Archiv der Kategorie: Primäres Bewusstsein

ÜBER DIE MATERIE DES GEISTES. Relektüre von Edelman 1992. Teil 11 – Sprache und Höheres Bewusstsein

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 4.Dez. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

BISHER

Für die bisherige Diskussion siehe die kumulierte Zusammenfassung HIER.

KURZFASSUNG

In direkter Fortsetzung zum vorausgehenden Kapitel über das ‚primäre Bewusstsein‘ führt Edelman in diesem Kapitel jene Bewusstseinsformen ein, die ‚höher‘ sind, da ‚komplexer‘, und die auf dem primären Bewusstsein aufbauen. Zugleich deutet er an, wie sich die Entstehung dieser komplexen Bewusstseinsformen im Rahmen seiner Gehirntheorie erklären lässt (Rückverweis auf Kap.6).

KAP.12 Sprache und Höheres Bewusstsein

  1. Im vorausgehenden Kapitel wurde das ‚primäre Bewusstsein‘ beschrieben, das in der ‚unmittelbaren (sinnlichen) Wahrnehmung‘ fundiert ist, angereichert mit ‚Kommentaren‘ aus dem ‚Inneren‘ des Systems bestehend aus ‚Bedürfnissen‘ einerseits und ‚Erinnerungen‘ andererseits. (vgl. S.124)

  2. Obgleich wir Menschen über ein solches primäres Bewusstsein verfügen, ist festzustellen, dass wir Menschen gleichzeitig über ‚mehr‘ verfügen: wir sind nicht nur fundiert in einer primären kommentierten Wahrnehmung des ‚Jetzt‘, der ‚Gegenwart‘, wir verfügen zugleich auch über die Möglichkeit, die ‚Gegenwart‘ explizit in Beziehung zu setzen zur ‚Erinnerung vorausgehender Gegenwarten‘. Diese Erinnerungen sind aber nicht nur strukturiert durch ‚perzeptuelle Kategorien (angereichert mit ‚Werten‘)‘, sondern auch durch ‚konzeptuelle Kategorien‘, die das ‚höhere Bewusstsein‘ mit Blick ‚auf das primäre Bewusstsein und seinen Kontext‘ ausbilden kann. Neben den schon erwähnten Vergleichen von aktueller Gegenwart und erinnerter (kommentierter) Gegenwart können die Qualia als solche adressiert werden, ihre Eigenschaften, ihre zeitlichen-räumlichen Beziehungen, wie auch eine Kodierung von Qualia mit sprachlichen Elementen (auch Qualia) in Form eines ’symbolischen Gedächtnisses‘: sprachliche Zeichen werden assoziiert mit ihrer ‚Bedeutung‘ in Gestalt von Strukturen von Qualia. Ferner sind diese ‚höheren‘ mentalen Leistungen neuronal über Schleifen mit den primären Schaltkreisen so verknüpft, dass damit die primären Prozesse durch die höheren Prozesse ‚kommentiert‘ werden können. Das primäre Bewusstsein ist dadurch ‚eingebettet‘ in das höhere Bewusstsein, ist damit genuiner Teil von ihm. (vgl. S.124f)

  3. Edelman merkt fragend an, ob es der Versuch der Befreiung von all diesen ‚Kommentierungen‘ vielleicht   ist, was manche ‚Mystiker‘ gemeint haben, wenn sie – auf unterschiedliche Weise – von einem ‚reinen Bewusstsein‘ sprechen. (vgl. S.124)

  4. Während also das ‚primäre‘ Bewusstsein in seiner Prozesshaftigkeit leicht ‚diktatorisch‘ wirken kann, eine einfach stattfindende Maschinerie des primären Klassifizierens von dem, was ’stattfindet‘, ist es aber gerade die Einbettung in das ‚höhere‘ Bewusstsein mit der Möglichkeit der sprachlichen Kodierung, einem Prozess-Determinismus ansatzweise zu entkommen, indem aus dem Strom der Ereignisse unterschiedliche Aspekte (Qualia und deren Beziehungen) ’selektiert‘ und ’sprachlich kodiert‘ werden können. Damit entstehen sekundäre (semantische) Strukturen, die ansatzweise eine ‚eigene‘ Sicht des Systems ermöglichen. Die Unterscheidung zwischen ’sich‘ (’self‘) und ’nicht-sich‘ (’non-self‘) wird möglich. Im Unterschied zu ‚dem Anderen‘ (dem ‚Nicht-Selbst‘) wird ‚das Eigene‘, ein ‚Selbst‘ möglich, das sich über die vielen unterscheidenden Eigenschaften ‚definiert“. (vgl. S.125)

