NOTIZEN ZU DEN GROSSEN MEILENSTEINEN DER LEBENSPHÄNOMENE

  1. Wenn man Bücher wie z.B. das von B.Kegel zu den Mikroben oder jenes von Storch, Welsch und Wink zur Evolutionsbiologie (hier abgekürzt: EB) liest, dann kann man sich an der ungeheuren Vielfalt der Phänomene berauschen. Doch diese Bücher bieten zugleich Ansatzpunkte zum Verstehen, dass sich diesen Phänomenen Strukturen zuordnen lassen, innerhalb deren sie auftreten; mehr noch; man erkennt ansatzweise auch Prozesse, die solche Strukturen hervorbringen und verändern.
  2. Viele sprechen in diesem Zusammenhang von Evolution, doch darf man fragen, ob das, was normalerweise als Evolution bezeichnet wird, schon jenen Prozesse beschreibt, der tatsächlich ablaufen. Die Antwort hängt davon ab, welchen Rahmen man voraussetzt. Wieviele und welche Phänomene nehme ich ernst, will ich erklären.
  3. In EB nennen die Autoren auf S.90 zehn Ereignisse, von denen Sie sagen, dass Sie im Kontext der bekannten Lebensphänomene etwas Besonderes darstellen:
    1. Beginn des Lebens (erste Zellen), ca. -4Mrd
    2. Auftreten eukaryontischer Zellen, ca. -2Mrd
    3. Vielzellige Verbände, ca. -1.85 Mrd
    4. Hartstrukturen, ca. -0.6Mrd
    5. Räuber, ca. -0.57 Mrd
    6. Riffe, ca. -0.525
    7. Besiedlung des Landes, ca. -0.42
    8. Bäume/ Wald, ca. -0.365
    9. Flug, ca. -0.310
    10. Menschliches Bewusstsein, ca. -0.05Mrd
  4. Diesen Phänomenen ist gemeinsam, dass sie alle auf der Funktionsweise und der Kooperation von Zellen (Archaeen, Bakterien, Eukaryoten) basieren.
  5. Andererseits wissen wir, dass sie sich nicht im luftleeren Raum abgespielt haben, sondern unter sehr konkret realen Bedingungen der Erde in ihrer jeweiligen Verfassung. Dies bedeutet, diese Phänomene repräsentieren nur eine Seite, eine Hälfte, des Phänomens. Die andere Seite, die andere Hälfte ist die jeweilige Umgebung. Letztlich ist es diese Umgebung, die diktiert, vorgibt, was überhaupt möglich ist.
  6. So ist die Transformation der Umgebung von einer Nicht-Sauerstoffwelt zu einer Sauerstoffwelt ein extremes Ereignis: die biologischen Strukturen haben einen Trigger gefunden, mit dem sie die Verhältnisse unter und über Wasser so radikal geändert haben, dass nicht nur eine neue, verbesserte Form der Energieausnutzung aller Zellen möglich wurde, sondern zusätzlich entstand eine Atmosphäre, die das Wasser der Ozeane daran gehindert hat, dieses Wasser durch die UV-Strahlung praktisch verdunsten zu lassen.
    1. Beginn des Lebens (erste Zellen), ca. -4Mrd
    2. Beginn der Sauerstoffproduktion (ca. -3.5 bis -2.5 Mrd) und deren Umwandlung der Atmosphäre (ca. ab -2.4/ -2.3 Mrd)
    3. Auftreten eukaryontischer Zellen, ca. -2Mrd
    4. Vielzellige Verbände, ca. -1.85 Mrd
    5. Hartstrukturen, ca. -0.6Mrd
    6. Räuber, ca. -0.57 Mrd
    7. Riffe, ca. -0.525
    8. Besiedlung des Landes, ca. -0.42
    9. Bäume/ Wald, ca. -0.365
    10. Flug, ca. -0.310
    11. Menschliches Bewusstsein, ca. -0.05Mrd
  7. Obwohl die Entstehung der Sauerstoffwelt kein biologisches Phänomen im engeren Sinne ist, ist es dennoch ohne die Aktivität biologischer Lebensformen nicht erklärbar. Anders gesagt, zunächst ist die Erde, wie sie ist, und die biologischen Strukturen müssen sich innerhalb dieser Gegebenheiten einen Weg suchen. Nach ca. 1.5 Mrd Jahren führt aber die Aktivität der biologischen Strukturen in Interaktion mit der vorhandenen Welt dazu, diese Welt real so zu verändern, dass sie für die biologischen Strukturen eine andere Welt geworden ist. Die biologische Strukturen im Mikrobereich des Lebens hatten und haben eine solche Kraft, dass sie einen ganzen Planeten samt seiner Atmosphäre nachhaltig verändern konnten. Ohne die so entstandene Sauerstoffwelt wäre alles Leben auf der Erdoberfläche, so, wie wir es heute kennen, unmöglich.
