K.G.DENBIGH: AN INVENTIVE UNIVERSE — Relektüre — Teil 1

K.G.Denbigh (1975), „An Inventive Universe“, London: Hutchinson & Co.

WARUM DIES BUCH?

1. In meiner Lektüre zum Thema Thermodynamik bin ich mehrfach über den Namen Denbigh gestolpert. Ich habe dann versucht, ein Buch von ihm zu bekommen und wurde angezogen von dem Titel ‚An Inventive Universe‘, veröffentlicht genau 40 Jahre vor heute. Schon das Lesen der ersten Seiten erzeugte Hochspannung und so versuche ich hier, die Ideen von ihm, und was sie in mir angesprochen und ausgelöst haben, wieder zu geben und zu diskutieren. Das Besondere an diesem Buch scheint mir darin zu liegen, dass es zwar eine große fachliche Tiefe im Bereich der Thermodynamik ausstrahlt, zugleich aber eine Form von methodischer Bewusstheit und wissenschaftsphilosophischer Reflexion erkennen lässt, die eher selten ist. Solch Bücher sind geradezu kostbar. Außerdem schreibt er in einem gut lesbaren Stil.

ZUR ERKENNTNISTHEORIE DER ZEIT

Implizite Voraussetzungen der Zeitwahrnehmung bei Denbigh - Kap.1
Implizite Voraussetzungen der Zeitwahrnehmung bei Denbigh – Kap.1

2. Das vorausgehende Schaubild versucht, die wichtigsten impliziten Voraussetzung der Zeitwahrnehmung und des darauf aufbauenden Redens über die Zeit sichtbar zu machen, wie sie Denbigh in seinem ersten Kapitel aufdeckt. Wichtig: dies ist meine Interpretation von Denbighs Text; andere mögen in diesem Text anderes Aussagen herauslesen.

DAS JETZT

3. Das Reden über die Zeit enthält in jeder Sprache eine sehr reiche Ausprägung an sprachlichen Mitteln. Hier sei nur die zentrale Klassifizierung in ‚Jetzt‘ (’now‘), ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘ aufgegriffen, die mit den Begriffen ‚Vergangenheit‘, ‚Gegenwart‘ und ‚Zukunft‘ korrelieren.

4. Von all diesen Aspekten kommt dem ‚Jetzt‘ eine besondere Rolle zu, da es den Ankerpunkt für alle anderen zeitlichen Einordnungen bildet. Ohne ein ‚Jetzt‘ gibt es kein ‚früher‘ und kein ’später‘.

5. Das ‚Jetzt‘, die ‚Gegenwart‘, ist Teil der subjektiven Wahrnehmung, die wiederum Teil des individuellen Bewusstseins ist. Im Schaubild sind die Anteile der bewussten Wahrnehmung dunkler dargestellt; alle andere ist im Prinzip empirisch beobachtbar (aber nicht vollständig, z.B. die auch nicht Gedächtnisinhalte).

6. Im ‚Jetzt‘ finden wir uns vor mit ‚Objekten‘, die ‚räumlich angeordnet‘ sind.

7. Wir wissen heute, dass unser Sinnesapparat die Repräsentation körperexterner Ereignisse in Zeitscheiben unterschiedlicher Länge zerlegt. Deren Inhalte können begrenzt weiter verarbeitet und ‚gespeichert‘ werden. Dies ist eine Form der Diskretisierung der Wirklichkeit, die es erlaubt, dass Zeitscheiben miteinander verglichen werden können.

8. Wir wissen ferner, dass die ‚Inhalte‘ der sensorischen Zeitscheiben im Rahmen ihrer möglichen neuronalen Verarbeitung letztlich unterschiedlich ‚abstrahiert‘ und miteinander ‚verrechnet‘ werden können. Grundsätzlich lassen sich verarbeitete Gedächtnisinhalte bezüglich ihres ‚Nacheinanders‘ in der Verarbeitung im begrenzten Umfang auch als ‚Vorher – Nachher‘ klassifizieren.

