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CARTESIANISCHE MEDITATIONEN III, Teil 8

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 26.Dezember 2011
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
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(114) Den rote Faden der Rationalität, der die ‚universale Philosophie‘ mit den ‚Tatsachenwissenschaften‘ verbindet, formuliert Husserl an einer Stelle auch wie folgt: ‚Alle Rationalität des Faktums liegt ja im Apriori. Apriorische Wissenschaft ist Wissenschaft von dem Prinzipiellen, auf das Tatsachenwissenschaft rekurrieren muss, um letztlich, eben prinzipiell begründet zu werden…‘ (vgl. CM2, S.38, Z28f) Dies klingt auf den ersten Blick so klar. Doch lässt man sich auf die Magie der Worte ein, dann können sich zuvorderst erscheinende Strukturen verschieben, und in der Folge weiteren Nachdenkens können Strukturen sichtbar werden, die einfach anders sind.

(115) Beginnen wir mit den Begriffen ‚Apriorische Wissenschaft‘ und ‚Tatsachenwissenschaft‘. Wie so oft, ist der Begriff der ‚Tatsache‘ nicht wirklich definiert. Aus dem Kontext können wir nur erschließen, dass Husserl jene Gegebenheiten meint, die die empirischen Wissenschaften als ‚gültig‘ beschreiben. Aus Sicht der Phänomenologie sind diese als ‚Tatsachen‘ bezeichneten Gegebenheiten zunächst einmal Phänomene wie alle anderen Phänomene auch. Aus Sicht der Phänomenologie gibt es nur die Menge der Phänomene [Ph], wie sie im Bewusstsein erscheinen unabghängig davon, wie eine bestimme Denkdisziplin eine mögliche Teilmenge von diesen darüber hinaus bezeichnet. Wenn also die empirischen Wissenschaften darüber überein gekommen ist, innerhalb der Menge der Phänomene Ph eine bestimmte Teilmenge auszuzeichnen und dieser Teilmenge den Namen ‚empirische Phänomene [Ph_emp]‘ verleihen, dann kann man dies tun; die Menge der empirischen Phänomene Ph_emp bleibt damit aber dennoch primär eine Menge von Phänomenen Ph, also Ph_emp subset Ph.

(116) Husserl charakterisiert den Übergang vom ’naiven‘ Alltagsbewusstsein zum ’nicht-naiven‘ –sprich ‚kritischen‘– philosophischen (phänomenologischen) Bewusstsein   zuvor durch die Reduktion mittels Epoché, durch die Bewusstwerdung davon, dass alles –insbesondere das Weltliche– nur etwas ist im Bewusstsein, als Gegebenes des transzendentalen ego. (vgl. z.B. CM2, S8f) Damit verschwinden keine Phänomene, auch nicht die, die ‚empirisch‘ genannt werden, es wird nur ihre ‚Interpretation‘ als etwas, das  ein ausserhalb des Bewusstsein Liegendes sei (z.B. der Außenraum, das Andere, die Welt), eingeklammert und aller Sinn beschränkt auf jenen Sinn, der sich aus der Unhintergehbarkeit des ‚Im-Wissen-des-Wissens-um-sich-Selbst-und-seiner-Gegebenheiten‘ (zuvor schon abkürzend transzendentales Subjekt trlS bezeichnet) ergibt.

(117) Folgt man diesem Gedanken, stellt sich nur die Frage, wie ein so transzendental bezogenes Gegebenes jemals wieder als ‚Bote einer anderen Welt‘, und zwar wenigstens hypothetisch, gedacht werden kann? Wie kann ein trlS ‚in sich‘ bzw. ‚aus sich heraus‘ jenes ‚Andere‘ erkennen, das von ihm weg auf etwas anderes verweist, ohne dabei das Gegebensein im trlS zu verlieren? Sofern ein bestimmtes Gegebenes nicht im Kontext von speziellen Eigenschaften W  vorkommt, die das trlS dazu ‚berechtigen‘, auf ein ‚jenseits von ihm selbst‘ (ein Transzendentes) verweisen zu können, wird man die Frage negativ bescheiden müssen. Und die vorausgehenden Reflexionen zum husserlschen transzendentalen ego haben ja gerade zum Konzept des trlS geführt, weil im tiefsten Innern des Transzendentalen, in seinem ‚Kern‘, in seiner ‚Wurzel‘,…. das ‚Andere‘ schon immer da ist. Nur weil das ‚Wissen um sich selbst‘ als dieses  spezielle Wissen das im Wissen als etwas Gegebenes als ‚etwas von dem Wissen Verschiedenes‘, als ein ‚wesentlich Anderes‘ schon immer denknotwendig vorfindet, kann das trlS sowohl den Begriff des Anderen denken wie auch den Begriff des ‚für sich Seins‘ eines Anderen. Da dieses Andere in vielfältigen Eigenschaftskombination sowie in mannigfaltigen dynamischen Abläufen auftritt, zeigt sich das Andere nicht nur mit einem ‚Gesicht‘; es kann sehr viele verschiedene Namen bekommen.