  8. Nachdem ein Bewusstsein in der Form des menschlichen Bewusstseins auftrat, entwickelten die Menschen auf der Basis dieses Bewusstseins in relativ kurzer Zeit und dann immer schneller, Verhaltensweisen und Lebensformen mit einer Unzahl von Spielarten, bei denen es nicht ganz leicht ist, zu sagen, ob sie bedeutsam waren/ sind oder nicht. Letztlich hängt es immer von der Betrachtungsweise ab, ob etwas in einem gewählten Kontext bedeutsam erscheint. Die folgende Liste ist daher nicht zu lesen als eine dogmatische Festsetzung als vielmehr nur eine lockere Auswahl einiger Phänomene von vielen, die möglicherweise eine wichtige Rolle spielen.
    1. Beginn des Lebens (erste Zellen), ca. -4Mrd
    2. Beginn der Sauerstoffproduktion (ca. -3.5 bis -2.5 Mrd) und deren Umwandlung der Atmosphäre (ca. ab -2.4/ -2.3 Mrd)
    3. Auftreten eukaryontischer Zellen, ca. -2Mrd
    4. Vielzellige Verbände, ca. -1.85 Mrd
    5. Hartstrukturen, ca. -0.6Mrd
    6. Räuber, ca. -0.57 Mrd
    7. Riffe, ca. -0.525
    8. Besiedlung des Landes, ca. -0.42
    9. Bäume/ Wald, ca. -0.365
    10. Flug, ca. -0.310
    11. Menschliches Bewusstsein, ca. -0.05Mrd
    12. Erste Städte, ca. -10.000
    13. Schriftsprachen, ca. -3.000
    14. Gesetze
    15. Bücher
    16. Elektrizität
    17. Energiegewinnung mit fossilen Brennstoffen, Atomenergie,Wasser, Wind, Sonne, Bioreaktoren…
    18. Mobiler Verkehr
    19. Industrielle Ernährungswirtschaft
    20. Megastädte (mehr als 10 Mio Einwohner)
    21. Computer
    22. Gentechnik
    23. Vernetzte Computer
  9. Wir können heute definitiv feststellen, dass die Aktivitäten alleine des homo sapiens, einer absoluten Minderheit im Kontext des Lebens, das Ökosystem der Erde wie auch die Erde selbst schon so nachhaltig verändert hat, dass die Ressourcen für Nahrung knapp werden, dass ein gewaltiges Artensterben eingesetzt hat, dass wichtige Biotope zerstört werden, und dass das Klima sich in einer Weise zu verändern begonnen hat, das zu sehr nachhaltigen Störungen führen kann, die dann die Lebensbedingungen allgemein erschweren werden. Das komplexeste (? wie zu messen?) Produkt, was der Lebensprozess bislang hervorgebracht hat, der homo sapiens, hat offensichtlich Probleme, mit der vorfindlichen Komplexität, zu der der Mensch selbst auch gehört, fertig zu werden. Deutet man dies als mangelnde Anpassungsfähigkeit, dann sagt die bisherige Geschichte voraus, dass eine größere Katastrophe eintreten wird, durch die alle Organismen mit einem schlecht angepassten Verhalten aussterben werden.
  10. Das Besondere der aktuellen Situation ist, dass der Mensch sein Verhalten tatsächlich weitgehend selbst bestimmen kann. Wenn die Menschheit besser wüsste, was am besten zu tun ist, dann könnte sie dies einfach tun. Im Alltagsleben menschlicher Gesellschaften gibt es aber so viele Prozesse, die viel kurzsichtigere, egoistischere, emotional verblendete Ziele verfolgen, die keinerlei Bezug zum großen Ganzen haben. In dem Masse, wie diese kurzsichtigen Perspektiven die Mehrheit bilden, den Ton angeben, in dem Masse wird das gesamtmenschliche Verhalten die Erde weiterhin in wichtigen Bereichen nachhaltig zerstören und damit eine Anpassungskatastrophe einleiten.
