Philosophie eine zentrale Rolle gespielt hat, sich bis mindestens ins 19.Jahrhundert durchgehalten hat, dann aber – zumindest im Bereich der Naturwissenschaft – nahezu jegliche Verwendung verloren hat. In den heutigen Naturwissenschaften herrscht der Eindruck vor, man bräuchte den Begriff ‚Geist‘ nicht mehr. Zugleich fehlen damit auch alle ‚Unterstützungsmerkmale‘ für jenes Wertesystem, das einer demokratischen Staatsform wie der deutschen Demokratie zugrunde liegt. ‚Menschenwürde‘ in Art.1 des Grundgesetzes hat im Lichte der aktuellen Naturwissenschaften keine Bedeutung mehr.

6. Gleichfalls auf der Zeitachse beobachten wir, dass das Paradigma der ‚Maschine‘ mit dem Aufkommen des theoretischen Begriffs des Automaten (erste Hälfte des 20.Jahrhunderts) und der Bereitstellung von geeigneter Technologie (Computer) einen neuen Begriff von ‚Künstlichkeit‘ ermöglicht: der Computer als programmierbare Maschine erlaubt die Nachbildung von immer mehr Verhaltensweisen, die wir sonst nur von biologischen Systemen kennen. Je mehr dies geschieht, umso mehr stellt sich die Frage, wieweit diese neue ‚Künstlichkeit‘ letztlich alle ‚Eigenschaften‘ des Biologischen, insbesondere auch ‚intelligentes Verhalten‘ bzw. den ‚Geist im Biologischen‘ nachbilden kann?

GEIST – SUBJEKTIV UND OBJEKTIV NEURONAL

7. Im Bereich des Biologischen können wir seit dem 20.Jahrhundert auch zunehmend differenzieren zwischen der subjektiven Dimension des Geistes im Bereich unseres Erlebens, des Bewusstseins, und den körperlichen, speziell neuronalen Prozessen im Gehirn, die mit den subjektiven Prozessen korrelieren. Zwar ist die ‚Messgenauigkeit‘ sowohl des Subjektiven wie auch des Neuronalen noch nicht besonders gut, aber man kann schon erstaunlich viele Korrelationen identifizieren, die sehr vielen, auch grundsätzlichen subjektiv-geistigen Phänomenen auf diese Weise neuronale Strukturen und Prozesse zuordnen, die zur ‚Erklärung‘ benutzt werden können. Sofern man dies tun kann und es dann auch tut, werden die subjektiv-geistigen Phänomene in die Sprache neuronaler Prozesse übersetzt; damit wirken diese subjektiven Begriffe leicht ‚obsolet‘, ‚überflüssig‘. Zugleich tritt damit möglicherweise eine Nivellierung ein, eine ‚Reduktion‘ von spezifischen ‚Makrophänomenen‘ auf unspezifische neuronale Mechanismen, wie sie sich in allen Lebewesen finden. Erklärung im Stil von Reduktion kann gefährlich sein, wenn man damit interessante Phänomene ‚unsichtbar‘ macht, die eigentlich auf komplexere Mechanismen hindeuten, als die ‚einfachen‘ Bestandteile eines Systems.

MATERIE – INFORMATION1 und INFORMATION2

8. Im Bereich der materiellen Struktur unseres Universums hat es sich eingebürgert, dass man die physikalische Entropie mit einem Ordnungsbegriff korreliert und darüber auch mit dem statistischen Informationsbegriff von Shannon. Ich nenne diesen Informationsbegriff hier Information1.

9. Davon zu unterscheiden ist ein anderer Informationsbegriff – den ich hier Information2 nenne –, der über die Statistik hinausgeht und eine Abbildung impliziert, nämlich die Abbildung von einer Struktur auf eine andere. Im Sinne der Semiotik (:= allgemeine Lehre von den Zeichen) kann man dies als eine ‚Bedeutungsbeziehung‘ deuten, für die es auch den Begriff ’semantische Beziehung‘ gibt. Für die Realisierung einer Bedeutungsbeziehung im Sinne von Information2 benötigt man im physikalischen Raum minimal drei Elemente: eine Ausgangsgröße, eine Zielgröße und eine ‚vermittelnde Instanz‘.

10. Im Falle der Selbstreproduktion der biologischen Zellen kann man genau solch eine Struktur identifizieren: (i) die Ausgangsgröße sind solche Moleküle, deren physikalische Eigenschaften ‚für den Vermittler‘ als ‚Informationen2‘ gedeutet werden können; (ii) die Zielgröße sind jene Verbindungen von Molekülen, die generiert werden sollen; (iii) die vermittelnde Instanz sind jene Moleküle, die die Moleküle mit Information2 ‚lesen‘ und dann die ‚Generierungsprozesse‘ für die Zielgrößen anstoßen. Dies ist ein komplexes Verhalten, das sich aus den beteiligten Elementen nicht direkt ableiten lässt. Nur auf den Prozess als solchen zu verweisen, ‚erklärt‘ in diesem Fall eigentlich nichts.

11. Interessant wird dies nun, wenn man bedenkt, dass das mathematische Konzept, das den heutigen Computern zugrunde liegt, der Begriff des programmierten Automaten, ebenfalls solch eine Struktur besitzt, die es ermöglicht, Information2 zu realisieren.

12. Dies bedeutet, dass sowohl der ‚Kern‘ des Biologischen wie auch der ‚Kern‘ des neuen Künstlichen beide die Grundstruktur von Information2 repräsentieren.

13. Sofern nun das ‚Lebendige‘, das ‚Geistige‘ reduzierbar sind auf eine Information2-fähige Struktur, müsste man nun folgern, dass die Computertechnologie das gleiche Potential besitzt wie das Biologische.

OFFENE FRAGEN

14. Offen bleibt – und blieb bei dem Werkstattgespräch –, ob diese Reduktion tatsächlich möglich ist.

15. Die Frage, ob eine reduktionistische Erklärungsstrategie ausreichend und angemessen ist, um die komplexen Phänomene des Lebens zu deuten, wird schon seit vielen Jahren diskutiert.

16. Eine reduktionistische Erklärungsstrategie wäre ‚unangemessen‘, wenn man sagen könnte/ müsste, dass die Angabe einer Verhaltensfunktion f: I –-> O auf der Basis der beobachteten Reaktionen (Input I, Output O) eines Systems ‚Eigenschaften des Systems‘ sichtbar macht, die sich durch die bekannten Systembestandteile als solche nicht erklären lassen. Dies gilt verstärkt, wenn die Bestandteile eines Systems (z.B.die physikalischen Gatter im Computer oder die Neuronen im Gehirn) von sich aus keinerlei oder ein rein zufälliges Verhalten zeigen, es sei denn, man würde – im Falle des Computers – ‚in‘ die Menge der Gatter eine ‚Funktion‘ ‚hineinlegen‘, die dazu führt, dass sich die Gatter in dieser bestimmten Weise ‚verhalten‘. Würde man nun dieses spezifische Verhalten dadurch ‚erklären‘ wollen, dass man einfach die vorhandenen Gatter verweist, würde man gerade nicht erklären, was zu erklären wäre. Überträgt man diesen Befund auf biologische oder generell physikalische Systeme, dann müsste man mindestens mal die Frage stellen, ob man mit den reduktionistischen Strategien nicht genau das vernichtet, was man erklären sollte.

17. Eine Reihe von Physikern (Schrödinger, Davis) haben das Auftreten von Information2 im Kontexte des Biologischen jedenfalls als eigenständiges Phänomen gewürdigt, das man nicht einfach mit den bekannten physikalischen Erklärungsmodellen ‚erklären‘ kann.

AUSBLICK PHILOSOPHIEWERKSTATT MAI UND JUNI

18. Die nächste Philosophiewerkstatt am 10.Mai 2015 will sich der Frage widmen, wie ein einzelner innerhalb einer multikausalen Welt überhaupt noch sinnvoll entscheiden kann. Speziell auch die Frage, welche Wirkung man überhaupt noch erzielen kann? Ist nicht irgendwie alles egal?

19. Die Philosophiewerkstatt am 14.Juni ist die letzte Werkstatt vor der Sommerpause. Es wird im Anschluss an die Sitzung ein offener Abend mit voller Restauration angeboten werden und mit der Möglichkeit, über das weitere Vorgehen zu diskutieren (welche Formate, zusätzliche Ereignisse,…).

Einen Überblick über alle Beiträge zur Philosophiewerkstatt nach Themen findet sich HIER

SEXUALITÄT – REKONSTRUKTION – DER GEIST BEGINNT DURCHZUSCHIMMERN oder: Memo zur Philosophiewerkstatt vom 10.Mai 2014

TERMIN: die nächste Philosophiewerkstatt findet am Sa, 14.Juni 2014, 19:00h im Gewölbekeller des Confetti statt (letzte Philosophiewerkstatt vor der Sommerpause)

PRÄLUDIUM

1. Der Tag war bewölkt, regnerisch, kühl, und dann an einem Samstagabend sich aufzuraffen … aber das Confetti-Gewölbe empfing alle angenehm warm, in einer Mischung aus Atelier, Kleinkunstbühne und Wohnzimmer.

2. Da ich es geschafft hatte, meine Materialien nicht richtig abzuspeichern, waren sie irgendwie weg und es verlief trotzdem sehr spannend ….

3. Nach der üblichen Begrüßung und kurzen Einstimmung auf die gemeinsame Suche nach der Wahrheit haben wir uns zunächst das ‚Soundgemälde‘ angehört, das ich von den Tonaufnahmen der spontanen Wortspielen zum Schluss der letzten Sitzung gemacht hatte. Ich habe dem Stück spontan den Titel Die Wucht der einzelnen Momente gegeben. Es entstand – wie gesagt – zunächst als relativ schlechte Aufnahme von mehreren spontanen Äußerungen im Rahmen der Philosophiewerkstatt vom 12.April 2014. Ich hatte dann einzelne Momente aus diesen Aufnahmen extrahiert (dabei gab es Probleme mit der SW; es funktionierte nicht so wie im Handbuch beschrieben). Stoppte dann auch bald mit dem Extrahieren, da dies eine riesige Aufgabe ist; habe dann mit den Fragmenten herumgespielt, die ich hatte. Auffallend war, wie rhythmisch diese Stimmschnipsel wirkten. Ich habe dann ein Mosaik von solchen Stimmschnipseln erstellt, einzelne Worte oder Wortteile, in Wiederholung, wie in einem Gespräch; das Ganze umrahmt von etwas Orgel (mit viel Hall) und einem Streichbass. Es ist jetzt wie es ist. Wenn man die Personen kennt, die zu den Stimmen gehören, dann sind diese Personen in diesen Stimmen ‚wie sie wirklich sind‘; selbst im Fragment leuchtet das ‚Ganze‘ durch…

5. Die Reaktion auf dieses ‚Klangbild‘ war überraschend positiv.

SEXUALITÄT ALS SUBJEKTIVES PHÄNOMEN

Vom 'Bewusstsein' zu 'Modellen', die helfen, die Einzelphänomene zu deuten
Vom ‚Bewusstsein‘ zu ‚Modellen‘, die helfen, die Einzelphänomene zu deuten

6. Entsprechend der aktuellen Diskussion benutze ich das Schema Bewusstsein – Nichtbewusstsein (mit individuellem Unterbewusstsein) als roten Faden bei der Analyse des Phänomens ‚Sexualität‘.

