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NACHBEMERKUNG ZUM BUCH VON H.RATH – Und Gott sprach: Wir müssen reden!

Hans Rath, „Und Gott sprach: Wir müssen reden!“, Reinbeck (DE): Rowohlt Verlag, 1. November 2013, ISBN-10: 3499259818, ISBN-13: 978-3499259814

1) Wenn mir meine Schwester MDK ein Buch schenkt mit den Worten ‚Das musst Du lesen‘ und mein Schwager in das gleiche Horn stößt, dann muss ich es natürlich trotzdem nicht lesen, aber in diesem Fall habe ich über die Weihnachtstage angefangen, darin zu lesen, und habe es praktisch in einem Rutsch gelesen.
2) Allein das lässt schon drauf schließen, dass das Buch irgendwie — zumindest für mich — ‚an-sprechend‘ gewesen sein muss. Ein Blick auf die Leserreaktionen zu diesem Buch bei Amazon zeigt, dass es aber offensichtlich vielen so gegangen ist, dass sie das Buch an-sprechend fanden.
3) Ich will jetzt hier nicht das Buch im Detail besprechen — habe seitdem schon wieder zu vieles andere gelesen –, aber ich hatte heute ein Gespräch mit meiner Frau über das Buch, das ein paar Gedanken beförderte, die vielleicht auch andere interessieren könnten.
4) Direkt nach der Lektüre zu diesem Buch hatte ich mich zu folgender spontanen Bemerkung hinreißen lassen: … „Als Philosoph und Theologe war ich überrascht, wie Rath schwergewichtige Themen zur Gottesfrage und Theodizee fantasievoll in Alltagsszenen zu verpacken versteht, die interessante Fragen anklingen lassen, ohne sie dogmatisch zu entscheiden. Während die offizielle Theologie in den meisten grundlegenden Fragen bis heute versteckt hinter komplizierten Sprachgebilden anscheinend orientierungslos herumirrt, scheut sich Rath nicht, den Leser mit manch tiefgründiger Frage zu konfrontieren. Allerdings undogmatisch, locker, fast beiläufig; man muss diese Fragen nicht ernst nehmen, man kann es einfach als Unterhaltung lesen; und doch, wer will, wer einen Rest von Sensibilität für den verborgenen Sinn im Alltag besitzt, der kann sich in dieser scheinbaren Leichtigkeit sehr wohl angesprochen fühlen, kann angeregt werden, darin mehr zu sehen, als man vordergründig sehen ‚muss’…. wer sich wirklich durch diese Sprachspiele mehr angesprochen fühlen sollte als nur im Modus der Unterhaltung, der wird nur durch diesen Text möglicherweise nicht sehr weit kommen. Es ist aber keine leichte Frage, welch alternativer Text denn wirklich weiter führt (mit der kleinen Randbedingung, dass er verstehbar sein sollte!). Ich habe einige hundert Bücher zum Thema gelesen. Vielleicht gibt es nicht ‚das‘ Buch, auch wenn wir es gerne so hätten…. “
5) Angesprochen auf die Frage, was ihr denn besonders aufgefallen sei bei der Lektüre des Buches, meinte meine Frau, dass das Buch für sie deutlich mache, dass eigentlich jedes Ereignis im Alltag bedeutsam sein kann, wenn man es entsprechend aufnimmt.
6) Auch hatte sie das Experiment beeindruckt, wie das Leben gelaufen wäre, wenn man selber nicht geboren worden wäre.
7) Letzteres ist natürlich schwer zu rekonstruieren, da es doch sehr viele Unwägbarkeiten umfasst. Doch bei jenen Entscheidungen im eigenen Leben, bei denen man beteiligt war, kann man zumindest auf ‚Tuchfühlung mit dem Schicksal‘ gehen: warum hat man in der Vergangenheit diese oder jene Veränderung vorgenommen? Wieso kam es zu einer bestimmten Entscheidung? Wenn sich Paare gefunden haben: was waren bei jedem einzelnen die Motive, Gefühle und Visionen?
8) Solche und ähnliche Überlegungen können sehr schnell hineinführen in die Welt des ‚Inneren‘ einer jeden Person. Zwar leben wir mit unserem Körper aktuell immer auch in einer Raum-Zeit-Welt mit realen Objekten, mit realen anderen Menschen, die auf uns auf vielfältige Weise einwirken können und wir auf diese, aber zugleich, in jedem Moment, sind wir eingebettet in eine ‚Wolke‘ von Bedürfnissen, Emotionen, Gefühlen, Stimmungen, interpretierenden Erfahrungen, die uns die Welt in einem bestimmten ‚Licht‘ erscheinen lassen. Jeder hat da seine ‚bevorzugte‘ Interpretation (oder lässt man sich unbestimmt treiben?), die darüber entscheidet, wie man die ‚Dinge bewertet‘: morgens, es wird hell; muss ich aufstehen wegen der Arbeit oder kann ich noch einen Moment liegen bleiben, da es Wochenende ist. Hat der Partner mir die Tasse Kaffee/ Tee einfach so gebracht, weil er/sie mich liebt oder musste ich sie mir selbst holen? …
9) Wenn man sein Leben geändert hat (neue Wohnung, neue Ausbildung, neue Firma, …) gingen diesen Änderungen meist auch ‚innere Prozesse‘ voraus: verschiedenst Gefühle/ Stimmungen ‚gegen‘ das ‚Alte‘ und solche ‚für‘ das ‚Neue‘. Sind diese ‚zufällig‘? Sind sie ‚vernünftig‘? Hat man ausschließlich auf die ‚Umgebung‘ reagiert?
10) Solange man kein klares Bild von seiner ‚inneren Welt‘ hat ist es schwer, zu sagen, ob der Klärungsprozess für eine bestimmte Entscheidung ‚rational‘ war, ‚vernünftig‘, bloß nach ‚Bauchgefühl‘, ‚angstgetrieben‘, ‚fehlgeleitet‘, eine ‚Kurzschlusshandlung‘, ’spirituell erleuchtet‘, oder was auch immer.
11) Die Frage nach einem möglichen Sinn entscheidet sich aber letztlich — wie sonst? — ausschließlich über eine Kette von solchen Entscheidungssituationen, bei denen ja oft (meistens?) auch noch andere Menschen mit deren Entscheidungen beteiligt waren. Wenn allen ihre eigenen Klärungsprozesse ‚unklar‘ sind, ist praktisch kein Sinn erkennbar. Wenn zumindest ein Beteiligter für sich einen ‚Sinn‘ in seinem Entscheiden und Verhalten erkennen kann, dann kann eine Erfahrung von Sinn und ein Reden über Sinn stattfinden. Natürlich ist dies nie ‚zwingend‘, da es letztlich eine ‚Interpretation‘ darstellt. Aber es gibt die Auffassung (sehr verbreitet in den Traditionen der Mystik (und bei Menschen mit viel Lebenserfahrung)), dass es im Bereich des ‚inneren Lebens‘ doch ‚Kriterien‘ gäbe, an denen man erkennen könnte, ob man auf ‚dem richtigen Weg‘ sei. Sollte dies zutreffen, dann wären hier möglicherweise die Ansatzpunkte für eine ‚Grammatik des Sinns‘ auf der Ebene des individuellen Lebens gegeben.
12) Über einen solchen ‚empirisch fundierten Sinn‘ gäbe es dann möglicherweise auch eine ‚Bindeglied‘ zu dem ansonsten schwer fassbaren Begriff ‚Gott‘. Was man sich unter ‚Gott‘ (jede Sprache hat ihre eigenen Bezeichnungen für das deutsche Wort ‚Gott‘: ‚deus‘, ‚elohim‘, ‚jhw‘, theos,…) vorstellen soll, ist nirgendwo definiert. Sofern es aber eine ‚Sinnerfahrung‘ auf der individuellen Ebene gibt, tangiert dieser Sinn irgendwie das Konzept Gott, da ‚Sinn‘ sich mit eben solch einer ‚wie auch immer gearteten Gott-Existenz‘ verknüpfen kann (nicht notwendigerweise muss).
13) Genauso, wie wir heute unser ‚Bewusstsein‘ besser verstehen können, weil wir das Gehirn besser verstehen, das diese Bewusstseinserfahrungen zumindest mit-verursacht, genauso kann man auch den individuellen Sinn besser verstehen, wenn man die umgebenden ‚Großprozesse‘ besser versteht, in denen wir als Lebewesen vorkommen. Die biologische Evolution hat sowohl unser Gehirn mit unserem Bewusstsein mit hervorgebracht genauso wie unsere gesamte Lebensform durch diesen Prozess entstanden ist. Wir sind keine isolierten verlorenen Punkte in der Raum-Zeit, sondern ‚Ergebnisse von komplexen Prozessen‘, Teile solcher Prozesse und zugleich ‚Hervorbringer‘ solcher Prozesse. Der individuelle Sinn lässt sich nicht von diesem Gesamtprozess ablösen. Genau sowenig wird man ‚Gott‘ (was immer damit ansonsten gemeint sein mag) verstehen können, wenn man diesen Prozess als solchen nicht versteht.
14) Dies alles vorausgesetzt entsteht ein gewisses ‚Paradox‘: einerseits ‚verschwindet‘ das Individuelle als Teil des Gesamtkontextes; andererseits realisiert sich der Gesamtprozess auch und wesentlich durch das ‚Innenleben‘ der beteiligten Akteure. Ein menschlicher Akteur kann sich im Grenzfall ‚verweigern‘ durch ‚Nichtstun‘, durch ‚Anderes Tun‘, durch ‚Freitod‘. Indem ein Mensch etwas ‚anderes‘ tut als von ihm ‚erwartet‘ wurde, kann er lokal den Prozess verändern. Beispiele dafür, dass dies zu nachhaltigen Veränderungen ganzer Gesellschaften geführt hat gibt es mehr, als man denkt. Nur einige wenige prominente Beispiele: Jesus von Nazareth, Mohammed, Galilei (und Co), Goedel und Turing, Gandhi, M.L. King, osteuropäische Revolutionen von 1989, Mandela, …. Weil diese Menschen in ihrem ‚Innenleben‘ Dinge gedacht und Gefühle zugelassen haben, die von dem allgemeinen Stil ‚abwichen‘ (= Kreativität! Politisch unkorrekt!…) , haben sie ihren Alltag verändert, und ihr Alltag hat wieder den Alltag anderer Menschen verändert, usw.
15) Wenn es einen ‚höheren/ größeren/ übergreifenden… Sinn‘ geben sollte, er kann sich nur über das Verhalten der Akteure realisieren, sofern sie ‚innere Freiheitsgrade‘ haben. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass alle Akteure aus ‚Materie‘ bestehen, die wiederum nur eine ‚Zustandsform von Energie‘ ist, und die Energie des Universums — soweit wir heute wissen — besitzt alle denkbaren Freiheitsgrade……ein konkretes Universum wie unseres stellt in diesem Kontext mindestens eine ‚Information‘ im Sinne der Shannonschen Informationstheorie dar (z.B. ‚hochunwahrscheinliche Kombination‘), möglicherweise aber auch eine ‚Bedeutung‘ im Sinne eines semiotischen Prozesses….
16) Zu welchen Gedanken die Lektüre eines Buches mit anschließendem Gespräch so führen kann …