  11. Man könnte in dieser Situation den Schluss ziehen, dass die Menschen neue geistige Konzepte, neue Verhaltensmodelle, ein neues=besseres Menschenbild, neue Regeln, neue Ethiken benötigen, um sich den veränderten Verhältnissen angemessen zu nähern. Nimmt man die allgemeinen Medien als Gradmesser für das alltägliche Denken, dann findet man hier derart primitive und rückwärtsgewandte Konzepte, dass nicht zu sehen ist, wie von hier eine ‚Erneuerung‘ des Denkens für eine gemeinsame Zukunft stattfinden soll. Begleitet wird diese regressive Medienwelt von einer – dann nicht verwunderlichen – Radikalisierung, Vereinfachung, Nationalisierung, Gewaltverherrlichung, die sich in der Politik dahingehend niederschlägt, dass Abgrenzungen, Nationalisierungen, Radikalisierungen bevorzugt werden. genau das Gegenteil wäre notwendig. Wenn das die einzige Antwort ist, die die Menschheit auf die gewachsenen Komplexitäten und zunehmenden Umweltzerstörungen zu bieten hat, dann wird es für eine nachhaltige Zukunft nicht reichen.
  12. Nachbemerkung: die obige Liste an Ereignissen könnte (und müsste) man natürlich auch nach hinten verlängern. Bis hin zum sogenannten Big Bang. Über die Stufen
    1. Big Bang
    2. Subatomare Teilchen
    3. Atome
    4. Gaswolken
    5. Sterne
    6. Moleküle
    7. Galaxien
  13. wäre auch eine Menge zu sagen. Alle wichtige Fragen hat die Physik bislang nicht gelöst. Dass die Physik bislang fantastische Ergebnisse erzielt hat ist wunderbar und anzuerkennen. Es wäre aber ein fataler Fehler, jetzt zu glauben, wir wüssten damit schon viel und könnten uns jetzt ausruhen. Nein, wir wissen gerade mal so viel, dass wir abschätzen können, dass wir fast nichts wissen. Alles hängt ab von der jeweils jungen Generation an Ingenieuren, Wissenschaftlern und Forschern. Wer hilft Ihnen, die entsprechenden Ziele zu setzen und die notwendigen Wege zu gehen?

Über cagent

Bin Philosoph, Theologe, Kognitionswissenschaftler und hatte seit 2001 eine Vertretungsprofessur und ab 2005 eine volle Professur im Fachbereich Informatik & Ingenieurswissenschaften der Frankfurt University of Applied Sciences inne. Meine Schwerpunke ab 2005 waren 'Dynamisches Wissen (KI)', 'Mensch Maschine Interaktion (MMI)' sowie 'Simulation'. In dieser Zeit konnte ich auch an die hundert interdisziplinäre Projekte begleiten. Mich interessieren die Grundstrukturen des Lebens, die Logik der Evolution, die Entstehung von Wissen ('Geist'), die Möglichkeiten computerbasierter Intelligenz, die Wechselwirkungen zwischen Kultur und Technik, und der mögliche 'Sinn' von 'Leben' im 'Universum'. Ab 1.April 2017 bin ich emeritiert (= nicht mehr im aktiven Dienst). Neben ausgewählten Lehrveranstaltungen ('Citizen Science für Nachhaltige Entwicklung' (früher 'Kommunalplanung und Gamification. Labor für Bürgerbeteiligung')) arbeite ich zunehmend in einem integrierten Projekt mit Theorie, neuem Typ von Software und gesellschaftlicher Umsetzung (Initiative 'Bürger im Gespräch (BiG)). Die einschlägigen Blogs sind weiter cognitiveagent.org, uffmm.org sowie oksimo.org ... ja, ich war auch mal 'Mönch', 22 Jahre lang mit viel Mystik, Theologie und Philosophie; dabei u.a. einige Jahre Jugendsozialarbeiter.