7. Der primäre Ausgangspunkt für alle Menschen ist ihr eigenes subjektives Erleben, ihr individuelles Bewusstsein, mit dem sie sich als Kind und junger Mensch vorfinden, das sich im Laufe des Lebens weiterentwickeln kann. Zum Einstieg sprachen wir kurz über das folgende Bild, das ich für einen früheren Blogeintrag mal entwickelt hatte.

Augen der Begierde 1
Augen der Begierde 1

8. Im subjektiven Erleben zeigt sich neben vielem anderen auch die ‚Sexualität‘ in verschiedenen Gefühlsäußerungen, Spannungen, Erregungen, Ekstasen, Abfall von Erregungen, …. ein breites Spektrum. Das Ganze aber eingeflochten in die unterschiedlichen individuellen Situationsgeflechte, mit anderen Menschen. Diese anderen Menschen können nah – fern sein, können freundlich – unfreundlich – gewalttätig sein, anerkennend oder verachtend, liebevoll oder gemein, kalt; zustimmend oder ablehnend; positiv oder negativ Angst machend. Die individuelle Sexualität wird also immer verflochten sein mit all diesem und so wird jeder sein individuelles Bild haben.

9. Solange man im individuellen Erleben verharrt, erlebt man zwar all dieses, aber oft, meistens, wird man nicht verstehen, warum dies so passiert. Warum hat man diese Bedürfnisse, Spannungen, Erregungen, usw.? Warum hat man sie so? Muss das so sein? Auch wenn man nicht will, können sexuell bezogene Bwusstseinszustände auftreten, eintreten, stattfinden; sie haben eine gewisse ‚Autonomie‘ unserem Wollen gegenüber; sie sind unserer Subjektivität gegenüber ein ‚Etwas‘, oder ein ‚Es‘, wie Freud es mal sagte. Es ist zwar ‚Teil von uns‘, aber aus Sicht des individuellen Erlebens ist es ’selbständig‘, ‚fremd‘, kann ‚bedrohlich‘ wirken, wenn man es nicht ‚im Einklang mt geltenden gesellschaftlichen Normen‘ auflösen kann; es kann punktuell schön und berauschend wirken, wenn es gelingt.

10. Eine Teilnehmerin M.S-J. zeigte ein weiteres Bild, das sie zum Thema Sexualität gemalt hatte und wir sprachen darüber.

SOZIALE ROLLEN, DEUTUNGEN, NORMEN

11. Solange es keine moderne empirische Wissenschaft gab, waren die Menschen dem Phänomen ausgeliefert, so wie einem ‚Naturereignis‘, einer ‚Naturgewalt‘, und sie haben von Anfang an versucht, sich mit dem Phänomen zu arrangieren. In allen Kulturen, zu allen Zeiten finden sich ‚Rollenzuweisungen‘, was eine Frau bzw. was ein Mann zu tun hat, Verhaltensregeln in sozialen Gruppen mit z.T. drastischen Sanktionen, wenn man die Regeln nicht einhält. Von Anfang an gab es neben den ’schönen‘ Aspekten von Sexualität immer auch viel Aggressivität und Gewalt von Seiten der Männer gegenüber Frauen.

12. In den beiden Blogbeiträgen SEXARBEITERiNNEN – SIND WIR WEITER? und SEXARBEITERiNNEN – Teil 2 – GESCHICHTE UND GEGENWART habe ich von einigen Beispielen aus der Gegenwart und er Geschichte berichtet; Auffällig ist, dass die Verbindung von Sexualität und Gewalt von Männern gegenüber Frauen dominant ist. Hier nur zur Erinnerung: Aus dem ersten Weltkrieg gibt es Berichte, dass Zwangsprostitution im großen Stil durch die Regierung eingeführt werden musste, um die Gesundheit, Kampfkraft und Moral der Soldaten zu erhalten. Aus dem zweiten Weltkrieg und aus vielen lokalen Kriegen wird dies ebenfalls berichtet. Vergewaltigungen gehören fast überall dazu. Selbst in den deutschen KZs wurden Bordelle eingerichtet, um die Arbeitsleistung zu steigern, und die Frauen, die darin arbeiten mussten, waren KZ-Insassinnen gewesen, die dazu zwangsverpflichtet worden sind. Nach offiziellen Zahlen des US-Militärs kam es allein im Jahr 2010 zu rund 20.000 Vergewaltigungen von Soldatinnen innerhalb des US-Militärs. Schätzungen gehen von eine viel höheren Dunkelziffer aus,da das Militär sein eigener Richter ist, d.h. die Täter sind hier z.T. die Richter. Das ZDF berichtete im Rahmen einer Heute-Sendung (siehe: Vergewaltigungen in Kenia (im Rahmen des Oberthemas ‘Gewalt gegen Frauen’) von Kenia, wonach jede dritte Frau in ihrem Leben mindestens einmal vergewaltigt worden ist. Im Rahmen der großen europäischen Auswanderungswelle in der Zeit 1850 – 1930 nach Süd- und Nordamerika (65 Millionen Europäer) wurden viele junge Frauen gegen ihren Willen über entsprechende Schlepperbanden in die Bordelle Südamerikas (besonders in Buenos Aires) vermittelt; der größte Anteil sind junge jüdische Frauen, weil deren Situation in den osteuropäischen Ländern und Russland aufgrund von Diskriminierung und wirtschaftlicher Not katastrophal war. Das Schema einer Verschleppung von jungen Frauen durch Vorspielung falscher Tatsachen, findet sich heute in Europa, insbesondere Deutschland, wieder. Viele zehntausend junge Frauen werden aus anderen Ländern unter Vortäuschung falscher Tatsachen nach Deutschland gelockt und dort zur Zwangsprostitution vermittelt. Während junge Frauen in Thailand aus freien Stücken in Bordellen arbeiten können (als einem Beruf neben anderen), sind die Frauen in Bangladesch aufgrund ihrer gesellschaftlichen Lage dazu quasi verurteilt. Sie haben praktisch keine andere Wahl. usw.

13. Interessant wäre hier eine ausführlich Analyse der verschiedenen Deutungen und Normensysteme, mit denen Gesellschaften auf das Phänomen Sexualität reagiert haben, speziell auch die Religionen wie Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam. Eine ‚Erklärung‘ hat keine der großen Religionen geliefert (was ihnen zu ihren Zeiten auch nicht möglich war). Sie haben letztlich das Phänomen ‚benannt‘ und sie haben es mit ‚Bewertungen‘ versehen und einigen ‚Verhaltensregeln‘. Die Grundrichtung geht dahin, Sexualität als Bedürfnis, Trieb und sexuelle Handlungen möglichst zu ‚kanalisieren‘: Ausübung nur in einer gesellschaftlich regulierten Form des Zusammenlebens (‚Ehe‘) mit minimalen Pflichten der Beteiligten bei eindeutiger Bevorzugung des Mannes und Benachteiligung der Frauen (entsprechend den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen). Ausübung von Sexualität außerhalb der ‚regulierten Verhältnisse‘ wurde stark negativ gesehen und wurde massiv sanktioniert (schwere Sünde, Ausschluss aus der Gemeinschaft, bis hin zu Steinigung und Todesstrafe). Andere Formen der Sexualität als zwischen Mann und Frau wurden grundsätzlich als widernatürlich ausgeschlossen. Die Radikalität dieser Verhaltensregeln kann man eventuell als Gradmesser sehen für die ‚Stärke des Sexualtriebs‘, zumindest in der Wahrnehmung dieser alten Gesellschaften. Auffällig ist aber die Asymmetrie in der Bewertung und Sanktionierung. Bei Übertretungen wird in der Regel weniger der Mann als Täter bestraft, sondern die Frau als ‚Auslöser‘ für die Tat des Mannes. Diese Tradition findet heute in vielen islamischen Ländern noch ihre Fortsetzung in der frauenfeindlichen Tradition, dass nicht die Männer bestraft werden, wenn sie Frauen vergewaltigt haben, sondern die Frauen werden geächtet und ausgeschlossen oder gar zusätzlich bestraft (Afghanistan, Bangladesch, Indien, Irak, …). Eine Verantwortung der Männer wird quasi von vornherein ausgeschlossen.

WISSENSCHAFTLICHE REKONSTRUKTION

14. Seit dem Aufkommen der modernen empirischen Wissenschaften, insbesondere seit den großen Fortschritten in der Physik, Chemie, Molekularbiologie, Biologie, Neurowissenschaften und Psychologie – um nur die wichtigsten zu nennen – wurde es möglich, die Frage nach dem Woher, Wie und Warum des subjektiven Erlebens mehr und mehr aufzuhellen. Zwar gibt es noch genügend viele ungeklärte Fragen, was aber die Sexualität angeht, so konnte man dort vieles klären (siehe auch den Blogbeitrag BEWUSSTSEIN – NICHTBEWUSSTSEIN AM BEISPIEL VON SEXUALITÄT UND GESCHLECHT). So wissen wir seit den letzten ca. 50 Jahren (! Leben gibt es seit mindestens ca. 3.8 Milliarden Jahren auf der Erde!), dass es das menschliche Genom ist, ein Molekül, das als Informationsspeicher die Anleitung für die Konstruktion möglicher Körper liefert. Diese Körper haben Strukturen, zu denen geschlechtsspezifische Sexualorgane gehören, die über das Gehirn gesteuert werden. Das Gehirn wiederum reagiert auf Körperzustände und auf Signale aus der Außenwelt und kann dadurch unterschiedliche Erregungszustände im Körper und dann auch im Bewusstsein auslösen. Dies geschieht ‚automatisch‘.

15. Die Wissenschaft weiß mittlerweile, dass der einzelne durch sein Verhalten und sein ‚Denken‘ auf diese körperbedingten Abläufe bis zum gewissen Grad einwirken kann, das genaue Ausmaß, die Stärke dieser Einwirkung, und die möglichen Randbedingungen sind noch nicht endgültig geklärt.

16. Was die Wissenschaft aber klären konnte, ist, dass der Weg vom Informationsspeicher Genom bis zum endgültigen Körper mit seinem Gehirn sehr komplex ist und die Ausformung von geschlechtsspezifischen Organen und das zugehörige Verhalten nicht vollständig deterministisch ist. Zunächst gilt, dass die männlichen geschlechtsspezifischen Merkmal die sind, die im Nachhinein (!) eingeführt werden. Das sogenannte ‚Weibliche‘ ist der normale Grundzustand, und dieser wird bedingt durch die Steuerung durch spezielle Hormone (= Moleküle) geringfügig abgeändert, so dass dann die männlichen Sexualorgane und die spezifischen männlichen Gehirnstrukturen entstehen. Kommt es bei diesem Prozess zu Störungen (die bei solchen komplexen Prozessen unausweichlich sind), dann können diese sehr vielfältig sein (zwar sind die Sexualorgane vielleicht da, aber die Gehirnstrukturen stimmen nicht oder sie sind zwar da aber die steuernden Hormone funktionieren anders oder oder oder).

17. Für Menschen, die sich selbst und die Umwelt zunächst über ihr individuelles Erleben kennen lernen, können solche ‚Störungen‘ erheblich irritierend sein; speziell dann, wenn die Umgebung darauf negativ, ausgrenzend, verächtlich, aggressiv reagiert. Der/ die Betreffende kann ja nichts dafür, das der biologische Entwicklungsprozess bei ihm ‚kreativ‘ war. Die moderne Medizin kann solche Entwicklungsvariationen immer besser erkennen und kann z.T. durch chirurgische eingriffe oder durch entsprechende Hormonpräparate hier ‚gestaltend‘ eingreifen. Nur, solche wissenschaftliche ‚Gestaltungsmöglichkeiten‘ nützen dem einzelnen nur dann etwas, wenn die ‚Öffentlichkeit‘, d.h. alle anderen Mitmenschen, sich klar machen, dass Abweichungen von der statistischen Mehrheit nichts ‚Böses‘ sind, sondern Variationen unserer biologischen Struktur, die systemimmanent sind.