(118) Wenn also in der Epoché die ‚Weltgeltung‘ bestimmter Phänomene innerhalb des Wissens um sich selbst thematisiert wird und damit dieses Wissen sich seiner ‚kritischen Funktion‘ bewusst wird, ermöglicht sich zwar auf der einen Seite ein spezieller reflektierender Umgang mit diesen Phänomenen, durch diesen reflektierenden Umgang wird aber die jeweilige ‚phänomenologische Qualität‘, die jeweilige Mischung von Eigenschaften, die ein Phänomen konstituieren, nicht ausgelöscht; diese Eigenschaften bleiben, wie sie sind. Die grundsätzliche (transzendentale!) Andersartigkeit jeden Phänomens bleibt erhalten und innerhalb dieser unhintergehbaren Andersartigkeit deutet sich in vielen Phänomenen samt ihrem Kontext ein ‚Jenseits‘, eine ‚Transzendenz‘ an, die den Phänomenen und der Art ihres Erscheinens ‚innewohnt‘. In diesem Sinne muss man sagen, dass der transzendentale Charakter des ‚Anderem im für uns sein‘ ergänzt werden muss um die Eigenschaft der ‚Transzendenz‘ als etwas dem Anderen wesentlich Zukommendes.

(119) Das Wissen um sich ‚besitzt‘ das andere ’nicht‘, sondern es ‚empfängt‘ es. Anders gewendet, im kontinuierlichen Empfangen des transzendental Anderen ‚zeigt sich‘ (revelare, revelatio, Offenbarung) etwas ganz anderes als wesentlicher Teil unseres für uns Seins. Und da dieses sich kontinuierlich Zeigen (Offenbaren) aufgrund der Endlichkeit jeden einzelnen Phänomens im Kommen und Gehen und ‚zusammenbindenden Erinnern‘ eine ’nicht abschließbare Endlichkeit‘ ist, eine ‚unendliche Endlichkeit‘, verweist jedes konkrete Phänomen durch diese ‚gewusste Nichtabschließbarkeit‘ auf ein ‚Jenseits‘ des aktuell Gegebenen, manifestiert sich eine ‚Transzendenz‘, die im Wissen um sich und für sich zu einem ‚Faktum‘ wird, dessen kontinuierliche Endlichkeit ein Begreifen, ein ‚Gefasstwerden‘, einen Abschluss, eine Einheit, eine …. herausfordert.

(120) Innerhalb der allgemeinen Menge der Phänomene Ph  eine spezielle Menge der empirischen Phänomene Ph_emp aussondern zu können setzt somit voraus, dass diesen ausgesonderten Phänomenen qua Phänomene etwas zukommt, das diese Aussonderung rechtfertigt. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass bis auf jene Menschen, die als ‚psychisch gestört‘ klassifiziert werden, zwischen Menschen immer eine Einigung darüber möglich ist, ob ein bestimmtes Phänomen ein empirisches Phänomen x in Ph_emp ist oder nicht x -in Ph_emp. Diese Praxis ist möglich, weil es vorab zu dieser Praxis als notwendige Eigenschaften der empirischen Phänomene etwas gibt, was sie von anderen abhebt und aufgrund deren Gegebenheit Menschen diese Unterscheidung treffen können. Die empirischen Wissenschaften, die sich auf diese Teilmenge Ph_emp der allgemeinen Phänomene Ph berufen, sind in dieser Berufung noch nicht verschieden von der allgemeinen phänomenologischen Philosophie. Die Phänomene als Phänomene sind reell, sind gegeben, unabhängig davon, wie ich sie darüber hinaus ‚interpretiere‘, ob ’naiv‘ hinnehmend oder ‚kritisch‘ einordnend.