  5. Edelman merkt an, dass die Schimpansen im Vergleich zum homo sapiens zwar offensichtlich auch über das Phänomen eines ‚Selbstbewusstseins‘ verfügen, nicht aber über die flexible Sprachfähigkeit. Damit bleiben sie ‚mental eingesperrt‘ in die vordefinierte Phänomenwelt ihres primären und leicht sekundären Bewusstseins. Sie sind aber nicht in der Lage, die stattfindenden Erlebnisstrukturen zu überwinden. (vgl. S.125)

GESPROCHENE SPRACHE: EPIGENETISCH

  1. Im Folgenden konzentriert sich Edelman auf zwei Aspekte: (i) die Entwicklung jener physiologischen Strukturen, die ein ‚Sprechen‘ wie beim homo sapiens erlauben samt den dazu gehörigen Gehirnstrukturen, (ii) die davon unabhängige Entwicklung von ‚konzeptuellen Strukturen (Kategorien)‘, in denen sich Aspekte des Wahrnehmens, Erinnerns und Bewertens zu Strukturen verdichten können, die dann als ‚Bausteine einer mentalen Welt‘ genutzt werden können. (vgl. S.125f)

  2. Mit Blick auf die  Diskussionen im Umfeld von Chomskys Überlegungen zum Spracherwerb deutet Edelman an, dass es nicht ein einzelner Mechanismus gewesen sein kann, der aus sich heraus die ganze Sprachfähigkeit ermöglicht hat, sondern das ‚Ausdrucksmittel‘ Sprache musste mit seinem ganzen symbolischen Apparat im Körper und im Gehirn ‚eingebettet‘ werden, um in direkter ‚Nachbarschaft‘ zu den informationellen Prozessen des primären und des sekundären Bewusstseins an jene ‚Bedeutungsstrukturen‘ andocken zu können, die dann im symbolischen Gedächtnis so kodiert werden, dass ein Gehirn mit seinen sprachlichen Ausdrücken auf solche Bedeutungsstrukturen Bezug nehmen kann. Im Englischen wird diese ‚Einbettung der Sprache in den Körper‘ ‚embodiment‘ genannt. Im Deutschen gibt es kein direktes begriffliches Äquivalent. ‚Einkörperung‘ der Sprache klingt etwas schräg. (vgl. S.126)

  3. Edelman geht davon aus, dass die grundlegende Fähigkeit zu konzeptueller Kategorienbildung der Ausbildung der Sprachfähigkeit voraus ging, da die Sprachfähigkeit selbst genau diese neuronalen Mechanismen benutzt, um Phoneme (Qualia!) bilden zu können, deren Assoziierung zu komplexen Ausdrücken, und dann deren weitere In-Beziehung-Setzung (oder ‚Assoziierung‘) zu nicht-sprachlichen Einheiten.(vgl. S.126)

  4. [Anmerkung: aufgrund dieses Sachverhalts läge es nahe, die Begriffe ‚primäres‚ und ‚höheres‚ Bewusstsein um einen dritten Begriff zu ergänzen: ‚sekundäres‚ Bewusstsein. Das ‚sekundäre‚ Bewusstsein geht über das primäre Bewusstsein durch seine Fähigkeit zur Bildung von komplexen konzeptuellen Kategorien hinaus. Insofern sich auf der Basis des sekundären Bewusstseins dann z.B. die Fähigkeit zur freien symbolischen Kodierung (vergleichbar der Bildung von DNA-Strukturen in Zellen) im Gehirn herausgebildet hat, erweitert sich das sekundäre Bewusstsein zum ‚höheren (= sprachlichen)‘ Bewusstsein.]