9. Aufgrund unserer Gedächtnisstruktur können wir individuell-subjektiv ‚Veränderungen‘ von einer Zeitscheibe zur nächsten in begrenztem Umfang feststellen. Subjektiv ist die aktuelle Wahrnehmung immer das Jetzt, wobei das Jetzt sich durch die Dynamik der Wahrnehmung kontinuierlich ‚verschiebt‘. Das, was ‚gerade jetzt‘ war ist im nächsten Moment ‚Vorher‘. Das ‚Jetzt‘ baut sich im Millisekundenbereich kontinuierlich immer wieder neu auf. So gesehen ist das Jetzt ein ‚dynamisches Jetzt‘, was kontinuierlich erzeugt wird (Bildhaft: wir haben eine Linie, auf der sich ein Punkt bewegt, und dieser Punkt ist unser Jetzt. Für und ist das Jetzt immer das ‚gleiche Jetzt‘, aber von außen betrachtet rennt das Jetzt durch einen Ereignisstrom, der als solcher veränderlich ist).

10. Durch den dynamischen Charakter des Jetzt wird alles, was ‚Gegenwart‘ war, in Millisekundengeschwindigkeit zur ‚Vergangenheit‘; schon Vergangenes wird ’noch mehr Vergangen‘; es ‚entfernt‘ sich vom Jetzt.

11. Während die gewöhnlichen ‚Objekte‘ im ‚Raum‘ uns unmittelbar gegeben scheinen, ist die ‚Veränderung‘ der Dinge etwas, was nicht direkt als Objekt, also nicht als ‚primäres Objekt‘, nicht als ‚körperexternes Objekt‘, vorkommt, sondern nur ‚indirekt‘, ‚abgeleitet‘ als Information, die aus dem Vorhandensein unterschiedlicher Zeitscheiben ‚herausgerechnet‘ wird. Das, was wir subjektiv als ‚Veränderung‘ phänomenal erleben, ist das Ergebnis neuronaler Aktivitäten ‚hinter dem Bewusstsein‘. Dieser Wahrnehmung von Veränderung ist konstitutiv für unsere bewusste Weltwahrnehmung der Welt (sie ist überlebensnotwendig, sie ist vorteilhaft), sie ist aber nicht direkt, explizit als primäres Objekt gegeben. Nur insoweit Menschen die gleiche Wahrnehmung von Veränderungen ‚in sich‘ ‚eingebaut‘ haben, können sie sich untereinander über Veränderungen in der Welt verständigen.

12. Wenn ein Mensch in einem bestimmten Augenblick auf einen Zettel schreibt: ‚Jetzt regnet es‘, und etwas ’später‘ hat es aufgehört, zu regnen, dann empfindet man den geschrieben Satz ‚Jetzt regnet es‘ als ‚falsch‘. Im aktuellen Jetzt regnet es nicht mehr (ein Beispiel aus Hegels Phänomenologie).

KÖRPEREXTERNE OBJEKTVE ZEIT

13. Will man solche Widersprüchlichkeiten verhindern, bräuchte man extern zur ’subjektiven Zeit‘ eine ‚körperexterne objektive Zeit‘, die es erlauben würde, Ereignisse ‚überindividuell‘ oder ‚invariant gegenüber dem individuellen Jetzt‘ markieren zu können. Um solche gemeinsame objektive individuell-invariante Zeitpunkte zur Verfügung zu haben, wurden schon sehr früh ‚periodische Prozesse‘ in der körperexternen Zwischenwelt identifiziert, die im Prinzip allen zugänglich sind, und die man daher für ‚Zeitangaben‘ nutzen konnte. Z.B. der Tag-Nacht-Rhythmus, die Jahreszeiten, der Mondzyklus, Ebbe und Flut, der Sonnenstand, usw. später entdeckte man mechanische Uhren oder chemische, physikalische Prozesse im Kleinen (atomare Prozesse, ‚Atomuhren‘), die man nutzen konnte. Körperexterne periodische Prozesse eignen sich somit als Produzenten periodischer Ereignisse, die man zählen kann, und mit denen man dann ‚Reihen von Zeitpunkten‘ repräsentieren kann, auf die sich jeder in gleicher Weise beziehen kann.