(121) Das übliche Kriterium in den empirischen Wissenschaften, mittels dessen die empirischen Phänomene Ph_emp von der allgemeinen Menge der Phänomene Ph ‚ausgesondert‘ wird, ist das ‚Experiment‘. Ein Experiment ist eine Ereignis- bzw. Handlungsfolge,  deren Kennzeichen ist, dass sie jederzeit von jedem wiederholbar sein müssen und dass bei gleichen Ausgangsbedingungen die gleichen (Mess-)Ereignisse  auftreten. Eine detaillierte phänomenologische Beschreibung wäre etwas umfangreicher. An dieser Stelle sollen nur die Kernaussagen festgehalten werden. Dazu bezeichnen wir alle Phänomene, die im Kontext eines Experimentes auftreten, als Ph_exp. Das Experiment als solches ist nicht notwendig, sondern ‚kontingent‘. Man kann ein Experiment durchführen, aber man muss nicht. Allerdings, wenn man ein Experiment durchführt, dann gilt, dass das das zu messende Phänomen Ph_emp  mit ‚Notwendigkeit‘ immer auftritt. Man kann also sagen, die empirischen Phänomene sind eine Schnittmenge aus den allgemeinen Phänomenen und den experimentellen Phänomenen Ph_emp = Ph cut Ph_exp. Mit all diesen Besonderheiten bleiben sie aber genuine Phänomene und fallen nicht aus dem Bereich einer phänomenologischen Reflexion heraus. Ein phänomenologischer Philosoph kann die experimentellen empirischen Phänomne betrachten wie er alle anderen Phänomene auch betrachtet.

(122) Das einzelne empirische Phänomen als solches besagt aber so gut wie nichts. Es gewinnt einen möglichen ‚Sinn‘ erst durch die zusätzliche Eigenschaft, dass es nicht nur ‚kontingent‘ im Sinne von ‚regellos‘, ‚zufällig‘ ist, sondern dass es im Zusammenhang mit anderen empirischen Phänomenen etwas ‚Nicht-Kontingentes‘, etwas ‚Nicht-Zufälliges‘  erkennen läßt. Diese Beschreibung schließt mit ein, dass man sagen kann, wie genau die Eigenschaft ‚Zufällig-Sein‘ (Kontingent-Sein) definiert wird. Wir setzen an dieser Stelle einfach mal voraus, dass dies geht (was alles andere als ‚trivial‘ ist!). Nicht-Zufälliges kann z.B. auftreten in Form von Zufallsverteilungen oder aber sogar bisweilen in Gestalt eines ‚gesetzmäßigen Zusammenhangs‘, dass immer wenn ein Phänomen p_i auftritt, ein anderes Phänomen p_j zugleich mit auftritt oder dem Phänomen p_i ‚folgt‘. In diesem Sinne gibt es im Bereich der Phänomene ’notwendige Zusammenhänge‘, die das Denken im Anderen  ‚vorfindet‘. Wichtig ist aber, dass es sich hier um Eigenschaften handelt, die den Phänomenen als Phänomenen zukommen, die nicht aus dem phänomenologischen Denken herausfallen. Ja, mehr noch, es geht hier nicht um ‚primäre‘ Eigenschaften der Phänomene, sondern um ‚phänomenübersteigende‘ Eigenschaften, die auf Zusammenhänge verweisen, die nicht dem einzelnen Phänomen als solchen zukommen, sondern sie verweisen auf ‚Formen des dynamischen Erscheinens‘ von Phänomenen.

(123) Diese ‚das einzelne Phänomen übersteigende Eigenschaften‘ setzen eine Erinnerungsfähigkeit voraus, die aktuell Gegebenes (Aktuales) ‚im nächsten Moment‘ nicht vollständig vergisst, sondern in der Lage ist, ‚Vorher Aktuales‘ wieder zu ‚erinnern‘ und es darüber hinaus noch mit dem ‚jetzt Aktualen‘ in Beziehung zu setzen, z.B. in einem ‚Vergleich‘. Diese Fähigkeit des impliziten Erinnerns gehört unserem Denken zu, ist eine dem Denken inhärierende Eigenschaft, ohne die wir keinen einzigen Zusammenhang denken könnten. In diesem Sinne ist das Erinnern und aus der Erinnerung heraus ‚Beziehen‘ können denknotwendig, transzendental.

