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MASLOW UND DIE NEUE WISSENSCHAFT. Nachbemerkung zu Maslow (1966)

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Datum: 21.Juni 2020 (Korrekturen: 24.Juni 2020)

KONTEXT

Wenn man sich nicht nur wundern will, warum das Phänomen von ‚Fake News‘ oder ‚Verschwörungstheorien‘ so verbreitet ist und selbst vor akademischer Bildung nicht Halt macht, dann muss man versuchen, den Mechanismus zu verstehen, der diesem Phänomen zugrunde liegt. Von den vielen Zugängen zu dieser Frage finde ich das Buch von Maslow (1966) The Psychology of Science besonders aufschlussreich.

VERLUST DES PHÄNOMENS

Maslow erlebte seine Arbeit als Psychotherapeut im Spannungsfeld zur damaligen experimentellen verhaltensorientierten Psychologie im Stil von Watson. Während er als Psychotherapeut versuchte, die ganze Bandbreite der Phänomene ernst zu nehmen, die sich in der Begegnung mit konkreten Menschen ereignet, gehörte es zum damaligen Programm einer empirischen Verhaltens-Psychologie, die Phänomene im Kontext von Menschen auf beobachtbares Verhalten zu beschränken, und hier auch nur auf solche Phänomene, die sich in (damals sehr einfachen) experimentellen Anordnungen reproduzieren lassen. Außerdem galt das Erkenntnisinteresse nicht den individuellen Besonderheiten, sondern allgemeinen Strukturen, die sich zwischen allen Menschen zeigen.

Maslow verallgemeinert die Betrachtung dahingehend, dass er die Einschränkung der Phänomene aus Sicht einer bestimmten Disziplin als Charakteristisch für die Wissenschaft seiner Zeit diagnostiziert. Er meinte in dieser Ausklammerung von Phänomenen eine tiefer liegende Tendenz zu erkennen, in der letztlich die Methode über das Phänomen gestellt wird: wehe dem Phänomen, wenn es nicht zu den vereinbarten Methoden passt; es hat hier nichts zu suchen. In dem Moment, in dem die Wissenschaft von sich aus entscheiden darf, was als Phänomen gelten darf und was nicht, gerät sie in Gefahr, ein Spielball von psychologischen und anderen Dynamiken und Interessen zu werden, die sich hinter der scheinbaren Rationalität von Wissenschaft leicht verstecken können. Aus der scheinbar so rationalen Wissenschaft wird verdeckt eine irrationale Unternehmung, die sich selbst immunisiert, weil sie ja alle Phänomene ausklammern kann, die ihr nicht passen.

VERLUST DER EINHEIT

Zu der verdeckten Selbstimmunisierung von wissenschaftlichen Disziplinen kommt erschwerend hinzu, dass die vielen einzelnen Wissenschaften weder begrifflich noch prozedural auf eine Integration, auf eine potentielle Einheit hin ausgelegt sind. Dies hier nicht verstanden als eine weitere Immunisierungsstrategie, sondern als notwendiger Prozess der Integration vieler Einzelaspekte zu einem möglichen hypothetischen Ganzen. Ohne solche übergreifenden Perspektiven können viele Phänomene und daran anknüpfende einzelwissenschaftliche Erkenntnisse keine weiterreichende Deutung erfahren. Sie sind wie einzelne Findlinge, deren Fremdheit zu ihrem Erkennungszeichen wird.

SUBJEKTIV – OBJEKTIV

In der orthodoxen Wissenschaft, wie Maslow die rigorosen empirischen Wissensschaften nennt, wird ein Begriff von empirisch, von objektiv vorausgesetzt, der den Anspruch erhebt, die reale Welt unabhängig von den internen Zuständen eines Menschen zu vermessen. Dies geht einher mit der Ausklammerung der Subjektivität, weil diese als Quelle allen Übels in den früheren Erkenntnistätigkeiten des Menschen diagnostiziert wurde. Mit der Ausklammerung der Subjektivität verschwindet aber tatsächlich auch der Mensch als entscheidender Akteur. Zwar bleibt der Mensch Beobachter, Experimentator und Theoriemacher, aber nur in einem sehr abstrakten Sinne. Die inneren Zustände eines Menschen bleiben in diesem Schema außen vor, sind quasi geächtet und verboten.

Diese Sehweise ist selbst im eingeschränkten Bild der empirischen Wissenschaften heute durch die empirischen Wissenschaften selbst grundlegend in Frage gestellt. Gerade die empirischen Wissenschaften machen deutlich, dass unser Bewusstsein, unser Wissen, unser Fühlen funktional an das Gehirn gebunden sind. Dieses Gehirn sitzt aber im Körper. Es hat keinen direkten Kontakt mit der Welt außerhalb des Körpers. Dies gilt auch für die Gehirne von Beobachtern, Experimentatoren und Theoriekonstrukteuren. Keiner von ihnen sieht die Welt außerhalb des Körpers, wie sie ist! Sie alle leben von dem, was das Gehirn aufgrund zahlloser Signalwege von Sensoren an der Körperoberfläche oder im Körper einsammelt und daraus quasi in Echtzeit ein dreidimensionales Bild der unterstellten Welt da draußen mit dem eigenen Körper als Teil dieser Welt errechnet. Dies bedeutet, dass alles, was wir bewusst wahrnehmen, ein internes, subjektives Modell ist, eine Menge von subjektiven Ereignissen (oft Phänomene genannt, oder Qualia), von denen einige über Wahrnehmungsprozesse mit externen Ursachen verknüpft sind, die dann bei allen Menschen in der gleichen Situation sehr ähnliche interne Wahrnehmungsereignisse erzeugen. Diese Wahrnehmungen nennen wir objektiv, sie sind aber nur sekundär objektiv; primär sind sie interne, subjektive Wahrnehmungen. Die Selbstbeschränkung der sogenannten empirischen Wissenschaften auf solche subjektiven Phänomene, die zeitgleich mit Gegebenheiten außerhalb des Körpers korrelieren, hat zwar einen gewissen praktischen Vorteil, aber der Preis, den die sogenannten empirischen Wissenschaften dafür zahlen, ist schlicht zu hoch. Sie opfern die interessantesten Phänomene im heute bekannten Universum nur, um damit ihre einfachen, schlichten Theorien formulieren zu können.

In ihrer Entstehungszeit — so im Umfeld der Zeit von Galilelo Galilei — war es eine der Motivationen der empirischen Wissenschaften gewesen, sich gegen die schwer kontrollierbaren Thesen einer metaphysischen Philosophie als Überbau der Wissenschaften zu wehren. Die Kritik an der damaligen Metaphysik war sicher gerechtfertigt. Aber In der Gegenbewegung hat die empirische Wissenschaft gleichsam — um ein Bild zu benutzen — das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: durch die extreme Reduktion der Phänomene auf jene, die besonders einfach sind und durch das Fehlen eines klaren Kriteriums, wie man der Gefahr entgeht, wichtige Phänomene schon im Vorfeld auszugrenzen, wurde die moderne empirische Wissenschaft selbst zu einer irrationalen dogmatischen Veranstaltung.

Es ist bezeichnend, dass die modernen empirischen Wissenschaften über keinerlei methodischen Überbau verfügen, ihre eigene Position, ihr eigenes Vorgehen rational und transparent zu diskutieren. Durch die vollständige Absage an Philosophie, Erkenntnistheorie, Wissenschaftsphilosophie — oder wie man die Disziplinen nennen will, die sich genau mit diesen Fragen beschäftigen — hat sich die empirische Wissenschaft der Neuzeit einer nachhaltigen Rationalität beraubt. Eine falsche Metaphysik zu kritisieren ist eines, aber sich selbst angemessen zu reflektieren, ein anderes. Und hier muss man ein Komplettversagen der modernen empirischen Wissenschaften konstatieren, was Maslow in seinem Buch über viele Kapitel, mit vielen Detailbeobachtungen aufzeigt.

DAS GANZE IST EIN DYNAMISCHES ETWAS

Würden die empirischen Wissenschaften irgendwann doch zur Besinnung kommen und ihren Blick nicht vor der ganzen Breite und Vielfalt der Phänomene verschließen, dann würden sie feststellen können, dass jeder Beobachter, Experimentator, Theoriemacher — und natürlich alle Menschen um sie herum — über ein reiches Innenleben mit einer spezifischen Dynamik verfügen, die kontinuierlich darauf einwirkt, was und wie wir denken, warum, wozu usw. Man würde feststellen, dass das Bewusstsein nur ein winziger Teil eines Wissens ist, das weitgehend in dem um ein Vielfaches größeren Unbewusstsein verortet ist, das unabhängig von unserem Bewusstsein funktioniert, kontinuierlich arbeitet, all unsere Wahrnehmung, unser Erinnern, unser Denken usw. prägt, das angereichert ist mit einer ganzen Bandbreite von Bedürfnissen und Emotionen, über deren Status und deren funktionale Bedeutung für den Menschen wir bislang noch kaum etwas wissen (zum Glück gab und gibt es Wissenschaften, die sich mit diesen Phänomenen beschäftigen, wenngleich mit großen Einschränkungen).

Und dann zeigt sich immer mehr, dass wir Menschen vollständig Teil eines größeren BIOMs sind, das eine dynamische Geschichte hinter sich hat in einem Universum, das auch eine Geschichte hinter sich hat. Alle diese Phänomene hängen unmittelbar untereinander zusammen, was bislang aber noch kaum thematisiert wird.

Das Erarbeiten einer Theorie wird zu einem dynamischen Prozess mit vielen Faktoren. Bei diesem Prozess kann man weder die primäre Wahrnehmung gegen konzeptuelle Modelle ausspielen, noch konzeptuelle Modelle gegen primäre Wahrnehmung, noch kann man die unterschiedlichen internen Dynamiken völlig ausklammern. Außerdem muss der Theoriebildungsprozess als gesellschaftlicher Prozess gesehen werden. Was nützt eine elitäre Wissenschaft, wenn der allgemeine Bildungsstand derart ist, dass Verschwörungstheorien als ’normal‘ gelten und ‚wissenschaftliche Theorien‘ als solche gar nicht mehr erkannt werden können? Wie soll Wissenschaft einer Gesellschaft helfen, wenn die Gesellschaft Wissenschaft nicht versteht, Angst vor Wissenschaft hat und die Wissenschaft ihrer eigenen Gesellschaft entfremdet ist?

BOTSCHAFT AN SICH SELBST?

Das biologische Leben ist das komplexeste Phänomen, das im bislang bekannten Universum vorkommt (daran ändert zunächst auch nicht, dass man mathematisch mit Wahrscheinlichkeiten herumspielt, dass es doch irgendwo im Universum etwas Ähnliches geben sollte). Es ist ein dynamischer Prozess, dessen Manifestationen man zwar beobachten kann, dessen treibende Dynamik hinter den Manifestationen aber — wie generell mit Naturgesetzen — nicht direkt beobachtet werden kann. Fasst man die Gesamtheit der beobachtbaren Manifestationen als Elemente einer Sprache auf, dann kann diese Sprache möglicherweise eine Botschaft enthalten. Mit dem Auftreten des homo sapiens als Teil des BIOMs ist der frühest mögliche Zeitpunkt erreicht, an dem das Leben ‚mit sich selbst‘ sprechen kann. Möglicherweise geht es gerade nicht um den einzelnen, wenngleich der einzelne im Ganzen eine ungewöhnlich prominente Stellung einnimmt. Vielleicht fängt die neue Wissenschaft gerade erst an. In der neuen Wissenschaft haben alle Phänomene ihre Rechte und es gibt keine Einzelwissenschaften mehr; es gibt nur noch die Wissenschaft von allen für alles ….

KONTEXT ARTIKEL

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EPISTEMISCHE SCHOCKWELLEN. Die letzten 3500 Jahre

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 20.Sept. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Die Diskussion im Kontext des letzten Textes von Freud zur Psychoanalyse lässt erkennen, wie sich das Bild von uns Menschen über uns selbst dadurch in gewisser Weise ändern kann und letztlich dann ändert, wenn wir uns auf diese Gedanken einlassen. Die Einbeziehung des ‚Unbewussten‘ in das Gesamtbild des Systems homo sapiens verschiebt so manche Beziehungen im Gefüge des menschlichen Selbstbildes, und nicht nur das, es wirkt sich auch aus auf das Gesamtbild der empirischen Wissenschaften, auf ihr Gesamtgefüge. Dies hatte sich ja auch schon angedeutet in der vorausgehenden Diskussion des Buches von Edelman, die noch nicht abgeschlossen ist.

Dies hat mich angeregt, über Freud und Edelman hinausgehenden einige der epistemischen Schockwellen zusammen zu stellen, denen das menschliche Selbstverständnis in den letzten ca. 3500 Jahren ausgesetzt war. Dabei muss man sich darüber im Klaren sein, dass es natürlich immer nur eine Minderheit war, die überhaupt an den übergreifenden Erkenntnissen teilhaben konnte, und selbst diese Minderheit zerfällt in unterschiedliche Subgruppen ohne ein kohärentes Gesamtbild.

EPISTEMISCHE SCHOCKWELLEN

Unter ‚Schockwellen‘ werden hier energetische Ereignisse verstanden, die nur gelegentlich auftreten, und die geeignet sind, bestehende Strukturen zumindest zum Schwingen, zum Erbeben zu bringen, wenn nicht gar zu ihrer Zerstörung führen. ‚Epistemisch‘ bezieht sich auf die Dimension des Erkennens, des Verstehens, zu dem Exemplare des Homo sapiens fähig sind. ‚Epistemische Schockwellen‘ sind also Ereignisse, durch die das Selbstverständnis, die Weltbilder der Menschen in Schwingungen versetzt wurden bzw. sich neu aufbauen mussten.

Die folgende Zusammenschau solcher epistemischer Schockwellen ist in keiner Weise vollständig, weitgehend nicht differenziert genug, rechtfertigt sich aber dadurch, dass es darum geht in einer überschaubaren Weise einen Grundeindruck von der Dynamik des Geistes zu vermitteln, die dem Geschehen des biologisch fundierten Lebens innewohnt.

CLUSTER RELIGION

 

Stichworte zu 'Epistemische Schockwellen', Teil 1. ca. -1500 bis ca. 1500
Stichworte zu ‚Epistemische Schockwellen‘, Teil 1. ca. -1500 bis ca. 1500

Zwischen ca. -1500 bis etwa 650 gab mindestens 8 große das Weltverstehen prägende Ereignisse – daneben viele andere, weitere –, die wir im Nachgang als ‚Religionen‘ bezeichnen. Religionen zeichnen sich aus durch ‚Gründer‘, durch ‚Botschaften‘, durch ‚Erfahrungen‘ und dann meistens nachfolgend durch ‚Regeln‘ und Bildung von ‚Organisationsformen‘. Sie erheben einen Anspruch auf ‚Deutung der Welt‘ mit ‚Sinn‘, ‚Werten‘ und ‚Spielregeln‘. Sie versprechen auch den Kontakt zu eine Letzten, Größten, Umfassenden, Endgültigen, dem alles andere unter zu ordnen ist. Vielfach gehen diese Versprechungen auch einher mit speziellen ‚außergewöhnlichen Erlebnissen‘, die im einzelnen stattfinden.

