Warum überhaupt schreiben?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 20.Januar 2007
URL: cognitiveagent.org
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

  1. Zu den Begriffen ‚Wissen‘, ‚Intelligenz‘, ‚intelligentes Leben‘ mit weiteren Konnotationen wie z.B. ‚Geist‘, ‚Vernunft‘ usw., gibt es –je nachdem, wie weit man die Suchkriterien fasst–, hunderte, tausende, oder gar zehntausende von Artikeln und Büchern. Man kann sich die Frage stellen, warum dann selber noch ein paar Zeilen schreiben; ist nicht schon genug geschrieben?
  2. Wenn man das verfügbare dokumentierte Wissen rein abstrakt betrachtet, als ‚kulturelle Manifestation‘, losgelöst von einzelnen Menschen, von einzelnen Gehirnen, dann könnte man möglicherweise sagen: Ja, es ist schon alles geschrieben, ‚wir brauchen nichts mehr‘; wir wissen schon alles.
  3. Aus der Sicht des einzelnen Menschen, des einzelnen Gehirns, nützt die Tatsache, dass schon viele hunderte, tausende oder mehr Artikel und Bücher existieren, nicht unbedingt etwas. Der einzelne Mensch findet sich primär in seinem eigenen Erleben vor, in seiner sprachlich ‚kodifizierten‘ Welt, in seinen Deutungsmustern, und die Masse des schon geschriebenen –oder andersartig dokumentierten– Wissens nützt ihm nur dann etwas, wenn er zwischen seinem individuellen Erleben und Verstehen und dem ‚dokumentierten‘ Wissen eine ‚aktive Beziehung‘ herstellen kann.
  4. Unter einer ‚aktiven Beziehung‘ ist mehr zu verstehen als nur das ‚einfache Lesen‘ eines Textes, das dazu führt, dass man Ausschnitte aus einem Text ‚zitieren‘ kann. Eine aktive Beziehung liegt vor, wenn man sowohl vom gelesenen Text wie auch von seinem eigenen Erleben und Verstehen ‚explizite Modelle‘ konstruieren kann, die explizit miteinander in Beziehung gesetzt werden können.
  5. Strenggenommen muss jeder Mensch auf diese Weise das schon verfügbare Wissen mit seinem ‚individuellen‘ Wissen aktiv vernetzen. Andernfalls ist das schon dokumentierte Wissen ‚kulturell unverdaut‘ und damit ’nicht rezipiert‘, d.h. aus Sicht des einzelnen ist das dokumentierte Wissen für den ‚Prozess seines Lebens‘ nicht existent und damit nicht wirksam.
  6. Betrachtet man die Menge des täglich neu hinzukommenden ‚dokumentierten Wissens‘, dann ist klar, dass aus Sicht eines einzelnen Menschen von einer ‚aktiven Aneignung‘ all dieses dokumentierten Wissens nicht die Rede sein kann. Für einen einzelnen Menschen ist es –bei den heutigen Möglichkeiten– völlig ausgeschlossen, sich das dokumentierte Wissen auch nur ansatzweise aktiv anzueignen.
  7. Es gibt also dokumentiertes Wissen in der Population der Menschen und zugleich –aus Sicht des einzelnen Menschen– gibt es dies nicht (Das ‚Kognitive Paradox‘).
  8. Wenn man bedenkt, dass die Zeit, die ein einzelner Mensch zur aktiven Aneignung von Wissen zur Verfügung hat, ‚endlich‘ ist (soundsoviel Jahre seines Lebens, soundsoviel Stunden pro Tag, nicht unbedingt täglich), dann ergibt sich daraus eine klare ‚Obergrenze‘ an ‚Wissensmengen‘, die ein einzelner Mensch sich aneignen kann. Gemessen an der gesamten verfügbaren Menge ist diese ‚inviduelle Obergrenze‘ verschwindend gering und mit dem Fortschreiten der Produktion von dokumentiertem Wissen wird dieser individuelle Anteil am Ganzen immer kleiner; Tedenz gegen Null.
  9. Angesichts dieses Szenarios stellen sich mindestens zwei Fragen: (i) Wie organisiert die Population der Menschen ihr dokumentiertes Wissen so, dass es nutzbar bleibt für die ganze Population und für einzelne?, (ii) Welches Wissen soll sich ein einzelner Mensch im Laufe seines Lebens aneignen, wenn es letztlich nur ein verschwindender Bruchteil des Ganzen sein kann?
  10. Für die aktive Aneignung von Wissen seitens eines einzelnen Menschen stellt der Prozess des Schreibens –eventuell ergänzt durch Diagramme, Audio etc.– eines der wichtigsten Mittel dar, durch die sich ein einzelnen Gehirn mit seinem Bewusstein so verhält, dass es sein Erleben und Verstehen mittels Schreiben ‚organisiert‘. M.a.W. was auch immer ein einzelner Mensch sich an Wissen ‚aneignen‘ will, sein Bewusstsein mit dem Gehirn muss sich ‚aktiv‘ verhalten, und das ist neben allerlei praktischen Tätigkeiten vor allem das ‚Schreiben‘.
  11. Die Menge des schon vorhandenen Wissens ist also nicht nur kein Argument gegen das Schreiben eines einzelnen, das Schreiben des einzelnen ist vielmehr umso wichtiger, je mehr Wissen es gibt. Nur aktiv konstruierte Beziehungen zwischen vorhandenem (dokumentiertem) Wissen und individuellem Erleben und Wissen sind nutzbar
  12. Audio-Datei des Textes. Aufgenommen 28.Dez.2010. Noch sehr experimentell.
Soundtrack without voice
Soundtrack with voice

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Über cagent

Bin Philosoph, Theologe, Kognitionswissenschaftler und hatte seit 2001 eine Vertretungsprofessur und ab 2005 eine volle Professur im Fachbereich Informatik & Ingenieurswissenschaften der Frankfurt University of Applied Sciences inne. Meine Schwerpunke ab 2005 waren 'Dynamisches Wissen (KI)', 'Mensch Maschine Interaktion (MMI)' sowie 'Simulation'. In dieser Zeit konnte ich auch an die hundert interdisziplinäre Projekte begleiten. Mich interessieren die Grundstrukturen des Lebens, die Logik der Evolution, die Entstehung von Wissen ('Geist'), die Möglichkeiten computerbasierter Intelligenz, die Wechselwirkungen zwischen Kultur und Technik, und der mögliche 'Sinn' von 'Leben' im 'Universum'. Ab 1.April 2017 bin ich emeritiert (= nicht mehr im aktiven Dienst). Neben ausgewählten Lehrveranstaltungen ('Citizen Science für Nachhaltige Entwicklung' (früher 'Kommunalplanung und Gamification. Labor für Bürgerbeteiligung')) arbeite ich zunehmend in einem integrierten Projekt mit Theorie, neuem Typ von Software und gesellschaftlicher Umsetzung (Initiative 'Bürger im Gespräch (BiG)). Die einschlägigen Blogs sind weiter cognitiveagent.org, uffmm.org sowie oksimo.org ... ja, ich war auch mal 'Mönch', 22 Jahre lang mit viel Mystik, Theologie und Philosophie; dabei u.a. einige Jahre Jugendsozialarbeiter.