18. Bezüglich der heute immer mehr um sich greifenden Verhaltensweise von ‚gleichgeschlechtlichen‘ Partnerschaften konnte die Wissenschaft zwar einerseits feststellen, dass sich bei solche Menschen Änderungen in der Biochemie der Gehirne finden, man konnte aber nicht eindeutig klären, ob dies nun von den Genen her ‚erzwungen‘ ist oder ob diese Veränderungen schlicht und einfach durch ein verändertes Verhalten induziert wurden.

19. Sollten die neuesten Erkenntnisse einer verhaltensinduzierten Variabilität stimmen, wirft dies ein zusätzliches Licht auf die menschliche Sexualität: sie ist nicht nur im Rahmen der Embryogenese und Ontogenese genetisch gerichtet, sondern sie ist auch verhaltens- (und damit umwelt-) bedingt modifizierbar.

20. Befreit man sich von den unsachlichen Denkverboten der alten Religionen, dann kann man diese Sachverhalte auch so deuten, dass es ein Stück unsere ‚Verantwortung‘ ist, immer wieder neu zu klären, wie wir als Menschheit in der Zukunft leben wollen bzw. sollten. Seit hundert Jahren verzeichnet die menschliche Gesellschaft Veränderungen in der Lebensform, die es so vorher noch nie gegeben hat. viele der biologisch vorprogrammierten Verhaltensweisen (einschliesslich der Sexualität) passen immer schlechter oder sind sogar störend und gefährlich. D.h. der Gang der Dinge erzwingt von uns Kurskorrekturen, Anpassungen. Darüber muss man offen reden, müssen wir uns Austauschen. es geht nicht um irgendwelche ‚Lust‘, es geht um das gemeinsame Leben in einer möglichst gemeinsamen Zukunft.

PHILOSOPHISCHES UND THEOLOGISCHES

21. Neben der Perspektive des individuellen Erlebens in einem individuellen (alternden, durch Verletzungen oder genetisch bedingt verändertem) Körper und der sozialen Dimension des Miteinanders durch Rollenzuweisungen gibt es auch noch die evolutionäre Dimension des ‚Werdens‘ des Lebens auf der Erde.

22. Der Kern des evolutionären Prozesses besteht aus dem Wechselspiel zwischen den Informationsspeichern und den daraus resultierenden Körpern. Die Veränderung der Informationsspeicher geschieht in der Regel über Austauschprozesse, wobei es natürlicherweise zu ‚Veränderungen‘ (‚Mutationen‘) kommt. Dieser Veränderungsprozess ist lokal und als solcher ‚blind‘ für den Kontext und eine mögliche Zukunft. Es ist wie ein gigantischer Würfelprozess, bei dem ein Teil der resultierenden Körper ganz gut ‚zurecht kommt‘, ein kleiner Teil ‚weniger gut‘ bis ‚gar nicht‘, und ein anderer kleiner Teil ‚gut‘ bis ’sehr gut‘. Auf diese Weise hat es ca. 3.8 Mrd Jahre von den ersten biologischen Zellen bis zum homo sapiens sapiens gebraucht.

23. Zwar kann man praktisch bei allen Tieren irgendwelche Formen von Intelligenz konstatieren, aber nur beim homo sapiens sapiens können wir bislang solche Formen von Intelligenz feststellen, die zu komplexen Theorien geführt haben, mit Hilfe von Theorien zu Technologien und komplex organisierten Regelsystemen, Abläufen und Megastädten.
24. Die auffälligste Errungenschaft aber ist, dass der homo sapiens sapiens durch seine geistigen Fähigkeiten in der Lage ist, seinen eigenen Körper, seine eigene Herkunft bis auf die Ebene der Moleküle und Atome so zu rekonstruieren, dass er (als Population) in der Lage ist, das ‚blinde Würfeln der Gene‘ mit Hilfe seiner theoretischen Fähigkeiten aktiv zu verändern und damit evtl. zu ‚beschleunigen‘.

25. Dies bedeutet, die ‚belebte Natur‘ in Form des biologischen Lebens auf der Erde hat sich selbst kontinuierlich so ‚umgebaut‘, dass sie jetzt ihre eigene Entstehung ‚lenken‘ kann. Ein ungeheuerlicher Vorgang. Nach insgesamt 13.8 Mrd Jahren seit dem ‚Big Bang‘ hat die Materie des Universums im homo sapiens sapiens eine ‚Form‘, eine ‚Gestalt‘ angenommen, die die Materie in die Lage versetzt, ’sich selbst‘ anzuschauen und ’sich selbst‘ bis zu einem gewissen Grad zu ‚manipulieren‘ (Schimmert hier nicht etwas durch, was wir eher ‚Geist‘ nennen sollen anstatt ‚Materie‘?).

26. Sollte jemand an ‚Gott‘ glauben, dann wird es spätestens jetzt Zeit, sich klar zu machen, dass dies bedeutet, dass dieser ‚Gott‘ ihn auf diese Weise unmittelbar auffordert, am weiteren Gang der Dinge mit zu wirken. In Gestalt des homo sapiens sapiens beginnt das Universum ’sich selbst‘ anzuschauen und versetzt den homo sapiens sapiens in die Lage, ansatzweise am weiteren Gang der Dinge mit zu wirken.

27. Bedenkt man, wie dieser homo sapiens sapiens gerade dabei ist, die Ressourcen dieser Erde nachhaltig zu zerstören, sozusagen seine eigene Lebensgrundlage, und bedenkt man, dass dieser homo sapiens sapiens noch immer ganz schnell bereit ist, andere Menschen zu Feinden zu erklären, dass er statt zu Kooperationen zu Konfrontationen neigt, dass er statt Wahrheit zu kultivieren, sich mit Fantasiegeschichten über die Welt abspeist, dass er statt sich im internationalen Miteinander wechselseitig zu stärken, dazu neigt, die aktuell Schwächeren brutal auszubeuten, usw. … bedenkt man dies alles, dann erscheint es einem auf den ersten Blick grotesk, dass dieser unfähige wilde Geselle homo sapiens sapiens ernsthaft an der substantiellen Gestalt dieses Universums mitwirken soll.

28. Fakt ist, dass der Gesamtprozess genau diese Dramaturgie bietet: der homo sapiens sapiens, also auch wir, wurden in die Lage versetzt, substantiell einzugreifen (was keiner wollte, es liegt im Prozess!) und es sind nicht unsere aktuellen ‚Idiotien‘, die uns daran hindern werden, sondern es ist das ungeheuerliche Potential des Universums, was uns in eine Richtung ‚drückt‘, in der wir die ‚Schatten der Vergangenheit‘ ablegen müssen und von dem egoistischen Hordendenken zu einer globalen Ethik finden müssen, zu einer globalen Gesellschaft, mit einem ‚fortgeschritteneren Körper‘, ermöglicht durch eine weiter entwickelten Genetik.

29. Neben den vielen Hausaufgaben, die dabei zu lösen sind, gibt es eine, die zentral und maximal schwierig ist: woher wollen wir besser wissen als die ‚würfelnden‘ Gene, in welche Richtung die Reise gehen soll?

NACHBEMERKUNG

Dieser kurze Bericht gibt nicht alle Aspekte wieder, die wir diskutiert haben, aber er kann einen groben Eindruck vermitteln, worüber wir gesprochen haben.

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BEWUSSTSEIN – NICHTBEWUSSTSEIN AM BEISPIEL VON SEXUALITÄT UND GESCHLECHT

Letzte Änderung: 10.Mai 2014 (Links zu den vorausgehenden Beiträgen)

Genetische Informationen beeinflussen die Strukturbildung des Körpers und geschlechterspezifische Hormone beinflussen über Neuronen spezifische Verhaltenskomplexe (bis hin zur Änderung chromosomaler Strukturen)
Genetische Informationen beeinflussen die Strukturbildung des Körpers und geschlechterspezifische Hormone beinflussen über Neuronen spezifische Verhaltenskomplexe (bis hin zur Änderung chromosomaler Strukturen)

1. Im Kontext der aktuellen Diskussion zum Thema Bewusstsein – Nichtbewusstsein (siehe den letzten Beitrag hier) in diesem Blog deutet sich an, dass das Bewusstsein nicht nur nur einen kleinen Teil der tatsächlichen Vorgänge im Körper repräsentiert, sondern zusätzlich geht in die Repräsentation eine spezifische ‚Formatierung‘ ein, die sich so direkt in den auslösenden Ereignissen nicht finden muss.

2. Zu den vielfältigen Phänomenen, die im Bewusstsein aufschlagen, gehören auch Phänomene im Umfeld der Sexualität und der verschiedenen Geschlechter.

3. Wie die verschiedenen Begriffe in der Liste der Kategorien verraten (Sexualität, Sexualbeziehung, SexualarbeiterIn, usw.), gab es in diesem Blog schon öfters Einträge zu diesem Thema (SEXUALITÄT GESTERN, MORGEN, UND, SEXARBEITERiNNEN – SIND WIR WEITER?, (SEXARBEITERiNNEN – Teil 2 – GESCHICHTE UND GEGENWART). Diese Beiträge behandelten grob einzelne Aspekte, z.B. wie sich Sexualität manifestiert und viele Formen (gegenwärtig und vergangen), in denen Sexualität verknüpft ist mit Gewalt gegen Frauen. Dies ist fragmentarisch und bedürfte mannigfaltiger Ergänzungen. Hier soll nun jener Aspekt angesprochen werden, bei dem es um die genetischen und neuronalen Grundlagen der Sexualität und des Geschlechts geht.

4. Zu ‚erleben‘, dass man ’sexuell angeregt‘ ist, ’sexuelle Lust‘ verspürt, man ’sexuell befriedigt‘ ist – um nur einige Aspekte zu nennen – ist eines; ein anderes ist es, zu klären, warum dies überhaupt so ist: Woher kommt das? Warum hat man überhaupt diese Erlebnisse? Verändert sich dies? Haben andere das genauso? Usw.

5. In der Vergangenheit habe ich oft heutige Neurowissenschaftler kritisiert für ihre vielfache methodische Sorglosigkeiten oder für schlechte Artikel selbst in angesehensten wissenschaftlichen Journalen; dazu stehe ich, gleichzeitig habe ich aber auch kein Problem, anzuerkennen, dass die Neurowissenschaften uns – analog wie z.B. die Physik, die Chemie, die Molekularbiologie, die evolutionäre Biologie – in einer neuen Weise Einblicke in die Grundlagen unseres Fühlens und Denkens verschafft haben, die vorher undenkbar erschienen und die unser Bild von uns selbst (und anderen Lebewesen) nachhaltig verändert haben (sofern wir uns auf diese Erkenntnisse einlassen).

6. Im Rahmen der Überlegungen zum Bewusstsein-Nichtbewusstsein angewendet auf die Phänomene im Umfeld von ‚Sexualität‘ und ‚Geschlecht‘ liefert uns die Neurowissenschaft eine Menge interessanter Eckwerte.