(124) Durch Experimente kann das phänomenologische Denken allerdings ermitteln, dass das, was erinnert wird  [Ph_mem]  mit dem ‚ursprünglich Wahrgenommenen‘ [Ph_aktual] nicht identisch sein muss und in der Regel auch nicht identisch ist. Also  Ph_mem = Erinnern(Ph_aktual) & Ph_mem != Ph_aktual. D.h. das Erinnern ist keine 1-zu-1 Kopie des vorausgehenden Aktualen sondern –im Normalfall– eine ‚Modifikation des Originals‘. Es ist eine eigene Wissenschaft, zu erforschen, ob und in welchem Umfang diese Modifikationen selbst ‚gesetzmäßig‘ sind. Wichtig an dieser Stelle ist nur, dass man sich bewusst ist, dass das dem Denken transzendental innewohnende Erinnern im Normalfall eine Form von ‚Transformation‘ darstellt, die dem Denken zwar ’neue‘ Eigenschaften des Anderen aufscheinen lässt, aber diese ’neuen‘ Eigenschaften resultieren aus dem Denken selbst. Das ‚Einordnen‘ von Phänomenen in einen ‚gedachten Zusammenhang‘ ist primär ein Akt des Denkens und damit genuin phänomenologisch. Gedachte Zusammenhänge sind aber  als ‚gedachte‘ keine ‚primäre‘  Phänomene sondern ‚abgeleitete‘, ’sekundäre‘ Phänomene. Als ‚gewusste‘ sind sie ‚evident‘, in ihrem möglichen Bezug zu primären Phänomenen können sie ‚divergieren‘, ‚abweichen‘, sich ‚unterscheiden‘.

(125) Das, was sich im Denken zeigt, sind die Phänomene. Sehr verbreitet ist die Redeweise, in der bestimmte Phänomenkomplexe in besonderer Weise als ‚Objekte‘ [Obj] aufgefasst werden. Diese können als Wahrnehmungsobjekte [Obj_perc] auftreten, als  Erinnerungsobjekte [Obj_mem] oder als Denkobjekte [Obj_cog]. In aller Spezifikation bleiben sie Phänomene und gehören zum phänomenologischen Denken. Auch die empirischen Wissenschaften benutzen solche speziellen Objektkonzepte wie ‚Atom‘, ‚chemische Verknüpfungen‘ usw.

(126) Charakteristisch für empirische Theorien ist aber letztlich, dass die gefundenen Zusammenhänge zusätzlich  in einem System von Zeichen (Sprache) so abgebildet werden können, dass sich auf der Basis solcher symbolischer Darstellungen sowohl ein Bezug zu den primären Phänomenen herstellen läßt wie auch, dass sich unter Hinzuziehung eines Folgerungsbegriffs   logische Schlüsse ziehen lassen.

(127) Hierzu müsste man erklären, wie man innerhalb einer phänomenologischen Theorie den Begriff des Zeichens einführen kann.  Dies soll an dieser Stelle nicht geschehen. Husserl selbst lässt diesen zentralen Punkt ganz beiseite. Wir halten hier nur fest, dass an dieser Stelle solch eine Einführung stattfinden müsste; ohne sie wäre das Konzept einer (empirischen) wissenschaftlichen Theorie wesentlich unvollständig.

(128) Blicken wir nochmals zurück. Erinnern wir die Feststellung Husserls ‚Apriorische Wissenschaft ist Wissenschaft von dem Prinzipiellen, auf das Tatsachenwissenschaft rekurrieren muss, um letztlich, eben prinzipiell begründet zu werden…‘ (vgl. CM2, S.38, Z28f)  Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass die empirischen Wissenschaften sich zunächst nicht von der phänomenologischen Philosophie unterscheiden. Sie basieren auf den gleichen Phänomenen und sie benutzen das gleiche Denken. Insofern die empirischen Wissenschaften versuchen, im Raum der Phänomene Zusammenhänge aufzuspüren, Regelhaftigkeiten, müssen sie auf allgemeine Eigenschaften des Anderen rekurrieren, indem sie sich dieser Zusammenhänge ‚bewusst werden‘ und diese als ‚denknotwendige Zusammenhänge‘ explizit machen, bewusst machen, und dann konzeptuell und semiotisch benennen. Empirische Wissenschaften tun dies ‚phänomengeleitet‘, aber auch bestimmten Methoden folgend, die ein Minimum an ‚Wissen um‘ Phänomene und allgemeine Eigenschaften des Denkens einschließt.