  5. ‚Sprache‘ war und ist primär ‚gesprochene Sprache‘ (’speech‘). Damit dies möglich wurde, mussten erhebliche anatomische Änderungen am Körperbau stattfinden, die zudem im Vollzug im Millisekundenbereich (!) aufeinander abgestimmt sein müssen: die Lungen zur Erzeugung eines hinreichenden Luftstroms in Abstimmung mit der Speiseröhre, die Stimmbänder, der Mund- und Rachenraum als Resonatoren und Filter, dazu die Zunge, die Zähne und die Lippen als Modifikatoren des Klangs; dies alles muss zusammenwirken, um das hervor bringen zu können, was wir die Ausdrucksseite der (gesprochenen) Sprache nennen. Entsprechend muss es Zentren im Gehirn geben, die das ‚Hören von Sprache, das ‚Artikulieren‘ von Sprache sowie ihre ’semantische Kodierung‘ ermöglichen, wobei die semantische Kodierung in den Kontext eines umfassenden komplexen kognitiven Prozesses eingebettet sein muss. (vgl. S.126f)

  6. Bei der Ausbildung der ‚Synchronisierung‘ von sprachlichen Ausdrücken mit den diversen Bedeutungsanteilen vermutet Edelman, dass am Anfang die Parallelisierung von ‚Objekten‘ und ‚Gegenstandswörtern‘ (’nouns‘) stand. Danach die Parallelisierung von ‚Veränderungen, Handlungen‘ mit ‚Verben‘. Dann folgten weitere Verfeinerungen der ‚Syntax‘ parallel zu entsprechenden Situationen. (vgl. S.127)

  7. Generell nimmt Edelman also an, dass die primären Mechanismen der Konzeptualisierungen und der zugehörigen anatomischen Ausprägungen ‚genetisch‘ induziert sind, dass aber die Ausbildung von bestimmten symbolischen Strukturen und deren Zuordnung zu möglichen Bedeutungsmustern ‚epigenetisch“ zustande kommt.(vgl. SS.127-131)

  8. Aufgrund der durchgängig rekursiven Struktur der neuronalen Strukturen können alle phonologischen und semantischen Konzepte und deren mögliche Assoziationen wiederum zum Gegenstand von Kategorisierungen einer höheren Ebene werden, so dass es eben Phoneme, Phonemsequenzen, Wörter, Satzstrukturen und beliebig weitere komplexe Ausdrucksstrukturen geben kann, denen entsprechend semantische Strukturen unterschiedlicher Komplexität zugeordnet werden können. Aufgrund einer sich beständig ändernden Welt würde es keinen Sinn machen, diese Kodierungen genetisch zu fixieren. Ihr praktischer Nutzen liegt gerade in ihrer Anpassungsfähigkeit an beliebige Ereignisräume. Ferner ist zu beobachten, dass solche Sequenzen und Kodierungen, die sich mal herausgebildet haben und die häufiger Verwendung finden, ‚automatisiert‘ werden können. (vgl. S.130)

  9. Nochmals weist Edelman auf die Schimpansen hin, die zwar ein primäres und sekundäres Bewusstsein zu haben scheinen (inklusive einem ‚Selbst‘-Konzept), aber eben kein Sprachsystem, das flexible komplexe Kategorisierungen mit einer entsprechenden Syntax erlaubt.(vgl. S.130)

  10. Auch ist es offensichtlich, dass das Erlernen von Sprache bei Kindern aufgrund der parallelen Gehirnentwicklung anders, einfacher, nachhaltiger verläuft als bei Erwachsenen, deren Gehirne weitgehend ‚gefestigt‘ sind. (vgl. S.130f)

  11. Während die gesprochene Sprache evolutionär (und heute noch ontogenetisch) die primäre Form der Sprachlichkeit war, können bei Vorliegen einer grundlegenden Sprachfähigkeit die auch andere Ausdrucksmittel (Gesten, Schrift, Bilder, …) benutzt werden. (vgl. S.130)

HÖHERES BEWUSSTSEIN

  1. Nach all diesen Vorüberlegungen soll die Frage beantwortet werden, wie es möglich ist, dass uns  ‚bewusst‘ ist, dass wir ‚Bewusstsein haben‘?(vgl. S.131)

