DIE WAHRHEIT ERSCHEINT IM BETRACHTER – Oder: WARUM WIR NUR GEMEINSAM DAS ZIEL ERREICHEN KÖNNEN

1) In diesem Blog wurde schon oft über die Wahrheit geschrieben, von ganz unterschiedlichen Perspektiven (und es wird eigentlich Zeit, die Inhalte auf der Übersichtsseite auch mal nach Themen zu gruppieren). Dabei wird deutlich, dass es einerseits um etwas sehr Grundsätzliches, Einfaches geht, das zugleich aber doch für viele, letztlich alle, nicht so einfach fassbar ist.
2) Nicht umsonst gab es in der Geschichte der Ideen seit mehr als 2000 Jahren so viele und immer wieder neue Versuche von großen Denkern, Philosophen, aber auch Schriftstellern, Wissenschaftlern, Künstlern, selbst Theologen, dieses viel schillernde Phänomen zu packen.
3) Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke (oder genauer: ‚Es‘ ‚in mir‘ denkt, nämlich mein Gehirn), entdecke ich immer neue Aspekte oder bestimmte, schon bedachte, Aspekte vertiefen sich irgendwie. So geschehen in den letzten Wochen.
4) Während ich noch versuche, das ungeheuer anregende Buch von T.Engelhardt (ed), „The World Acording to TomDispatch. America in the New Age of Empire“, London-New York: Verso, 2008 (siehe auch die Webseite tomdisptach.com) zu verstehen und zu verarbeiten (es ist vor allem eine Zeitfrage, da unser Denken nun mal Zeit braucht und Zeit ist generell knapp und muss immer wieder neu ‚eingeteilt‘ werden), gibt es parallel natürlich den Gedankenprozess im Alltag, der weiter geht. Und hier tauchte der Gedanke nach der ‚Wahrheit‘ immer wieder auf, insbesondere in einigen Gesprächen mit Freunden, wie man sie nur führen kann, wenn man abends zusammen sitzt, sich Zeit nimmt, und redet.
5) Da ich hier keine Zeit habe, große Abhandlungen zu schreiben, sondern nur spontan einige Gedanken notieren kann, hier also einige Gedanken ohne den ganzen Kontext auszubreiten.
6) Der Kerngedanke von ‚Wahrheit‘ ist, dass es tatsächlich etwas gibt, das da ist vorab und unabhängig von unserem eigenen Denken und Wollen.
7) Für uns, die wir als biologische Wesen ‚Wahrnehmen‘ — man beachte dieses deutsche Wort! im Englischen würde man ‚perceive‘ sagen, und das ist etwas ganz anderes! — können, Fühlen, Erinnern und Denken, ist aber all das, was es unabhängig von uns als Einzelwesen gibt, nur ‚gegenwärtig‘ im ‚Medium‘ unseres Körpers, im Medium der elektrochemischen Prozesse der Zellen, die die ungeheure Masse an elektrochemischen Ereignissen ’strukturieren‘, ‚ordnen‘ und uns als als ‚erlebbare‘ ‚Objekte mit Eigenschaften im Raum‘ zugänglich machen. Die 100 Milliarden Gehirnzellen zusammen mit den ca. 14 Billionen Körperzellen organisieren ‚in uns‘ ein ‚Erlebnis von Welt‘, das unser Bewusstheit und Denken primär ermöglicht, gestaltet, prägt.
8) Nun ‚lernen‘ wir im Laufe des Lebens, dass dieses ‚Bild im Innern des Körpers‘ bei jedem Menschen ‚verschieden‘ sein kann. Kinder, junge Leute, Erwachsene, Ältere, Kranke, im Bewusstsein ‚Gestörte’…. haben unterschiedlichste Anschauungen, können die gleiche Situation unterschiedlich wahrnehmen. Veränderungen der elektrochemischen Prozesse im Körper, z.B. durch Wassermangel, durch chemische Substanzen, durch Verletzungen, können das Wahrnehmen, Erinnern, Fühlen, Denken erheblich beeinflussen.
9) Nachdem sich viele tausend Jahre die unterschiedlichsten Denker (prominent z.B. Platon, Aristoteles, Descartes, Hume, Kant, Hegel…..) intensiv Gedanken gemacht hatten über die Grundlagen, die Struktur und den Prozess unseres Denkens (einschließlich der Wahrheitsfrage) war es der empirischen Wissenschaft vergönnt das Rätsel der ‚Struktur‘ unseres Denkens ein wenig mehr aufzuhellen: unser Denken als Eigenschaft unseres biologischen Körpers hat quasi ’sich selbst‘ ergründet, indem es aufgedeckt hat, dass und wie unsere biologischen Körper seit der ersten biologischen Zelle vor ca. 3.8 Milliarden Jahren sich mit der Entwicklung der körperlichen Strukturen ‚mit entwickeln‘ konnte (eine Form von Koevolution). Und natürlich muss man über die erste biologische Zelle noch hinausgehen und auch den Prozess einbeziehen, der überhaupt zur ersten Zelle geführt hat. Man nennt dies die chemische Evolution, die wiederum nur möglich war, weil es eine noch umfassendere kosmologische Evolution gab (und gibt).,
10) Also in der Tatsache und in der Art und Weise unseres Denkens spiegelt sich indirekt ein Prozess wieder, der all unserem Fühlen und Denken voraus liegt und davon gänzlich unabhängig ist. Die Geschichte des menschlichen Denkens erscheint somit als eine Geschichte der schrittweisen Entdeckung dieses Zusammenhanges, dieses Sachverhaltes.