In Vorderasien und Europa waren dies vor allem das Duo Judentum-Christentum und der Islam. Während diese sich explizit auf einen ‚Schöpfer‘ bezogen, kam der indische Subkontinent neben der vielfältigen Götterwelt des Hinduismus in seinem Grundtenor — realisiert im Buddhismus — ohne einen expliziten Schöpfer aus, allerdings nicht ohne eine tiefgreifende Existenzerfahrung des einzelnen Menschen, der sich durch einen geeigneten Lebensstil und Meditation möglichst weitgehend von einem normalen Alltag und seinen vielfältigen Spannungen isolierte.

So verschieden Jugentum-Christentum, Islam auf der einen Seite und Indischer Existentialismus auf der anderen Seite auf den ersten Blick wirken können, kann man aber dennoch auffällige strukturelle Parallelen erkennen.

Die sprachliche Seite der genannten Religionen tendiert dazu, nicht die Weite und Vielfalt der Welt zu kommunizieren, keine weiterreichende Erkenntnisse, sondern die Sprache hat einzig den Zweck, eine bestimmte, abgegrenzte Idee zu kommunizieren, diese abzugrenzen von allem anderen, bis dahin, dass alle Abweichungen diskreditiert werden. Jene Menschen, die sich sprachlich von der ‚Norm‘ entfernen sind Abweichler, Dissidenten, Ungläubige, Verräter, Feinde. Die Sprache wird also nicht gesehen als ein offener, lebendiger, dynamischer Raum von ‚Wahrheit‘, die sich weiter entwickeln kann, sondern als eine symbolische Fessel, eine symbolische Mauer, die einige wenige Ideen abgrenzen sollen. Auch der Buddhismus, der eigentlich sein Fundament in einer schwer beschreibbaren individuellen Existenzerfahrung sieht, praktiziert Sprache überwiegend als Gefängnis.

Betrachtet man sich die Geschichte dieser Religionen bis heute, dann ist diese Starrheit unübersehbar. Alle modernen Erkenntnisse und Entwicklungen prallen an der Sprache dieser Religionen ab.

Neben der sprachlichen Dimension haben alle diese Religionen auch eine ‚Erlebnisdimension‘, oft auch ‚Spiritualität‘ oder ‚Mystik‘ genannt. Einzelne, Gruppierungen, Bewegungen erzähltem davon, schrieben es auf, dass sie ‚besondere, tiefgreifende Erlebnisse‘ hatten, die ihnen ‚klar gemacht haben‘, was wirklich ‚wichtig‘ ist, ‚worin der Sinn des Lebens‘ liegt, Erlebnisse, die ihnen ‚Frieden‘ geschenkt haben, ‚Erfüllung‘, ‚Wahrheit‘. Und diese Erlebnisse waren immer so stark, dass sie diese Menschen aus allen Schichten dazu bewegt haben, ihr Lebens radikal zu ändern und von da an eben ‚erleuchtet‘ zu leben. Diese Menschen gab es nicht nur im Umfeld des Buddhismus, sondern auch zu Tausenden, Zehntausenden im Umfeld des Judentum-Christentums.

Solange diese religiösen Bewegungen sich im Umfeld der etablierten religiösen Überzeugungen und Praktiken bewegen wollten, mussten sie sich – wie immer auch ihre individuellen Erlebnisse waren – diesem Umfeld anpassen. In vielen Fällen führte dies auch zu Absetzbewegungen, zur Entwicklung neuer religiöser Bewegungen. Das Problem dieser erlebnisbasierten Bewegungen war, dass sie entweder nicht die Sprache benutzen durften, die sie zur Beschreibung ihrer Erlebnisse brauchten (da nicht erlaubt), oder aber, sie benutzten eine neue Sprache, und dies führte zum Konflikt mit den etablierten Sprachspielen.

Unter den vielen hunderten Bewegungen allein im Bereich Judentum-Christentum, die z.T. viele tausend, ja zehntausend  Mitglieder hatten und dabei oft auch materiell sehr wohlhabend bis reich wurden, möchte ich zwei kurz erwähnen: die Reformation angefeuert von Martin Luther und den Jesuitenorden, angefeuert von Ignatius von Loyola. Im historischen Klischee werden beide Bewegungen oft als direkte Gegner skizziert, da der Jesuitenorden kurz nach Beginn der Reformationsbewegung gegründet wurde und der katholische Papst gerade diesen Orden auch zur ‚Bekämpfung der Reformation‘ einsetzte. Dieses Bild verdeckt aber die wirklich interessanten Sachverhalte.

Der Jesuitenorden entstand aus den spirituellen Erfahrungen eines baskischen Adligen, deren innere Logik, Beschreibung und Praxis, im Lichte der Erkenntnisse der modernen Psychologie (und Psychoanalyse) stand halten würde. Außerdem war der Orden aufgrund dieser Spiritualität extrem weltoffen, wissenschaftsaffin, und revolutionierte die damals beginnende christliche Missionierung der Welt, indem jeweils die Kultur der verschiedenen Erdteile studiert und übernommen und sogar gegen zerstörerische Praktiken der europäischen Kolonisatoren geschützt wurden. Genau dieses wahre Gesicht des Ordens mit einer radikal individuell-erlebnisbasierten Spiritualität und daraus resultierenden Weltoffenheit und Menschlichkeit führte dann zum Verbot und Aufhebung des Ordens weltweit, verbunden mit Einkerkerungen, Folter und Tod ohne Vorankündigung. Das korrupte Papsttum ließ sich damals von dem portugiesischen und spanischen Hof erpressen, die ihre menschenverachtende Geschäfte in den Kolonien, speziell Südamerika, bedroht sahen. Dies war nicht die einzige Aufhebung und Misshandlung, die der Orden seitens des Papstums erfuhr. Während Luther sich gegen das Papsttum erhob und es auf einen Konflikt ankommen ließ, blieben die Jesuiten dem Papst treu und wurden vernichtet.

Diese Minigeschichte ließe sich aber zu einem großen Thema erweitern, da eben die sprachlich fixierten Religionen generell ein Problem mit Wahrheit und damit mit jeglicher Art von Erfahrung haben. Die Akzeptanz individueller Erfahrung als möglicher Quell von ‚Wahrheit‘, möglicherweise einer weiter reichenden alternativen Wahrheit zu der sprachlich fixierten (und damit eingesperrten) Wahrheit der Religionen, eine solche Akzeptanz würde das Wahrheitsmonopol dieser Religionen aufheben. Bislang hat keine der genannten Religionen es geschafft, von sich aus ihr problematisches Wahrheitsmonopol in Frage zu stellen.

JUDENTUM – CHRISTENTUM – PHILOSOPHIE

In der Zeit vor den modernen empirischen Wissenschaften existierte wissenschaftliches Denken entweder gar nicht oder in enger Verbindung mit dem philosophischen Denken bzw. der Medizin.

In der alten und klassischen Griechischen Philosopie (ca. -800 bis -200) wurde das Weltverstehen in vielen Bereichen erstmalig sehr grundlegend reflektiert, unabhängig von bestimmten religiösen Überzeugungen, obgleich natürlich auch diese Denker nicht im luftleeren Raum lebten sondern in konkreten Kulturen mit einer damals üblichen Moral, Ethik, Spielregeln, Sprachspielen.

Unter den vielen bedeutenden Konzepten war das größte systematische Konzept wohl jenes von Aristoteles, Schüler Platons, und den an ihn anschließenden Schulen. Während dieses griechische Denken nach der Eroberung Griechenlands durch die Römer in Mittel- und Westeuropa bis zum Jahr 1000 mehr oder weniger unbekannt war (Kriege, radikal anti-wissenschaftliche Einstellung der katholischen Kirche) war der damalige Islam sehr offen für Wissen. Das griechische Denken war im Islam weitgehend bekannt, lag entsprechend in arabischen Übersetzungen vor, und durch eine Vielzahl von Schulen, Bildungsstätten und großen Bibliotheken (z.T. mehrere hundert Tausend Bücher!) wurde dieses Wissen gepflegt und weiter entwickelt (welcher Kontrast zum heutigen Islam!). Und nur über diese Umweg über den hochgebildeten Islam mit Übersetzungsschulen in Spanien kam das Wissen der Griechen ab ca. 1000 wieder in das christliche Mittel- und West-Europa.

Mit dem Entstehen eines aufgeschlosseneren Bildungssystem in Europa wanderten die griechischen Gedanken über Bücher und Gelehrte wieder in europäische Bildungsstätten ein. Es gab eine Zeit der intensiven Auseinandersetzung zwischen bisheriger christlicher Theologie und Aristoteles. Auf dem Höhepunkt der begrifflichen Integration von christlichem Glauben und Aristotelischer Weltsicht gab es aber ‚Abspaltungstendenzen‘ in mehreren Bereichen.

POLITIK – WISSENSCHAFT – SPIRITUALITÄT

Das zunehmend freie und kritische Denken begann mit der Infragestellung der bis dahin waltenden absolutistischen Machtstrukturen.

Das methodisch geschulte universitäre Denken begann, über die aristotelischen Konzepte hinaus zu denken. Anknüpfungspunkte gab es genügend.

Das individuelle Erleben der Menschen, ihre Frömmigkeit, ihre Spiritualität suchte nach neuen Wegen, benutzte eine neue Sprache, um sich besser ausdrücken zu können.

Das neue politische Denken führte später zur französischen Revolution und vielen ähnlichen politischen Erneuerungsbewegungen.

Das neue philosophische Denken führt alsbald zum Bildung der neuen empirischen Wissenschaften mit neuer Logik und Mathematik.

Die neue Spiritualität lies viele neue religiöse Bewegungen entstehen, die quer zu allen etablierten Glaubensformen lagen, u.a. auch zur Reformation.

PHILOSOPHIE – WISSENSCHAFT

Stichworte zu 'Epistemische Schockwellen', Teil2. ca. ca. 1550 bis ca.2018
Stichworte zu ‚Epistemische Schockwellen‘, Teil2. ca. ca. 1550 bis ca.2018

Aus der Vielzahl der philosophischen Denker bieten sich vier besonders an: Descartes, Kant, Wittgenstein und Carnap.

Von heute aus betrachtet markieren diese Vier entscheidende Umbrüche des philosophischen Denkens, das von den Entwicklungen in der Logik, Mathematik,Physik, Geowissenschaften, Biologie und Psychologie zusätzlich profitiert hat und noch immer profitiert.

Descartes versuchte zu klären, inwieweit sich die Wahrheitsfrage nur durch Rekurs auf das eigene Denken lösen ließe. Sein Fixpunkt in der Gewissheit des eigenen Denkens (cogito ergo sum) wurde aber erkauft durch einen fortbestehenden Dualismus zwischen Körper (res extensa) und Denken/ Geist (res cogitans), den er mit einem irrationalen Gedanken zu einer Zirbeldrüse zu kitten versuchte.

Kant führte dieses Forschungsprogramm von Descartes letztlich weiter. Sein Vermittlungsversuch zwischen fehlbarer konkreter empirischer Erfahrung und den allgemeinen Prinzipien der Mathematik und des Denkens (des Geistes) ging über Descartes insoweit hinaus, dass er auf eine Zirbeldrüsen-ähnliche Lösung verzichtete und stattdessen davon ausging, dass der Mensch in seinem Denken von vornherein in abstrakten Kategorien wahrnimmt und denkt. Unsere menschliche Konstitution ist so, dass wir so wahrnehmen und Denken. Er konstatierte damit ein Faktum, das wir heute mit all unseren Erkenntnissen nur bestätigen können. Es blieb bei ihm offen, warum dies so ist. Es zeichnet seine intellektuelle Redlichkeit aus, dass er die offenen Enden seiner erkenntnistheoretischen (epistemischen) Analysen nicht krampfhaft mit irgendwelchen Pseudo-Lösungen versucht hat zu vertuschen.

Wittgenstein war der erste, der sich mit dem Funktionieren der Sprache und ihrer Wechselwirkung mit unserem Denken ernsthaft, ja radikal beschäftigte. Während er in seinem Frühwerk noch der Statik der damaligen modernen Logik huldigte, begann er dann später alle diese statischen formalen Konstruktionen in der Luft zu zerreißen, durchlief weh-tuende detaillierte Analysen der Alltagssprache, machte vor nichts Halt, und hinterließ mit seinem frechen und angstfreien Denken einen Trümmerhaufen, dessen Verdienst es ist, den Raum frei gemacht zu haben für einen echten Neuanfang.

Carnap wirkt in diesem Zusammenhang auf den ersten Blick wie ein Antipode zu Wittgenstein, und in der Tat hat er ja das vor-wittgensteinsche Sprachverständnis in seinen Studien zu den formalen Sprachen, zur Logik, zur logischen Semantik weiter angewendet. Allerdings hat er dies dann auch im Kontext der empirischen Wissenschaften getan. Und in diesem Kontext hat sein formal-scholastisches Denken immerhin dazu beigetragen, die Grundstrukturen moderner empirische Theorien mit einem formalen Kern frei zu legen und ihre Eigenschaften zu untersuchen.

Alle diese genannten Ansätze (Kant, Wittgenstein, Carnap) wurden später mehrfach kritisiert, abgewandelt, weiter entwickelt, aber es waren diese Ansätze, die die nachfolgenden Richtungen entscheidend beeinflusst haben.

Ein interessanter Grenzfall ist Freud (s.u.). Irgendwie könnte man ihn auch zur Philosophie rechnen.

LOGIK – MATHEMATIK

Aus heutiger Sicht kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dass es eine Zeit gegeben hat, in der die moderne Logik und Mathematik nicht verfügbar war. Nahezu alles, was unseren Alltag ausmacht setzt sehr viel Mathematik als beschreibende Sprache, als Berechnung, als Simulation voraus. Dass mathematisches Denken in den Schulen so wenig – und immer weniger – behandelt wird, ist sehr irritierend.

Logik und Mathematik sind einen weiten Weg gegangen.

Ein Meilenstein ist der Übergang von der klassischen aristotelischen Logik (eng an der Alltagssprache, Einbeziehung inhaltlichen Alltagsdenkens) zur modernen formalen Logik seit Frege (formale Sprache, formaler Folgerungsbegriff).

Eng verknüpft mit der Entwicklung der neuen formalen Logik ist auch die Entwicklung der modernen Mathematik, die entscheidend mit der Erfindung der Mengenlehre durch Cantor ihren Durchbruch fand, und dann mit Russel-Whitehead und Hilbert die Neuzeit erreichte. Keine der modernen Arbeiten in Gebieten wie z.B. Algebra, Topologie, Geometrie sind ohne diese Arbeiten denkbar, ganz zu schweigen von der modernen theoretischen Physik.