Einen Überblick über all bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

NACHÜBERLEGUNGEN ZUM VORTRAG „NOTION OF GOD“ von GIUSEPPE TANZELLA-NITTI, Prof. für Dogmatische Theologie der Theologischen Fakultät der Päpstlichen Universität vom Heiligen Kreuz (Rom); Vortrag gehaltem am 17.Aug.2013 an der Universität UNICAMP (Campinas, Brasilien)

Letzte Änderung: Einfügung zweier Musikstücke am 24.August 2013

Als Begleitmusik (Variante 1)

PERSÖNLICHER NACHHALL

1) Die folgenden Überlegungen beabsichtigen nicht, den Vortrag als solchen wieder zu geben (als Hintergrundlektüre für den Vortrag war angegeben worden God, Notion of), sondern Gedanken, die sich für mich aus dem Vortrag ergeben haben, auch in Verbindung mit einem der anschließenden Gesprächskreise (der zum Glück auf Englisch war, da sich mein Portugiesisch bislang nur auf wenige Worte beschränkt).
2) Aufgrund meiner Biographie vermeide ich es eher, mich mit kirchlichen Themen zu beschäftigen, da das offiziell-kirchliche Denken — ich muss es so sagen — in meiner Erfahrung aufklärendes Denken eher verhindert als befördert. Aber da ich nun mal hier war und mein Freund den Vortrag besuchen wollte, bin ich mal mitgegangen.

EINSCHRÄNKUNG AUF GRENZEN DER WISSENSCHAFTEN

3) Eine kleine Überraschung war, dass der Vortrag selbst sich nur auf Aussagen der Wissenschaft beschränkte, und hier besonders auf die großen Diskussionen in der Physik bis ca. Ende des 20.Jahrhunderts. Alle anderen Wissenschaften wie die Geologie und Biologie mit dem evolutionären Veränderungsgeschehen auf der Erde, die Molekularbiologie und Neurowissenschaften mit den neuen Erkenntnissen zu den Grundlagen des Menschseins samt den Auswirkungen auf die moderne Philosophie, dies alles fehlte in dem Vortrag. Erst recht fehlte die Position der Kirche, die Theologie, wie diese sich zu dem Ganzen verhält (die in dem oben genannten Artikel ‚Notion of God‘ sehr wohl vorkommt).