(129) Eine klare Abgrenzung zu einer phänomenologischen Philosophie dürfte letztendlich schwierig sein, da ja auch ein phänomenologischer Philosoph nie in jedem Augenblick ‚das Ganze‘ denken kann, sondern immer nur schrittweise  Teilaspekte reflektiert, die er dann ebenso schrittweise zu größeren Perspektiven ‚zusammenfügen‘ kann. Mir scheinen vor diesem Hintergrund die eher zur Gegenübersetzung von Philosophie und empirischer Wissenschaft anregenden Formulierungen von Husserl nicht so geeignet zu sein. Stattdessen würde ich eher den ‚inklusiven‘ Charakter betonen. Empirische Wissenschaft ist grundsätzlich ein Denkgeschehen, was ‚innerhalb‘ des phänomenologischen Denkens stattfindet. Empirisches Denken stellt insoweit eine ‚Teilmenge‘ des phänomenologisch-philosophischen Denkens dar, insoweit das empirische wissenschaftliche Denken (i) einmal die Menge der zu betrachtenden Phänomene mittels eines überprüfbaren Kriteriums ‚beschränkt‘ und (ii) bei den reflektierenden Betrachtungen nicht alles reflektiert, was man reflektieren könnte, sondern sich auf jene Aspekte beschränkt, die notwendig sind, um die empirisch motivierten Zusammenhänge angemessen zu denken.  Wie die fortschreitende Entwicklung der empirischen Wissenschaften zeigt, können sich die Grenzen empirisch-wissenschaftlicher Reflexion beständig verschieben in Richtung solcher Inhalte, die traditionellerweise nur in der Philosophie zu finden waren. Dass heutzutage Ingenieure über die Konstruktion eines ‚künstlichen‘ Bewusstseins grübeln, kann sehr wohl geschehen im Einklang einer genuinen phänomenologisch-philosophischen Reflektion aller Gegebenheiten eines transzendentalen Subjekts.

Fortsetzung folgt.

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CARTESIANISCHE MEDITATIONEN III, Teil 6

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(86) Es wundert dann nicht, wenn Husserl in dieser Radikalisierung des Bewusstseinsstandpunktes für sich die Frage nach dem ‚alter ego‘ stellt, ob dieser Denkstandpunkt nicht in einem ‚transzendental-phänomenologischen Solipsismus‘ endet. (vgl. CM2, S.34, Z18, 12f) Denn im ‚psychologischen‘ Erleben des Alltäglichen ist das ‚Außen‘, sind die ‚Anderen‘ ‚wirklich‘. (vgl. CM2, S34, Z21-35) Im Zwiespalt zwischen dem Standpunkt des transzendentalen ego, innerhalb dessen das ‚alter ego‘ keine direkte Selbsterfahrung des alter ego besitzt, und der alltäglichen Erfahrung ‚in der Weise einer eigentümlichen Ähnlichkeitsapperzeption…, konsequent indiziert, sich dabei einstimmig bewährend‘, entscheidet sich Husserl dafür, dem ‚alter ego‘ einen transzendentalen Status zu verleihen! Er sagt ‚Das transzendentale ego setzt in sich nicht willkürlich, sondern notwendig ein transzendentales alter ego‘. (vgl. CM2, S.35, Z17-19). Doch, dem nicht genug, verwandelt sich damit scheinbar die Erkenntnis der ganzen Welt zu einer transzendentalen: ‚… damit erweitert sich die transzendentale Subjektivität zur Intersubjektivität, zur intersubjektiv-transzendentalen Sozialität, die der transzendentale Boden ist für die intersubjektive Natur und Welt überhaupt und nicht minder für das intersubjektive Sein aller idealen Gegenständlichkeiten.‘ (vgl. CM2, S.35, Z20-26)

(87) Obwohl wir also weder das ‚alter ego‘ noch die eigentliche Sozialität direkt so erfahren können wie das sich selbst denkende Denken, ist Husserl nun bereit, die Qualität des ‚Transzendentalen‘ auf jene Gegenständlichkeiten auszuweiten. Und diese Ausweitung findet statt, obgleich Husserl im direkten Anschluss an die Ausweitung der Transzendentalität ausdrücklich feststellt, dass es hier einen Qualitätsunterschied gibt zwischen transzendentalen ego und alter ego: ‚Das erste ego, auf das die transzendentale Reduktion führt, entbehrt noch der Unterscheidungen zwischen dem Intentionalen, das ihm ursprünglich eigen ist, und dem, was in ihm Spiegelung des alter ego ist. Es bedarf erst einer weitgeführten konkreten Phänomenologie, um die Intersubjektivität als transzendentale zu erreichen.‘ (vgl. S35, Z26-31).