EMPIRISCHE WISSENSCHAFTEN

Erste Ausläufer empirischer Wissenschaft gab es schon vor Galilei (man denke z.B. nur an die bahnbrechenden Forschungen zur Medizin von dem islamischen Gelehrten (und Philosophen, Logiker, Theologen!) Avicenna). Doch an der Person Galileis kristallisiert sich der Konflikt zwischen neuem, offenen wissenschaftlichen Denken und dem alten, geschlossenen christlichen Denken. Zudem hat Galilei eben konsequent sowohl eine experimentelle Messmethode angewendet wie auch eine beginnende mathematische Beschreibung. Mit Newton gelang dann eine Fassung von Experiment und Theorie, die atemberaubend war: die Bewegung der Himmelskörper ließ sich nicht nur mit einfachen mathematischen Formeln beschreiben, sondern auch noch mit bis dahin unbekannter Präzision voraus sagen. Es sollte dann zwar noch fast 300 Jahre dauern, bis die moderne Physik eine erste Theorie zur Entstehung des ganzen Weltalls formulieren konnte samt ersten experimentellen Bestätigungen, aber die Befreiung des Denkens von dogmatischen Sprachbarrieren war geschafft. Die Wissenschaft insgesamt hatte sich freigeschwommen.

Schon im 17.Jahrhundert hatte Niels Stensen entdeckt, dass die unterschiedlichen Ablagerungsschichten der Erde in zeitlicher Abfolge zu interpretieren sind und man daher auf geologische Prozesse schließen kann, die die Erde durchlaufen haben muss.

Zwei Jahrhunderte später, schon im 19.Jahrhundert, wurde diese historische Sicht der Erde ergänzt durch Charles Darwin, der am Beispiel der Pflanzen- und Tierwelt auch Hinweise auf eine Entwicklung der Lebensformen fand. Sowohl die Erde als auch die biologischen Lebensformen haben eine Entwicklung durchlaufen, zudem in enger Wechselwirkung.

Fast parallel zu Darwin machte Freud darauf aufmerksam, dass unser ‚Bewusstsein‘ nicht die volle Geschichte ist. Der viel größere Anteil unseres menschlichen Systems ist ’nicht bewusst‘, also ‚unbewusst‘. Das Bewusstsein ‚erzählt‘ uns nur ‚Bruchstücke‘ jener Geschichten, die weitgehend im ‚Nicht-Bewusstein‘ oder ‚Unbewussten‘ ablaufen.

Die weitere Entwicklung der Biologie lieferte viele Argumente, die das Bild von Freud stützen.

Der Versuch von Watson, 1913, die Psychologie als empirische Verhaltenswissenschaft zu begründen, wurde und wird oft als Gegensatz zu Psychoanalyse gesehen. Das muss aber nicht der Fall sein. Mit der Verhaltensorientierung gelang der Psychologie seither viele beeindruckende theoretische Modelle und Erklärungsleistungen.

Von heute aus gesehen, müsste man ein Biologie – Psychologie – Psychoanalyse Cluster befürworten, das sich gegenseitig die Bälle zuspielt.

Durch die Einbeziehung der Mikro- und Molekularbiologie in die Evolutionsbiologie konnten die molekularen Mechanismen der Evolution entschlüsselt werden.Mittlerweile steht ein fast komplettes Modell der biologischen Entwicklung zur Verfügung. Dies erlaubt es sowohl, Kants (als auch Descartes) Überlegungen von den biologischen Voraussetzungen her aufzuklären (z.B. Edelman!), wie auch die Psychologie samt der Psychoanalyse.

COMPUTER

Als Gödel 1931 die Unentscheidbarkeit anspruchsvoller mathematischer Theorien (das fängt bei der Arithmetik an!) beweisen konnte, wirkte dies auf den ersten Blick negativ. Um seinen Beweis führen zu können, benötigte Gödel aber sogenannte ‚endliche Mittel‘. Die moderne Logik hatte dazu ein eigenes Forschungsprogramm entwickelt, was denn ‚endliche Beweismethoden‘ sein könnten. Als Turing 1936/7 den Beweis von Gödel mit dem mathematischen Konzept eines Büroangestellten wiederholte, entpuppte sich dieses mathematische Konzept später als ein Standardfall für ‚endliche Mittel‘. Turings ‚mathematisches Konzept eines Büroangestellten‘ begründete dann die spätere moderne Automatentheorie samt Theorie der formalen Sprachen, die das Rückgrat der modernen Informatik bildet. Das ‚mathematische Konzept eines Büroangestellten‘ von Turing wurde ihm zu Ehren später ‚Turingmaschine‘ genannt und bildet bis heute den Standardfall für das, was mathematisch ein möglicher Computer berechnen kann bzw. nicht kann.

Im weiteren Verlauf zeigte sich, dass gerade das Konzept des Computers ein extrem hilfreiches Werkzeug für das menschliche Denken sein kann, um die Grenzen des menschlichen Wahrnehmens, Erinnerns und Denkens auszugleichen, auszuweiten.

Schon heute 2018 ist der Computer zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Gesellschaft geworden. Das Wort von der ‚Digitalen Gesellschaft‘ ist keine Fiktion mehr.

ZEITGEIST

Der extrem kurze Rückblick in die Geschichte zeigt, wie schwer sich die Ausbildung und Verbreitung von Ideen immer getan hat. Und wenn wir uns die gesellschaftliche Realität heute anschauen, dann müssen wir konstatieren, dass selbst in den hochtechnisierten Ländern die gesamte Ausbildung stark schwächelt. Dazu kommt das eigentümliche Phänomen, dass das Alltagsdenken trotz Wissenschaft wieder vermehrt irrationale, gar abergläubische Züge annimmt, selbst bei sogenannten ‚Akademikern‘. Die Herrschaft von Dogmatismen ist wieder auf dem Vormarsch. Die jungen Generationen in vielen Ländern werden über mobile Endgeräte mit Bildern der Welt ‚programmiert‘, die wenig bis gar nicht zu wirklichen Erkenntnissen führen. Wissen als solches, ist ‚wehrlos‘; wenn es nicht Menschen gibt, die mit viel Motivation, Interesse und Ausdauer und entsprechenden Umgebungen zum Wissen befähigt werden, dann entstehen immer mehr ‚Wissens-Zombies‘, die nichts verstehen und von daher leicht ‚lenkbar‘ sind…

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DER SPÄTE FREUD UND DAS KONZEPT DER PSYCHOANALYSE. Anmerkung 2

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 18.Sept. 2018

Korrekuren: 18.Sept.2018, 13:20h
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Nachdem ich im vorausgehenden Beitrag den letzten Text von Freud (auf Deutsch) mit dem Englischen Titel (bei Deutschem Text) ‚Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis‘ (GW XVII, 1938-40) in der Rekonstruktion von Jürgen Hardt (1996) diskutiert hatte, hier einige weitere Überlegungen, dieses Mal mit direkter Bezugnahme auf den Text von Freud.

DISKUSSION

Modellvorschlag zu Freuds letztem Text zur Psychoanalyse
BILD: Modellvorschlag zu Freuds letztem Text zur Psychoanalyse

 

MODELL PSYCHOANALYSE

  1. Nach den bisherigen Überlegungen zu Freuds Position bietet es sich an, versuchsweise ein – noch sehr allgemeines – MODELL zu formulieren, das die wichtigen Begriffe von Freud in Beziehung setzt
  2. Im Kern geht es um den Begriff des SEELISCHEN, den Freud in die Komponenten BEWUSSTSEIN (BW) und UNBEWUSSTES (-BW) aufspaltet. In gewisser Weise kann man das Unbewusste als ‚Komplement‘ zum Bewusstsein sehen, da das Bewusstsein der einzige Referenzpunkt für das System homo sapiens darstellt, relativ zu dem alles andere unbewusst ist. Präziser wäre wohl der Ausdruck ’nicht bewusst‘ oder NICHT-BEWUSSTSEIN.
  3. Sowohl das Bewusstsein wie das Nicht-Bewusstsein gehören zum System homo sapiens, der sich in seinem KÖRPER manifestiert.
  4. Generell kann man davon ausgehen, dass das System homo sapiens INPUT-EREIGNISSE realisieren kann, die durch verschiedene STIMULI Ereignisse von außerhalb des Körpers ausgelöst werden können.
  5. Ebenso ist es so, dass bestimmte interne Körperereignisse – hier MOTORISCHE Ereignisse oder OUTPUT Ereignisse genannt – über die Körperoberfläche sich als VERÄNDERUNGEN der Körperoberfläche manifestieren können, die meistens als AKTIONEN klassifiziert werden oder gar als SPEZIFIZIERTE ANTWORTEN, RESPONSES.
  6. Interessant ist die Annahme von Freud, dass sich nur Teile des Nicht-Bewusstseins an das Bewusstsein mitteilen können (im Bild durch einen Pfeil angedeutet). Der Rest des Nicht-Bewusstseins teilt sich nicht dem Bewusstsein mit.
  7. Jetzt wird es spannend: Man könnte jetzt im Modell die weiteren Annahmen machen, dass es zwischen jenem Teil des Nicht-Bewusstseins, das sich dem Bewusstsein mitteilen kann – nennen wir es -BW+ – und jenem Teilen des Nicht-Bewusstseins, das sich nicht mitteilt – nennen wir diesen Teil -BW- –, dennoch eine Wechselwirkung gibt. Dies würde es erklären, warum Anteile des Nicht-Bewusstseins sich indirekt auf das Gesamtsystem auswirken können, ohne zunächst im Bewusstsein aufzutreten, dann aber – z.B. im Verlaufe der Therapie – plötzlich im Bewusstsein ‚greifbar‘ werden.
  8. Dieser Sachverhalt kann durch die weitere Annahme differenziert werden, dass möglicher Input von außen sich simultan beiden Komponenten des Nicht-Bewusstseins (-BW+, -BW-) mitteilen kann, wie auch umgekehrt beide Komponenten ein äußerliches Verhalten verursachen können (z.B. das Fehlverhalten, die Hypnoseexperimente, Arten des Redens und Verhaltens (Stimmfärbung, Form der Bewegung, …)), das als SIGNAL des NICHT-BEWUSSTSEINS fungieren kann. Dies würde z.B. erklären, warum Menschen in der Gegenwart anderer Menschen in ganz unterschiedliche ‚Stimmungen‘ geraten können, obgleich die ausgetauschten Worte keinerlei Hinweise für diese Gestimmtheit liefern. Vom Nicht-Bewusstsein verursachte Signale können im Nicht-Bewusstsein des Anderen innere Prozesse, Zustände verursachen, die sich dann in Form bestimmter Gefühle, Stimmungen, Emotionen äußern. Dies sind – zumindest berichten dies die Psychotherapeuten – sehr oft, fast immer ? – , dann der entscheidende Hinweis auf ‚verdeckt wirkende‘ Faktoren. Ohne das Nicht-Bewusstsein bleiben die objektiven ‚Signale‘ ‚unerkannt‘, sind dann eben keine ‚Signale‘ mit Referenz.
  9. So einfach dieses Modell ist, so weitreichend sind seine möglichen Konsequenzen.
  10. Da dieses Modell eine Arbeitshypothese ist, mit der man empirische Phänomene ‚deuten können soll‘, kann man es überprüfen und bekräftigen oder abschwächen bzw. dann ablehnen.

HIERARCHIE DER GEGENSTANDSBEREICHE

Das Schaubild deutet auch an, dass wir es mit einer impliziten Hierarchie von Gegenstandsbereichen zu tun haben. Der Homo sapiens ist Teil eines umfassenden Phänomens von biologischem Leben, das mit seiner Geschichte (der Evolution) ein Teilprozess auf dem Planet Erde ist, der sich als Teil des Sonnensystems herausgebildet hatte, das wiederum innerhalb der Galaxie Milchstraße entstanden ist, die sich wiederum im Prozess des bekannten Universums herausgebildet hat. Bedenkt man, dass die Anzahl der Galaxien irgendwo im Bereich von 200 Milliarden (2×1011) bis 2 Billionen (2×1012) liegt und eine einzelne Galaxie wiederum zwischen einige hundert Millionen (108) oder gar 100 Billionen (1014) Sterne haben kann (mit noch viel mehr Exoplaneten!), dann ist der Ausschnitt an körperlicher Wirklichkeit, die unser Sonnensystem mit der Erde bietet, atemberaubend ‚klein‘, man möchte sagen ‚winzig‘, so winzig, dass uns dafür die geeigneten Worte fehlen, da unser Alltag für solche Relationen keine direkten Beispiele bietet. Nur unser Denken und die Mathematik kann uns helfen, zumindest ansatzweise eine Vorstellung dazu auszubilden.

Allerdings, diese körperliche Kleinheit kann über etwas anderes hinweg täuschen, das möglicherweise ein noch größeres Wunder sein kann.

Wie die Wissenschaft erst seit wenigen Jahren weiß, besteht ein menschlicher Körper aus ca. 36 Billionen (10^12) Körperzellen, ca. 110 Billionen Bakterien im Darm und ca. 200 Milliarden Bakterien auf der Haut, d.h. ein menschlicher Körper besitzt an Zellen die Komplexität von ca. 700 Galaxien mit jeweils 200 Milliarden Sternen! Noch dramatischer wird der Kontrast, wenn man das Volumen eines menschlichen Körpers zu dem Volumen von 700 Galaxien in Beziehung setzt. Man kommt auf ein Verhältnis von ca. 1 : 10^64 !!! Anders gewendet, das Phänomen des Biologischen stellt eine unfassbare Verdichtung von Komplexität dar, deren Bedeutung und Konsequenz für das Verständnis von ‚Natur‘ bislang kaum so richtig (wenn überhaupt) gewürdigt wird.

Diese mit Worten gar nicht beschreibbare Verdichtung von Komplexität im Phänomen des Biologischen hat auch damit zu tun, dass wir es im Übergang von den ‚vor-biologischen‘ Strukturen zu den biologischen Strukturen mit einem grundlegenden Paradigmenwechsel zu tun haben. Während wir im Bereich physikalischer Strukturen Materieverdichtungen nur durch das bislang wenig verstandene Phänomen der ‚Gravitation‘ feststellen können (die nach sehr einfachen Regeln ablaufen), präsentiert das ‚Biologische‘ neuartige Prozesse und Strukturen, mit einer konstant zunehmenden ‚Verdichtung‘, die nach völlig neuartigen Regeln ablaufen. Mit Gravitation lässt sich hier nichts mehr erklären. Diese neue Qualität materieller Strukturen und Prozesse auf die einfacheren Gesetze der bekannten Physik zu ‚reduzieren‘, wie es oft gefordert wurde, ist nicht nur grober Unfug, sondern vernichtet gerade die Besonderheit des Biologischen. Der Übergang von Physik zur Astrobiologie und dann zur Biologie ist daher ein qualitativer: im Biologischen finden wir völlig neue Phänomene, die sich an der beobachtbaren Funktionalität manifestieren. ‚Emergenz‘ würde hier bedeuten, dass wir es hier mit qualitativ neuen Phänomenen zu tun haben, die sich nicht auf die Gesetze ihrer Bestandteile reduzieren lassen.