  2. Generell sieht Edelman die Antwort gegeben in dem Fakt, dass wir die erlebbare ‚Gegenwart‘ (the ‚immediate present‘) in Beziehung setzen können zu ‚Erinnerungen (von vorausgehenden Gegenwarten)‘, eingebettet in eine Vielzahl von komplexen Wahrnehmungen als Konzeptualisierungen auf unterschiedlichen ‚Reflexionsstufen‘, vielfach assoziiert mit sprachlichen Ausdrücken. Das ‚Selbst‘ erscheint in diesem Kontext als ein identifizierbares Konstrukt in Relation zu Anderem, dadurch ein ’soziales Selbst‘. (vgl. S.131)

  3. Ein Teil dieser Konzeptualisierungen hat auch zu tun mit der Assoziierung mit sowohl ‚innersystemischen‘ ‚Kommentaren‘ in Form von Emotionen, Stimmungen, Bedürfnisbefriedigungen usw. generalisiert unter dem Begriff ‚innere Werte‚, ein Teil hat zu tun mit der Assoziierung von Interaktionen mit seiner Umgebung, speziell Personen, von denen auch ‚externe Werte‚ resultieren können.(vgl. S.131f)

  4. Alle diese Konzeptualisierungen inklusive deren ‚Konnotation mit Werten‘ benötigen eine ‚Langzeit-Speicherung‘ (‚long-term storage‘), um ihre nachhaltige Wirkung entfalten zu können. (vgl. S.132)

  5. Ein zentrales Element in diesem höheren Bewusstsein ist die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen der aktuell stattfindenden perzeptuellen Wahrnehmung (‚Gegenwart‘) und der konzeptuell vermittelten ‚Erinnerung‘, die es erlaubt, über die ‚Gegenwart‘, die ‚Vergangenheit‘ und eine ‚mögliche Zukunft‘ ’nachzudenken‘. (vgl. S.133)

  6. Die Konkretheit der aktuellen perzeptuellen Wahrnehmung wird durch die konzeptuell aufbereitete erinnerbare Vergangenheit quasi ‚kommentiert‚, in mögliche Beziehungen eingebettet, die als solche dadurch weitgehend ‚bewertet‚ sind.(vgl. S.133)

  7. Aufgrund der stattfindenden komplexen Prozesse, die dem Gehirn ‚bewusst‘ sind, gibt es so etwas wie ein ‚inneres Leben‚, das aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungskontexte, der unterschiedlichen Lerngeschichten hochgradig ‚individuell‚ ist.(vgl. S.133)

  8. Paläontologische Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass die Entwicklung zu solch einem höheren Bewusstsein, wie es sich beim homo sapiens findet, in extrem kurzer Zeit stattgefunden haben müssen. Man geht davon aus, dass die Entstehung eines höheren Bewusstseins zusammenfällt mit der Entstehung des homo sapiens. (vgl. S.133)

  9. Edelman verweist auf sein Kap.6 um zu sagen, dass die bislang verstandenen Mechanismen des Gehirnwachstums es plausibel erscheinen lassen, dass sich diese Strukturen ausbilden konnten. (vgl. S.133)

  10. Edelman stellt dann wieder die Frage nach dem evolutionären ‚Nutzen/ Vorteil‘ der Ausbildung von solchen Bewusstseinsphänomenen.(vgl. S.133)

  11. Für den Fall des primären Bewusstseins sieht er den Vorteil darin, dass schon auf dieser Stufe die Möglichkeit besteht, aus der Vielfalt der Phänomene (realisiert als Qualia) durch die parallel stattfindende ‚Kommentierung‘ der Erlebnisse durch das ‚innere System‘ (sowohl durch die automatisch stattfindende ‚Speicherung‘ wie auch die automatisch stattfindende ‚Erinnerung‘) es möglich ist, jene Aspekte zu ’selektieren/ präferieren‘, die für das System ‚günstiger erscheinen‘. Dies verschafft eine mögliche Verbesserung im Überleben. (vgl. S.133)

  12. Für den Fall des höheren Bewusstseins erweitern sich die Möglichkeiten der ‚In-Beziehung-Setzung‘ zu einer sehr großen Anzahl von unterschiedlichen Aspekten, einschließlich komplexer Modellbildungen, Prognosen, Tests, und die Einbeziehung sozialer Beziehungen und deren ‚Wertsetzungen‘ in die Bewertung und Entscheidung. Ein kurzer Blick in den Gang der Evolution, insbesondere in die Geschichte der Menschheit, zeigt, wie die Komplexität dieser Geschichte in den letzten Jahrzehntausenden gleichsam explodiert ist, [Anmerkung: mit einer exponentiellen Beschleunigung!]. (vgl. S.133-135)