11) Und hier kommt das ‚Problem der Wahrheit‘ ins Spiel: je besser wir lernen, unser Denken zu verstehen (es ist allerdings nicht so, dass Menschen im Alltagsbetrieb lernen, wer sie wirklich sind, da sie normalerweise gezwungen sind, zum wirtschaftlichen Existieren ‚funktionieren‘ zu müssen, d.h. in der Regel ‚Dinge zu tun‘, die wir nicht eigentlich wollen; und wenn man dann mal Zeit hätte, etwas ‚anderes‘ zu tun, als zu ‚funktionieren‘ weiß man dann in der Regel nicht, wie man das anstellt, etwas ‚anderes‘ zu tun, was Erkenntnisse vermittelt…), umso mehr lernen wir, die Abhängigkeit unseres Denkens nicht nur von den Eigenheiten unseres Körpers zu erkennen, sondern auch von der Art unseres Handelns und unserer Kommunikation. Wenn wir Pech haben, reden wir immer nur mit den ‚falschen‘ Leuten, lesen die ‚falschen‘ Bücher, sehen wir die ‚falschen‘ Filme, usw. was zur Folge hat, dass das ‚Bild‘ in unserem Kopf von der Welt heillos ‚falsch‘ ist. Da die ‚Falschheit‘ im Kopf nicht riecht, nicht schmeckt, aus sich heraus nicht weh tut, merkt ein Mensch in der Regel nicht so ohne weiteres, dass der ‚Inhalt seines Kopfes‘ ‚falsch‘ ist.
12) Und hier wird deutlich, dass wir unausweichlich voneinander abhängen: wenn ein Mensch ‚richtig‘ denken will, dann kann er dies nicht isoliert, nicht ohne ein ‚Umfeld‘, welches das ‚richtiges‘ Erkennen ermöglicht und unterstützt. Wenn es keine anderen gibt, die sich um ‚wahre‘ Erkenntnis bemühen (d.h. um ein ‚inneres Bild‘ von der ‚Welt‘ da draußen, wie sie ist unabhängig von meinem Denken und Wollen), die ihre Erkenntnisse aufschreiben, weiter erzählen, sich untereinander austauschen, sich gegenseitig korrigieren und anregen, dann ist man im Augenblick gefangen wie ein Hamster in seinem Käfig; man kann noch so lange rennen, die Welt ändert sich nicht wirklich, der eigene Zustand führt nur zur Erschöpfung, das ‚innere Bild‘ der Welt bleibt unverändert.
13) Denn das ist eine der größten Herausforderungen jeden Weltbildes: nicht der Augenblick, nicht der einzelne Moment, nicht die einzelne Eigenschaft ‚für sich‘ ‚enthüllt‘ die ‚Wahrheit‘, sondern nur die ‚Zusammenhänge‘ und ‚Regelhaftigkeiten‘ vieler einzelner Augenblicke. Ohne ‚Erinnern‘ jener Ereignisse, die ‚wichtige‘ Zusammenhänge enthüllen, kann es keine Erkenntnis von Wahrheit geben (von daher ist es nicht verwunderlich, dass egoistische Machthaber alles daran setzen, ‚Geschichte‘ in ihrem Sinne schreiben oder umschreiben zu lassen, dass überhaupt nur geschrieben werden darf, was ihnen ‚passt‘, dass nur sie selbst ‚deuten‘ dürfen, wie man die Welt zu sehen hat). Und, leicht unterschätzt, um Zusammenhänge sichtbar machen zu können braucht man eine Sprache‘, eine Sprache die ausdrucksstark genug ist, um all jene Aspekte der Wahrnehmung repräsentieren zu können, auf die es ankommt. Ein Teil der modernen ‚Sprache von der Wahrheit‘ ist die moderne Mathematik; ohne deren Erfindung und Entwicklung würden wir weiter im Chaos der Augenblicke verharren.
14) Wenn wir also heute ein bisschen mehr über die Struktur und Entstehung der empirischen Welt (von der wir und unser Denken ein Teil sind), dann nur Dank der empirischen Wissenschaften seit ca. 500 Jahren, in der viele 10000 Männer und Frauen in eigener Verantwortung und oft unter Einsatz ihres Lebens Eigenschaften der Welt ’sichtbar‘ gemacht haben, die uns hervorgebracht hat.