GRENZEN UND IHRE ÜBERWINDUNG

4) Der Vortrag artikulierte im Munde des Vortragenden besonders drei Leitthemen: (i) Die Wissenschaft leistet aus Sicht der Kirche sehr wohl einen Beitrag zur Erkenntnis der Welt, wie sie ist; (ii) aufgrund der verwendeten empirischen Methoden in Kombination mit der Mathematik hat die Wissenschaft aber eingebaute Erkenntnisgrenzen, die verhindern, dass man das ‚große Ganze‘ sehen kann; (iii) die Lücken, die die Wissenschaft lässt, verlangen dennoch nach einer ‚Füllung‘, die mittels philosophischem und theologischen Denken geschlossen werden können.
5) Akzeptiert man die Annahmen, die der Vortragenden in seinem Vortrag stillschweigend macht (Anmerkung: Er hat nirgends seine eigenen Voraussetzungen offengelegt (und dies geschieht auch nicht in dem angegebenen Hintergrundartikel)), dann ist dies ein recht plausibler, schlüssiger Gedankengang.
6) Er brachte dann eine Fülle von Originalzitaten aus Briefen und Büchern berühmter Forscher, die alle mit je eigenen Worten ihre persönliche Position bezüglich der Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis zum Ausdruck brachten; diese mündeten in den einen Tenor, dass sie ‚hinter allem‘ letztlich eine alles übergreifende Ordnung vermuten oder gar direkt von ‚Gott‘ sprechen. Abgerundet wurde der Zitatenstrauss durch eine Episode während einer wissenschaftlichen Konferenz im Vatikan, bei der Stephen Hawking, bekennender Atheist und aus Sicht der Kirche illegal ein zweites Mal verheiratet eine Begegnung mit Papst Paul II. hatte und der Papst Hawking entgegen Hawkings Erwartungen nicht kritisierte (in der Vergangenheit hatte Hawking von einem Papst sogar eine hohe kirchliche Auszeichnung bekommen, die der Papst (Foto war da) ‚kniend‘ überreicht hatte).

EINE FALSCHE ‚HEILE WELT‘?

7) So nett dies alles klingt, es führt letztlich an der Sache vorbei und gaukelt eine ‚heile Welt‘ vor, die so nicht existiert.

KOMMENTAR: HISTORISCHE EINORDNUNG DER WISSENSCHAFT FRAGWÜRDIG

8) In meinem ersten Kommentar in der Vortragsrunde habe ich versucht deutlich zu machen, dass die Fokussierung auf die ‚Grenzen‘ wissenschaftlichen Erkennens — so lehrreich sie in gewissen Details sind — letztlich aber die Sicht auf den tatsächlichen Gang der historischen Entwicklung verstellt. Das, was aus einer vom Vortragenden bewusst gewählten Sicht als ‚Begrenzung‘ des Wissens durch die moderne Wissenschaften erscheint, erweist sich im realen historischen Kontext als gewaltige Befreiung! Vor dem systematischen Betrieb von empirischer Wissenschaft — wobei man Galileo Galilei (1564– 1642) als einen Bezugspunkt für den historischen Beginn setzen kann (natürlich gab es auch vor Galileo andere, die schon empirische Untersuchungen angestellt haben, die Mathematik zur Beschreibung benutzt haben, aber mit seiner Person, seinen Werken und seinem Schicksal verbindet sich die Geschichte der modernen Wissenschaften in besonderer Weise) — gab es ein Sammelsurium von Wissen, stark dominiert von einem philosophischen Denken, das trotz der Klarheit eines Aristoteles (384-322BC) stark in den Fallstricken der natürlichen Denkens verhaftet war und mittels einer sogenannten Meta-Physik alle die Fragen löste, die das übrige Wissen zu dieser Zeit noch nicht lösen konnte. Dies vermittelte zwar den Eindruck von ‚Klarheit‘ und ‚Sicherheit‘, da man ja alles meinte ‚erklären‘ zu können. Der große Nachteil dieses Wissens war, dass es nicht ‚falsch‘ werden konnte. Unter der Flagge der Meta-Physik konnten also auch größte Unsinnigkeit geäußert werden und man konnte sie nicht widerlegen. So schlimm dies in sich schon ist, so schlimm wird dies dann, wenn eine politische oder kirchliche Macht (oder beide zusammen, was geschehen ist), ihre eigenen Wahrheits- und Machtansprüche mit solch einer Denkform, die nicht falsch werden kann, verknüpft. Eine kirchliche Macht formal verknüpft mit einem ‚abgeleiteten‘ Aristoteles konnte jedes ’neue‘ und ‚andersartige‘ Denken im Ansatz unterbinden. Vor diesem Hintergrund war das Aufkommen der empirischen Wissenschaften eine wirkliche Befreiung, eine Revolution und das harte unerbittliche Vorgehen der Kirche gegen die ersten Wissenschaftler (bis hin zum Tod auf dem Scheiterhaufen) belegt, dass die Inhaber der Macht sehr wohl gespürt haben, dass ein empirisch wissenschaftliches Denken trotz seiner eingebauten Grenzen mächtig genug ist, die metaphysischen Kartengebäude der Vergangenheit zum Einsturz zu bringen. Und die weitere Entwicklung zeigt überdeutlich, dass es genau dieses empirische-wissenschaftliche Denken war, das im Laufe der letzten 400 Jahre schrittweise immer mehr unser gesamtes Denken über das Universum, die Erde, das Leben und den Menschen ‚umgegraben‘ hat; wir haben atemberaubende Einblicke erlangt in ein universelles Geschehen und in einen Mikrokosmos, der alles übersteigt, was frühere Zeiten nicht einmal ahnen konnten. Wenn ein Aristoteles heute leben könnte, er wäre sicher besinnungslos vor Glück angesichts all dieser aufregenden Erkenntnisse (und natürlich würde er seine Meta-Physik komplett neu schreiben; er würde es sicher tun, nicht so die vielen philologischen Philosophen, die immer nur neue Ausgaben editieren (so wertvoll dies für sich auch sein mag)).
9) Von all dem hat der Vortragende nichts gesagt! Er hat es tunlichst vermieden, hätte er doch unweigerlich die hochproblematische Rolle der realen Kirche in diesem historischen Prozess zur Sprache bringen müssen, noch mehr, er hätte sich unangenehmen Fragen danach stellen müssen, wie es denn die Kirche heute mit der wissenschaftlichen Erkenntnis hält. Dies war mein zweiter Punkt, den ich im Plenum angemerkt habe.