Aufgrund der schier unfassbaren Vielfalt und Komplexität des Biologischen, das in seiner körperlichen Winzigkeit eine universale Komplexität realisiert, die die bekannten astronomischen Größen letztlich sprengt, ist es sicher nicht verwunderlich, dass sich zum Phänomen des Biologischen viele verschiedene Wissenschaften ausgebildet haben, die versuchen, Teilaspekte irgendwie zu verstehen. Da der ‚Kuchen der Komplexität‘ so unfassbar groß ist, findet jeder etwas interessantes. Allerdings sollte man sich bewusst sein, dass diese vielen Disziplinen in ihrer heutigen Zersplitterung etwas auseinanderreißen und zerstückeln, das letztlich zusammen gehört.

So ist auch die Psychologie mit ihrer Spezialdisziplin Psychoanalyse letztlich kein Sonderbereich, wenngleich die hier anfallenden Phänomene tierischer und menschlicher Systeme anscheinend nochmals eine Steigerung an neuen funktionalen Phänomenen bieten.

HIERARCHIE DER WISSENSCHAFTEN

Es wäre die Aufgabe einer modernen Philosophie und Wissenschaftsphilosophie die Einheit der Phänomene und Wissenschaften wieder herzustellen. Sicher ist dies nichts, was eine einzelne Person schaffen kann noch kann dies in wenigen Jahren stattfinden. Vermutlich muss die ganze Wissenschaft neu organisiert werden, sodass letztlich alle kontinuierlich an dem Gesamtbild mitwirken.

Das, was für die Physik vielleicht die dunkle Materie und die dunkle Energie ist, die bislang ein wirkliches Gesamtbild entscheidend verhindert, dies ist für die Wissenschaft überhaupt das Problem, dass die Wissenschaftler und Philosophen, die sich um eine rationale Erklärung der Welt bemühen, letztlich selbst auch Bestandteil eben jener Wirklichkeit sind, die sie erklären wollen. Solange die empirischen Wissenschaften diesen fundamentalen Faktor aus ihrer Theoriebildung ausklammern, solange werden sie sich nur an der Oberfläche von Phänomenen bewegen und die wirklich interessanten Phänomene, die über Biologie, Psychologie und Philosophie ins Blickfeld geraten, werden bis auf weiteres außen vor bleiben.

QUELLEN

Hardt, Jürgen (1996), Bemerkungen zur letzten psychoanalytischen Arbeit Freuds: ‚Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis‘, 65-85, in: Jahrbuch der Psychoanalyse, Bd.35, Frommann-holzboog

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DER SPÄTE FREUD UND DAS KONZEPT DER PSYCHOANALYSE. Anmerkung

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 17.Sept. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Wie im Beitrag vom vom 10.Sept. 2018 festgestellt, kann man die Praxis der Psychoanalyse, wie sie im Rahmen der Philosophiewerkstatt im Jahr 2018 vorgestellt wurde, sehr wohl in das Konzept einer empirischen Wissenschaft ‚einbetten‘, ohne den Faktor des ‚Un-Bewussten‘ aufgeben zu müssen. Nach Ansicht des Autors des Beitrags dort ist das Haupthindernis dafür, dies nicht umzusetzen, einerseits das mangelnde Verständnis der Psychoanalytiker für moderne Konzepte empirischer Theorien, andererseits sind die aktuellen Theoriekonzepte empirischer Theorien zu einfach; sie müssten weiter entwickelt werden.

Man kann dieser Diskussion weitere ‚Nahrung‘ geben, wenn man Themen der letzten Schrift von Sigmund Freud selbst aufgreift. Dieser Deutsche Text hatte den Englischen Titel ‚Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis‘ (GW XVII, 1938-40). Ich wurde auf diesen Text aufmerksam durch Jürgen Hardt, der dazu 1996 einen historisch-systematischen Artikel verfasst hatte (Hardt 1996).

In einer sehr detaillierten textnahen Analyse kann Jürgen Hardt es plausibel erscheinen lassen, dass dieser Text ‚Some …‘ kein nachträglicher Kommentar zu dem zeitlich früheren ‚Abriß der Psychoanalyse‘ (GW VVII, 1938-40) darstellt, sondern letztlich einen methodisch neuen Ansatz bildet, wie Freud die Psychoanalyse darstellen wollte, ohne dies vollenden zu können.

Die zentrale Idee besteht darin, dass die Psychoanalyse sehr wohl am Alltagsverständnis ansetzt, beim alltäglichen Bewusstsein, der individuellen ‚Selbstbeobachtung‘, dass sie aber nicht bei der ‚Lückenhaftigkeit‘ der Phänomene stehen bleibt, sondern die Lücken einem ‚Un-Bewussten‘ zurechnet, das für die Auswahl und das Zustandekommen der bewussten Phänomene verantwortlich ist. Mit diesem Ansinnen und mit der Umsetzung dieses Ansinnens, begibt sich die Analyse in das Gebiet der ‚theoretischen Deutung‘ von ‚Erfahrbarem‘. Damit tut sich auf den ersten Blick ein Gegensatz von ‚Bewusstsein‘ und ‚Un-Bewusstem‘ auf: das Un-Bewusste ist dem Bewusstsein ‚etwas Fremdes‘. Dieser Gegensatz wird umso provozierender, wenn man – wie Freud – dieses ‚Un-Bewusste‘ mit dem ‚Seelischen‘ gleichsetzt, denn dann ist auch ‚das Seelische‘ dem Bewusstsein ‚fremd‘. Es ist dann das hehre Ziel der Psychoanalyse die ‚Lücken im Bewusstsein‘ dadurch zu schließen, dass man das ‚Un-Bewusste‘ und seinen funktionellen Beitrag für das Bewusstsein ’sichtbar macht‘. Dazu gibt es die weitere Position Freuds, dass das ‚Un-Bewusste‘ und seine Prozesse ‚zur Natur‘ gehören (über den Körper, der Teil der Natur ist). Insofern ist die Psychoanalyse nach Freud von ihrem Gegenstand her eine ‚Naturwissenschaft‘.

Soweit diese Position, wie sie sich anhand der detaillierten Analyse von Jürgen Hardt rekonstruieren lässt.

Angenommen diese meine Rekonstruktion der Interpretation von Jürgen Hardt ist zutreffend, dann kann man – speziell auch vor dem Hintergrund der vorausgehenden Diskussion – einige Fragen stellen.

  1. Beginnt man mit dem Ende der obigen Argumentation, dann scheint Freud die These von der Psychoanalyse als ‚Naturwissenschaft‘ von dem Sachverhalt herzuleiten, dass ihr ‚Gegenstandsbereich‘ (das ‚Un-Bewusste‘ als das ‚Seelische‘, dieses verortet in Prozessen des Körpers) dem geläufigen Verständnis von ‚Natur‘ zuzurechnen sei.

  2. Nun definiert sich die moderne Naturwissenschaft allerdings nicht nur über ihren Gegenstandsbereich (die diffuse, zu Beginn nicht definierte, ‚Natur‘), sondern zugleich und wesentlich auch über die ‚Methode des Gewinnens und Aufbereitens von wissenschaftlichem Wissen‘ über diese intendierte Natur.

  3. In diesen Prozessen des ‚Gewinnens und Aufbereitens von wissenschaftlichem Wissen‘ spielen ‚experimentelle empirische Messprozesse‘ eine zentrale Rolle. Nicht erst seit Galilei beginnt man etwas Neues, ein zu Untersuchendes (die Natur, Teilaspekte der Natur) mit einem zuvor festgelegten ‚objektiven Standard‘ zu vergleichen und benutzt die Ergebnisse dieses Vergleichs als ‚empirisches Faktum‘, wobei man von dem ausführenden ‚Beobachter/ Theoriemacher‘ absieht.

  4. Im von Freud proklamierten Ausgang beim ‚Alltagsbewusstsein‘, das sich primär in der ‚Selbstbeobachtung‘ erschließt, innerhalb einer Therapie aber auch parallel in einer ‚Fremdbeobachtung‘ des ‚Verhaltens‘ eines anderen, stellt sich die Frage nach einem ‚zuvor vereinbarten Standard‘ neu.

  5. An das beobachtbare Verhalten eines Anderen kann man zuvor vereinbarte Standards anlegen (man denke beispielsweise an die mehr als 100 Jahre psychologische Intelligenzforschung: ohne die einem Verhalten zugrunde liegenden Strukturen und Prozesse direkt untersuchen zu können, kann man Kataloge von Verhaltensweisen definieren, die man mit dem Begriff ‚Intelligent‘ korreliert. Dieses Verfahren hat gezeigt, dass es erstaunlich stabile Prognosen künftiger Verhaltensweisen erlaubt). So wäre denkbar, dass man Bündel von Verhaltensmerkmalen und typische Abfolgen in typischen Situationen mit bestimmten Begriffen verknüpft, die sich mit unterstellte unbewussten Prozessen assoziieren lassen.

  6. Allerdings, da ‚unbewusste‘ Prozesse per Definition ’nicht bewusst‘ sind, stellt sich die Frage, wann und wie ein psychoanalytischer Beobachter/ Theoriemacher einen Zugriff auf diese unbewussten Prozesse bekommen kann?

  7. Im Fall der Intelligenzforschung gibt es diesen Zugriff auf interne Prozesse letztlich auch nicht, da z.B. niemand direkt in die Arbeitsweise seines ‚Gedächtnisses‘ hineinschauen kann. Was wir vom Gedächtnis wissen, wissen wir nur über die ‚Reaktionen des Systems‘ in bestimmten Situationen und Situationsfolgen.

  8. Hier kann man vielleicht an dem Begriff ‚Fehlleistung‘ anknüpfen, der für Freud solche Verhaltensweisen charakterisiert, die nach ’normalem Verständnis‘ eine ‚Abweichung‘ vom ’normalen Muster‘ darstellen. Da ja – das wäre das grundlegende Axiom – keine Leistung einfach aus einem ‚Nichts‘ kommt, sondern ‚Prozesse im Innern‘ voraussetzt, würde man aufgrund des Axioms die Hypothese bilden, dass es Prozesse gibt, die von den ’normalen Prozessen‘ abweichen.

  9. In diesen Kontexten gehört dann auch die Traumanalyse, sofern man das Axiom aufstellt, dass Träume Verarbeitungsprozesse von erlebter Erfahrung darstellen, die ‚intern erlebte Spannungen, Konflikte, Ängste, …‘ widerspiegeln und ‚verarbeiten‘.

  10. Die bisherigen Überlegungen führen über das Muster einer verhaltensorientierten Psychologie nicht hinaus, wenngleich die ‚Arten des Verhaltens‘ mit ‚Fehlleistungen‘ und ‚Träumen‘ als Indikatoren schon bestimmte ‚Axiome‘ voraussetzen, die zusammen genommen ein ‚Modell des Akteurs‘ darstellen. Empirische Modelle – so auch dieses – können falsch sein.

  11. Fasst man den Begriff der ‚Fehlleistung‘ weiter indem man alles, was irgendwie ‚auffällig‘ ist (Stimmfärbung, Redeweise, Bewegungsweise, Zeit und Ort der Äußerung, …), dann ergibt sich ein weites, ‚offenes‘ Feld von potentiellen Verhaltensphänomenen, das zu jedem Beobachtungszeitpunkt ‚mehr‘, ‚größer‘ sein kann als das, was zuvor vereinbart worden ist.

  12. Schließlich, welche Verhaltensweisen auch immer man zuvor als potentielle ‚Indikatoren für unbewusste Prozesse‘ vereinbart haben mag, solange keiner der Beteiligten an irgendeiner Stelle eine ‚Verbindung‘ zu einem ‚realen unbewussten Prozess‘ herstellen kann, hängen diese Indikatoren – bildhaft gesprochen – ‚in der Luft‘. Vergleichbar wäre dies mit einem Quantenphysiker, der aufgrund seines mathematischen Modells eine bestimmte ‚Eigenschaft‘ im Quantenraum postuliert und es ihm bislang noch nicht gelungen ist, ein Experiment durchzuführen, das diese ‚theoretisch begründete Vermutung‘ ‚bestätigt‘.

  13. In der Darstellung von Jürgen Hardt bleibt offen, wie Freud sich eine Lösung dieses Bestätigungsproblems vorstellt.

  14. Aus den zurückliegenden Gesprächen mit PsychoanalyternInnen weiß ich, dass die ‚Wirkung einer hergestellten Beziehung‘ zwischen ‚bewussten Verhaltensanteilen‘ und ‚zuvor unbewussten Faktoren‘ einmal an objektiven Verbesserungen der Gesamtsituation des Anderen festgemacht wird (dazu ließe sich ein zuvor vereinbarter Katalog von Standards denken), und dieser Wirkung geht ein bestimmtes ‚Identifikations- und Erkennungserlebnis‘ voraus. Mit einem solchen Erlebnis ist gemeint, dass es irgendwann (eine nicht planbare und nicht erzwingbare Konstellation) dem Anderen gelingt, durch eine Vielzahl von Indikatoren und begleitenden Verhaltensweisen jene ‚interne Faktoren‘ ‚ans Bewusstsein‘ zu holen, die für die abweichenden Verhaltensweisen (die in der Regel mit vielfachen negativen Begleiteffekten im Alltagsleben verbunden waren) in kausaler Weise ‚verantwortlich‘ ist. Aufgrund der ungeheuren Variabilität von individuellen Persönlichkeitsstrukturen und -biographien können diese Faktoren so unterschiedlich sein, dass ein alle Fälle von vornherein beschreibendes Modell/Muster praktisch unmöglich erscheint. Nur insofern als das Alltagsleben Stereotype aufweist, die viele Menschen teilen, kann es ähnliche Phänomene im Rahmen einer Population geben.

  15. Wichtig ist hier, dass ein solches ‚Identifikations- und Erkennungserlebnis‘ ein subjektiver Prozess im Bereich der Selbstbeobachtung ist, dessen Gehalt sich nur indirekt in der Kommunikation und in den nachfolgenden ‚objektiven und subjektiven‘ Eigenschaften des Alltagslebens manifestiert.

  16. Der anhaltende Konflikt zwischen verhaltensbasierter Psychologie und Psychoanalyse, ob sich die im Rahmen einer Psychoanalyse erwirkten Verhaltensänderungen auch im Rahmen der ’normalen‘ verhaltensbasierten Psychologie ermöglichen lassen, wirkt ein bisschen künstlich. Eine verhaltensbasierte Psychologie, die ‚Fehlleistungen‘ und ‚Träume‘ als Indikator-Phänomene ernst nehmen würde, käme nicht umhin, axiomatisch unbewusste Prozesse anzunehmen (was sie ansonsten bei vielen komplexen Verhaltensweisen auch tun muss). Diese unbewussten Prozesse in ihrer ‚verursachenden Funktion‘ für das Alltagsverhalten zu ‚erschließen‘ braucht es sehr viel ‚kreatives‘ Experimentieren mit vielen Unbekannten, für das die Einbeziehung des ‚Unbewussten‘ des Therapeuten (zusätzlich zu den zuvor erarbeiteten Modellen) sich bislang als beste Strategie erweist, insbesondere dann, wenn man die Kommunikation zwischen den beiden ‚Unbewussten‘ zulässt und nutzt.

  17. Als Wissenschaftsphilosoph würde ich sagen, dass die Abgrenzung zwischen empirischer Psychologie und (empirischer) Psychoanalyse ‚künstlich ist. Die gewöhnliche verhaltensbasierte Psychologie kann sich von einer sich als ‚empirisch‘ verstehenden Psychoanalyse nur abgrenzen, wenn sie ihr eigenes Selbstverständnis in bestimmten Punkten künstlich beschneidet.