7. Heute morgen habe ich in meinen Bücherschrank gegriffen und spontan 8 (Hand-)Bücher aus den Regalen geholt (siehe unten), die alle zur Neurowissenschaft zu rechnen sind (oder als ‚Physiologische Psychologie‘ zumindest sehr nahe benachbart sind). Sie stammen aus dem Zeitraum 1994 – 2012. Bis auf Gazzaniga (2009) und Baars (2010) behandeln alle das Thema ‚Sexualität‘ und ‚Geschlecht‘.

8. Sehr gut lesbar und recht ausführlich ist der Beitrag ‚Sexual Differentiation of the Nervous System‘ von Shah, N.M.; Jessel, T.M.; Sanes, J.R. in Kandell et al. (2012), Kap.56. Sieht man davon ab, dass im Beitrag selbst nicht direkt zitiert wird und die methodischen Fragen unerwähnt bleiben, kann man dem Beitrag aber die Argumentation entnehmen, dass die Gene der Chromosomen zunächst einmal im Rahmen der Embryogenese die Strukturbildung des Körpers beeinflussen (z.B. Ausbildung von Geschlechtsorganen, Ausbildung spezifischer Gehirnstrukturen). Die Steuerung übernehmen dabei spezifische Hormone. Liegen die Strukturen dann vor, steuern die gleichen oder ähnliche Hormone über die Rezeptoren von Neuronen spezifische neuronale Muster, die für bestimmte Verhaltensmuster (sexuelle Erregungszustände, Balzverhalten, Aggression (gegen Konkurrenten), sexuelle Vereinigung, Brutpflege, usw.) verantwortlich sind.

9. Das komplexe Wechselspiel von Strukturen, Hormonen (mit z.T. komplexen Transformationsketten), und passenden Rezeptoren, bietet allerlei Angriffspunkte für ‚Störungen‘, so dass ein Kind zunächst äußerlich z.B. männliche Geschlechtsorgane aufweist, es in seinem hormonellen Systemen darin aber nicht unterstützt wird. Während diese Prozesse heute physiologisch nachvollzogen (und z.T. durch geeignete medizinische Eingriffe ‚korrigiert‘) werden können, ist dies alles für die ’subjektive Erlebnisseite‘, für den/ die Betroffene(n) nicht direkt einsichtig. Er/ Sie empfängt Körpersignale, die mit dem Verhalten anderer Menschen nicht so recht zu korrelieren scheinen.

10. Ferner werden manche hormonellen Prozesse über die Wahrnehmung gesteuert (Milchproduktion bei Müttern aufgrund des Saugreizes). Die sensorischen Signale triggern die Produktion bestimmter Hormone, die wiederum Neuronen aktivieren, die dann zu einem bestimmten Verhalten führen (können). Zusätzlich wurde beobachtet, dass frühkindliche sensorische Erfahrungen (‚Stress‘ oder ‚umsorgt‘ sein) auch soweit in bestimmte Chromosomen hineinwirken können, dass diese sich auf das Verhalten auswirken.

11. Aufgrund der Komplexität des menschlichen Gehirns und des menschlichen Verhaltens samt den vielfältigen Wechsel- und Rückwirkungen ist es aber bei sehr vielen Verhaltensmustern noch nicht eindeutig, ob diese genetisch bedingt sind oder aufgrund des sozialen Umfelds. Dies betrifft insbesondere die vielfältigen Formen von gleichgeschlechtlicher Sexualität. Zwar konnte man nachweisen, dass das Rezeptorverhalten mancher Aktivitäten sich bei Menschen in gleichgeschlechtlichen Beziehungen sich so geändert hat, dass Männer das Rezeptorverhalten von Frauen zeigen und Frauen das Rezeptorverhalten von Männern, aber es ist bislang nicht auszuschließen, dass diese Änderungen allein durch das Verhalten zustande kamen.

12. Soweit meine recht grobe Zusammenfassung. Für Details sollte jeder den Beitrag selber nachlesen. Aus philosophischer Sicht kommt es hier auch nicht auf die molekularbiologischen Details an, sondern auf die allgemeine Struktur, die sich hier zeigt: auch im Falle der für Lebewesen zentralen Sexualität gründet sich unser Erleben und Verhalten auf konkreten neuronalen Schaltkreisen, die mittels Hormonen getriggert werden, und zwar so, dass damit nicht nur ‚Verhalten‘ gesteuert wird, sondern auch die genetischen Grundlagen selbst können selbstreferentiell modifiziert werden.

13. Für das Selbstverständnis von uns Menschen, die wir uns im Alltag an unserer Bewusstseinserfahrung und dem beobachtbaren Verhalten orientieren, kann dies zu Irritationen und Unmenschlichkeiten im Miteinander führen, wenn Menschen aufgrund einer abweichenden genetischen – hormonellen – neuronalen Struktur anders empfinden und sich anders verhalten. In der Geschichte hat dies real zu ‚Verteuflungen‘, ‚Verurteilungen‘, ‚Unterdrückung‘, ‚Ausgrenzungen‘ und ‚Verfolgungen‘ usw. geführt. Religiöse Traditionen haben hier genauso versagt wie andere Spielarten von Moral oder Ethik. Und auch heute ist die Verurteilung und Unterdrückung von ‚Homosexualität‘ (z.B. Rußland) offizielles Recht.

14. Während man konkrete Menschen, die aufgrund ihrer genetischen – hormonellen – neuronalen Strukturen anders erleben und sich verhalten als der ’statistische Durchschnitt‘, grundsätzlich als Menschen achten und sie unterstützen sollte, muss man davon die Frage unterscheiden, wie eine Gesellschaft offiziell mit den vorliegenden genetischen und körperlichen Strukturen der Menschheit auf Zukunft hin umgehen will. Auch wenn wir JEDEN AKTUELL LEBENDEN Menschen als Mitglied der Gattung homo sapiens sapiens achten sollten, müssen wir uns als Menschen die Frage stellen, (i) welche unserer ‚Bilder von uns selbst‘ denn noch ‚angemessen‘ sind und (ii) in welche Richtung denn die Entwicklung wohl geht bzw. ‚gehen sollte‘?

15. Die Menschenbilder, die uns die großen bekannten Religionen (Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam) anbieten, sind nach meinem Verständnis vielfach zu überarbeiten. Die impliziten Menschenbilder der modernen Demokratien gehen in vielen Punkten deutlich über die Menschenbilder der Religionen hinaus, sind aber auch durch den Gang der Erkenntnis partiell überholt. Es wird nicht reichen, einfach nur das ‚Gewohnte‘ zu wiederholen.

16. ‚Sexualität‘ und darum herum aufbauend ‚Geschlecht‘ repräsentiert konkrete Prozesse (die anfällig für Störungen sind), die evolutionär geworden sind, die einem bestimmten Zweck dienten, und die im Heute neu hinterfragt werden könnten und müssten. Vieles von dem ‚Mann-Frau-Gerede‘ klebt am ‚Phänomen‘ und hilft wenig, ein wirkliches Verständnis der wirkenden Prozesse zu vermitteln.

QUELLEN

Buecher vom 12.April 2014 zum Thema genetisch-neuronale Grundlagen der Sexualität
Buecher vom 12.April 2014 zum Thema genetisch-neuronale Grundlagen der Sexualität
  1. Arbib, M.a. et.al (eds) The Handbook of Brain Theory and Neural Networks, Cambridge (MA): Bradford Book, 2003 (2nd ed.), S.680f, Motivation
  2. Baars, J.B.; Gage, N.M. Cognition, Brain, and Consciousness. Introduction to Cognitive Neuroscience, 2nd.ed., Amsterdam et: Elsevier, 2010
  3. Carlson, N.R., Physiologische Psychologie, München – Boston – San Francisco et.al:Pearson Studium, 2004 (8.Aufl.), Kap.10, Sexuelles Verhalten
  4. Gazzaniga, M. S. (Ed.), The Cognitive Neurosciences, London – Cambridge (MA): The MIT Press, 2009 (4th ed.), ‚motivation‘ als ‚Vermeidung‘ (116), als emotionale Reaktion Kap.61, Kap.11 beim Transfer-Lernen, Kap.70 bei Entscheidungsfindung
  5. Gazzaniga, M. S. (Ed.), The Cognitive Neurosciences, London – Cambridge (MA): The MIT Press, 1995, Kap.69-77, Kap.80
  6. Kandel, E.R.; Schwartz, J.H.; Jessell, T.M.; Siegelbaum, S.A.; Hudspeth, A.J.; (Eds.) Principles of Neural Science, 5th.ed., New York et.al: McGrawHill, 2012, Kap.3: Gene und Verhalten, Kap.22: Sensorik und Verarbeitung, Kap.58: Sexuelle Differenzierung des Nervensystems
  7. Nelson, C.A.; Luciana, M. (eds.), Handbook of Developmental Cognitive Neuroscience, Cambridge (MA) – London (Engl.): MIT Press, 2008 (2nd. ed.), S.394f Störungen während der Gehirnentwicklung und deren Folgen
  8. Shepherd, G.M., Neurobiology, 3rd.Ed, New York – Oxford: Oxford University Press, 1994, (ISBN-10: 0195088433, ISBN-13: 978-0195088434), Kap.24 ‚Mating‘

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DENKEINSTELLUNGEN: BEWUSST, EMPIRISCH, KÖRPER, GERHIRN, VERHALTEN …

Vom 'Bewusstsein' zu 'Modellen', die helfen, die Einzelphänomene zu deuten
Vom ‚Bewusstsein‘ zu ‚Modellen‘, die helfen, die Einzelphänomene zu deuten

1. Die Überlegungen zu den Begriffen ‚Bewusstsein/ Nichtbewusstsein‘ setzen indirekt voraus, dass wir in unserer ‚Bewusstheit‘, und darin in unserem ‚Denken‘, verschiedene ‚Einstellungen‘ unterscheiden können.

2. Ein klares Reden über diese verschiedenen Einstellungen ist schwierig, da es sich um Sachverhalte handelt, die sowohl ‚in‘ einer Person verortet sind als auch ‚immateriell‘ in dem Sinne sind, dass sie sich nicht direkt in der ‚Hardware‘ des Körper – sprich: nicht direkt in den Zellstrukturen – ausdrücken. Es handelt sich vielmehr um ‚Funktionen‘ dieser Hardware, um ‚funktionelle Eigenschaften‘, die im ‚Verhalten‘ von großen Zellverbänden ’sichtbar‘ werden, aber auch nicht unbedingt in einem ‚äußerlich beobachtbaren‘ Verhalten, sondern in der ‚Innenperspektive‘ des Gehirns, in jener Form, die wir ’subjektive Erfahrung‘ nennen, wir sprechen von ‚Bewusstsein‘ als der Gesamtheit dieser subjektiven (introspektiven) Erfahrungen. Diese subjektive Erfahrung repräsentiert das ‚funktionelle Verhalten‘ großer Zellverbände, ohne dass dieses Verhalten an den materiellen Eigenschaften der beteiligten Zellen direkt abgelesen werden könnte.

3. Alle die unterscheidbaren Ereignisse, die wir als ‚bewusste Ereignisse‘ unterscheiden können, nennen wir hier ‚Phänomene‘ [PH]. Man könnte daher auch sagen, dass das ‚Bewusstsein‘ [CONSC] gleichbedeutend ist mit der Menge dieser Phänomene, also CONSC = PH.