KOMMENTAR: AUSLASSUNG DER NEUEREN WISSENSCHAFTSENTWICKLUNG; SCHWEIGEN ÜBER WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE IN ANWENDUNG AUF DIE BIBEL

10) In dem zitierten Dokument God, Notion of) werden einige kirchliche Dokumente aufgelistet, die auf die eine oder andere Weise — zumindest in Worten — eine grundlegende Wertschätzung von allgemeinen wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnissen zum Ausdruck bringen. Allerdings, wie oben schon angemerkt, werden viele neue wissenschaftliche Disziplinen, speziell jene im Umfeld der chemisch-biologischen Evolution, Neurowissenschaften, künstliche Intelligenzforschung, ausgeklammert. Und — dies fällt vielen Nicht-Theologen vermutlich gar nicht auf — die Anwendung wissenschaftlicher Methoden auf die sogenannten ‚Offenbarungsschriften‘ des alten und Neuen Testaments (kurz ‚Bibel‘ von Griechisch ‚biblos‘ = Buch) und die theologische Lehre insgesamt wird nahezu vollständig ausgeblendet. In allen offiziellen kirchlichen Texten spielen die gut 100 Jahre andauernden wissenschaftlichen Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der biblischen Dokumente, ihre historischen Kontexte, ihre literarische Formen, ihre redaktionellen Be- und Überarbeitungen, ihre Übernahme vorgegebener Themen aus dem Umfeld, usw. keine ernsthafte Rolle (Anmerkung: Diese Feststellung bezieht sich wohlgemerkt auf die offiziellen kirchlichen Verlautbarungen. In den meisten theologischen Hochschulen — zumindest im deutschsprachigen Bereich –werden diese Methoden im Rahmen der Wissenschaften von der Bibel (Exegese) sehr wohl gelehrt und angewendet, allerdings, wie man sieht, im offiziell kirchlichen Denken ohne Konsequenzen). Das gleiche zieht sich fort in den theologischen Disziplinen, die zum dogmatischen Denken gehören. Hier wird Wissenschaft und moderne Philosophie — wenn überhaupt — nur sehr selektiv einbezogen. Diese gelebten Realitäten einer Kirche sprechen eine andere Sprache als die schönen Worte der offiziell kirchlichen Verlautbarungen. Würde man die hier in den letzten 100 Jahren gewonnenen Erkenntnisse ernst nehmen, dazu die übrigen neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, dann würde man viele gewohnte kirchliche Positionen ziemlich sicher korrigieren müssen. Während die einen dies als ‚Verlust‘ empfinden mögen, als ‚Bedrohung‘, werden andere daran einen möglichen Weg sehen, die ursprüngliche Sprengkraft eines christlichen Glaubens auch unter veränderten Erkenntnisbedingungen wieder besser denken und dann vielleicht auch besser leben zu können. Auf diesen ganzen Komplex von Wissenschaftsverachtung durch die reale Kirche heute ist der Vortragende mit keinem Wort eingegangen (in dem von ihm angegebenen Text lässt der abschließende Abschnitt über die Sicht der Theologie den Eindruck entstehen, als ob er selbst als Autor diese 100 Jahre umfangreichster wissenschaftlicher Arbeiten zur Bibel auch völlig ausklammert und stattdessen nur klassische metaphysische Muster wiederholt, deren Gültigkeit heute mehr als fragwürdig ist).

KOMMENTAR: SCHLIESSEN DER LÜCKEN MIT UNGEEIGNETEN MITTELN

11) Damit kommen wir zum dritten Themenkreis, dem Schließen der ‚Lücken‘, die das wissenschaftliche Denken angeblich lässt. Nu muss man an dieser Stelle selbstkritisch einräumen, dass die vielen empirisch-wissenschaftlichen Disziplinen bis heute keinen einheitlichen, überall anerkannten ‚meta-wissenchaftlichen‘ Überbau in Form einer allgemein verbreiteten ‚Wissenschaftstheorie‘ oder ‚Philosophy of Science‘ haben; sofern es solche Professuren gibt, sind diese oft vereinzelt, isoliert, eher der Philosophie zugeschlagen und abgetrennt von den Wissenschaften, die dieses Denken eigentlich brauchen. Die ohne Zweifel in jedes wissenschaftliche Erkennen einfließenden philosophischen Anteile sind oft wenig thematisiert oder gar nicht thematisiert. Andererseits ist es aber so, dass de reale Gang der empirischen Wissenschaften beständig begleitet war von allerlei methodologischen Diskussionen. Die große Mannigfaltigkeit der Disziplinen und der hohe Veränderungsgrad machen es allerdings schwierig, hier mit einer Reflexion Schritt zu halten (zumal diese von den Universitäten zum Leidwesen der Wissenschaften kaum honoriert oder unterstützt wird). Aus dieser, sich aus der Sache heraus ergebenden, Schwierigkeit dann abzuleiten, dass es so etwas wie eine Philosophie der realen Wissenschaften nicht geben kann und dass man stattdessen doch lieber Vorlieb nimmt mit den ‚Philosophen der Vergangenheit‘ (die können sich ja nicht mehr wehren), ist verständlich, wenngleich für den Wissenschaftsbetrieb unglücklich. Statt die Kluft zwischen ‚Denken in der Vergangenheit und Denken heute‘ zu schließen, wird diese Kluft dann eher zementiert. Aus dieser unbefriedigenden Situation heraus entstehen dann solche Lösungsvorschläge, die ‚Erkenntnislücken‘ der heutigen Wissenschaften mit den Konzepten der alten klassischen Metaphysik zu ‚überbrücken‘ (zu ‚transzendieren‘), da man ja letztlich (so die stillschweigende Annahme) aus dem vorausgesetzten allgemeinen ‚Logos‘ (ein Begriff aus der griechischen Philosophie, zusätzlich aufgeladen durch die biblischen Schriften, u.a. vom Johannesevangelium her, das im griechischen Text auch vom ‚logos‘ spricht) existentiell und logisch meint allgemeine Zusammenhänge herleiten zu können, um die Erkenntnislücken empirischer Wissenschaften zu schließen.
12) Wie gesagt, die empirischen Wissenschaften bieten leider kein ideales Bild, aber die Einbeziehung von klassischen philosophischen Positionen ohne weitere Begründung ist nicht sehr rational. Da werden mindestens 400 Jahre kritische methodische Reflexionen komplett unterschlagen. Hier nur ein paar Anmerkungen (eine korrekte Darstellung könnte ganze Bücher füllen):

EINWÄNDE GEGEN NAIVE INANSPRUCHNAHME VON ‚LOGOS‘ UND METAPHYSIK
– ERKENNTNISTHEORIE

13) (i) ein Einspruch kommt von der modernen Erkenntnistheorie (etwa ab Descartes, über Hume, Kant, Locke und vielen anderen bis hin zur evolutionären Erkenntnistheorie). Hier hat man erkannt, dass unsere subjektive Erlebnis- und Denkwelt ganz konkrete Voraussetzungen hat, die in der Struktur und der Funktion des Gehirns begründet sind, das wiederum zusammen mit dem umgebenden Körper eine Entwicklung von vielen Millionen Jahren hinter sich hat. Die Art und Weise unseres Denkens ist ein Produkt, und die heutigen Erlebnis- und Denkformen bilden keinen endgültigen Schlusspunkt, sondern repräsentieren eine Übergangsform, die in einigen Zehntausend Jahren (falls die Gentechnik nicht schon früher Änderungen hervorbringt) anders aussehen werden als heute. Beispielsweise sehen wir (durch die Kodierung des Gehirns) beständig ‚Objekte‘, aber in der physikalischen Welt gibt es keine Objekte, nur Eigenschaftsmengen, Energiefelder. Eine klassische Metaphysik konnte unter Voraussetzung des subjektiven Denkens mit Objekten in Form einer ‚Ontologie‘ operieren, eine moderne Philosophie muss erst einmal erklären, wie sie damit klar kommt, dass unser Gehirn subjektiv überall Objekte konstruiert, obwohl es physikalisch eigentlich keine Objekte gibt (und eine moderne Philosophie muss natürlich noch erheblich mehr erklären als dieses).