  18. Eine sich empirische verstehende Psychoanalyse (Freuds Postulat von Psychoanalyse als Naturwissenschaft) wiederum sollte die ideologisch erscheinenden Abgrenzungsversuche gegen die normale empirische Psychologie aufgeben und vielmehr konstruktiv zeigen, dass ihr psychoanalytisches Vorgehen nicht nur voll im Einklang mit einem empirisch-experimentellen Selbstverständnis steht, sondern darüber hinaus die Mainstream-Psychologie um wertvolle, grundlegende Erkenntnisse zum Menschen bereichern kann. Dann hätten alle etwas davon.

  19. Die weitere Forderung der empirischen Wissenschaft, die ‚gemessenen Fakten‘ systematisch zu ‚ordnen‘ in Form eines ‚Modells‘, einer ‚Theorie‘ ließe sich von der Psychoanalyse auch bei introspektiven Phänomenen sehr wohl einlösen. Allerdings sind bislang nur wenige Beispiele von formalisierten Modellen zu psychoanalytischen Sachverhalten bekannt (eines stammt von Balzer).

LIT:

Balzer, Wolfgang (1982), Empirische Theorien: Modelle, Strukturen, Beispiele,Friedr.Vieweg & Sohn, Wiesbaden

Hardt, Jürgen (1996), Bemerkungen zur letzten psychoanalytischen Arbeit Freuds: ‚Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis‘, 65-85, in: Jahrbuch der Psychoanalyse, Bd.35, Frommann-holzboog

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PSYCHOANALYSE ALS PROTOTYP EINER REFLEKTIERTEN EMPIRISCHEN WISSENSCHAFT. Bericht zur Sitzung vom 9.September 2018

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 10.Sept. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Die Sitzung am 9.September 2018 hatte eine Vorgeschichte.

ROBOTER VERLANGEN BESCHREIBUNG

In einer Sitzung im Januar 2018 hatte sich die bunt gemischte Gesprächsrunde die Frage gestellt, ob man einen Psychoanalytiker durch einen Roboter ersetzen könne. Die Analyse kam zur Erkenntnis, dass der Bau eines geeigneten Roboters voraussetzt, dass es eine hinreichend angemessene Beschreibung dessen gibt, was genau ein Psychoanalytiker im Rahmen eines therapeutischen Prozesses tut, wie die Interaktionen mit dem Analysanden sind, und welche speziellen ‚inneren Zustände‘ beim Analytiker gegeben sein müssen, damit er so handeln kann. Damit verschob sich die Aufgabenstellung hin zu einer solchen angemessenen Beschreibung des Psychoanalytikers/ der Psychoanalytikerin in einem Therapieprozess.

PSYCHOANALYSE ALS EMPIRISCHE THEORIE

In der nachfolgenden Sitzung im März 2018 wurde daher das Selbstverständnis der Psychoanalyse im Rahmen des Begriffs einer empirischen Theorie abgefragt. Das erstaunliche Ergebnis war, dass die Psychoanalyse grundsätzlich alle Anforderungen an eine empirische Wissenschaft erfüllt. Sie hat allerdings zwei Besonderheiten: (i) Der Beobachter und der Theoriemacher sind selbst Bestandteil der Theorie; (ii) die Messvorgänge laufen unter Laborbedingungen ab, die neben schon klassifizierten Phänomenen kontinuierlich auch ’neue‘ Phänomene zulässt, die für die Theoriebildung wichtig sein können (für Details siehe den Beitrag).

VON DEN DATEN ZUM MODELL

In der nachfolgenden Sitzung im April 2018 fokussierte sich das Gespräch auf das Wechselspiel zwischen ‚Daten‘ und erklärendem ‚Modell‘ (‚Theorie‘) und wie es zum Modell kommt. Speziell im Fall des Psychoanalytikers ergibt sich eine Doppelrolle: (i) als Teil des Prozesses agiert er/sie im Prozess als Mensch mit ‚Un-Bewusstem‘ und und seinen ‚Erfahrungen‘ und seinem bisherigen ‚Modell‘, andererseits (ii) ist er/sie reflektierter Profi, der seine Wahrnehmungen des Analysanden, der Umgebung und seiner selbst mit seinem ‚professionellen Modell‘ abgleichen muss. Der hier offensichtlich werdende ‚dynamische Charakter der Modellbildung‘ ist charakteristisch für jede Modellbildung, wird aber in den meisten empirischen Wissenschaften eher verdeckt. (Für Details siehe den Beitrag).

EINE PSYCHOANALYTISCHE FALLSTUDIE

In der Sitzung vom Mai 2018 wurde nach so viel vorausgehender Theorie ein konkretes Fallbeispiel betrachtet, das eine der teilnehmenden Psychoanalytikerinnen  vorstellte. Dieses Beispiel demonstrierte sehr klar, wie die Psychoanalytikerin als aktives Moment im Therapieprozess im Bereich des Un-Bewussten mit dem Analysand interagiert und dadurch diesen in die Lage versetzt, einen Zugriff auf jene Faktoren zu bekommen, die im Un-Bewussten das Verhalten über Jahrzehnte massiv beeinflusst hatten. Dadurch lies sich dann schnell und wirkungsvoll eine qualitative Verbesserung der Situation des Analysanden herstellen.

WISSENSCHAFTSPHILOSOPHISCHE AKTUALITÄT DER PSYCHOANALYSE

GEISTESWISSENSCHAFTEN VERSUS NATURWISSENSCHAFTEN

Die Gegensatzbildung zwischen ‚Geisteswissenschaften‘ einerseits und ‚Harten Wissenschaften‘ andererseits ist nicht neu und bei vielen so eine Art Stereotyp, das man gar nicht mehr hinterfragt. In den ‚harten Wissenschaften‘ selbst gibt es aber immer wieder von einzelnen selbst-kritische Überlegungen zur Problematik des ‚Beobachters‘ und des ‚Theoriemachers‘, die aus der eigentlichen Theorie ausgeklammert werden, was wissenschaftsphilosophisch zu erheblichen Problemen führt (Ein prominentes Beispiel, was ich auch gerade im Blog analysiere und diskutiere ist Edelman, ein exzellenter Erforscher des Immunsystems und des Gehirns).

INGENIEURWISSENSCHAFTEN

In den Ingenieurwissenschaften, die den empirischen Wissenschaften in Sachen Formalisierung in Nichts nachstehen, eher noch ausführlicher und in vielen Fällen erheblich detaillierter sind, gibt es dagegen schon seit vielen Jahren die wachsende Erkenntnis, dass 60 – 80% der Projekte nicht daran scheitern, dass die beteiligten Experten zu wenig wissen, sondern daran, dass die beteiligten ExpertenInnen ihre eigenen psychologischen Zustände zu wenig kennen, mit ihnen nicht umgehen können, diese in die Planung von Projekten und den zugehörigen komplexen Formalisierungen nicht einbeziehen. Statt von ‚Beobachter‘ und ‚Theoriemacher‘ spreche ich hier vom ‚Akteur‘ als jenem Moment eines Theorieprozesses, das sowohl die Theorie entwickelt als auch anwendet. Eine moderne und zukunftsfähige Theorie des Engineerings wird nicht umhin kommen, irgendwann den Akteur selbst in die Theoriebildung einzubeziehen (einen Theorieansatz in diese Richtung findet sich in dem Online-Buchprojekt ‚Actor-Actor-Interaction Anaysis‘).

PSYCHOANALYSE ALS PROTOTYP

Interessant ist, dass die Psychoanalyse eigentlich ein Prototyp einer solchen ‚Beobachter-Integrierten empirischen Theorie‘ ist, und zwar schon von Anfang an. Wie Jürgen Hardt, einer der teilnehmenden Psychoanalytiker, in Erinnerung rief, hatte der Begründer der Psychoanalyse, Freud, von Anfang an die Forderungen aufgestellt, (i) dass die Psychoanalyse eine Naturwissenschaft sein muss, allerdings (ii) mit dem methodischen Hinweis, dass man das ‚Seelische‘ nicht mit den unleugbar somatischen Parallelvorgängen (im Gehirn, im Körper) verwechseln dürfe. Aus Sicht eines verkürzten Empirieverständnisses wurde dies oft als ‚un-empirisch‘ oder gar als ‚dualistisch‘ charakterisiert. Dies ist jedoch unangemessen. Freud ging es primär darum, zunächst mal jene ‚Phänomene zu retten‘, die sich bei dem damaligen Zustand der empirischen Wissenschaften noch nicht in die aktuellen theoretischen Modelle (sofern es denn überhaupt echte empirische Modelle waren) einordnen liesen. Es zeichnet ‚wahre empirische Wissenschaft‘ schon immer aus, dass sie ‚Phänomene‘ akzeptiert, auch und gerade dann, wenn die aktuelle Theoriebildung sie noch nicht einordnen kann.

KEIN DUALISMUS

Dazu kommt, dass man die Charakterisierung von ‚Dualismus‘ selbst sehr kritisch hinterfragen muss. In der modernen Mathematik und damit auch in allen empirischen Theorien, die Mathematik benutzen (was letztlich alle empirischen Disziplinen sind, die den Anforderungen einer ‚wissenschaftlichen‘ Theorie gerecht werden wollen) gibt es nur zwei Grundbegriffe:’Menge‘ und ‚Relation (Funktion)‘. Während man für das abstrakte Konzept ‚Menge‘ in der empirischen Wirklichkeit nahezu beliebig viele konkrete ‚Objekte‘ finden kann, die als ‚Instanzen/ Beispiele‘ für Mengen dienen können, sozusagen die Prototypen für ‚Reales‘, lassen sich für ‚Relationen/ Funktionen‘ so leicht keine direkte Entsprechungen finden. ‚Relationen‘ bestehen nur ‚zwischen‘ Objekten, ‚Funktionen‘ dagegen lassen sich ‚Veränderungen‘ zuschreiben. Beides ‚Beziehungen zwischen‘ und ‚Veränderungen‘ sind keine realen Objekte; sie existieren quasi nur in unserer Wahrnehmung als ‚virtuelle‘ Objekte. Das Verhältnis zwischen ‚realen Objekten‘ und ‚virtuellen Relationen/ Funktionen‘ würde man daher nicht als ‚Dualismus‘ bezeichnen, da der Begriff des Dualismus spätestens seit Descartes  eher für die Forderung nach zwei unterschiedliche ‚Substanzen‘ (‚res extensa‘, ‚res cogitans) reserviert hat. Objekte kann man vielleicht als Substnzen (‚res extensa‘) bezeichnen, nicht aber ‚virtuelle Relationen/ Funktionen‘.

Angewendet auf die Psychoanalyse wäre die Freudsche Unterscheidung von ’somatischen Prozessen‘ (Gehirn/ Körper als ‚res extensa‘, denen zugleich aber auch ‚dynamische‘ Eigenschaften zukommen (= Funktionen)) und dem ‚Seelischen‘, das sich qualitativ im ‚Bewusstsein‘ zeigt (= Phänomene als ‚virtuelle Objekte‘ (mit virtuellen Beziehungen) in einer spezifischen Dynamik (mit virtuellen Funktionen)) dann kein klassischer Dualismus sondern eine Unterscheidung unterschiedlicher Phänomenklassen, denen unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten zukommen.

SYSTEMISCHES KONZEPT

Was viele gern übersehen, das ist die ‚Gesamtsicht‘, die der Psychoanalyse zu eigen ist. Freud selbst tendierte in seiner Spätphase (Hinweis Jürgen Hardt) zu einem ‚organismischen‘ Denken, wie er es nannte; heute würde man es vielleicht ’systemisch‘ nennen. Durch die Anerkennung der Tatsache, dass das ‚Bewusstsein‘ nur einen Teil – heute müsste man vielleicht sagen: einen sehr kleinen Teil! – der Vorgänge im menschlichen Körper abbildet, wobei das ‚Un-Bewusste‘ letztlich den ganzen Restkörper beinhaltet, muss die Psychoanalyse jede Reaktion eines Akteurs als eine ‚Antwort des ganzen Systems‘ betrachten, die in den meisten Fällen von Prozessen und Faktoren verursacht werden, die eben un-bewusst sind. Insofern es weder aktuell eine vollständige Theorie aller Körperprozesse gibt noch man davon ausgehen kann, dass die Menge der möglichen Körperprozesse endlich und konstant ist, nicht einmal im Fall eines einzelnen Akteurs, ist die psychoanalytische Theoriebildung kontinuierlich in einer Situation, wo es eine Modellvorstellung M bis zum Zeitpunkt t gibt, die ab dem Zeitpunkt t mit einer offenen Menge von Phänomenen Ph_t+ konfrontiert werden kann, die vielfach bzw. überwiegend noch nicht Teil des bisherigen Modells M sind. Sofern das Modell M Anhaltspunkte für Interpretationen oder Verhaltensprognosen gibt, kann der Therapeut danach handeln; sofern das Modell ’schweigt‘, muss er das tun, was die Evolution seit 3.8 Milliarden Jahren tut: mangels Wissen über die Zukunft lassen biologische Populationen die Bildung von ‚Varianten‘ zu, von denen vielleicht einige dann in der Zukunft ‚passen‘, wenn alle anderen aufgrund von Veränderungen der Umgebung ’nicht mehr passen‘. Dieses ‚Handeln bei mangelndem Wissen ist der wichtigste Überlebensakt aller biologischer Systeme. Die ‚Quelle‘ für psychotherapeutische Verhaltensvarianten ist das eigene System, der Körper des Psychoanalytikers, schwerpunktmäßig sein Un-Bewusstes, das ‚aus sich heraus‘ wahrnimmt und reagiert.

Von den Psychoanalytikern wurde zahllose Beispiel angeführt, deren Phänomenologie die Arbeitshypothese nahelegt, dass es zwischen dem ‚Un-Bewussten‘ des Therapeuten und dem Un-Bewussten des Patienten offensichtlich eine Kommunikation im Nicht-Bewussten-Bereich geben muss, da unbewusste Zustände des Patienten, von denen der Therapeut bis dahin nichts wusste, sehr charakteristische Körperzustände beim Therapeut hervorriefen, die dann zum ‚Katalysator‘ dafür wurden, dass der Therapeut und der Patient dadurch einen entscheidenden Hinweis auf die zugrunde liegenden un-bewussten Faktoren im Patient gewinnen konnten.

Angesichts dieser Systemsicht und ihrer komplexen Dynamik stellt sich die Frage nach der Funktion des ‚Bewusstseins‘ ganz anders. Irgendwie erscheint das Bewusstsein wichtig (mindestens für alle sprachliche Kommunikation und explizite Planung), aber irgendwie ist das Bewusstsein nur ein kleiner Teil eines viel größeren dynamischen Systems, dessen Ausmaß und genaue Beschaffenheit weitgehend im Dunkeln liegt. Die moderne Gehirnforschung (wie auch die gesamte moderne Physiologie) könnte hier sicher viele wertvolle Erkenntnisse beisteuern, wären sie nicht bislang wissenschaftsphilosophisch so limitiert aufgestellt. Viele der möglichen interessanten Erkenntnisse ‚verpuffen‘ daher im Raum möglicher Theorien, da diese Theorien nicht ausformuliert werden.