4. Man kann herausfinden (lernen), dass es eine bestimmte Teilmenge [PHe] der Phänomene [PH] gibt, die zwar subjektive Erlebnisse sind, aber mit etwas ‚korrelieren‘, was ‚außerhalb‘ des Bewusstseins zu existieren scheint, etwas, was auch andere ‚Bewusstseine‘ ‚ähnlich‘ wahrnehmen können, das, was wir ‚intersubjektiv‘ – oder im engeren Sinne ‚empirische‘ – nennen.Das Empirische lässt sich nicht direkt durch das eigene ‚Wollen‘ beeinflussen.

5. Eine Sonderstellung nehmen jene Phänomene ein, die mit dem korrelieren, was wir unseren ‚Körper‘ nennen. Diese sind sowohl empirisch wie auch subjektiv [PHb]. Im Gegensatz zu den ‚reinen empirischen‘ Phänomenen PHe lassen sich die Körperphänomene PHb begrenzt direkt durch das eigene ‚Wollen‘ beeinflussen.

6. Wendet man auf Körperobjekte in der unterstellten Außenwelt die Methoden der Anatomie und Physiologie an, dann kan man ein ‚Modell der Körperstrukturen‘ [BODY] erstellen.

7. Wendet man auf einen Teilaspekt der Außenweltkörper die Methoden der Gehirnwissenschaft an, dann kann man ‚Modelle des Gehirns‘ [NN, BRAIN] erstellen.

8. Wendet man auf das ‚Verhalten‘ der biologischen Außenweltkörper die Methoden der empirischen Psychologie (verhaltensbasierten Psychologie) an, dann kann man Modelle möglicher interner Verarbeitungsstrukturen‘ erstellen, z.B. bzgl. der verschiedenen Gedächtnisfunktionen.

9. Die Beziehung zwischen verhaltensbasierten funktionalen Modellen der Psychologie und den zellbasierten Modellen der Gehirnforschung ist zunächst unbestimmt. Eine wechselseitige Korrelation ist erstrebenswert (dies wären dann Modelle der ‚Neuropsychologie‘).

10. Liegen solche Modelle vor – egal, ob wirklich ‚zutreffend‘ oder ’nicht zutreffend‘ –, dann stehen diese dem bewussten Denken als ‚Orientierungsbilder‘ zur Verfügung, um die verschiedenen aktuellen Phänomene in solche ‚begrifflichen Zusammenhänge‘ einzuordnen und sie dadurch zu ‚deuten‘, zu ‚interpretieren‘.

11. Hier liegt natürlich eine gewisse ‚Selbstreferenz‘ vor: Um die Phänomene unseres Bewusstseins zu deuten, benutzen wir konzeptuelle Modelle (z.B. die funktionalen Modelle der Psychologie). Andererseits haben wir selbst diese konzeptuellen Modelle erstellt. M.a.W. wir selbst konstruieren Zusammenhänge, machen sie explizit, verleihen ihnen einen gewissen ‚deutenden‘, d.h. ’normativen‘, Status, und dann benutzen wir diese Modelle so, als ob sie die Wirklichkeit der unterstellten Außenwelt ‚angemessen repräsentieren‘.

12. Die Modelle selbst sind ’normalerweise‘ nicht vollständig bewusst; sie können aber aufgrund von Ereignissen anhand von ‚verbindenden Ähnlichkeiten‘ ‚aktiviert‘ werden, und zwar so, dass sie deutend wirksam sind. Mit Bezug auf das pschologische Modell würden wir sagen, dass diese Modelle im Langzeitgedächtnis (‚Long Term Memory‘, LTM) ‚gespeichert‘ sind und über sensorische Ereignisse wie auch durch Ereignisse im Kurzzeitgedächtnis ‚aktiviert‘ werden können. Die Neuropsychologie ist leider noch nicht weit genug, um uns hier entscheidend helfen zu können.

13. In der Nutzung von ‚Modellen‘ unterscheidet sich das ‚Alltgsdenken‘ vom ‚wissenschaftlichen‘ Denken nur graduell: im wissenschaftlichen Denken unterliegt der Gebrauch von Modellen und deren Bezug zur unterstellten Außenwelt Regeln der Transparenz, Wiederholbarkeit und Überprüfbarkeit.

14. Allerdings gibt es hier eine ‚historische Altlast‘, deren Aufarbeitung noch aussteht. Die moderne formale Logik (mit Frege, Russel-Whitehead als Bezugspunkt des fortschreitenden Beginns) hat durch die Trennung von ‚Form und Inhalt‘, die sich in der Logik seit Ariostoteles bis ins 19.Jahrhundert gefunden hatte, eine radikale Umwälzung vollzogen, sie hat es aber versäumt, dieses neue Konzept mit dem Alltagsdenken konstruktiv zu versöhnen. Die verschiedenen formalen Semantiken und Ontologien, die für verschiedenste Anlässe entwickelt wurden, bilden in keiner Weise einen ‚Ersatz‘ für den klassischen Bedeutungsinhalt, wie er im Kontext eines sprachlichen Denkens vorliegt. So sehr die aristotelische Logik durch ide unkritische Verknüpfung von Form und Inhalt Schwächen zeigte, so sehr hat die moderne formale Logik hier ein Defizit, das ihren Einsatz im Bereich sprachbasierten Denkens bislang eher einschränkt.

MUSIK

Es gab schon ein Instrumentalstück, aber es hatte so eine eigentümliche ‚Stimmung‘ … das regte mich an, es fortzusetzen mit dem Titel ‚Wenn aus dem Nichtbewusstsein Worte aufsteigen wie Sterne …‘. Ja, es passt zunm Thema. Wenn wir die Sache mit dem Nichtbewusstsein ernst nehmen, dann ist es eine Art von unfaßbarer ‚Dunkelheit‘, die zugleich ein Maximum an Licht bereit hält … es sind die Worte die aus diesem Dunkel-Nichts aufsteigen können wie Sterne… und sie können Licht bringen, nicht nur Hass oder Lüge. Es ist letztlich schwer zu begreifen, warum die einen mehr so, die anderen mehr so fühlen, denken, sprechen, handeln… Es ist sicher nicht so einfach, wie wir uns das oft so gerne zurecht rücken. Es gibt keine absoluten Mauern, keine absolute Dunkelheit, keine totales Ende … was tatsächlich da ist ist etwas ganz anderes, scheint mir …

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WISSEN vs. GEFÜHL oder DEMOKRATIE vs. MACHT – DAS ‚UNGEHEUER‘ LEBT WEITER

WISSEN UND FÜHLEN WAREN ALS THEMEN GESETZT

1. Im Rahmen der Philosophiewerkstatt wurde von Anfang neben dem ‚Wissen‘ u.a. auch der Aspekt des Gefühls thematisiert. Verschiedene TeilnehmerInnen legten Wert darauf, dass wir das Wissen nicht isoliert betrachten, sondern immer auch im Kontext von ‚Gefühl‘ (Emotionen, Stimmungen, Bedürfnissen, …).

2. Es zeigte sich dann im weiteren Verlauf, dass es nicht einfach ist, die Komponente des ‚Gefühls‘ neben der Komponenten ‚Wissen‘ klar heraus zu arbeiten, um die möglichen Wechselwirkungen besser zu sehen.

BEWUSSTSEIN – NICHTBEWUSSTSEIN

3. Erschwerend kam dann noch hinzu, dass in der letzten Philosophiewerkstatt das Thema Bewusstsein – Nichtbewusstsein überraschend in den Mittelpunkt trat. Es wurde allen anhand von Beispielen ansatzweise klar, dass das, was wir ‚bewusst‘ haben ‚von uns‘ möglicherweise nur ein kleiner Teil all dessen ist, was in unserem Körper gleichzeitig passiert. Und nicht nur das, dass möglicherweise die wichtigsten Prozesse, die unser Denken konstituieren, möglicherweise in diesem Bereich des Nichtbewusstseins verortet sind (z.B. die größten und wichtigsten Teile unseres Gedächtnisses samt zugehörigen Prozessen von ‚Abstraktion‘, ‚Kategorienbildung‘, ‚Verknüpfungen zwischen Kategorien‘, usw.).

WISSENSINHALTE (BEWUSST, NICHTBEWUSST)

4. Unterstellen wir mal, dass es außerhalb unseres Körpers eine Welt gibt und nennen wir sie X. Was wir wissen, ist, dass wir mit unserem Körper die Welt immer nur partiell wahrnehmen, immer nur insoweit, als unsere Sinnesorgane uns Teilaspekte dieser Welt liefern. Nennen wir diese Abbildung von Welt X auf intern wahrgenommene Aspekte ‚Wahrnehmung‘ [perc, p], dann könnte man sagen p:X —> X_p, oder p(X)=X_p mit X_p als das, was von der externen Welt X in unserem Körper ‚ankommt‘ (Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, …). Ein Teil von dem, was wir auf diese Weise sensorisch wahrnehmen ist uns bewusst, nicht alles. Zugleich haben wir schon immer ein (Langzeit-)Gedächtnis, in dem jene Aspekte von Weltwahrnehmung ‚lagern‘ – nennen wir sie X_lt – , die unser Körper schon zuvor ‚gespeichert‘ und ‚verarbeitet‘ hat. Die Inhalte dieses Langzeitgedächtnisses sind uns in der Regel nicht bewusst. In der Wechselwirkung zwischen aktueller Wahrnehmung X_p und gespeicherten Wahrnehmungen X_lt entsteht jener Teil von Wahrnehmung X_st, der uns normalerweise ‚bewusst‘ ist. Dies sind laut Forschung immer nur wenige Elemente zur gleichen Zeit (einige sprechen hier von ‚chunks‘ und es gibt Experimente, die darauf hindeuten, dass es ca. +/- 7 solcher ‚chunks‘ sind, die wir gleichzeitig bewusst haben können). Nur das, was in diesem ‚bewussten Teil unseres Gedächtnisses‘ (auch ‚Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis genannt) kann im Langzeitgedächtnis gespeichert und weiter verarbeitet werden.

5. Nach diesen Annahmen haben wir also neben der Wahrnehmung p noch ein Arbeitsbewusstsein st: X_p x X_lt —> X_st, das Aktuelles und Erinnerbares zusammenführt, eine Speicherfunktion store: X_st x X_lt —> X_lt und eine Erinnerungsfunktion rem: X_p x X_st x X_lt —> X_st. Speichern und Erinnern verläuft völlig im Bereich des Nichtbewusstseins, ebenso Teile des Arbeitsbewusstseins (wir sind uns zwar gewisser ‚Inhalte‘ des Arbeitsbewusstseins ‚bewusst‘, wir haben aber kein Bewusstsein davon, wie diese Inhalte zustande kommen).

6. Diese stark vereinfachenden Annahmen liefern folgendes vorläufiges Bild: unsere sensorische Wahrnehmung filtert Teilaspekte X_p von der unterstellten realen Welt X in den Körper hinein. Diese ermöglichen eine bewusste Wahrnehmung X_st durch Wechselspiel mit schon vorhandenen Erfahrungen X_lt. Diese neuen Bewusstseinsinhalte X_st können die vorhandenen Erfahrungen unter bestimmten Bedingungen erweitern, d.h. X_st x X_lt —> X_lt. Dabei ist zu beachten, dass uns normalerweise die Inhalte X_lt des Langzeitgedächtnisses nicht ‚einfach so‘ zur Verfügung stehen, sondern nur dann, wenn das aktuelle Arbeitsgedächtnisses (unser ‚Bewusstsein‘) uns einen Anlass gibt, nach solchen Inhalten zu ’suchen‘, die mit den aktuellen Bewusstseinsinhalten in Verbindung stehen (z.B. Name —> Telefonnummer, Straße, Beruf …)

7. Damit stellt sich die Frage, was wir eigentlich unter ‚Wissen‘ verstehen wollen: diejenigen Inhalte, (i) die gerade in einem Arbeitsgedächtnis ‚bewusst‘ sind oder diejenigen, (ii) die ‚potentiell‘ aus dem Langzeitgedächtnis ‚abrufbar wären‘?