– SPRACHPHILOSOPHIE

14) (ii) Ein zweiter Einspruch kommt von der Sprachphilosophie. Der Vortragende erwähnte zwar auch den frühen Wittgenstein (1889-1951) als Kronzeugen für die Einsicht in die Grenzen dessen, was man mit Sprache sagen kann, um damit einmal mehr die Grenzen der empirisch-wissenschaftlichen Methode zu thematisieren, er versäumte es dann aber, auch den späten Wittgenstein zu erwähnen, der nachhaltig aufzeigen konnte, wie die Grenzen des Sagbaren alle Sprachspiele durchziehen, auch die Alltagssprache, auch — und nicht zuletzt! — die Sprache der Philosophen. Konnte man in früheren Zeiten als Philosoph einfach einen Satz hinschreiben mit der trügerischen Annahme, das könne wohl jeder verstehen, der verstehen will, kann nach Wittgenstein jeder, der es wissen will, wissen, dass dies eine wenig haltbare Position ist. Nicht nur jeder Satz, sondern sogar jedes einzelne Wort unterliegen dem Problem, dass ein Sprecher A das, was er mit bestimmten Lauten oder Zeichen verbunden wissen will (die Bedeutung), in keinem einzigen Fall als selbstverständlich gegeben bei einem anderen Sprecher B voraussetzen kann. Dies liegt daran, dass die Zuordnung von sprachlichem Ausdruck und das mit dem Ausdruck Gemeintem nicht zwangsweise mit dem Ausdruck selbst verknüpft ist, sondern in jedem einzelnen Fall mühsam gelernt werden muss (was jeder, der mühsam eine neue Sprache lernen will auf Schritt und Tritt erfährt). Mag dies bei Bezugnahme auf empirische Sachverhalte noch einigermaßen gehen, wird es bei nicht-empirischen Sachverhalten zu einem Rate- und Glücksspiel, das umso abenteuerlicher ist, je weniger Bezugspunkte zu etwas anderem, was schon bekannt ist, vorliegen. Wer schon einmal klassische philosophische Texte gelesen hat, der weiß, dass philosophische Texte in der Regel NICHT von empirischen Sachverhalten sprechen, sondern von Erlebnis- und Denkstrukturen, die als solche nicht wie Objekte aufzeigbar sind. Die Vielzahl unterschiedlicher Interpretationen ein und desselben klassischen philosophischen Textes ist von daher kein Zufall sondern resultiert aus dieser schwierigen Bedeutungslage. Klassische philosophische Texte sind ’schön‘, solange man sie nicht ernsthaft analysiert; tut man dies, verliert man sich unweigerlich in immer mehr Aporien.
15) [Anmerkung: Ich selbst war Teilnehmer des folgenden Experimentes an derjenigen deutschen Universität, die als einzige unter den ersten 50 Plätzen internationalen Universitätsrankings vorkommt. Teilnehmer waren zwei bekannte Philosophieprofessoren, zwei habilitierte Assistenten und mindestens drei Doktoranden der Philosophie. Es ging um die Frage, ob man die Einleitung in Kants Kritik der reinen Vernunft so interpretieren könne, dass alle ausnahmslos zustimmen müssten. Das Experiment lief zwei Semester lang. An Methoden war alles erlaubt, was bekannt war und dienlich erschien. Natürlich wurden u.a. auch alle bisher verfügbaren Kommentare berücksichtigt. Nach zwei Semestern gab es nicht einmal ansatzweise eine gemeinsame Sicht der Dinge. Beweisen tut dies im strengen Sinne nichts. Ich fand es damals sehr ernüchternd.]
16) Fasst man die Erkenntnisse der modernen Erkenntnistheorie und die der modernen Sprachphilosophie zusammen, dann erscheint es nicht nachvollziehbar und geradezu gewagt, anzunehmen, man könne die bislang erkannten Grenzen der modernen empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnis durch einen unreflektierten Rekurs auf einen alles übergreifenden ‚Logos‘ einfach so überbrücken. Diese Art von ’naiver‘ (sprich ‚unreflektierter‘) Meta-Physik (und Ontologie) ist vorbei.
17) Bedenkt man die Bedeutungs-Probleme, die die Alltagssprache besitzt, ist die Situation in den empirisch-wissenschaftlichen Disziplinen ja geradezu noch ‚idyllisch‘. Bis zu einem gewissen Grad gibt es hier noch aufzeigbare und kontrollierbare ‚Bedeutung‘, wenn auch nicht vollständig.

VERZICHT AUF ‚LOGOS‘ ODER METAPHYSIK BEDEUTET NICHT GOTTLOSIGKEIT

18) Akzeptiert man die kritischen Argumente, dann folgt daraus NICHT — wie der Vortragende zu unterstellen scheint –, dass sich damit die Frage nach einem letzten ‚Sinn‘ oder gar die Frage nach etwas, das wir ‚Gott‘ nennen, grundsätzlich erledigt hat. Was sich allerdings weitgehend erledigt hat, ist, dass man tiefgreifende Fragen, die sich durch das Fortschreiten der Wissenschaften dem Wahrheitssuchenden öffnen weder durch Rekurs auf eine vor-kritische naive Metaphysik ‚überspielen‘ kann, noch dass man theologische Positionen als Antworten benutzen kann, die sowohl die wissenschaftliche kritische Analyse der religiösen Überlieferungsgeschichte wie auch der sich aus den Wissenschaften ergebenden neuen Erkenntnisse zur Struktur des Menschen, seiner Erkenntnisfähigkeit, seinen Erlebnisstrukturen usw. unberücksichtigt lassen. Das, was der Vortragende in dem zitierten Artikel tut, ist aber genau dies: er benutzt die alte naive Metaphysik, als ob es die letzten 400 Jahre nicht gab, und er benutzt eine theologische Interpretation, die genau jene Wissenschaft, die zuvor als so wichtig gepriesen wird, vollständig ausklammert. Das ist in meinen Augen nicht seriös, das ist nicht rational, das ist unwissenschaftlich, das hilft all den Menschen nicht, die ernsthaft nach Wahrheit suchen und nicht nur eine ‚psychologische Beruhigung‘ mit ‚einlullenden Bildern‘ (obwohl das Erzählen von Märchen sehr wohl der Wahrheitsfindung dienen kann; man muss sie nur richtig erzählen. Viele der Gleichnisse (einfache Form von Märchen?), die der Gestalt Jesus von Nazareth zugeschrieben werden, sind z.B. von dieser Natur: sie machen Punkte im Verhalten von Menschen deutlich, denen man eine gewisse Lebensweisheit nicht absprechen kann (eine Weisheit, die nicht jeder mögen muss)).