14. Solche Vorrichtungen zum Erzeugen und Zählen von periodischen Ereignissen nennt man eine ‚Uhr‘. Solange man ‚die gleiche Uhr‘ benutzt, benutzen alle die ‚gleichen Zeitangaben‘. Bei verschiedenen Uhren (heute auch bei verschiedenen Computern, die Informationen austauschen), muss man auf die angemessene Synchronisation achten. Dies kann zu einem erheblichen Problem werden, wenn die Signale, die man für die Synchronisierung benutzt, für ihre ‚Reise‘ selber ‚Zeit‘ brauchen. Dazu kommt die ‚Genauigkeit‘ einer Uhr: im Laufe der Zeit kann es Schwankungen geben in den Perioden, Abschwächungen; diese ‚verzerren‘ dann die Zeitangaben. Ferner wird es schwierig bei ‚großen Mengen‘ von ‚Zeitereignissen‘ (Wochen, Monate, Jahre, …). Wann fängt man an zu zählen? Wann ist das Jahr ‚0‘. Bevor es moderne Uhren gab, gab es schon zahlreiche unterschiedlich Kalender in unterschiedlichen Regionen dieser Welt. Diese wiederum wurde immer wieder durch ’neue Kalender‘ ersetzt. Jahresangaben sind daher immer relativ zum gültigen Kalender. Wie sich die Kalender untereinander verhalten, ist eine Wissenschaft für sich. Dazu kommt, dass große Perioden (Monate, Jahre) immer noch nach astronomischen Ereignissen gemessen werden. Diese astronomische Zeit muss mit der Zeit der technischen Uhren ‚abgeglichen‘ werden.

15. Wie man sieht, ist die Welt der ‚objektiven‘ Zeit ein komplexes Gebilde aus natürlichen und technischen periodischen Ereignissen mit unterschiedlichen Koordinierungen und Konventionen. Sofern es sie gibt, kann man sie dazu nutzen, die individuell-subjektive Zeit auf diese ‚objektive‘ Zeit abzubilden. Statt einfach zu schreiben ‚jetzt regnet es nicht‘ kann man dann schreiben ‚Am 24.September 2015 um 08:15h regnete es in Schöneck-Kilianstädten in der Strasse XYZ nicht‘ und wenige Minuten später könnte man schreiben ‚Am 24.September 2015 um 08:25h regnete es in Schöneck-Kilianstädten in der Strasse XYZ‘. Beide Sätze wären ‚wahr‘ mit Bezug auf den Ort und die Zeit und würden sich nicht widersprechen.

ZEIT UND GEDÄCHTNIS

16. Wie wir wissen, können wir (wenn unser Gedächtnis so funktioniert, ‚wie es üblich ist‘), vieles von dem, was wir aus einem individuell-subjektiven Jetzt in unser Gedächtnis ‚verschoben haben‘ (keine 1-zu-1 Abbildung!), wieder ‚erinnern‘. Wie zahlreiche psychologische Experimente zeigen, kann diese Erinnerung (sofern man sie mit unabhängigen historischen Zeugnissen vergleichen kann), von der ‚dokumentierten Realität‘ ziemlich weit abweichen (Die Bezugnahme auf sogenannte Zeitzeugen, speziell nach vielen Jahrzehnten vom tatsächlichen Ereignis entfernt, ist von daher ziemlich problematisch). Es ist daher sehr ratsam, dass alle diejenigen Ereignisse, die irgendwie für längere Zeit wichtig sind (Geburtsurkunden, rechtliche Vereinbarungen,…), ‚objektiv dokumentiert‘ werden, so dass man sie ’nachlesen‘ kann (jeder wird sicher schon die Erfahrung gemacht haben, das er/ sie, wenn man unverhofft auf alte Briefe, Fotos, Tagebuchaufzeichnungen oder dergleichen stößt, sich oft wundert, dass man dies geschrieben/ gedacht/ erlebt hat, etwas, das man eigentlich ‚vergessen‘ hatte und das einem im Nachhinein so ‚fremd‘ erscheint).