  13. Speziell weist Edelman auch nochmals hin auf das Zusammenspiel von Qualia und Sprache. Während Qualia als solche schon Abstraktionen von perzeptuellen Konkretheiten darstellen sollen, kann ein System im Wechselspiel von Qualia und Sprache ‚Verfeinerungen‘ sowohl in der Wahrnehmung‘ als auch in er ‚Verwendung‘ von Qualia ermöglichen. Gewissermaßen zeigt sich hier die Sprache als eine Art ‚Echoprinzip‘, das Qualia ‚fixiert‘, sie dadurch speziell erinnerbar macht, und einer Verfeinerung ermöglicht, die ohne die sprachliche Kodierung entweder gar nicht erst stattfindet oder aber als ‚flüchtiges Phänomen‘ wieder untergeht. (vgl. S.136)

  14. In den inneren Prozessen des höheren Bewusstseins zeigt sich eine Fähigkeit zum Vorstellen, zum Denken, die durch die impliziten Kategorisierungen und Verallgemeinerungen weit über das ‚Konkrete‘ des primären Bewusstseins hinaus reichen kann. Hierin liegt eine verändernde, kreative Kraft, Fantasie und Mystik. Ob diese zur ‚Verbesserung‘ des Lebens führt oder ‚in die Irre‘, dies lässt sich nicht ‚im Moment‘ erkennen, nur im Nacheinander und in der praktischen ‚Bewährung‘. (vgl. S.136)

DISKUSSION

Zusammenfassend für Kap. 11+12 im nachfolgenden Blogeintrag.

QUELLEN

  • Keine Besonderen

Einen Überblick über alle Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

Einen Überblick über alle Themenbereiche des Blogs findet sich HIER.

Das aktuelle Publikationsinteresse des Blogs findet sich HIER.

ÜBER DIE MATERIE DES GEISTES. Relektüre von Edelman 1992. Teil 10 – Primäres Bewusstsein

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 3.Dez. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

BISHER

Für die bisherige Diskussion siehe die kumulierte Zusammenfassung HIER.

KURZFASSUNG

Edelman stellt zunächst die wichtigsten Anforderungen an die wissenschaftliche Beschreibung des Bewusstseins ganz allgemein zusammen, dann aber auch speziell für das ‚Primäre Bewusstsein‘. Dann gibt er einen Überblick über ein mögliches neuronales Modell, das alle diese Anforderungen erfüllen soll.

KAP.11 Bewussstsein (Consciousness)

THEORIE DES BEWUSSTSEINS: ALLGEMEINE ANNAHMEN

  1. In diesem Kapitel geht es um den Test, ob Edelman mit den bisherigen Überlegungen in der Lage ist, das bekannte Postulat von Descartes über eine ‚denkende Substanz‘ (‚thinking subtance‘) zu überwinden, welche sich dem Zugriff der Wissenschaft entzieht. (vgl. p.111)

  2. Allerdings gibt es die Schwierigkeit, dass das mit ‚Bewusstsein‘ Gemeinte sich bei anderen nur im beobachtbaren Verhalten zeigt, und bei einem selbst ‚ist‘ es ‚einfach da‘, schwer zu erklären.(vgl. p.111)

  3. Nach Zitation von wesentlichen Eigenschaften des Bewusstseins, wie William James sie in seinen ‚Principles of Psychology‚ (1890, Kap.10) anführt, macht Edelman eine Unterscheidung zwischen einem ‚primären Bewusstsein‘ und einem ‚Bewusstsein höherer Ordnung‘.(vgl. p.111f)

  4. Das primäre Bewusstsein bezieht sich ausschließlich auf eine perzeptuell vermittelte Gegenwart von Dingen in der Welt, ohne Vergangenheit und Zukunft. Das Bewusstsein höherer Ordnung übersteigt die perzeptuelle Gegenwart, ist eingebettet in eine Vergangenheit, eine mögliche Zukunft, und ‚weiß von sich selbst‘.(vgl. p.112)