ERFOLGSKRITERIEN

Natürlich kann und muss man die Frage stellen, inwieweit ein psychoanalytisches Modell – oder gar eine ausgebaute Theorie – ‚verifizierbar‘ bzw. ‚falsifizierbar‘ ist. Berücksichtigt man die methodischen Probleme mit dem Begriff der ‚Falsifikation‘ (siehe dazu die kurze Bemerkung Nr.18 im Blogbeitrag vom 5.September 2018) beschränken wir uns hier auf den Aspekt der ‚Verifikation‘.

Eine Verifikation wäre im allgemeinen die ‚Bestätigung‘ einer ‚Prognose‘, die man aus dem ‚bestehenden Modell‘ ‚abgeleitet‘ hatte. Da das ‚bestehende Modell‘ im Fall der Psychoanalyse im allgemeinen nicht als ‚formalisiertes Modell‘ vorliegt, kann es sich bei den möglichen ‚Prognosen‘ daher nur um ‚intuitive Schlüsse‘ des Therapeuten aus seinem ‚bewusst-unbewussten‘ Modell handeln. Im praktischen Fall bedeutet dies, dass (i) es einen ‚therapeutischen Prozess‘ gab, der alle offiziellen Anforderungen an einen psychoanalytischen Prozess erfüllt, dass (ii) ein Zustand erreicht wird, in dem der Patient einen höheren Grad an ‚Selbststeuerung‘ erreicht hat. Dies kann sich an vielerlei Phänomenen fest machen, z.B. der Patient hat weniger ‚Angst‘, sein ‚körperlicher Gesundheitszustand‘ ist besser geworden, er kann seine ‚Alltagsaufgaben besser lösen‘, er ist generell ‚weniger krank‘, er besitzt mehr ‚Selbstvertrauen‘ im Umgang mit zuvor gefürchteten Situationen, und dergleichen mehr. All diese Phänomene kann man objektivieren. Die sehr verbreiteten Auswertungen nur per Fragebogen sind eher unbrauchbar und nutzlos.

WEITERES VORGEHEN

Zum ersten Mal tauchte die Idee auf, die bisherigen Gespräche zur Psychoanalyse in einem kleinen Büchlein zusammen zu fassen und zu publizieren.

Eine spontane Fortsetzung findet sich HIER.

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MEMO ZUR PHILOSOPHIEWERKSTATT So, 27.Mai 2018 – VOM MESSWERT ZUM MODELL (2)

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062 28.Mai 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

INHALT

I Aufgabenstellung

II Gespräch

II-A Hypothese: Psychotherapie ist eine empirische Wissenschaft

II-B Fallbeschreibung

III Nach-Überlegungen

Überblick

Bericht zum Treffen der Philosophiewerkstatt vom 27.Mai 2018 mit weiterführenden Interpretationen vom Autor. Weitere Feedbacks, Kommentare sind willkommen.

I.  AUFGABENSTELLUNG

Für die Philosophiewerkstatt am 27.Mai 2018 ab es eine Einladung, die auch Links auf die Vorgeschichte umfasste. Der letzte Beitrag vom April findet sich HIER.

Die gedankliche Kette reicht von der ursprünglichen Fragestellung, ob man Psychoanalytiker/ Psychotherapeuten durch Roboter ersetzen könne, zum veränderten Fokus darauf, wie man denn überhaupt die Vorgehensweise in einem psychotherapeutischen Prozess beschreiben könne, und dann – quasi als Teilaspekt dieser Beschreibungsversuche – die Fokussierung auf das Thema ’Messwert und interpretierendes Modell’. Bei der Diskussion dieses letzten Themas am 29.April empfanden die TeilnehmerInnen das Gespräch als noch nicht abgeschlossen. Daher am 27.Mai eine Fortsetzung.

II. GESPRÄCH

A. Hypothese

Theorie-Ökosystem
Theorie-Ökosystem

Psychotherapie ist eine empirische Wissenschaft. Es wurde nochmals das Standardmodell eines Theorie-Ökosystems in Erinnerung gerufen, nach dem sich üblicherweise empirische Wissenschaften richten. Grundsätzlich besteht der Eindruck, dass sich auch die Psychotherapie darin einordnen lässt (Siehe dazu das Memo von der vorausgehenden Sitzung). Um zu prüfen, ob sich dieser grundsätzliche Eindruck auch bei näherer Betrachtung durchhalten lässt, wurde dieses Mal eine Fallbeschreibung vorgestellt.

B. Fallbeschreibung

Gedankenskizze zur Philosophiewerkstatt vom 27.Mai 2018
Gedankenskizze zur Philosophiewerkstatt vom 27.Mai 2018

In dieser Sitzung berichtete eine Psychotherapeutin von einem anonymisierten Fall, der zum Ausgangspunkt der Überlegungen wurde, ob und wieweit die bisherigen Überlegungen zur Beschreibung der Wechselbeziehung zwischen ’Messwert’ und ’Modell’ sich auf den psychotherapeutischen Prozess anwenden lassen oder nicht. Die Fallbeschreibung selbst soll hier – trotz Anonymisierung – aus potentiellen datenschutzrechtlichen Gründen nicht wieder gegeben werden. In einer ersten Annäherung (noch unvollständig) ergab die Rekonstruktion dieser Fallbeschreibung, dass die ’Datenerhebungssituation’ im psychotherapeutischen Prozess in einer ’standardisierten Behandlungssituation’ zu verorten ist, die durch klare Regelungen umschrieben ist.(Anmerkung: Siehe dazu auch das Memo vom 25.März 2018    sowie das Memo vom 28.Januar 2018)

Diese Behandlungssituation ist Teil eines ’realen Alltags’, von ’realen gesellschaftlichen Prozessen’, die aktuell oder in der Vergangenheit auf die Beteiligten einwirken bzw. eingewirkt haben. Diese Einwirkungen dürften in der Regel sehr unterschiedliche gewesen sein, genauso wie die Verarbeitung dieser Einwirkungen in den individuellen Personen. Mit dem Fokus auf die Thematik ’Wechselwirkung zwischen Messwert und Modell’ ist der/die PatientIn das Gegenüber, das mit dem /der TherapeutIn über Interaktionen in einer beständigen ’Wechselwirkung’ steht. Die ’zeitliche Abfolge’ ist für die Beschreibung des Prozesses wichtig. Zum Selbstverständnis der Psychotherapie gehört, dass der Therapeut neben seinen ’bewussten Prozessen’ auch über ’un-bewusste Prozesse’ verfügt, die auf unterschiedliche Weise sein bewusstes Dasein beeinflussen. Zugleich gibt es ein ’explizites psychotherapeutisches Deutungsmodell’, das für die Beschreibung von wahrgenommenen Ereignissen (sowohl bzgl. des Patienten wie auch bzgl. des Therapeuten selbst) als ’offizielles begriffliches Referenzmodell’ herangezogen wird. Die ’standardisierte Behandlungssituation’ ist auch Teil des ’expliziten psychotherapeutischen Deutungsmodells’. Das ’explizite psychotherapeutische Deutungsmodell’ muss von seinem ’Anwender’, dem Psychotherapeuten, sowohl mit Blick auf die konkrete Empirie immer wieder abgeglichen werden, wie auch innerhalb der ’offiziellen Vereinigung der Psychotherapeuten’ als potentieller ’Normungsgruppe’. Im Gespräch über die Fallbeschreibung trat deutlich hervor, dass es für den ’Erfolg’ der Therapie wesentlich war, dass der Patient in seiner ’Problemkonstellation’, die für ihn viele Jahre ’unbewusst’ und darin kaum greifbar war, einen ’Schlüssel’ an die Hand bekam, um diese unbewussten Anteile ’greifbar’ zu machen. Wie sich im Nachhinein herausstellte, rührte die Problematik des Patienten von Erfahrungen mit der Mutter, die den Patienten durch ihr Verhalten als Kind in einen emotionalen Zustand gebracht hatte, der dann zeitlebens blockierend wirksam war, ohne dass dem Patienten selbst der wahr Auslöser bewusst war.

Erst durch das Wechselspiel ’Zustand des Patienten  −→ Wirkung auf den Therapeuten (einschließlich wichtiger unbewusster Anteile)  −→ Rückwirkung auf den Patienten’ in mehrfachen Sequenzen brachte dies schließlich den Patienten in eine innere Konstellation, die schließlich die ’wahre Ursache’ aus dem Unbewussten in das Bewusste
holen lies. Dort war dann ein gezielter Umgang möglich, der schließlich zu einer vollen ’Heilung’ führte.

Dieser Fall demonstrierte zugleich, dass eine ’normale Verhaltenstherapie’ (die zuvor jahrelang angewendet worden war) so lange völlig unwirksam ist, so lange die wirkenden unbewussten Anteile nicht real aufgedeckt und dann gezielt behandelt werden.

III. VERBLEIBENDE AUFGABE

Da die Philosophiewerkstatt von Juni – September 2018 in die Sommerpause geht, wurde zwischen einzelnen Beteiligten eine Sondersitzung verabredet, in der es um die weitere Ausarbeitung der Prozessbeschreibung gehen soll.

KONTEXTE

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EINLADUNG zur PHILOSOPHIEWERKSTATT: VOM MESSWERT ZUM MODELL (2) – EMPIRIE UND KREATIVITÄT? So, 27.Mai 2018, 15:00h, im INM (Frankfurt)

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
22.Mai  2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

THEMA

In der Einladung zur letzten  Philosophiewerkstatt am 29.April 2018   fand das Stichwort von der ’adäquaten Beschreibung’ Interesse. Es wurde   weiter ausdiskutiert in Richtung der Problematik, wie man von ’Messwerten’ zu einem ’Modell’ kommt? Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass es auch in den empirischen Wissenschaften für den Weg von einzelnen Messwerten zu einem Modell keinen Automatismus gibt! Aus Messwerten folgt nicht automatisch eine irgendwie geartete Beziehung, erst recht kein Modell mit einem ganzen Netzwerk von Beziehungen. In allen empirischen Disziplinen braucht es Fantasie, Mut zum Denken, Mut zum Risiko, Kreativität und wie all diese schwer fassbaren Eigenschaften heißen, die im ’Dunkel des Nichtwissens’ (und des Unbewussten) mögliche Beziehungen, mögliche Muster, mögliche Faktorennetzwerke ’imaginieren’ können, die sich dann in der Anwendung auf Messwerte dann tatsächlich (manchmal!) als ’brauchbar’ erweisen. Und, ja, persönliche Vorlieben und Interessen (unbewusste Dynamiken) können sehr wohl dazu beitragen, dass bestimmte mögliche ’interessante Beziehungs-Hypothesen’ von vornherein ausgeschlossen oder eben gerade gefunden werden.

Im  Bericht zur   Sitzung vom 29.April kann man nachlesen, wie   Begriffe wie z.B.  ‚Messwert‘, ‚erklärende Beziehung‘, ‚Modell und Theorie‘ weiter erläutert und in Beziehung zur Psychoanalyse gesetzt wurden. Es ist dann nicht überraschend, dass sich für die Beteiligten folgende Themenstellung für den 27.Mai herausschälte:

NEUE FRAGESTELLUNGEN

Es bestand der Wunsch aller Beteiligten, an dieser Stelle das Gespräch fortzusetzen. Ideal wäre für die nächste Sitzung ein kleines Beispiel mit einem typischen ’Narrativ’ und ’Deutungen’ auf der Basis des ’vorausgesetzten psychoanalytischen Modells’. Es wäre dann interessant, ob man aufgrund dieses Beispiels die Struktur eines psychoanalytischen Modells beispielhaft rekonstruieren und ’hinschreiben’ könnte. Das nächste Treffen ist für den 27.Mai 18 geplant.

WO

INM – Institut für Neue Medien, Schmickstrasse 18, 60314 Frankfurt am Main (siehe Anfahrtsskizze). Parken: Vor und hinter dem Haus sowie im Umfeld gut möglich.

WER

Einleitung und Moderation: Prof.Dr.phil Dipl.theol Gerd Doeben-Henisch (Frankfurt University of Applied Sciences, Mitglied im Vorstand des Instituts für Neue Medien)

ZEIT

Beginn 15:00h, Ende 18:00h. Bitte unbedingt pünktlich, da nach 15:00h kein Einlass.

ESSEN & TRINKEN

Es gibt im INM keine eigene Bewirtung. Bitte Getränke und Essbares nach Bedarf selbst mitbringen (a la Brown-Bag Seminaren)

EREIGNISSTRUKTUR

Bis 15:00h: ANKOMMEN

15:00 – 15:40h GEDANKEN ZUM EINSTIEG

15:40 – 16:40h: GEMEINSAMER DISKURS ALLER (Fragen, Kommentare…, mit Gedankenbild/ Mindmap)

16:40 – 17:00h PAUSE

17:00 – 17:50h: Zweite GESPRÄCHSRUNDE (Mit Gedankenbild/ Mindmap)

17:50– 18:00h: AUSBLICK, wie weiter

Ab 18:00h VERABSCHIEDUNG VOM ORT

Irgendwann: BERICHT(e) ZUM TREFFEN, EINZELN, IM BLOG (wäre schön, wenn)

Irgendwann: KOMMENTARE ZU(M) BERICHT(en), EINZELN, IM BLOG (wäre schön, wenn)

Mit freundlichen Grüßen,

Gerd Doeben-Henisch

KONTEXTE

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VOM MESSWERT ZUM MODELL – EMPIRIE UND KREATIVITÄT? MEMO: PHILOSOPHIEWERKSTATT: So, 29.April 2018

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild , ISSN 2365-5062
30.April 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

INHALT

I Aufgabenstellung
II Gespräch
II-A Messwert
II-B Modell – Theorie
II-C Verstehen
III Neue Fragestellungen

ÜBERBLICK

Bericht zum Treffen der Philosophiewerkstatt vom 29.April 2018 mit weiterführenden Interpretationen vom Autor. Weitere Feedbacks, Kommentare sind willkommen.