(88) Verwickelt sich Husserl hier in Widersprüche oder hat er einfach die Bedeutung des Terminus ‚transzendental‘ geändert (oder hat der Autor dieser Kommentierung seine Verwendungsweise des Terminus ‚transzendental‘ von Anfang an falsch aufgefasst?)?

(89) Ein Widerspruch läge dann vor, wenn mit ‚transzendental‘ jene Gegebenheiten des Denkens gemeint wären, die jeglichem Inhalt des Denkens voraus liegen, ohne die sich nichts denken ließe. Im Wissen des Denkens ‚um sich‘ –von Husserl im transzendentalen ego fixiert, das keinem gewöhnlichen ‚Gegenstand‘ entspricht noch überhaupt einem etwas entsprechen muss– liegt solch ein Sachverhalt vor: was immer inhaltlich gegeben sein mag, es ist gegeben im Apriori eines Denkhorizontes, innerhalb dessen es als ‚es‘ aufgefasst wird, das sich in seiner Bezogenheit nicht anders ableiten, begründen, erklären lässt. Im ‚Wissen um sich selbst‘ findet das Denken einen Fixpunkt, der für das Denken unhintergehbar erscheint und deshalb als ‚transzendental‘ qualifiziert wurde. Die jeweils konkreten Inhalte, die innerhalb dieses Denkens auftreten können sind zwar bzgl. ihres Auftretens und Verschwindens auch einer direkten ‚Kontrolle‘ durch das Wissen um sich entzogen, sind diesem Wissen um sich aber ‚äußerlich‘, ‚fremd‘, ‚anders‘. D.h. das Wissen um sich selbst und die in diesem Wissen als wesentlich unterschiedene Gegebenheiten sind koexistent. Das Wissen um sich selbst gibt es nicht isoliert, nicht separiert, sondern immer nur in der Gegenwart des jeweils anderen, was im Wissen um sich selbst als das ‚es‘ des Gewussten aufscheint und in dieser Unterschiedenheit auch unhintergehbar ist. Nicht das jeweils konkret so-seiende Andere ist transzendental, sondern der Unterschied zwischen Wissen-um-sich und dem grundsätzlich davon Unterschiedenem. Von daher wäre es vielleicht besser nicht von dem transzendentalen ego zu sprechen (was ein Super-Etwas suggeriert, das es so nicht gibt), sondern von der ‚transzendentalen Differenz‘ zwischen dem ‚Wissen-um-sich‘ einerseits und dem zugleich gegebenen jeweils ‚Anderem-des-Im-Wissen-Seienden‘. Man kann dies ‚Intentionalität‘ nennen, wie Husserl es getan hat, läuft dann aber Gefahr, dass man ein irgendwie geartetes ‚Subjekt‘ (das transzendentale ego) unterstellt, das sich ‚auf etwas‘ ‚richtet‘. Das ‚Wissen um sich‘ ist aber zunächst mal gegenstandslos, benötigt kein Subjekt als ‚etwas‘.

(90) Zu sagen, ein ‚Wissen-um-sich‘, in dem notwendig verschiedene Erscheinungen stattfinden können, bilde in dieser Einheit von beidem (!) ein ‚Subjekt‘ wäre formal möglich. Es hätte den großen Vorteil, nicht ‚mehr‘ sagen zu müssen als wir tatsächlich sagen können. Das so verstandene ‚transzendentale Subjekt‘ (nicht mehr identisch mit dem ‚transzendentalen ego‘!) wäre dann nicht ein mystisches Etwas auf der einen Seite, dem auf der andere Seiten irgendwelche ‚Typen‘ begegnen, die sich durch immer neue Konkretionen realisieren, sondern das transzendentale Subjekt [trlS] wäre genau jene Einheit von beidem, die für uns unauflösbare Koexistenz von Wissen um sich und Erscheinungen von etwas als etwas in diesem Wissen um sich. Diese vorgegebene transzendentale Einheit ist das Apriori unseres Erlebens und Denkens. Was immer uns begegnen mag innerhalb dieses trlS , es ist ein Gewusstes. Und wenn ich verschiedene gewusste Etwasse durch ein anderes gewusstes Etwas ‚repräsentiere‘, dann wird diese repräsentierende Beziehung als gewusste wieder ein gewusstes Etwas. Entsprechend, wenn ich ein Gewusstes mit sprachlichen Ausdrücken belege, dann wird die gewusste Beziehung zwischen Ausdruck und Gemeintem selbst wieder zu einem gewussten Etwas, das sich neu verknüpfen lässt. Usw.