RELATIVITÄTSTHEORIE

17. In diesem Zusammenhang sei auch Einsteins Relativitätstheorie genannt (vgl. (Denbigh 1975:49)). Bezogen auf die Situation, dass ein Beobachter A von einem entfernten Ereignis X ‚informiert‘ werden möchte bzw. er dieses Ereignis beeinflussen will, gilt die – heute weitgehend akzeptierte – Annahme, dass alle Informationen nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit (299 792 458 m/s) ‚reisen
können. Abhängig vom Abstand D zwischen Beobachter A und Ereignis X benötigt die Information also einen bestimmte Zeit T(X,A)=txa. Hat der Beobachter eine endliche Lebenszeit von LT(A)=ta und ist ta < txa, dann wird der Beobachter niemals etwas von dem Ereignis X erfahren, da er nicht lange genug lebt. Andererseits, lebt der Beobachter A mit seiner kurzen Lebenszeit geraded dann, wenn die Informationen nach langer Reise bei ihm eintreffen, dann wird er ‚aktuell‘ über etwas informiert, was schon ’seit langer Zeit‘ nicht mehr existiert. Die aktuelle Wahrnehmung gaukelt also ein Ereignis X vor, das schon lange vergangen ist. Ferner, wenn wir einen Beobachter B haben, der viel näher am Ereignis X ist (Abstand D2, D2 < D1), dann hat dieser möglicherweise eine aktuelle Wahrnehmung von X, während A ’noch nichts von X weiß‘. Wenn B nun voller Begeisterung über seine Beobachtung von X eine Botschaft an A sendet, kann es sein, dass A , wenn die Information von B eintrifft, entweder noch gar nicht lebt oder schon gelebt hat. Falls B nah genug an A lebt, erreicht die Information A ‚zu Lebzeiten‘. Bei hinreichendem Abstand ist der ‚Ereignishorizont‘ von A und B jedenfalls verschieden. Das, was für B ‚aktuell‘ ist, existiert für A möglicherweise noch gar nicht oder nicht mehr, und umgekehrt. Sollten sich A oder B oder beide zusätzlich noch ‚im Raum bewegen‘, dazu mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, wird alles zwar etwas komplizierter, aber ändert nichts an den Grundtatsachen, dass Ereignisräume von Beobachtern an ihre relative Position, an ihre individuelle ‚Lebenszeit‘ sowie an die maximale Nachrichtengeschwindigkeit gekoppelt sind. Wenn ein Philosoph und Naturwissenschaftler wie Aristoteles irgendwann zwischen -384 und -322 etwas beobachtet, gedacht und aufgeschrieben hat, und jemand liest ca. 1500 Jahre nach ihm davon, dann ist dies auch eine Information, die zu einem Zeitpunkt ‚abgesandt‘ wurde, deren Ereignisse 1500 Jahre später ‚vergangen‘ sind; Gegenstände, Ortschaften, Menschen, Ereignisse seiner Beschreibung existieren nicht mehr; 2300 Jahre später erst recht nicht. Für uns sind die Texte von Aristoteles wie Nachrichten aus einer vergangenen, versunkenen Welt. Ohne die Texte wüssten wir nichts mehr von ihm und dem, was er beobachtet und gedacht hat.

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QUELLEN

1. Kenneth George Denbigh (1965 – 2004), Mitglied der Royal Society London seit 1965 (siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Fellows_of_the_Royal_Society_D,E,F). Er war Professor an verschiedenen Universitäten (Cambridge, Edinburgh, London); sein Hauptgebiet war die Thermodynamik. Neben vielen Fachartikeln u.a. Bücher mit den Themen ‚Principles of Chemical Equilibrium‘, ‚Thermodynamics of th Steady State‘ sowie ‚An Inventive Universe‘.

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Über cagent

Bin Philosoph, Theologe, Kognitionswissenschaftler und hatte seit 2001 eine Vertretungsprofessur und ab 2005 eine volle Professur im Fachbereich Informatik & Ingenieurswissenschaften der Frankfurt University of Applied Sciences inne. Meine Schwerpunke ab 2005 waren 'Dynamisches Wissen (KI)', 'Mensch Maschine Interaktion (MMI)' sowie 'Simulation'. In dieser Zeit konnte ich auch an die hundert interdisziplinäre Projekte begleiten. Mich interessieren die Grundstrukturen des Lebens, die Logik der Evolution, die Entstehung von Wissen ('Geist'), die Möglichkeiten computerbasierter Intelligenz, die Wechselwirkungen zwischen Kultur und Technik, und der mögliche 'Sinn' von 'Leben' im 'Universum'. Ab 1.April 2017 bin ich emeritiert (= nicht mehr im aktiven Dienst). Neben ausgewählten Lehrveranstaltungen ('Citizen Science für Nachhaltige Entwicklung' (früher 'Kommunalplanung und Gamification. Labor für Bürgerbeteiligung')) arbeite ich zunehmend in einem integrierten Projekt mit Theorie, neuem Typ von Software und gesellschaftlicher Umsetzung (Initiative 'Bürger im Gespräch (BiG)). Die einschlägigen Blogs sind weiter cognitiveagent.org, uffmm.org sowie oksimo.org ... ja, ich war auch mal 'Mönch', 22 Jahre lang mit viel Mystik, Theologie und Philosophie; dabei u.a. einige Jahre Jugendsozialarbeiter.