DIE GRENZEN DER SPRACHE IMPLIZIEREN NICHT EINE BEGRENZTHEIT DER WELT

19) Der Gesprächskreis im Anschluss an den Vortrag war sehr heterogen. Ich selbst habe aus den vielen Aussagen folgenden Gedanken mitgenommen: Die Grenzen der Sprache (Für die Mathematik aufgezeigt durch Gödel (und auch Turing)), für die allgemeine Sprache durch Wittgenstein) bedeuten nicht das Ende der Erkenntnis, sie machen uns nur deutlich, dass die grundsätzlichen Möglichkeiten des Erkennens für uns Menschen (bisher, unter Voraussetzung des aktuellen Erkenntnisapparates) nicht beliebig sind und dass wir, wenn wir ‚wahre‘ Erkenntnis wollen, jene, die uns aus den Wirrungen des alltäglichen naiven Weltbildes tatsächlich herausführen kann, dass wir dann diese Grenzen beherzigen und berücksichtigen sollten. Dass die scheinbare Begrenzung des wahren Erkennens auf die empirisch-wissenschaftliche Vorgehensweise uns gegenüber dem Vorgehen mit der nur scheinbar alles umfassenden naiven metaphysischen Denkweise in geradezu explosionsartiger Weise in Denkräume hinein katapultiert hat, von denen keiner der alten Philosophen auch nur träumen konnte, dies sollte uns Ermutigung und Anstoß sein, diesen Weg beherzt weiter zu gehen. Darüber hinaus zeigt sich aber ein fundamentaler Tatbestand: explizites, sprachlich vermitteltes Denken kann letztlich nur jener Wirklichkeit folgen, in der wir uns vorfinden und die allem Denken voraus ist. Was wir nicht aufzeigen können, ist letztlich nicht greifbar. Mehr noch, nur im Erfahren des ‚wirklich Anderen‘ — dem Empirisch-widerständigen — erfahren wir uns selbst als das ‚Andere zum anderen‘, als ‚Selbst‘ und das, ‚was‘ wir sind bzw. sein können, wissen wir erst dann, wenn wir selbst in unserem konkreten Dasein uns selbst sichtbar werden. Dies aber bedeutet, nur wenn wir ‚aus uns heraus‘ gehen, nur wenn wir ‚uns aufs Spiel setzen‘, nur wenn wir etwas ‚Probieren‘, nur dann kann sichtbar werden, ‚was‘ bzw. ‚wer‘ wir ‚tatsächlich sind‘. Nur weil das ‚biologische Leben‘ beständig weiter ‚aus sich heraus‘ gewachsen ist, immer mehr ‚Varianten probiert‘ und ‚Komplexitäten geschaffen‘ hat sind Formen des Lebens entstanden, von denen wir ein kleiner Teil sind. Dass das DNA-Molekül und der zugehörige Übersetzungsmechanismus ‚begrenzt‘ ist (verglichen mit den klassischen metaphysischen Konzepten geradezu lächerlich primitiv) war — und ist — kein Hindernis dafür, dass immer komplexere Lebensformen entstanden sind, so komplex, dass unser heutiges Denkvermögen sie nicht vollständig beschreiben kann. Die Grenzen der Sprache sind NICHT die Grenzen des Lebens und der Wahrheit. Die Wahrheit geht jeder Sprache — und erst recht jeder Metaphysik — um Lichtjahre voraus.

JEDER KANN SEIN ‚GOTTESEXPERIMENT‘ MACHEN

20) Sollte es so etwas wie einen ‚Gott‘ geben, so brauchen wir uns mit Sicherheit keine Sorgen darum machen, ob er ‚ist‘, was er ‚tut‘ oder ob wir ihn ‚richtig erkennen‘. Wenn es einen ‚Gott‘ als das letztlich Unbegreiflich alles Umfassende geben sollte, dann kann man davon ausgehen, dass er schon immer handelt (auch ohne uns zu fragen), er ist schon immer bei und in uns, ohne dass wir darum bitten müssen, und er lässt die ‚Wahrheit‘ auch in Lebensformen aufscheinen und sich entwickeln, die wir uns nicht ausgedacht haben und über die wir keine Verfügungsgewalt haben. Mit Sicherheit ist dieser Gott nicht an eine spezielle ethnische Gruppe gebunden, mit Sicherheit interessiert diesen Gott nicht, was wir essen und trinken, mit Sicherheit spielt Jungfrauengeburt und ähnliche Folklore keine Rolle. Für diesen Gott, so es ihn gibt, geht es um wirklich Grundlegendes. Aus meiner beschränkten Wahrnehmung sehe ich nicht, dass irgendeiner der heute lebenden Religionen (Judentum, Christentum, Islam…) wirklich ernsthaft an Gott interessiert ist. Dazu ist viel zu viel Hass unterwegs, zu viel Menschenverachtung, zu viele gruppenspezifische Egoismen, zu viele Herrschaftsstrukturen, die nur denen dienen, die herrschen, zu viel Folklore, zu viel Geldmacherei, zu wenig echtes Wissen.
21) Alles in allem — das habe ich in einem andren Blogeintrag auch schon mal ausgeführt — kann man den Eindruck gewinnen, dass es heute weniger die alten Religionen sind, die uns etwas Interessantes über den Sinn dieser Welt und über Gott zu sagen haben, als vielmehr die modernen Wissenschaften, die trotz ihrer Unvollkommenheiten ein Fenster der Erkenntnis aufgestoßen haben, dass alle Räume sehr weit aufmacht, so weit, dass wir noch gar nicht alles fassen können, was wir da sehen, zugleich werden die Grundrisse einer neuen Spiritualität sichtbar, die zu erkunden und auszuprobieren noch viel zu tun bleibt.
22) Das wäre mein letzter Punkt (zu dem es auch schon frühere Blogeinträge gibt). Wenn das alles stimmt, was uns die empirischen Wissenschaften sagen, dann ist die Annahme einer direkten Kommunikation ‚Gottes‘ — was immer man alles über ihn im Detail noch sagen kann — mit jedem Punkt des Universums — und damit natürlich auch mit jedem Lebewesen, auch mit uns Menschen — grundsätzlich möglich, und zwar jederzeit und überall. Niemand braucht eine vermittelnde Instanz dazu, da wir durch unsere Körper (die ja alle aus Zellen bestehen, diese aus Molekülen, diese aus Atomen, diese aus subatomaren Teilchen) jederzeit mit jedem Punkt im Universum kommunizieren können. Die grundlegenden Regeln der — zumindest christlichen — Mystik sind mit diesem empirischen Befund deckungsgleich. Es macht ja auch keinen Sinn, ‚Gott‘ als alles umfassenden und ermöglichenden Grund allen Seins zu postulieren und ihm dann zu verbieten, sich mit jedem Punkt des Universums verbinden zu können. Von der Quantenphysik her gibt es jedenfalls keine grundlegenden Einwände (was nicht bedeutet, dass wir in der Quantenphysik soweit wären, eine solche Kommunikation vollständig beschreiben zu können). Das gute daran ist, man muss dies nicht ‚glauben‘, sondern man kann es ‚tun‘, d.h. jeder kann sein privates ‚Gottesexperiment‘ machen und mit Gott in Kontakt treten. Man muss dafür kein Geld bezahlen, man braucht dazu keine ‚Genehmigung‘, man muss dazu keinen Universitätsabschluss gemacht haben, man muss dazu keiner bestimmten politischen Partei angehören, man muss dazu kein Millionär sein; das ‚einfache Menschsein‘ genügt. Die einzige Bedingung, man muss es einfach ‚tun‘, womit wir wieder bei dem zentralen Sachverhalt sind: Leben gibt es nur dort, wo es sich ‚ereignet‘, indem man seine Möglichkeiten ausübt…