I. AUFGABENSTELLUNG

In der Einladung zur Philosophiewerkstatt am 29.April 2018   wurde einerseits Bezug genommen auf den ausführlichen Bericht der Sitzung vom 25.März 2018, andererseits wurde eine Fragestellung formuliert, die sich aus der letzten Sitzung ergeben hatte. Die vorausgehenden intensiven Gespräche zur möglichen Ersetzung eines Psychoanalytikers durch einen Roboter hatten immer stärker das Selbstverständnis des Psychoanalytikers in das Zentrum der Überlegungen gerückt, verbunden mit den Fragen, wie denn ein Psychoanalytiker sowohl den Prozess beschreibt, in dem er mit einem Analysanden interagiert, wie auch sich selbst als jemand, der in dieser Rolle agiert Es wurde sichtbar, dass ein Psychoanalytiker natürlich nicht ohne ein ’Vor-Verständnis’ agiert und dass die Beobachtungen sehr wohl im Lichte dieses Vorverständnisses zu sehen seien. Es stellte sich die Frage, wie man denn das Wechselspiel zwischen anzunehmendem Vor-Verständnis einerseits und beobachteten Vorkommnissen genauer zu verstehen sei. Für die nachfolgende Sitzung wurde diese Fragestellung dahingehend erweitert, dass dieses Wechselspiel zwischen Vorverständnis und Beobachtungswerten auf das generelle Problem des Wechselspiels zwischen ’Messwerten’ und ’Modell’ in allen wissenschaftlichen Disziplinen ausgedehnt wurde. Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass es in den empirischen Wissenschaften für den Weg von einzelnen Messwerten zu einem Modell ganz allgemein keinen Automatismus gibt! Aus Messwerten folgt nicht automatisch eine irgendwie geartete Beziehung, erst recht kein Modell mit einem ganzen Netzwerk von Beziehungen. In allen empirischen Disziplinen braucht es Fantasie, Mut zum Denken, Mut zum Risiko, Kreativität und wie all diese schwer fassbaren Eigenschaften heißen, die im ’Dunkel des Nichtwissens’ (und des Unbewussten) mögliche Beziehungen, mögliche Muster, mögliche Faktorennetzwerke ’imaginieren’ können, die sich dann in der Anwendung auf Messwerte dann tatsächlich (manchmal!) als ’brauchbar’ erweisen. Und, ja, persönliche Vorlieben und Interessen (unbewusste Dynamiken) können sehr wohl dazu beitragen, dass bestimmte mögliche ’interessante Beziehungs-Hypothesen’ von vornherein ausgeschlossen oder eben gerade gefunden werden. Anhand konkreter Beispiele – auch aus der Psychoanalyse ? – soll diese Thematik diskutiert werden. Es sei auch noch angemerkt, dass das große Thema der letzten Sitzung, inwieweit man die Psychoanalyse als ’empirische Wissenschaft’ verstehen kann oder sogar verstehen muss, noch nicht völlig zu Ende diskutiert ist. Es entstand der Eindruck, als ob die ExpertenInnen der Psychoanalyse die Einstufung der Psychoanalyse als empirische Wissenschaft selbst nicht so ganz akzeptieren wollten. Es sah so aus, als ob sie die Befürchtung haben, dass dadurch wesentliche Momente der Psychoanalyse verloren gehen könnten. Umgekehrt muss man aber auch bedenken, dass möglicherweise der empirischen Wissenschaft wichtige Aspekte verlorengehen, wenn man eine Disziplin wie die Psychoanalyse von vornherein ausklammert.

II. GESPRÄCH

Gedankenskizze zur Philosophiewerkstatt 29.April 2018
Gedankenskizze zur Philosophiewerkstatt 29.April 2018

Das Gespräch nahm seinen Ausgangspunkt bei den Begriffen ’Messwert’ und ’Modell’.

Im Fall des Begriffs ’Messwert’ ergab sich recht schnell fundamentale Unterscheidungen.

A. Messwert

In den ’empirischen Wissenschaften’ geht ein ’Messwert’ in der Regel aus einer ’Vergleichsoperation’ hervor in der ein ’Zielobjekt’ (das, was gemessen werden soll), und ein ’Referenzobjekt’ (ein zuvor vereinbarter ’Standard’ wie z.B. die Längeneinheit Meter [m], oder Gewichtseinheit Kilogramm [kg] usw..) miteinander verglichen werden. Das Ergebnis solch einer Vergleichsoperation ist dann immer ein Zahlenwert kombiniert mit einer Einheit, also z.B. ’3,3 m’ oder ’5,44 kg’. Dieser Sachverhalt wird in einen geeigneten ’sprachlichen Ausdruck’ übersetzt, der seine ’Bedeutung’ aus dieser Vergleichsoperation bezieht. In den modernen Wissenschaften hängen die Messoperationen oft an komplexen technischen Vorrichtungen, die selbst schon komplexe Theorien voraussetzen, so dass das Messergebnis stark ’Theorie-belastet’ ist. Es wird dann eine Vergleichsoperation mit einem vereinbarten Standard unterstellt, die von vielen komplexen Annahmen abhängt. Eine direkte Überprüfbarkeit ’vor Ort’ ist oft kaum noch möglich.

In jenen empirischen Wissenschaften, die kollektiv als ’Lebenswissenschaften’ charakterisiert werden, ist der Messgegenstand sehr oft ein komplexes System in einem Prozesskontext, wo die punktuelle Messung eines isolierten Faktums schwer bis gar nicht möglich ist. Die ’Beobachtungen’ solcher komplexer Systeme bekommt einen ’narrativen’ Charakter, nimmt die Form von ’Fallgeschichten’ an, im Grenzfall eine ganze ’Lebensgeschichte’. Ein Narrativ enthält also viele Einzelbeobachtungen im Kontext eines komplexen Ablaufs. Einzelne Begriffe in so einem Narrativ können in sich ’komplex’ sein, d.h. viele Eigenschaften und Randbedingungen voraussetzen, die sich oft nur einem ’geschulten/ erfahrenen’ Beobachter erschließen. Desgleichen sind die Beziehungen zwischen solchen komplexen deskriptiven begriffen oft ebenfalls ’komplex’: sie umfassen viele Detailaspekte simultan.

B. Modell – Theorie

Im Gespräch wurden die Begriffe ’Modell’ und ’Theorie’ (noch) nicht explizit definiert. Als Arbeitsbegriff wurde in den Raum gestellt, dass die ’Deutung’ von einzelnen Messwerten das ’Aufstellen von Beziehungen’ voraussetzt, durch die einzelne Beobachtungen in einem Zusammenhang gestellt werden können,also z.B. ’Wenn X, dann (evtl. mit Wahrscheinlichkeiten qualifiziert) Y’. Man kann solche Beziehungen ’Regeln’ nennen oder ’Funktionen’. Ein vorläufiger Begriff von ’Modell’ wäre dann, dass ein Modell eine Menge solcher Regeln verkörpert (mindestens eine). Modell stellen dann also ’Deutungen’ her, aus denen sich begrenzt ’Voraussagen’ herleiten lassen bzw. mit denen man ansatzweise ’erklären’ kann.

Eine ’Theorie’ stellt – Arbeitsdefinition – gegenüber einem ’Modell’ eine erweiterte ’Struktur’ dar, in der nicht nur die angenommenen Regeln vorkommen, sondern zugleich auch alle beteiligten Objektmengen.

Mit Blick auf ein Modell wurden viele zusätzliche Eigenschaften genannt.

1) Der ’Verwendungszusammenhang’ eines Modells kann eine ’Erklärung’ sein oder eine ’Prognose’. Beides kann man u.U. für eine ’Prophylaxe’, für eine ’Therapie’ nutzen.

2) Ein Modell kann ferner ’globale Eigenschaften’ besitzen indem das so beschriebene Objekt (das oft ein System ist), als ’zuverlässig’ charakterisierbar ist oder als ’sicher’ oder als ’resilient’ und dergleichen mehr.

3) Man kann auch die Frage nach der ’Entstehung eines Modells’ stellen: ist es eher ein ’Produkt’ des Wirkens der biologischen Strukturen’ oder der Einwirkungen der umgebenden ’Kultur’ oder ein Zusammenspiel von beiden? Inwieweit können sich Modelle ’selbst organisieren’? In diesem Zusammenhang auch die interessante Unterscheidung zwischen ’Modellen im Alltag’, die eher unbewusst, automatisch entstehen und benutzt werden, im Kontrast zu expliziten Modellen in der Wissenschaft, die grundsätzlich ’bewusst’ konstruiert werden, ’transparent’, mit ’Dokumentationen’. Hier beobachten wir aber in der Gegenwart das Phänomen der ’Zersplitterung’ der Einzeldisziplinen, die mit spezifischen Sprachspielen und spezifischen Modellen ’für sich’ recht erfolgreich sein können, aber im ’interdisziplinären Dialog’ oft vollständig versagen. Dies ist ein reales Problem.

4) Ferner kann man fragen, inwieweit ein Modell eine geeignete ’Sprache voraus setzt’ bzw. wie das Zusammenspiel von einem ’Modell im Kopf’ ist und einer Sprache, die über dieses Modell spricht?

C. Verstehen

Mit diesen vielen Teil-Klärungen von Begrifflichkeiten stellte sich dann das Problem des Wechselspiels zwischen Beobachtungen und benutztem Modell in der Psychoanalyse so dar, dass natürlich auch die Psychoanalyse vorab zum praktischen Einsatz eine explizite ’Modellpflege’ betreibt (Anmerkung: Durch Studien, spezielles Training, Supervision, und vielem mehr ), so dass dann der ausgebildete (trainierte) Psychoanalytiker sich seines Modells so ’bewusst’ sein kann, dass er in seinem ’Narrativ’ genügend viele Einzelaspekte ’identifizieren’ kann, um sie ’im Lichte seines Modells’ so ’deuten’ zu können, dass er im Sinne des psychoanalytischen Modells ’geeignete Schlüsse’ ziehen kann, aufgrund deren er sowohl zu ’Einschätzungen’ kommen kann wie auch dann zu jeweiligen ’Interventionen’. An diesem Punkt war leider die Zeit um.

III. NEUE FRAGESTELLUNGEN

Es bestand der Wunsch aller Beteiligten, an dieser Stelle das Gespräch fortzusetzen. Ideal wäre für die nächste Sitzung ein kleines Beispiel mit einem typischen ’Narrativ’ und ’Deutungen’ auf der Basis des ’vorausgesetzten psychoanalytischen Modells’. Es wäre dann interessant, ob man aufgrund dieses Beispiels die Struktur eines psychoanalytischen Modells beispielhaft rekonstruieren und ’hinschreiben’ könnte.

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

KONTEXTE

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EINLADUNG zur PHILOSOPHIEWERKSTATT: VOM MESSWERT ZUM MODELL – EMPIRIE UND KREATIVITÄT? So, 29.April 2018, 15:00h, im INM (Frankfurt)

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
26.April 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

THEMA

In der letzten Philosophiewerkstatt vom 25.März 2018 https://www.cognitiveagent.org/2018/03/26/roboter-in-der-psychoanalyse-memo-zur-sitzung-vom-25-maerz-2018/ fand das Stichwort von der ’adäquaten Beschreibung’ Interesse. Es wurde dann weiter ausdiskutiert in Richtung der Problematik, wie man von ’Messwerten’ zu einem ’Modell’ kommt? Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass es auch in den empirischen Wissenschaften für den Weg von einzelnen Messwerten zu einem Modell keinen Automatismus gibt! Aus Messwerten folgt nicht automatisch eine irgendwie geartete Beziehung, erst recht kein Modell mit einem ganzen Netzwerk von Beziehungen. In allen empirischen Disziplinen braucht es Fantasie, Mut zum Denken, Mut zum Risiko, Kreativität und wie all diese schwer fassbaren Eigenschaften heißen, die im ’Dunkel des Nichtwissens’ (und des Unbewussten) mögliche Beziehungen, mögliche Muster, mögliche Faktorennetzwerke ’imaginieren’ können, die sich dann in der Anwendung auf Messwerte dann tatsächlich (manchmal!) als ’brauchbar’ erweisen. Und, ja, persönliche Vorlieben und Interessen (unbewusste Dynamiken) können sehr wohl dazu beitragen, dass bestimmte mögliche ’interessante Beziehungs-Hypothesen’ von vornherein ausgeschlossen oder eben gerade gefunden werden. Anhand konkreter Beispiele – auch aus der Psychoanalyse ? – soll diese Thematik diskutiert werden (Es sei angemerkt, dass das große Thema der letzten Sitzung, inwieweit man die Psychoanalyse als ‚empirische Wissenschaft‘ verstehen kann oder sogar verstehen muss, noch nicht völlig zu Ende diskutiert ist. Es entstand der Eindruck, als ob die ExpertenInnen der Psychoanalyse die Einstufung der Psychoanalyse als empirische Wissenschaft selbst nicht so ganz akzeptieren wollten. Es sah so aus, als ob sie  die Befürchtung haben, dass dadurch wesentliche Momente der Psychoanalyse verloren gehen könnten. Umgekehrt muss man aber auch bedenken, dass möglicherweise der empirischen Wissenschaft wichtige Aspekte verlorengehen, wenn man eine Disziplin wie die Psychoanalyse von vornherein ausklammert).

WO

INM – Institut für Neue Medien, Schmickstrasse 18, 60314 Frankfurt am Main (siehe Anfahrtsskizze). Parken: Vor und hinter dem Haus sowie im Umfeld gut möglich.

WER

Einleitung und Moderation: Prof.Dr.phil Dipl.theol Gerd Doeben-Henisch (Frankfurt University of Applied Sciences, Mitglied im Vorstand des Instituts für Neue Medien)

ZEIT

Beginn 15:00h, Ende 18:00h. Bitte unbedingt pünktlich, da nach 15:00h kein Einlass.

ESSEN & TRINKEN

Es gibt im INM keine eigene Bewirtung. Bitte Getränke und Essbares nach Bedarf selbst mitbringen (a la Brown-Bag Seminaren)

EREIGNISSTRUKTUR

Bis 15:00h: ANKOMMEN

15:00 – 15:40h GEDANKEN ZUM EINSTIEG

15:40 – 16:40h: GEMEINSAMER DISKURS ALLER (Fragen, Kommentare…, mit Gedankenbild/ Mindmap)

16:40 – 17:00h PAUSE

17:00 – 17:50h: Zweite GESPRÄCHSRUNDE (Mit Gedankenbild/ Mindmap)

17:50– 18:00h: AUSBLICK, wie weiter

Ab 18:00h VERABSCHIEDUNG VOM ORT

Irgendwann: BERICHT(e) ZUM TREFFEN, EINZELN, IM BLOG (wäre schön, wenn)

Irgendwann: KOMMENTARE ZU(M) BERICHT(en), EINZELN, IM BLOG (wäre schön, wenn)

KONTEXTE

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Mit freundlichen Grüßen,

Gerd Doeben-Henisch

ROBOTER IN DER PSYCHOANALYSE? Memo zur Sitzung vom 25.März 2018

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
26.März 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

INHALT

I Ausgangspunkt
II Wissensformat der Psychoanalyse
II-A Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  . .
II-B Moderne empirische Wissenschaft . . . . . . .
II-C Theoretische Psychoanalyse . . . . . . . . . . .
II-D Angewandte Psychoanalyse . . . . . . . . . . .
II-E Psychoanalyse und Psychologie . . . . . . . . .
II-F Psychoanalyse, Menschenbild, Wissenschaften
III Nächste Sitzung 29.April 2018

Kontext

In Fortsetzung der Sitzung vom 28.Januar 2018 wurden weitere Aspekte zusammen getragen, die die Position der Psychoanalyse, speziell auch ihre Wissensbasis, weiter erläutert haben.