  5. Jedwede ‚Erklärung‘ des Phänomens Bewusstsein muss nach Edelman verträglich sein mit der ‚Evolution‘; sie muss erklären, wie Bewusstsein im Laufe der Evolution ‚entstehen‘ kann, und natürlich auch, wie das Bewusstsein sich zu den anderen ‚mentalen Phänomenen‘ verhält wie z.B. zu ‚Begriffsentwicklung‘, ‚Gedächtnis und Sprache‘.(vgl. p.112f) Natürlich sollen auch die Erkenntnisse der modernen Physik gelten, allerdings ist die Physik aktuell nach Edelman nicht völlig ausreichend, und mögliche ‚Quanteneffekte‘ will er für seinen Erklärungsansatz ausschließen. (vgl. p.113)

  6. Die Annahme, dass das Phänomen ‚Bewusstsein‘ irgendwann in der Evolution sichtbar wird, schließt aus, dass Bewusstsein nur ein ‚Epiphänomen‘ ist. (vgl. p.113)

  7. Im Zustand der ‚Achtsamkeit‘ (?) (‚awareness‘) werden die phänomenalen Zustände von subjektiven Erfahrungen (‚experiences‘), Gefühlen (‚feelings‘) und Empfindungen (’sensations‘) begleitet, die Edelman kollektiv als ‚Qualia‚ bezeichnet. Das ist das, ‚wie es uns erscheint‘ (‚how things seem to us‘). Qualia sind die unterscheidbaren ‚Teile‘ einer ‚mentalen Szene‘, die sich als solche als ‚eine‘ darstellt. Die Qualia können unterschiedlich ‚intensiv‘ und unterschiedlich ‚präzise‘ sein, abhängig von der aktuellen Wahrnehmung (‚perception‘). Im normalen Wachzustand sind die Qualia außerdem begleitet von einer zeitlich-räumlichen Kontinuität, beeinflusst sowohl von einer unmittelbaren Erfahrung wie auch von der individuellen persönlichen Geschichte. Zusätzlich können die Qualia begleitet sein von Gefühlen und Emotionen. (vgl. S.114)

  8. Diese subjektive Natur der Qualia stellt für eine wissenschaftliche Theorie, die eine gemeinsame, objektive, reproduzierbare Datenbasis voraus setzt, ein großes methodisches Problem dar. (vgl. S.114) Es manifestiert sich sogar als ein ‚eindrucksvolles (‚poignant‘) Paradox‚: Jeder Physiker muss in seiner Arbeit sein Bewusstsein, seine subjektiven Wahrnehmungen, seine subjektiven Qualia einsetzen, aber im Reden über die physikalischen Sachverhalte, muss er diese subjektiven Bedingungen ausklammern. (vgl. S.114) Wie lässt sich dieser Befund, dass die phänomenale Erfahrung eine Erste-Person Angelegenheit ist, wissenschaftlich meistern? vgl. S.114f)

  9. Nach Edelman kann man dieses methodische Problem nicht dadurch lösen, dass man von der Fiktion eines qualia-freien Beobachters ausgeht, und er deutet in einem Nebensatz schon an, dass das Problem der sprachlichen Bedeutung nur durch die Einbeziehung des ‚Embodyments‘ von Sprache im Körper verstanden werden kann. (vgl. S.115) Er wird dann sogar noch deutlicher: die Lösung liegt in der hervorstechenden Fähigkeit des Menschen, dass er über ein ‚Selbstbewusstsein‘  gepaart mit einer ‚Sprache‘ verfügt, das ihn in die Lage versetzt, über die pure Gegenwart hinaus Phänomene zu benennen, und Beziehungen herzustellen zwischen den subjektiven Phänomenen und den Erkenntnissen der Physik und Biologie. (vgl. S.115)

  10. Benutzt man die Hypothese, dass Qualia in allen menschlichen Wesen bei ähnlichem Körper und Gehirn verfügbar sind, dann kann man versuchen, auf der Basis der hier vorfindlichen Korrelationen zu einer Theorie der Qualia bzw. des Bewusstseins in Menschen zu kommen. (vgl. S.115)