Eine Übersicht über alle bishergen Blogeinträge nach Titeln gibt es HIER

Variante Nr.2

LVE-AUFTRITT BEI node & code in der GALLERIE DAM FRANKFURT Di 30.Juli 2013 19:00

Der Vollständigkeit halber hier der Hinweis, dass ich heute Abend einen ‚Live-Auftritt‘ habe im Rahmen der Veranstaltung ’node & code‘ in der Gallerie DAM in Frankfurt, ab 19:00h.

Ich werde das ‚Emerging Mind Projekt‘ des Instituts für Neue Medien (INM, Frankfurt) vorstellen und für die Gründung einer neuen ‚hybriden‘ Künstlergruppe bestehend aus ‚biologisch‘ basiertem Geist (Menschen, Tiere) und ‚künstlichem‘ Geist (‚Maschinen‘ als Ausformungen der Evolution, die zum ‚Emerging Mind‘ gehören) werben.

Wenn wir wissen wollen, wer ‚wir‘ (Exemplare der Gattung homo sapeins sapiens) ‚wirklich‘ sind, dann müssen wir das, was uns ‚auszeichnet‘, ’sichtbar‘ machen, indem wir es experimentell ‚erhöhen‘. Eine ‚Seele‘ ist kein Stein, der da liegt, auf den man zeigen und den man aufheben kann. Eine ‚Seele‘ verlangt zur ‚Erkenntnis‘ mindestens genau so viel ‚Seele‘ wie die ‚Seele‘, die man erkennen möchte.

Wer ‚Gott‘ erkennen will, der muss zulassen, dass ‚das‘ passiert, ‚was wichtig ist’….

Leben kann man nicht vollständig begreifen, es kann sich nur ‚ereignen’… und da es zwangsläufig mehr ist als nur ein einzelner, wird man es nicht beim ‚Starren auf sich selbst‘ finden…

Manchmal werde ich poetisch…

Ein kurzes Feedback zu dieser Veranstaltung bezogen auf das ‚motion bank Projekt‘ findet sich HIER

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

PHILOSOPHIE TRIFFT DAS SNOWDON SYNDROM – Erste Notizen


(Unter twitter bei ‚cagentartist‘))

Letzte Änderung: 29.Juli 2013, 00:14h

THEMATISCHER RAHMEN BISHER

1) Dieser Blog widmet sich primär der Frage nach dem neuen Weltbild: wie können, bzw. dann auch, wie sollten wir unsere Welt und das Leben in ihr ‚deuten‘, wenn wir alles Wissen zusammen nehmen, was wir uns bislang erarbeitet haben. Es ist eine grundlegend philosophische Frage insofern im Blog die Philosophie als die allgemeinste und umfassendste Reflexionseinstellung identifiziert wurde, der man sämtliche andere Disziplinen zuordnen auch. Die ‚Kunst‘ gehört zur ‚Art und Weise‘, wie man philosophieren kann. Die ‚Theologie‘ ist eine spezialisierte Fragestellung innerhalb der Philosophie, und sie ist als ‚theologia naturalis‘ nicht beliebig sondern ‚unausweichlich‘ (was nicht impliziert, dass es so etwas wie einen ‚Schöpfergott‘ geben muss).
2) Im Laufe der vielen Einzelreflexionen hat sich bislang ein Bild vom Universum und der Welt herausgeschält, in dem der klassische Begriff von ‚Geist‘ und der von ‚Materie‘ immer mehr dahingehend aufgelöst wurden , dass man sie nicht mehr trennen kann. Zwar sind die Alltagsphänomene, die wir mit ‚Geist‘ verknüpfen, grundsätzlich verschieden von den Alltagsphänomenen, die wir mit ‚Materie‘ verknüpfen, aber die wissenschaftlichen Forschungen haben uns geholfen, die Makrophänomene des Alltags mehr und mehr von ihren Grundlagen her zu verstehen und sie in den Zusammenhang einer dynamischen Entwicklung zu setzen. In dieser Perspektive verschwimmen die Abgrenzungen und es wird deutlich, dass das im Alltag über Jahrtausende Getrennte einen inneren Zusammenhang aufweist, und letztlich sich in dem, was wir alltäglich ‚geistig‘ nennen, genau jene Eigenschaften zeigen, die die sogenannte ‚Materie‘ ausmachen. Mehr noch, wir konnten lernen, das Materie und ‚Energie‘ nur zwei verschiedene Zustandsformen ein und derselben Sache sind. Während man also – Einstein vereinfachend – sagen kann Energie ist gleich Materie, müsste man im Fall des Geistes sagen, das uns vom Geist Bekannte zeigt die ‚inneren‘ Eigenschaften der Energie-Materie an, was natürlich die Frage aufwirft, was man sich unter dem ‚Inneren‘ von Materie bzw. Energie vorzustellen hat. Aus der Mathematik – und dann aus der Physik, die die Mathematik als Sprache benutzt – kennen wir den Begriff der ‚Funktion‘ (andere Worte für das Gleiche: ‚Abbildung‘, ‚Operation‘, ‚Prozedur‘, ‚Programm‘, ‚Algorithmus‘,…).