(91) Halten wir fest: die ursprüngliche Definition des transzendentalen ego bei Husserl fundierte eine ‚Kluft‘ zum erscheinenden Anderen, deren ‚Überbrückung‘ erst über die Typen versucht wurde, dann zusätzlich durch eine ‚Ähnlichkeitsapperzeption‘, die als ‚konsequent bewährte Indikation‘ innerhalb der transzendentalen Apperzeption mit ‚Notwendigkeit‘ zu einem ‚transzendentalem alter ego‘ mutierte. (vgl. CM2, S.35, Z7-19) Das wirkt ‚gezwungen‘, lässt keine ‚harte‘ Logik erkennen, kann nicht überzeugen.

(92) Andererseits sind es gerade diese verschiedenen Formulierungen von Husserl, die das Denken provozieren, die dazu anregen, jene Hypothese zu formulieren, die hier mit dem Begriff des trlS versucht wurde. Unter der Annahme eines trlS gibt es zwar ‚Allgemeinheiten‘ und ‚Denknotwendigkeiten‘, diese führen aber nicht dazu, dass das jeweils Erscheinende im Wissen um sich seine letzte ‚Fremdheit‘ verliert. Die Struktur der Koexistenz als solche ist zwar denknotwendig und darin transzendental, ihre jeweiligen Komponenten als solche –das um sich wissende Wissen wie auch die konkret Erscheinenden– sind es nicht. Es gibt keinen ‚Grund‘, warum sie
’sein sollen‘. Das trlS ‚findet sie vor‘, aber es hat keine Fundierung für diese; letztlich sind sie zunächst einmal ‚kontingent‘; sie müssten nicht sein. Und daraus resultiert eine eigentümliche Spannung von ‚Nicht sein müssen‘ sowie ‚Sich im Sein vorfinden‘ und zwar auf eine bestimmte (strukturelle) Weise, die ein unaufhebbares Bezogensein von jeweils Gegebenem und einem darum Wissen als einem Etwas.

(93) ‚Sein‘ und ‚Nichtsein‘ sind also schon in der Wurzel unseres bewussten Denkens koexistent gegeben als Grundeigenschaften unseres Vorkommens als trlS. Fundamentale Kontingenz als Bestandteile der fundamentalen Transzendentalität des trlS. Das Wissen um Nicht-sein-Können setzt allerdings implizit die ‚Erinnerung‘ an ‚einmal Dasein und dann wieder nicht da sein‘ voraus, jener ‚Schablone‘ ‚innerhalb des Denkens‘, die als ‚Eigenschaft des Denkens erfahrbar wird, die aber strukturell auf ‚Mechanismen hinter dem Denken‘ verweisen können. Doch diese möglicherweise ‚hinter dem Denken‘ wirkenden Mechanismen sind dem phänomenologischen Denken nicht ‚direkt‘ zugänglich, nur über eine lange Kette von Erscheinungen und geeigneten Denkoperationen, die schrittweise mögliche Strukturen ‚hinter den Phänomenen‘ als ‚hypothetisch wirkende Strukturen‘ aufscheinen lassen. Dies müßte innerhalb eines weiteres Diskurses erklärt werden.

(94) Husserl thematisiert diese Sachverhalte von impliziten Strukturen/ Eigenschaften des Denkens und deren Bewusstwerdung im Anschluss. (vgl. CM2, S36f) Im ’naiven‘ praktischen Leben vollziehen sich nach Husserl ‚all die intentionalen Leistungen des Erfahrens … anonym, der Erfahrende weiß von ihnen nichts.‘ Und die positiven Wissenschaften klassifiziert Husserl als ‚Naivitäten höherer Stufe‘, da auch sie die verborgenen Leistungen des Denkens unbewusst benutzt, und ‚… ihre Kritik ist nicht letzte Erkenntniskritik…‘, da ‚die Urbegriffe, die durch die ganze Wissenschaft hindurchgehen… naiv entsprungen [sind].‘ (vgl. CM2, S36, Z14-38)