8. Im Rahmen des Alltagshandelns würde man spontan für (ii) votieren, da die alltägliche Erfahrung davon lebt, dass uns ‚gespeichertes Wissen immer dann, wenn wir es ‚brauchen‘, ‚verfügbar‘ ist. Menschen, bei denen dies nicht funktioniert, die nennen wir ‚vergesslich‘ oder wir klassifizieren sie als ‚krank‘, z.B. mit ‚Demenz‘, ‚Alzheimer‘, ‚psychische Störungen‘.

9. Dennoch, wir müssen uns klar machen, dass im Falle von (ii) das Wissen nicht als aktuelle Größe existiert, die in ihrem tatsächlichen Umfang klar erkennbar ausgebreitet vor uns liegt, sondern nur als eine ‚potentielle‘ Größe, die ad hoc nach Bedarf ‚konstruierbar‘ ist. Die Menge solcher Konstruktionen in der Vergangenheit kann dann einen Hinweis auf den ‚Umfang‘ dieses Wissens liefern (das ist, was letztlich auch Intelligenztests machen: sie haben eine Liste von Aufgaben, die als ‚repräsentativ‘ für das Wissen eines Jahrgangs genommen werden und man lässt eine Versuchsperson alle diese Aufgaben bearbeiten. Wenn sich zeigt, dass sie für alle diese Aufgaben das dazu notwendige Wissen aus ihrem Gedächtnis ‚aktivieren‘ konnte, dann gilt ihr Wissen relativ zum vorgegebenen ‚Standard‘ als ’normal‘).

10. Also, ‚Wissen‘ ist eine ‚Größe auf Verdacht‘, die aus gespeicherten Erfahrungen X_lt besteht, die anhand von Wahrnehmungen von Welt X_p und aktuellen Wissensinhalten X_st ‚aktiviert werden können‘. Dieses Bild ist stark vereinfachend, doch lassen wir es momentan mal so stehen. Bislang kommt hier der Faktor ‚Gefühl‘ noch gar nicht vor.

BEDÜRFNISSE, GEFÜHLE, …

11. Aus dem Alltag wissen wir aber, dass z.B. sowohl ‚Bedürfnisse‘ (Hunger, Durst, sexuelle Erregung, …) wie auch starke Emotionen (Trauer, Freude, Wut, Angst, …) das aktuelle Verhalten von Menschen parallel zum ‚Wissen‘ (oder sogar unabhängig vom Wissen) beeinflussen können. Auch hier haben wir den Tatbestand, dass die ‚Entstehung‘ z.B. der Bedürfnisse und Emotionen im Bereich des Nichtbewusstseins liegt und nur die ‚Wirkung‘, ein bestimmter ‚Zustand‘ der Bedürfnisse und Emotionen dann ‚bewusst‘ ist. Im Unterschied zum ‚Wissen‘ über Bedürfnisse und Emotionen eine Art ‚Handlungsdruck‘ aus, entweder im Sinne des ‚Antriebs‘, etwas bestimmtes ‚zu tun‘ (‚angreifen‘, ‚weglaufen‘, …) oder im Sinne der ‚Blockade‘, etwas ’nicht zu tun‘.

12. Bedürfnisse [D] und Emotionen [Em] sind offenbar ‚im Körper‘ zu verorten, entstehen‘ dort, und das ‚Verhalten des Körpers‘ kann sie ‚verändern‘, d.h. der Körper ist nicht nur eine Menge von Zuständen, sondern der Körper als Ganzer ist auch eine Art Funktion K, die aktuelle Zustände auf andere Zustände ‚abbildet‘. Geht man davon aus, dass p(), st(), store(), rem() alles Elemente von K() sind, dann kann man sagen, dass die Körperfunktion nicht nur die externe Welt X ‚verarbeitet‘, sondern zugleich auch ‚Rücksicht nimmt‘ auf diverse ‚interne Zustände‘ [IS], zu denen auch Bedürfnisse D und Emotionen Em gehören, also D ⊆ IS, Em ⊆ IS, X_p ⊆ IS, X_st ⊆ IS, X_lt ⊆ IS und dann K: X x IS —> IS x X oder K(X,IS) = <IS,X>, d.h. unser Körper transformiert nicht nur Teile der umgebenden Welt X in sein Inneres, sondern er verändert auch sein Inneres mit und ohne Einfluss der wahrgenommenen Welt und kann auf diese Welt auch wieder zurückwirken.

KÖRPERFUNKTION K() und WISSENSFUNKTION k()

13. Wie verhält sich die hier jetzt eingeführte allgemeine Körperverhaltensfunktion K() zur Wissensfunktion k() aus dem vorausgehenden Blogeintrag ‚Wahrheit beginnt im Chaos‘?

14. Während die allgemeine Körperfunktion K: X x IS —>IS x X das ‚Gesamtverhalten‘ des Körpers beschreibt, beschränkt sich die Wissensfunktion k: X x IS —> X_m auf die Entstehung des Wissens, allgemein als X_m bezeichnet. Das ‚Wissen X_m‘ als ‚modellierte Form von Welt X‘ ist nur eine Teilmenge der internen Zustände IS: X_M ⊆ IS.

15. Im vorausgehenden Blogeintrag hatten wir den Aspekt betrachtet, dass wir als Menschen die ‚vermutete Welt‘ X immer nur im Lichte des jeweils verfügbaren Wissens X_m ’sehen‘ können, und dass dieses Wissen X_m vor z.B. 3.000 Jahren in vielen Bereichen nicht so detailliert war wie heute. Damit erschien die Welt im ‚Auge des Betrachters‘ viel ‚magischer‘, ‚mystischer‘, ‚geheimnisvoller‘ als heute und bot zahlreiche ‚Projektionsflächen‘ für alle möglichen ‚geheimnisvollen Kräfte‘, oft ‚Gottheiten‘ genannt, die man auch verehrte.

16. Anmerkung: Da das Wissen X_m, das heute im Prinzip verfügbar ist, nicht zwangsweise in die Köpfen der Menschen ‚hineinkommt‘, kann es natürlich sein (und das ist leider der Fall), dass es auch heute Menschen gibt, die nur über Bruchteile des Wissens X_m verfügen und damit auch heute die Welt X als vielleicht ebenso ‚unbegreiflich‘, ‚chaotisch‘, ‚geheimnisvoll‘ usw. erleben wie Menschen aus vergangenen Zeiten (auch heute gibt es ‚Aberglauben‘ und eine Vielzahl von ‚Sekten‘, die dadurch Geld verdienen und Macht ausüben, dass sie dieses wenig entwickelte Wissen der Menschen ausnutzen).

17. Berücksichtigen wir die Differenzierungen der Körperfunktion K(), dann kann man auch die Wissensfunktion k() entsprechend differenzieren und sich klar machen, dass die Formel k: X x IS —> X_m über den Faktor ‚IS‘ eine Vielzahl von ‚Stellschrauben‘ besitzt (auch Bedürfnisse und Emotionen), die bei dem ‚Aufbau des Wissens‘ im Körper mitwirken, sowohl ‚bremsend‘, ‚verzerrend‘ wie auch ‚unterstützend‘. Wie die Alltagserfahrung zeigt, kann eine starke Hass-Emotion Em_h als Teil der inneren Zustände sowohl die Wahrnehmung der Welt X bei einer Person stark beeinflussen, wie auch dann das Bild der Welt X_m, was in dieser Person entsteht. Dies wiederum hat zur Folge, dass diese hasserfüllte Person nach und nach ein stark verzeichnetes Bild der Welt bekommt, was wiederum dazu führt, dass diese Person aufgrund ihres hassverzerrten Weltbildes Dinge tun wird, die sie bei einem anderen Weltbild niemals tun würde. Reale Beispiele für solch eine ‚Hassspirale‘ haben wir leider zu viele in unserer Welt (Hass zwischen Gruppen, Hass zwischen Ethnien, Hass zwischen Nationen, Hass zwischen Weltanschauungen, …).

DEMOKRATIE UND MACHT – Teil 1

18. Wie sieht es nun mit dem Faktor ‚Macht‘ aus im Kontext von ‚Demokratie‘?

19. Die letzten Wochen boten das Schauspiel, dass Russland die Krim annektiert hat und Europa und die USA auf unterschiedliche Weise ihr ‚Missfallen‘ äußerten (dass zur gleichen Zeit in Syrien ein unmenschlicher Krieg geführt wird, in Teilen von Afrika Menschen abgeschlachtet werden, China schon seit Jahren Tibet annektiert hat, in Ägypten Massenhinrichtungen einfach mal so angeordnet werden, in dem Natomitglied Türkei Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz schon seit Jahren mit Füßen getreten werden – und vieles mehr – wurde und wird dabei großzügig ausgeklammert).

20. Vordergründig hat Russland bei dieser Annektierung nicht ‚die Form gewahrt‘, die man bei einer möglichen Sezession eines Bevölkerungsteils in einem Land einhalten müsste. Und, würden andere Teile vom aktuellen russischen Staat die gleichen Ansprüche stellen wie jetzt die Russen auf der Krim, würde Russland ziemlich sicher mit brutalster Gewalt dagegen vorgehen (bzw. ist in solchen Fällen brutalst dagegen vorgegangen und tut es immer noch).

21. Vordergründig haben Europa und die USA Recht.

22. Auf den zweiten Blick kann man aber Einschätzungen kommen, die das ganze in ein anderes Licht tauchen, nicht in dem Sinne, dass die Aktion Russlands dadurch ‚gerechtfertigt‘ würde, sondern in dem Sinne, dass hier nicht auf der einen Seite die ‚Bösen‘ stehen und auf der anderen Seite die ‚Guten‘.

23. Was die USA angeht, so haben viele Studien von US-Bürgern über ihre eigene Regierung sehr scharf herausgearbeitet, dass die USA nach dem zweiten Weltkrieg selbst immer mehr zu einer wahrhaft imperialistischen Macht mutiert sind, die ihre Machtansprüche auf die gesamte Erde ausgedehnt hat. Hier dient nicht das Militär der Politik, sondern umgekehrt dient die Politik dem Militär; wo wir Militärausgaben in astronomischer Höhe finden, ein System von Geheimdiensten, das mittlerweile jeglicher demokratischen Kontrolle entzogen ist, wo Militär und Geheimdienste einer eigenen Gerichtsbarkeit unterstehen, wo internationales Recht oder Gerichtshöfe nicht anerkannt werden, wo Nicht-US-Amerikaner keinerlei Rechte besitzen (nicht einmal die Menschenrechte!), wo die großen Wirtschaftskonzerne die Politiker kontrollieren (es gibt keine wirklichen Verbraucherschutzgesetze noch eine eigene staatliche Forschung zur kritischen Kontrolle möglicher Schäden für die Menschen), usw.