15) Wie zu allen Zeiten versuchen auch heute jene, die in irgendeiner Form Macht haben, diese forschenden Männer und Frauen ‚unter Kontrolle‘ zu bringen, sie für ihre privaten Zwecke zu missbrauchen (die forschenden Männer und Frauen können natürlich auch ihren eigenen Machtgelüsten verfalle…). Es bleibt ein offener Prozess, wieweit wir mit dem Projekt der ‚Wahrheit‘ kommen werden.
16) Auch haben wir gelernt, dass die verschiedenen Gesellschafts- und Wirtschaftsformen dem Projekt der Wahrheit unterschiedlich gut tun (wie auch umgekehrt das Projekt der Wahrheit bestimmte Gesellschafts- und Wirtschaftsformen begünstigt).
17) Wer also überhaupt irgendwie ‚Wahrheit erkennt‘ der weiß, dass er alleine nichts vermag. Entweder wir ALLE ZUSAMMEN arbeiten am Projekt der Wahrheit oder wir werden es als Menschen nicht erreichen. Der aktuelle Zustand der Welt ist vor diesem Hintergrund einerseits erfreulich, dass wir überhaupt Ansätze zu einer wahrheitsfreundlichen Welt vorfinden, aber die Bereiche des ‚Wahrheitsfeindlichen‘ (die nicht rein zufällig auch ‚menschenfeindlich‘ sind) erscheinen doch noch sehr groß, fast erdrückend.
18) Unsere einzige Hoffnung besteht darin, dass die umfassende Wahrheit VOR all unserem Denken und Handeln gegeben war, dass WIR Produkte dieser Wahrheit sind, und dass wir letztlich nur deshalb in der aktuellen biologischen Form existieren, weil wir uns schrittweise der Wahrheit angenähert haben, nicht (!) weil wir dies ‚wollten‘, sondern weil die Wahrheit in allen Strukturen ‚wirkt‘ und den Prozess durch ihre umfassende Vorgabe indirekt ’steuert‘. Darin liegt der einzige Kern von Hoffnung. Und hierzu gäbe es natürlich viel zu sagen (was z.T. schon in vorausgehenden Blogeinträgen geschehen ist).
19) Die innere ‚Logik‘ all dieser Prozesse enthüllt sich z.T. auch in der ‚Spiritualität‘, von der alle Religionen dieser Welt mehr oder weniger leben. Dies bedeutet aber nicht, dass die aktuellen institutionellen Formen dieser Religionen dem entsprechend bzw. es bedeutet nicht automatisch, dass die aktuellen institutionellen Formen der Religionen einen Zugang zu dieser tiefliegenden alles Leben betreffenden Spiritualität unterstützen. Ich bin so frei zu behaupten, dass keine der aktuellen institutionellen Formen der Religionen die Spiritualität unterstützt, die die innere Logik der allumfassenden Wahrheit bildet. Wir sitzen alle im gleichen Boot und die Wahrheit ist für uns alle die gleiche. Wahrheit ist ganz und gar nicht käuflich!!!

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

Über cagent

Bin Philosoph, Theologe, Kognitionswissenschaftler und hatte seit 2001 eine Vertretungsprofessur und ab 2005 eine volle Professur im Fachbereich Informatik & Ingenieurswissenschaften der Frankfurt University of Applied Sciences inne. Meine Schwerpunke ab 2005 waren 'Dynamisches Wissen (KI)', 'Mensch Maschine Interaktion (MMI)' sowie 'Simulation'. In dieser Zeit konnte ich auch an die hundert interdisziplinäre Projekte begleiten. Mich interessieren die Grundstrukturen des Lebens, die Logik der Evolution, die Entstehung von Wissen ('Geist'), die Möglichkeiten computerbasierter Intelligenz, die Wechselwirkungen zwischen Kultur und Technik, und der mögliche 'Sinn' von 'Leben' im 'Universum'. Ab 1.April 2017 bin ich emeritiert (= nicht mehr im aktiven Dienst). Neben ausgewählten Lehrveranstaltungen ('Citizen Science für Nachhaltige Entwicklung' (früher 'Kommunalplanung und Gamification. Labor für Bürgerbeteiligung')) arbeite ich zunehmend in einem integrierten Projekt mit Theorie, neuem Typ von Software und gesellschaftlicher Umsetzung (Initiative 'Bürger im Gespräch (BiG)). Die einschlägigen Blogs sind weiter cognitiveagent.org, uffmm.org sowie oksimo.org ... ja, ich war auch mal 'Mönch', 22 Jahre lang mit viel Mystik, Theologie und Philosophie; dabei u.a. einige Jahre Jugendsozialarbeiter.