(95) Die husserlschen Formulierungen zum praktischen Alltagsleben klingen ein wenig negativ. Im Kontext der philosophischen Analyse sind sie verständlich, geht es hier doch um begriffliche Klärung von Gegebenheiten und Voraussetzungen. In der ‚Praxis‘ des Lebens ist es über weite Strecken aber (überlebens-)notwendig, dass ein Handeln aus einem ‚direkten‘ naiven Denken möglich ist. Reflektieren und zugleich zielgerichtet und effektiv Handeln ist für uns Menschen strukturell nicht möglich. Wir können dies nur alternierend zwischen Phasen der Aktivität und Phasen des Reflektierens.

(96) Die Aussagen über die positiven Wissenschaften dürften 82 Jahre später differenzierter ausfallen. Ein Großteil (mehr als 90%?) der Wissenschaftler dürfte auch heute wenig mit der kritischen Reflexion gemein haben, die Husserl als phänomenologische Analyse bezeichnet. Aber es gibt seit dem frühen 20.Jahrhundert immer wieder wissenschaftsphilosophische Bewegungen, die auf unterschiedlicher Art versucht haben (und es immer noch versuchen), die innere Logik des spezifischen wissenschaftlichen Denkens kritisch zu hinterfragen oder gar begrifflich aufzuarbeiten. Eine abschließende Beurteilung des aktuellen Standes traue ich mir nicht zu.

(97) Es ist also die Aufgabe einer phänomenologischen Philosophie, die impliziten Eigenschaften und Voraussetzungen des Denkens begrifflich explizit zu machen. Dazu muss das Denken von seiner Möglichkeit des ‚Wissens um sich selbst‘ Gebrauch machen und das Erscheinende ‚als‘ Erscheinendes erfassen. Dies sind einmal Eigenschaften des So-Seienden in seiner Mannigfaltigkeit, die ‚abstrahiert‘ und ‚bezeichnet‘ werden können, wie auch die ‚allgemeine Art und Weise‘ des Erscheinens, die nicht an ein bestimmtes So-Seiendes gebunden ist, sondern ‚generisch‘ für ganze Teilmengen der Erscheinungen gilt, und zwar ‚konstitutiv‘, ‚denknotwendig‘, als eine ‚Weise‘, wie das Wissen um sich die Dinge ‚weiß‘. Dies sind die allgemeinen Formen, die Typen, von denen Husserl zuvor auch immer wieder gesprochen hat. Die Typen gehören dem Denken, dem Wissen zu; es sind ‚Eigenschaften‘ des Denkens, ‚wie es denkt‘. Wir kennen nicht das ‚Denken an sich‘, sondern nur das Denken, wie es sich anlässlich des konkret So-Seienden ereignet, sich im Ereignis zeigt. Darin manifestiert sich wiederholt der koexistentiale (duale) Charakter des trlS. Das ‚Wissen-um‘ gibt es nur mit dem ‚anderen Gewussten‘ und das ‚andere Gewusste‘, das erscheint, gibt es nur im Modus des ‚Wissen-um‘, das nicht ‚beliebig‘ ist, sondern impliziten Regeln, Formen folgt, die sich in der Genese des Wissens dann indirekt, implizit ‚zeigen‘. Dieses sich ‚implizit zeigen‘ der Formen des Wissens sind wiederum im Wissen-um-sich ‚Inhalte‘, ‚Gegenstände‘ des Wissens, wenngleich als ‚Eigenschaften des Denkens‘ Gegenstände einer besonderen Art.

(98) Eigenschaften des Denkens lassen sich daher zwischen verschiedenen Bewusstseinen nur dadurch kommunizieren, dass jedes kommunizierende Bewusstsein solche Denkprozesse vollzieht, die notwendig sind, um spezifische Eigenschaften des Denkens ’sichtbar‘ zu machen. In der Kommunikation kann man diese Eigenschaften des Denkens dann als ‚Kontext‘ benutzen, um jene Eigenschaften des Denkens hypothetisch zu identifizieren, die der andere möglicherweise gemeint hat. Dies setzt allerdings ein hinreichend ‚ähnliches‘ Denken voraus. Eine Voraussetzung, die wir zwar ständig machen, deren wir uns aber letztlich nie vollständig vergewissern können. Vertrauen ist von daher die erste Voraussetzung von Intersubjektivität.

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