  11. Allerdings, so Edelman, lässt sich solch eine Theorie des Bewusstseins nur bauen, wenn es neben dem in der Gegenwart verhafteten primären Bewusstsein ein höher-stufiges Bewusstsein gibt, das über die reine Gegenwart hinaus Wahrnehmen und Denken kann und über Sprache verfügt. (vgl. S.115f) Allerdings gilt auch, dass eine ‚qualia-freie Theorie‘ nicht möglich ist. Qualia können von keiner Theorie als ‚Erfahrung‘ einfach so abgeleitet werden; man muss sie als Gegeben annehmen und mit dieser Annahme in kommunikativer Rückkopplung die Theorie des Bewusstseins bauen.(vgl. S.116)

  12. Im Vorblick auf die kommende Darstellung eines höher-stufigen Bewusstseinsmodells merkt Edelman an, dass man Qualia auch verstehen kann als ‚höher-stufige Kategorisierungen‘, die kommunizierbar sind für das ‚Selbst‘, und – etwas schwieriger – für Andere mit ähnlicher mentalen Ausstattung.(vgl. S.116)

THEORIE DES BEWUSSTSEINS: NEURONALES MODELL

Graphische Interprettion von Teilen des Kap.11 von Edelman durch G.Doeben-Henisch
Graphische Interpretation von Teilen des Kap.11 von Edelman durch G.Doeben-Henisch
  1. Nach diesen Überlegungen gibt Edelman nun die erste Version eines neuronalen Modells an, das die von ihm aufgestellten Forderungen an ein primäres Bewusstsein erfüllen soll. (vgl. SS.117-123)

  2. Die Darstellung ist allerdings zu grob, als dass man daraus zu viele Schlüsse ziehen könnte. Klar wird nur, dass er zwei große Pole sieht: (i) die physikalische Außenwelt zum Körper, die über sensorische Signale dem Cortex mit seinen Subsystemen zugeführt wird, parallel, simultan mit vielen primären Kategorisierungen, und dann (ii) das physikalische Innenleben des Organismus, dessen vielfältige Bedürfnislage über das limbische System und über den Thalamus mit den Außenweltereignissen im Rahmen einer weiteren Kategorisierung und zeitlich-räumlichen Aufbereitung als zusammenhängende ‚Szene‘ aufbereitet und ‚bewertet‘ werden kann. Diese Wert-Kategorie-Paare können dann in einem entsprechenden Gedächtnis gespeichert und wieder abgerufen werden. Das Speichern selbst samt der Bewertung gehört aber nicht mehr zum ‚primären Bewusstsein‘; es geschieht außerhalb des Bewusstseins (vgl. S.121, und Schaubild)

  3. In diesem Bild wird das ‚Lernen‘ als ein adaptiver Prozess gesehen, in den die ‚Präferenzen‘ des internen (Selbst-)Systems mit einfließen. (Vgl. S.118)

  4. Das Besondere an der ‚Szene‘ des primären Bewusstseins ist ferner, dass sich hier nicht nur kausale Verknüpfungen finden, sondern auch solche, die durch das Bewertungssystem ‚kommentiert‘ sind. Sie enthalten mögliche Hinweise auf ‚Gefahren‘ oder ‚Belohnung‘. (vgl. S.118, 121)

  5. Evolutionär gilt das ‚innere System‘ (das ‚Selbst-System‘) als älter; es umfasst die primären Erhaltungsfunktionen.(vgl. S.118f)

  6. Generell schätzt Edelman, dass es ein primäres Bewusstsein mit den zugehörigen neuronalen Strukturen ab ca. 300 Mio gibt. (vgl. S.123)

DISKUSSION

Die Diskussion zum Kapitel über das primäre Bewusstsein wird im Anschluss an die Besprechung von Kap.12 zum ‚höherstufigen Bewusstsein‘ geführt, da beide Themen eng zusammen hängen.

QUELLEN

  • James, W. (1890). The Principles of Psychology, in two volumes. New York: Henry Holt and Company.
  • James, W. (1950). The Principles of Psychology, 2 volumes in 1. New York: Dover Publications.
  • James, W. (1983). The Principles of Psychology, Volumes I and II. Cambridge, MA: Harvard University Press (with introduction by George A. Miller).
  • URL: http://psychclassics.yorku.ca/James/Principles/index.htm

 

Einen Überblick über alle Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

Einen Überblick über alle Themenbereiche des Blogs findet sich HIER.

Das aktuelle Publikationsinteresse des Blogs findet sich HIER.