24. Was Europa angeht, so repräsentiert Europa noch keineswegs eine vergleichbare Geschlossenheit wie die USA oder Russland; seine eigentlichen Akteure sind noch die Nationalstaaten, wenngleich die europäische Kommission immer mehr Kontrolle über die Nationalstaaten auszuüben versucht und als Verhandlungspartner nach außen auftritt (z.B. bei dem geplanten transatlantischen Freihandelsabkommen). Europa verfügt über keine vergleichbare militärische Macht wie die USA und man kann auch bislang kein vergleichbares imperialistisches Denken erkennen wie im Fall der USA (auch wenn Europa über seine Wirtschaftsbeziehungen sehr wohl verschiedenen Bevölkerungsteilen in schwächeren wirtschaftlichen Ländern in der Vergangenheit schwere wirtschaftliche Schäden zugefügt hat oder es europäische Firmen gibt (z.B. Shell, Areva, IKEA), die nach den bekannten Fakten unglaubliche Umweltschäden in solchen Ländern angerichtet haben, ohne dafür die Verantwortung zu übernehmen). Die zunehmende Kontrolle der europäischen Kommission durch die Lobbyisten der Industrie wird auf mindestens 1300 offiziell bekannte Lobbyvertretern der Industrie geschätzt bei gleichzeitig nur begrenzter Kontrolle der Kommission durch das demokratisch gewählte Parlament.

25. Vor diesem Hintergrund sind die seit Monaten andauernden Geheimverhandlungen zu einem möglichen transatlantischen Freihandelsabkommen interessant.

26. Geht man davon aus, dass die USA wirkliche jene imperialistische Macht sind, als die sie sich in den letzten Jahrzehnten gezeigt haben, dann ist es aus Sicht der USA wichtig, dass sich möglichst keine ‚Machtzentren‘ außerhalb ihrer selbst entstehen. Obgleich eigentlich die Erstarkung anderer Regionen (wie z.B. Europa) letztlich einen stark positiven Aspekt auch auf die Wirtschaft der USA hatten und haben, fühlt sich die Machtelite der USA immer auch zugleich herausgefordert, die ‚Kontrolle‘ zu behalten. China hat sich der Kontrolle der USA nachhaltig entzogen und erscheint mehr und mehr ein direkter Konkurrent, wenn es nicht sogar schon stärker ist als die USA (und ist eine potentielle Bedrohung für alle anderen; Tibet kann niemand vergessen (andererseits, würde sich China als ‚wahre Demokratie‘ präsentieren, würde Tibet in wahre Autonomie entlassen (was alles aktuell nicht wahrscheinlich ist), dann würde sich das Blatt wenden. Dann hätten die USA ein extremes Glaubwürdigkeitsproblem und China würde zur Bedrohung, weil es ohne Militär Länder um sich scharen würde).

27. Europa hatten die USA bislang immer dadurch unter Kontrolle, dass die USA über bilaterale Beziehung zu einzelnen Mitgliedern der EU über diese Mitglieder das Geschehen in Europa mitgesteuert haben (nicht auch zuletzt über die Geheimdienste – wie wir durch Snowden lernen durften –, die sowohl von ‚außen‘ wie auch von ‚innerhalb Europas‘ nahezu alles abhören, natürlich auch die europäischen Firmen und Politiker). Bei der Vielfalt Europas war es immer einfach, von außen das Geschehen unter Kontrolle zu halten (u.a. wird oft England zitiert als getreuer ‚Vasalle‘ der USA, auch gegen die Interessen Europas, aber die größten militärischen, geheimdienstlichen und diplomatischen Stützpunkte der USA außerhalb der USA finden sich in Deutschland und die deutsche Regierung (unter Kanzlerin Merkel) hat bislang noch nicht den leisesten Ansatz erkennen lassen, an dieser Situation irgendetwas zu unternehmen.

28. Die Verhandlungen zum transatlantischen Freihandelsabkommen sind offiziell geheim (was gegen den Geist einer demokratischen Gesellschaft ist), seit Monaten, auch am US-Kongress vorbei (und von den Republikanern)! Dennoch gibt es ‚undichte‘ Stellen, die die Dokumente weiterreichen. Nach diesen geleakten Dokumenten (es gibt mittlerweile viel mehr) und den Kommentaren zahlreicher Experten dazu gibt es eine Interpretationslinie, nach der dieses Abkommen für die großen US-Konzerne eine Möglichkeit ist, die ganzen Umwelt- und Verbraucherstandards in Europa nicht nur offiziell aushebeln zu können, sondern sie sogar noch die europäischen Staaten verklagen könnten, falls irgend jemand dagegen klagen würde. Konkret, wenn eine US-Firma schwer belastete Lebensmittel in der EU verkaufen würde (weil es in der USA weitgehend keine Kontrollen gibt), und europäische Verbraucher würden dagegen klagen (welcher normaler Verbraucher hätte überhaupt die Ressourcen, solch eine Klage durch zu führen?), dann könnte der betreffende US-Konzern die deutsche Regierung auf Schadensersatz verklagen, nicht nur bzgl. der tatsächlich entgangenen Gewinne, sondern auch bzgl. der vermuteten Gewinne!!!

29. Aber nicht nur das; ein solches Abkommen erzeugt Nebeneffekte, die sowohl die Abhängigkeit Europas von den USA erhöhen würde und zugleich anderen Staaten, die nicht an diesem Abkommen beteiligt sind, es schwerer bis unmöglich machen, mit Europa Handel zu treiben. So gibt es zur Zeit ca. 200 bilaterale Abkommen der EU mit schwächeren Ländern in Afrika und Südamerika, die damit möglicherweise gestoppt würden; für die Wirtschaft in diesen ärmeren Länder wäre dies katastrophal. Aus Sicht der großen Konzerne (in dem Fall nicht nur der USA) ist dies aber willkommen; um so leichter können sie sich mit billigstem Geld in diesen Ländern einkaufen und ganze Landstriche oder Wirtschaftsbereiche unter ihre Kontrolle bringen; Kolonisation ohne Kanonenboote. Die Welthandelsorganisation (Engl. WTO) ist dafür bekannt, dass sie letztlich genau dies tut: die Schwachen dem ungeschützten Zugriff der großen Konzerne aus zu liefern. Einzig China hatte es bislang geschafft, sich diesem unsinnigen Entwicklungskonzept zu entziehen).

DEMOKRATIE UND MACHT – Teil 2

30. Die obigen Bemerkungen berühren nur die berühmte Spitze des Eisbergs und auch die Zeilen zu dem Freihandelsabkommen können nur erste Anregungen sein, dass sich jeder Leser selber damit noch weiter beschäftigt.

31. Worum es mir eigentlich in diesem Blogeintrag geht, ist das Phänomen, dass ‚hinter‘ den beobachtbaren Phänomen, hinter den verschiedenen Verhandlungsaktivitäten letztlich immer Menschen (noch) stehen, deren Wissen, deren Motive diese Aktivitäten antreiben.

32. Und nach allem, was sich in den letzten Monaten (vieles natürlich auch schon früher) gezeigt hat, müssen wir feststellen, dass selbst in den Ländern, die sich demokratisch nennen (USA, Deutschland, die EU, …) man immer mehr Indizien dafür findet, dass die offiziell gewählten politischen Repräsentanten samt den zugehörigen Behörden mit ihren Beamten und Regierungsangestellten sich mehr und mehr von fundamentalen demokratischen Prinzipien zu entfernen scheinen: sie erklären ihr Handeln immer mehr für ‚geheim‘, wo sie es eigentlich mit ihren Wählern teilen und diskutieren sollten; wichtige Gesetzesvorhaben und Verträge werden nicht mehr in den Parlamenten verhandelt sondern mehr und mehr nur noch mit Lobbyisten großer Konzerne, die in diese Gesetze und Verträge genau das reinschreiben, was ihnen nützt bei gleichzeitig großem Nachteil für große Teile der Bevölkerung (oder für andere Länder und deren Wirtschaft). Staatsanwälte, Richter, Staatsschutzorgane erwecken immer mehr den Eindruck nicht mehr der Bevölkerung zu dienen, sondern den politischen Repräsentanten, die sich von der demokratischen Kontrolle abzukoppeln versuchen. Dies alles ließe sich sehr vertiefen und mit Beispielen illustrieren.

33. Man kann sich jetzt fragen, warum ist das so? Was treibt die Menschen in diesen Positionen dazu an, die Handlungsmöglichkeiten eines demokratischen Staates in diesem Sinne zu missbrauchen?

34. Hier sind vielerlei Deutungen möglich. Eine, die vielfach zitiert wird, deutet hin auf das ‚Interesse an der Macht als solcher‘ oder, anders formuliert, dass es scheinbar ‚in den Menschen‘ eine Art Trieb/ Emotion gibt, den wir diffus als ‚Machttrieb‘ bezeichnen, der ‚aus dem Innern‘, aus dem Bereich des ‚Nichtbewussten‘ kommt und den einzelnen so, wie auch die anderen Bedürfnisse und Emotionen – beeinflusst, ‚drängt‘, ’süchtig macht‘ (?) usw. Das Gefährliche am Machttrieb ist, dass er für den/ die Betroffene(n) nicht unmittelbar einsichtig ist, dass es dieser Machttrieb ist, der ihn antreibt, aber im Verhalten manifestiert sich der Machttrieb überall und zeigt die mehr oder weniger starke Abhängigkeit des einzelnen von diesem ‚Trieb‘, der aus dem Bereich des Nichtbewusstseins in ihm ‚wirkt‘.

35. Natürlich wissen wir heute, dass das ‚Nichtbewusstsein‘ nicht einfach ‚vom Himmel gefallen‘ ist, sondern sich im Laufe von ca. 3.8 Mrd Jahren entwickelt hat und dass seine ‚innere Logik‘ aus dieser Geschichte zu rekonstruieren wäre. Wie im Falle anderer solcher ‚eingebauter‘ Triebe (z.B. Sexualtrieb) kann man auch im Falle des urwüchsigen Machttriebs fragen, ob er als Teil des menschlichen Verhaltensprogramms heute noch ‚angemessen‘ ist, ob er heute noch ‚konstruktiv‘ wirkt, oder wirkt er sich heute eher ‚destruktiv‘ aus? Sollte wir zu solch einer Einschätzung kommen, dann müsste man sich überlegen, ob und wie wir uns als menschliche Gesellschaft helfen könnten, um die destruktive Kraft eines ‚Machttriebs‘ innerhalb einer Demokratie abzumildern oder gar ganz zu eliminieren.

36. Andererseits, das ‚Leben‘ auf der Erde gibt es nur, weil es seine ‚Kraft‘ beständig weiter ‚ausgedehnt‘ und versucht hat, immer mehr Energie unter seine Kontrolle zu bringen. Ohne diesen ‚inneren Antrieb‘ würde es uns heute vermutlich nicht geben. Dann wäre die Aufgabe weniger, den Machttrieb als solchen ‚auszurotten‘, sondern noch weiter zu ‚kontrollieren‘. Letztlich kann man die Entwicklung der modernen Demokratien so verstehen, dass diese eine Gegenbewegung waren zu absolutistischen Machtausübungen und die Konstruktionselemente moderner Demokratien erwuchsen aus dem Versuch, dem urwüchsigen Machtstreben in den Menschen einen ‚Mechanismus‘ entgegen zu setzen, der diesen Machttrieb ‚konstruktiv nutzt‘. Wir müssen heute feststellen, dass die Konstruktionselemente moderner Demokratien offenbar keine automatische Garantie bereit halten: die Arbeitsteilung hier Wähler (einmal alle paar Jahre) und dort Gewählte, die dann automatisch das Richtige tun, reicht auf keinen Fall aus. Eine umfassende Transparenz (keine Geheimhaltung!) und kontinuierliche Kommunikation mit effektiver Kontrolle sind die einzige Möglichkeit, den Missbrauch von Macht, wie er zur Zeit stattfindet, zu verhindern. Außerdem muss man deutlich mehr Qualitätskriterien einbeziehen. Die zunehmende Tendenz, wichtige Positionen im Staat einfach mit Parteigängern zu besetzen unabhängig von ihrer fachlichen Qualifikation, ist auf Dauer stark destruktiv.