I. AUSGANGSPUNKT
Der Ausgangspunkt der Sitzung vom 25.März 2018 war markiert durch das Memo der vorausgehenden Sitzung. Die Haupterkenntnis der vorausgehenden Sitzung bestand darin, dass die Frage, ob sich ein Robo-Psychoanalytiker bauen lässt oder nicht zunächst nicht von der ingenieurmäßigen ’Herstellung’ abhängt. Wenn die Ingenieure genügend Informationen haben, bauen sie einen Robo-Analytiker, der all das tut, was man von ihm erwartet (leicht idealisierende Annahme, da natürlich selbst bei optimalem Bauplan innerhalb der Umsetzung und der Produktion viele schwierige Detailfragen
gelöst werden müssen). Hält man diese idealisierende Annahme zunächst mal aufrecht, dann geht die Frage von den Ingenieuren zurück an die Psychoanalyse: Kann die Psychoanalyse im Umfang und in der Qualität eine Beschreibung dessen liefern, was ein Psychoanalytiker ist, wie er ausgebildet wird, wie er arbeitet, welche Rolle
dabei der spezielle Therapiekontext bildet, was ist wichtig für den Therapieprozess, usw.? Ist diese Beschreibung so, dass man daraus alle Informationen gewinnen kann, die man benötigt, um auf dieser Basis einen Robo-Analytiker zu bauen?

II. WISSENSFORMAT DER PSYCHOANALYSE

A. Überblick

Gedankenskizze von der Sitzung 25.März 2018
Gedankenskizze von der Sitzung 25.März 2018

Im Gespräch wurde schrittweise das gesamte Paradigma der Psychoanalyse umrissen, insbesondere auch die
Stellung der Psychoanalyse zu wichtigen anderen Wissenschaften.

B. Moderne empirische Wissenschaft

Aus der Sicht der Wissenschaftsphilosophie zeichnen sich moderne Wissenschaften dadurch aus, dass sie nach vereinbarten Methoden reproduzierbare ’Messwerte’ liefern, die dann mittels eines formalen (meist mathematischen)  Modells ’interpretiert’ werden. Ob solche eine modellbasierte Interpretation ’hilfreich’ ist entscheidet sich an der ’Vorhersagetauglichkeit’.

Das Ideal des ’Messens’ stößt allerdings dort an Grenzen, wo entweder das Messen selbst den Gegenstand verändert oder wenn die zu messenden Phänomene so selten oder speziell sind, dass sie nur schwer reproduzierbar sind. Aus solchen Messschwierigkeiten heraus abzuleiten, dass dann Messen ganz unmöglich sei, ist problematisch, da man damit möglicherweise wichtige Phänomene vorn vornherein (Zensur? Dogmatismus? …) ausklammern würde. Eine dem Geist empirischen Forschens eher angemessene Haltung wäre wohl doch so, dass man trotz
Messschwierigkeiten misst, aber die Rahmenbedingungen dieses Messens klar schildert. Irgendwann gibt es vielleicht verbesserte Messmethoden, die dann besser messen können. Außerdem, nur wenn allen Beteiligten bewusst ist, dass es für bestimmte interessante Phänomene noch keine guten Messmethoden gibt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Verbesserungen für die Messmethoden finden wird. Im übrigen sehen wir in der Quantenphysik (und in der Ethnologie, und …), dass Messprobleme kein absolutes Hindernis darstellen muss, um zur Bildung von interessanten Modellen zu kommen.

Die Ausklammerung wichtiger Aspekte der Wirklichkeit schadet in der Regel für das Gesamtbild der Wirklichkeit weit mehr als ungenau zu messen.

Auch wenn man in einer Disziplin formalisierte Modelle und die dafür notwendige formalisierte Sprache L_m benutzen will, gelingt dies nur unter Voraussetzung einer schon gegebenen Alltagssprache L_0 . Davon zu unterscheiden ist der Fall, dass der ’Gegenstand’ der Untersuchung Alltagsphänomene sind einschließlich der Alltagssprache (z.B. in den Sprachwissenschaften, in der Ethnologie, in der Archäologie, usw.).

Vom Theoriemodell her macht es allerdings keinen Unterschied, ob man chemische Stoffe mit ihren Reaktionskette als Gegenstand untersucht oder alltagssprachliche Phänomene oder Alltagshandeln.

C. Theoretische Psychoanalyse

Wissenschaftsphilosophisch kann man Psychoanalyse als eine empirische Wissenschaft im zuvor beschriebene Sinn betrachten.

Ihr Datenbereich sind die unterschiedlichsten Äußerungen eines Analysanden, und ihr Ziel ist es, am Beispiel dieses konkreten Analysanden das allgemeine Modell eines handelnden Akteurs so weit zu spezifizieren, dass es mit dem Verhalten des Analysanden strukturell so übereinstimmt, dass es dem Analysanden erlaubt, sein Verhalten so einzustellen, dass sein ’Problemdruck’ sich so weit abmildert, dass er zufriedenstellend in seinem Alltag leben kann.

Das Interesse der Psychoanalyse ist also mindestens ein zweifaches: (i) ein ’theoretisches’ Interesse, am Beispiel vieler Analysanden ein ’allgemeines Modell’ eines Akteurs zu finden, das sich erfolgreich auf möglichst viele Akteure
(Menschen) so anwenden lässt, dass diese zu einem selbstbestimmten und erfolgreichen Leben befähigt werden; (ii) ein ’therapeutisches’ Interesse, nämlich unter Voraussetzung des bislang erarbeiteten Modells einem konkreten einzelnen Menschen zu helfen, dass dieser sich selbst soweit verstehen und sich selbst ’managen’ lernt, dass er in seinem Alltag zu einem selbstbestimmten und erfolgreichen Leben finden kann.

Aufgrund der ethisch eingeschränkten Möglichkeiten, mit Menschen ’Experimente zu machen’ (gilt entsprechend auch für die Psychologie, die Neurowissenschaften, usw.), kann die Psychoanalyse ihre theoretische Forschung bislang oft nur indirekt vollziehen oder aber – evtl. in der Zukunft – mit partiellen Computersimulationen ihrer
theoretischen Modelle.

D. Angewandte Psychoanalyse

In den empirischen Wissenschaften ist es üblich, das ’Messen’ unter sehr eingeschränkten Bedingungen vorzunehmen; in der Psychologie unterscheidet man z.B. explizit zwischen ’Labor-Experimenten’ und ’Feld-Experimenten’.

In der angewandten Psychoanalyse greift man zum Mittel der ’normierten Dyade’: eine Therapie findet nur im absolut diskreten Zweiergespräch statt, dessen räumliche Situation sowie auch die grundlegenden Verhaltensweisen durch klare Regeln ’normiert’ sind. Damit hat man einerseits den Raum möglicher Daten stark eingeschränkt (Laborsituation), zugleich lässt man aber die ganze Breite von Kommunikationssignalen (Sprache und Körper) zu.

Dies ist für die Ermöglichung der relevanten Phänomene wesentlich.

Während sich die Kommunikation innerhalb der Dyade ’Psychoanalytiker – Analysand’ primär in der Alltagssprache abspielt, muss er Psychoanalytiker alles Erleben zugleich in seine Fachsprache und in seine Modellwelt ’übersetzen’. Wieweit diese Übersetzung während des Prozesses stattfinden kann und ob und wieweit eine solche Übersetzung
das aktuelle reale Geschehen negativ beeinflussen kann, ist eine wichtige Frage. Klar ist allerdings, dass eine modellbasierte – und damit wissenschaftliche – Diagnose und Intervention nur dann vorliegt, wenn der Psychoanalytiker solch einen Modellbezug in der Therapiesituation explizit immer wieder herstellen kann.

Analog wie die Gedächtnispsychologie das weitgehend unbewusst arbeitende Konstrukt ’Gedächtnis’ voraussetzt und in ihren Experimenten Verhaltenseigenschaften zu erfassen sucht, die Hinweise auf das unterstellte Konstrukt Gedächtnis liefern, so unterstellt die angewandte Psychoanalyse generell einen unbewussten Bereich im
Menschen, dessen Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung eines Menschen und sein Verhalten entsprechend nur an äußerlich auftretenden Eigenschaften – wenn überhaupt – -erkannt werden können. Dies geschieht eben nicht nur in Form sprachlicher Äußerungen, sondern vor allem auch in der ’Art und Weise’ eines Sprechens oder Nicht-Sprechens, eines sich Bewegens, durch das Gesamtverhalten, was wann wie getan oder nicht getan wird, usw. Dies können sehr komplexe Phänomene sein, die sich im Erleben, im Fühlen, in der Somatik, im Erinnern,
im Träumen usw. ausdrücken können. Auch spielt Zeit eine Rolle, Wiederholungen; oder Konstellationen, die wieTrigger wirken, und vieles mehr.

Insofern das Unbewusste verschiedenen ’internen Logiken’ folgt und auch die ’Emotionen’ sich auswirken können, kann es für einen Psychoanalytiker unabdingbar sein, hinreichend ausgebildet zu sein, um seine eigenen internen Logiken und Emotionen soweit mobilisieren zu können, um eine hinreichende, das Unbewusste einbeziehende, Kommunikation mit dem Analysanden führen zu können. Andernfalls besteht die Gefahr, dass der Psychoanalytiker das ’Bedeutungsfeld’ der verschiedenen isoliert auftretenden Äußerungen des Analysanden nicht als das erkennen kann, als was sie auftreten, als Elemente einer unbewussten Dynamik, die sich in bestimmten Phänomenen manifestieren.

Ein ’Erfolg’ wird sich in solch einer dyadischen Analyse nur in dem Masse einstellen, wie der Analysand befähigt wird, sein eigenes Erleben und Agieren vor dem Hintergrund seiner eigenen unbewussten Dynamiken besser zu
Verstehen und in Folge davon vielleicht besser gestalten zu können.

E. Psychoanalyse und Psychologie

Im aktuellen Hochschulbetrieb ist die Psychoanalyse weitgehend ausgeschlossen. Auch grenzt sich die Psychologie weitgehend von der Psychoanalyse ab.  Wissenschaftsphilosophisch ist dies nicht nachvollziehbar. Die Psychoanalyse kann alle Anforderungen erfüllen, die die Wissenschaftsphilosophie für eine moderne
empirische Wissenschaft formuliert hat. Und wenn man sich die verschiedenen Spezialisierungen der Psychologie anschaut wie z.B. ’Sprachpsychologie’, ’Wahrnehmungspsychologie’, ’Wissenspsychologie’ oder ’Gedächtnispsychologie’ dann muss man sagen, dass alle diese Subdisziplinen nicht ohne die Annahme komplexer
theoretischer Konstrukte (’Wahrnehmung’, ’Wissen’, ’Gedächtnis’, ’Bedeutung’, …) auskommen. Die Besonderheit der Psychoanalyse mit der Annahme des Konstrukts ’Unbewusstes’ unterscheidet sich hier methodisch in keiner Weise.

Für die Ausgrenzung der Psychoanalyse aus der Psychologie gibt es daher keine harten wissenschaftsphilosophischen Argumente. Man Muss daher vermuten, dass hier allerlei nicht-wissenschaftliche Faktoren eine Rolle spielen. Unter diesen Faktoren mag jener der mangelnden wissenschaftsphilosophischen Kenntnis der Psychologie selbst
eine Rolle spielen. Aber auch banale Faktoren wie schlichte Angst darum, vorhandene Ressourcen mit noch anderen teilen zu müssen, kann man kaum ganz ausschließen.

Welche Faktoren man auch immer annehmen möchte, der aktuelle Ausgrenzungszustand ist wissenschaftsphilosophisch in keiner Weise gerechtfertigt.

F. Psychoanalyse, Menschenbild, Wissenschaften

Die Frage der ’Ausgrenzung’ von Disziplinen aus dem Wissenschaftsbetrieb spielen allerdings auch für das gesamte Menschenbild eine Rolle. Schaut man sich die Gegenstandsbereiche von Disziplinen an wie ’Physik’, ’Chemie’, ’Biologie’, ’Soziologie’, ’Psychologie’, ’Ingenieurwissenschaften’, und  ’Künstliche Intelligenz’ an, dann kann
man beobachten, dass in all diesen Disziplinen heute kein Menschenbild vermittelt wird, das den aktuell lebenden Menschen in irgendeiner interessanten Weise eine irgendwie geartete Perspektive für eine mögliche Zukunft anbieten würde. Der Mensch wird in allen Disziplinen weitgehend in ’Einzelteile’ zerlegt, ohne irgendwelche  Zusammenhänge.

Ob dem Menschen aus all dem eine irgendwie geartete Verantwortung erwächst, eine ’Perspektive für die Zukunft’, ist eine offene Frage mit Tendenz zum Nein.

Während die Biologie als Evolutionsbiologie ganz interessante Ansätze liefern könnte, werden diese Ansätze von der modernen Soziologie mehr oder weniger wieder ’pulverisiert’. Der systemtheoretische Ansatz eines Niklas Luhmann enthält zwar viele der wichtigen Zutaten für einen differenzierteren Blick auf die Dynamik von
Lebensphänomenen, aber die Art und Weise wie der Systembegriff verwendet wird, schließt gerade all jene Phänomene aus, die interessant sind. Die evolutionären Erkenntnisse der Evolutionsbiologie werden mit einer scholastisch anmutenden System-Arithmetik im semantischen Nichts versenkt.

Ob nun die Offenheit der Psychoanalyse für das weite Feld der unbewussten Strukturen und Dynamiken ein letztlich realistischeres Menschenbild ermöglichen würde als die Phänomen-Ausklammerer in den anderen Disziplinen ist keineswegs von vornherein sicher, aber es verhält sich wie mit dem Genpool: wenn die Ausgangsmenge zu
klein ist, dann ist der mögliche kombinatorische Raum schlicht zu klein, um der Vielfalt der umweltbedingten Herausforderungen gerecht werden zu können.

Haben wir Menschen Angst vor unserem eigenen Bild?

 

III. NÄCHSTE SITZUNG 29.APRIL 2018

Bei der Abschlussfrage, welches Thema wir für die nächste Sitzung am 29.April 2018 wählen wollen, fand das Stichwort von der ’adäquaten Beschreibung’ Interesse. Es wurde dann weiter ausdiskutiert in Richtung der Problematik, wie man von ’Messwerten’ zu einem ’Modell’ kommt? Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass
es auch in den empirischen Wissenschaften für den Weg von einzelnen Messwerten zu einem Modell keinen Automatismus gibt! Aus Messwerten folgt keine einzige Beziehung, erst recht kein Modell mit einem ganzen Netzwerk von Beziehungen. In allen empirischen Disziplinen braucht es Fantasie, Mut zum Denken, Mut zum Risiko, Kreativität und wie all diese schwer fassbaren Eigenschaften heißen, die im ’Dunkel des Nichtwissens’ mögliche Beziehungen, mögliche Muster, mögliche Faktorennetzwerke ’imaginieren’ können, die sich dann in der Anwendung auf Messwerte dann tatsächlich (manchmal!) als ’brauchbar’ erweisen. Und, ja, persönliche Vorlieben und Interessen (unbewusste Dynamiken) können sehr wohl dazu beitragen, dass bestimmte mögliche ’interessante Beziehungs-Hypothesen’ von vornherein ausgeschlossen oder eben gerade gefunden werden (so wie das Unbewusste die Psychologie daran
hindert, die Psychoanalyse als potentiellen Lösungsgenerator zu akzeptieren? 🙂

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

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