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

BEWUSSTSEIN – NICHT-BEWUSSTSEIN, GEFÜHLE; EINE ÜBERRASCHENDE WENDE

1. Seit Beginn dieses Blogs wurden sehr viele verschiedene Themen abgehandelt: zunächst ging es um grundlegende Fragen des Erkennens in einer Art erkenntnistheoretischen Perspektive. Dies vermischte sich mit der Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft. Auch die Beziehung zu Glaube, Religion kam zur Sprache; schließlich auch die Frage der Rolle der Kunst in diesem Kontext. Ganz neu war die Einbeziehung der Dimension der Gesellschaft mit Blick auf das Format der Demokratie als Rahmenbedingung für Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Religion. Das massive Auftreten von ‚Verschleißphänomenen‘ in den wichtigsten Demokratien der aktuellen Welt rief mehrere Beiträge zum Thema hervor.
2. Mit der letzten Philosophiewerkstatt traten nun überraschend zwei Phänomene verschärft ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die als solche nicht wirklich neu sind, die aber in dem Gespräch eine gewisse ‚Abgründigkeit‘ aufblitzen ließen, die mir so irgendwie lange nicht bewusst war; möglicherweise hatte ich diese Phänomene tatsächlich auch ‚verdrängt‘, da ich möglicherweise ‚intuitiv‘ spürte, dass wir bei diesen Themen mehr als mit allen anderen an die Grundlagen unseres Lebensgefühls und unseres Selbstverständnisses als Menschen rühren.
3. Einmal ist es der – bislang eher technische – Begriff des ‚Nicht-Bewusstseins‘, und dann ist es der ganze Komplex möglicher Bedeutungen um Begriffe wie ‚Gefühl‘, ‚Emotion‘, ‚Motivation‘, ‚Bedürfnisse‘, ‚Stimmungen‘, ‚Gemütszustände‘, um einige zu nennen. Im Folgenden benutze ich abkürzend den Begriff ‚Gefühle‘ für dieses ganze Netzwerk von Begriffen, um nicht immer alle aufzählen zu müssen. Die entsprechenden verfeinernden Unterscheidungen müssen nachgeliefert werden.

BEWUSSTSEIN

4. Der Begriff ‚Nicht-Bewusstsein‘ leitet sich her als Komplementärbegriff zum Begriff ‚Bewusstsein‘.
5. Berücksichtigt man die bisherige Fundamentalunterscheidung zwischen (i) Beobachten einer anderen Person ‚von außen‘ (Dritte Person, 3rd person view), sprich ‚verhaltensorientiert‘, verhaltensbasiert‘; (ii) Beobachten einer anderen Person mit Blick auf den Körper, die Physiologie einschließlich des Gehirns (auch dritte Person, aber fokussiert auf die ‚Maschinerie‘ ohne das Verhalten); sowie (iii) das ‚Selbstbewusstsein des Beobachters während der Beobachtung‘, seine ‚Innensicht‘, seine ‚Introspektion‘, den Raum der ‚eigenen Erlebnisse‘ in Form von ‚Phänomenen‘ (einige sprechen hier von ‚Qualia’…); dann begründet sich der Begriff des ‚Bewusstseins‘ aus dieser ‚Innensicht des Beobachters‘: was immer wir in der Welt (empirisch) erforschen, es setzt einen Beobachter mit Selbstbewusstsein voraus. Dies näher zu begründen, es ‚genauer zu definieren‘, ist nicht nur schwierig, sondern letztlich unmöglich.
6. In einer klassischen Definition wird ‚das Neue‘, ein neuer Terminus (alltagssprachlich auch ‚Begriff‘) (das zu Definierende, das ‚definiendum‘), mit etwas ’schon Bekanntem‘, mit schon bekannten Termini (alltagssprachlich auch ‚Begriffe‘) (mit dem ‚definiens‘) ‚erklärt‘ und in diesem Zusammenhang damit ‚definiert‘. Sofern der neue Begriff der Begriff ‚Bewusstsein‘ ist, stellt sich die Frage, auf welches ‚Bekannte‘ man sich bei der Einführung dieses Begriffs beziehen kann. Da es sich um etwas handelt, was im ‚Innern eines Beobachters‘ liegt, kann man nicht darauf zeigen wie bei einem Gegenstand der Körperwelt, der ‚intersubjektiv‘ vorkommt. Sofern jeder Beobachter in seinem ‚Innern‘ über ein B* verfügt, was bei allen Beobachtern ‚hinreichend ähnlich‘ ist, kann es die Möglichkeit geben, dass alle Beobachter über ‚indirekte Hinweise‘ eine Art ‚Arbeitshypothese‘ aufstellen können, die in ihnen die ‚Vermutung‘ erlaubt, dass dieses – jeweils individuelle und doch hinreichend gemeinsame – B* dasjenige ist, was gemeint ist, wenn von ‚Bewusstsein‘ gesprochen werden soll. Unter der Voraussetzung, dass es dieses B* tatsächlich gibt, kann man es zwar nicht ‚klar definieren‘, man kann aber dennoch sinnvollerweise ‚annähernd‘ darüber sprechen. Jeder weiß ‚irgendwie‘ was ‚gemeint‘ ist, aber keiner kann es ‚klar‘ bzw. ‚genau‘ sagen.

Gehirn im Körper von Beobachter A gesehen aus der Perspektive von Beobachter B
Gehirn im Körper von Beobachter A gesehen aus der Perspektive von Beobachter B

7. Nimmt man ferner an, dass – was immer genau die Inhalte des Bewusstseins B* sein mögen –, die Inhalte des Bewusstseins eine ‚Leistung des Gehirns‘ sind, also gehirn: I x IS —> IS x O mit B* subset IS, dann folgt daraus, dass ein Verständnis der Welt auf der Basis des Bewusstseins B* nur bedingt möglich ist. Für alle Beobachter bildet das Bewusstsein B* zwar den unumgehbaren Ausgangspunkt (auch für die Subspezies der Gehirnforscher), aber dieser Ausgangspunkt ist ‚in sich‘ geprägt/ geformt von einer Verarbeitungslogik, die die körperspezifisch ist und die nicht notwendigerweise die Struktur der umgebenden Welt adäquat repräsentiert.
8. Andererseits wird von dieser Körpergebundenheit des Bewusstseins B* her verständlich, warum zumindest die Struktur des Bewusstseins B* bei allen Beobachtern ‚hinreichend ähnlich‘ sein kann, da – wie wie von der Biologie wissen – alle Körper der Population ‚Mensch‘ (homo sapiens sapiens) auf den gleichen Genen und den gleichen Wachstumsprozessen basieren (‚gleich‘ schließt hier gewisse statistische ‚Variationen‘ mit ein, die sehr wohl auch zu Unterschieden führen können).
9. Der Begriff ‚Bewusstsein‘ (definiert über das unterstellte B* in jedem Beobachter) lässt sich also assoziieren mit all jenen ‚Inhalten (= Phänomenen) des Bewusstseins‘, die ein Bewusstsein ‚ausmachen‘. Aus der ‚Innensicht‘ eines Beobachters A sind diese Phänomene ‚real_A‘ bezogen auf den Bewusstseinsraum B*_A. Insofern B*_A Teil eines Gehirns G_A in einem Körper K_A (von dem Beobachter A) sind, sind diese Phänomene auch für einen Beobachter B ‚real_B‘, insoweit dieser das Gehirn von A betrachten würde. Allerdings könnte der Beobachter B nur das Gehirn und dessen physiologische Zustände aus der Perspektive der dritten Person beobachten. Das ‚Bewusstsein B*‘ von Beobachter A könnte Beobachter B nicht ‚direkt‘ beobachten, da es spezifisch an die ‚Innenperspektive‘ des Gehirns von Beobachter A gebunden ist. Nur über den Umweg von ‚Selbstaussagen von Beobachter A zu seinen Bewusstseinsinhalten‘ könnte Beobachter B versuchen, die ‚Inhalte‘ dieser Selbstaussagen mit seinen Beobachtungen der Gehirnzustände von Beobachter A zu ‚korrelieren‘. Ein solches ‚korrelierendes‘ Vorgehen ist äußerst mühsam und kann – selbst bei ‚bester Absicht‘ – prinzipiell immer nur eine Annäherung an die Sache bleiben, da die ‚Inhalt von Selbstaussagen‘ bezüglich von Bewusstseinsinhalten aufgrund der Besonderheit von Zeichensystemen niemals ‚klar‘ bzw. ‚präzise‘ wie im Falle operationaler empirischer Begriffe sein können (in Umstand, den die meisten Gehirnforscher großzügig übergehen).

NICHT-BEWUSSTSEIN

10. Die Perspektive des Beobachters B relativ zum Beobachter A bietet die Möglichkeit, ausgehend von der Annahme eines Bewusstseins B* die Arbeitshypothese zu bilden, dass es ‚außerhalb‘ eines Bewusstseinsraumes sehr wohl noch ‚anderes‘ gibt, mindestens die ‚anderen‘ Zustände des ermöglichenden Gehirns bzw. Körpers, dann aber auch – bei entsprechender Theoriebildung – weitere ‚Zustände‘ der ‚Welt außerhalb eines Körpers‘. Alle diese ‚Zustände außerhalb eines bestimmten Bewusstseins B*‘ gehören laut Definition nicht (!) zum Bewusstseins und bilden damit den potentiellen Raum für das ‚Nicht-Bewusstsein‘. Das ‚Nichtbewusstsein‘ (auch compl(B*)) erscheint von daher ein unendlich größerer Bereich als der Bereich des definierten Bewusstseins B*. Andererseits hat jeder menschliche Beobachter nur über sein Bewusstsein B* Zugang zum ‚Nicht-Bewusstsein‘ compl(B*)!
11. Während die klassische Philosophie sich vorwiegend mit den Inhalten des Bewusstseins B* und seiner möglichen Voraussetzungen aus der Innen-Sicht des Bewusstseins B* beschäftigt hat und die moderne empirischen Wissenschaften vorwiegend mit den strukturellen Rahmenbedingungen eines unterstellten Bewusstseins B*, eben mit dem Nicht-Bewusstsein compl(B*), stellt sich für die ’neue Philosophie‘ die Aufgabe dahingehend, sowohl (i) die Inhalte des Bewusstseins unter Berücksichtigung des Nicht-Bewusstseins, als der ermöglichenden Strukturen (Gehirn im Körper, Körper, Wachstum, ermöglichenden Evolution) zu untersuchen wie auch (ii) die empirischen Wissensstrukturen unter Berücksichtigung des ermöglichenden Bewusstseinsraumes B* zu analysieren. Mit anderen Worten: wir haben eine Wechselwirkung von compl(B*) zu B* und umgekehrt ’sehen‘ wir compl(B*) unter den Bedingungen von B*.

Hinweis: in meinem Wissenschaftsblog diskutiere ich auch die Möglichkeit, wieweit ich die Begriffe ‚Bewusstsein/ Nichtbewusstsein‘ im Rahmen einer verhaltensbasierten Theoriebildung benutzen kann, u.a. HIER.

Fortsetzung folgt

Einen Überblick über alle Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.