BEGRIFF DER FUNKTION

3) Funktionen definiert man als spezielle Beziehungen zwischen ‚Mengen‘. Während Mengen für irgendwelche ‚Elemente‘ stehen, die man im empirischen Bereich mit irgendetwas Messbarem verknüpfen können muss, sind die Abbildungsbeziehungen, die durch eine Funktion beschrieben werden sollen, selbst keine Objekte, nicht direkt messbar! Eine Funktion ‚zeigt sich‘ nur indirekt ‚anhand ihrer Wirkungen‘. Wenn der berühmte Apfel Newtons zu Boden fällt, kann man ein Objekt beobachten, das seine Position im Raum relativ zum Beobachter verändert. Man bekommt sozusagen eine Folge (Serie, Sequenz, …) von Einzelbeobachtungen. In der Alltagssprache hat man diese Menge von Positionsveränderungen in der Richtung ‚von oben‘ (Sicht des Beobachters) nach ‚Unten‘ mit dem Verb ‚fallen‘ zusammengefasst. Der Apfel selbst mit seiner aktuellen Position fällt nicht, aber relativ zu einem Beobachter mit Gedächtnis, gibt es eine Folge von vielen Einzelpositionen, die es ermöglichen, den Begriff der ‚Veränderung‘ mit einer ‚Richtung‘ zu ‚konstruieren‘ und in diesem nur im Beobachter existierenden ‚Wissen‘ dann das Konzept des ‚Fallens‘ zu bilden und auf die Objekte der Alltagswelt anzuwenden. Ein Beobachter, der den Begriff ‚Fallen‘ gebildet hat, ’sieht‘ ab sofort ‚fallende Objekte‘ – obwohl natürlich kein einziges Objekt tatsächlich ‚fällt‘. Das Fallen ist eine Konstruktion und dann ‚Projektion‘ unserer geistigen Struktur im Umgang mit der Alltagswelt.
4) [Anmerkung: Möglicherweise werden an dieser Stelle viele sagen, dass dies doch ‚Unsinn‘ sei, da wir doch die Veränderung ’sehen‘. Und in der Tat ist es sehr schwer bis unmöglich, diese Analyse zu vollziehen, wenn man den Vorgang nicht rekonstruiert. Eine ideale Möglichkeit, solch eine ‚Analyse durch Synthese‘ vorzunehmen ist heute gegeben durch die Computersimulation von kognitiven Prozessen, allerdings nicht automatisch; man braucht natürlich schon eine passende Theorie. Bei dem Versuch, solche Prozesse nachzubauen sieht man sehr schnell, dass noch so viele Einzelbeobachtungen keinen komplexen Begriff ergeben; würde unser Gehirn die verschiedenen Positionen des Apfels nicht ’speichern‘ und zugleich wieder auch ‚erinnern‘ können, und diese einzelnen Erinnerungen zu einem komplexeren Konzept ‚zusammenbauen‘, und zwar so, dass aktuelle Beobachtungen als ‚zugehörig‘ zu dem neuen komplexen Begriff ‚entschieden werden können‘, wir könnten keine ‚Fallbewegung‘ erkennen. Wir würden immer nur einen Apfel sehen, der eben ‚da‘ ist. Die ‚Aufschlüsselung des ‚Daseins‘ in eine komplexe ‚Bewegung‘ setzt einen komplexen Erkenntnisapparat voraus, der dies ’sichtbar‘ macht. ]

WIRKLICHKEITSSTATUS EINER FUNKTION

5) Welchen Wirklichkeitsstatus sollen wir jetzt der Eigenschaft des Fallens zusprechen? Ist es eine reine ‚Einbildung‘, eine bloße ‚gedankliche Konstruktion des Gehirns‘, zwar gültig ‚im‘ Gehirn aber nicht ‚außerhalb‘ des Gehirns, also ‚gedacht = virtuell‘ und nicht ‚real‘ existierend (allerdings auch als Gedachtes ist es etwas real Existierendes, dessen ‚Begleitwirkungen‘ man als physikalische Prozesse im Gehirn partiell messen kann)? Allerdings, wenn sich im ‚Verhalten‘ eines Objektes der Außenwelt etwas – wenngleich durch durch ‚Zwischenschaltung eines Erkenntnisprozesses‘ – zeigt, so gilt, dass es sich nicht zeigen muss. Das, was wir ‚Empirisch‘ nennen, hat die Eigenschaft, dass es sich zeigen kann, auch wenn wir nicht wollen, und sich nicht zeigen kann, obwohl wir wollen. Das – für uns als Beobachter – Empirische ist das uns gegenüber ‚Widerständige‘, das sich unserer subjektiven Kontrolle entzieht. Die Zwischenschaltung von ‚Messprozessen‘ bzw. ‚Erkenntnisprozessen‘, die in sich ‚unveränderlich‘ sind, d.h. als eine Konstante in den verschiedenen Ereignissen betrachtet werden können, erlaubt damit das Wahrnehmen von ‚Empirischem‘, und dieses Empirische zeigt sich dann auch in ‚Veränderungsprozessen‘, die zwar nur ’sichtbar‘ werden durch komplexe Operationen, die aber unter Beibehaltung der ‚konstanten‘ Erkenntnisprozesse reproduzierbar sind und damit offensichtlich etwas vom ‚Anderen‘ enthüllen, eine implizite Eigenschaft, eine ‚emergente‘ Eigenschaft, die über das Einzelereignis hinausgeht.
6) Bekommt man auf diese Weise eine erste Ahnung davon, was eine ‚Funktion‘ ist und weiß man, dass nahezu alle wichtigen Eigenschaften der Natur mittels Funktionen beschrieben werden (in der Alltagssprache die ‚Verben‘, ‚Tätigkeitswörter‘), dann kann man vielleicht ahnen, was es heißt, dass das, was wir traditionellerweise ‚Geist‘ genannt haben, ausschließlich auf solche Eigenschaften zurückgeht, die wir mittels Funktionen beschreiben: Veränderungen, die stattfinden, die keinen ‚äußeren‘ Grund erkennen lassen, sondern eher den Eindruck erwecken, dass es ‚Faktoren/ Eigenschaften‘ im ‚Innern‘ der beteiligten Elemente gibt, die wir ‚postulieren‘, um zu ‚erklären‘, was wir sehen. Aristoteles nannte solch ein Denken ‚meta-physisch‘; die moderne Physik tut nichts anderes, nur sind ihre Bordmittel ein wenig ausgeweitet worden….

STRUKTURELLE KOMPLEXITÄT WÄCHST EXPONENTIELL

7) Zwar wissen wir mit all diesen Überlegungen immer noch nicht so richtig, was ‚Geist‘ denn nun ‚eigentlich‘ ist, aber wir konnten auch sehen, dass seit dem sogenannten ‚Big Bang‘ vor ca. 13.8 Milliarden Jahren die ’strukturelle Komplexität‘ (siehe die genauere Beschreibung in den vorausgehenden Blogeinträgen) des beobachtbaren Universums – entgegen allen bekannten physikalischen Gesetzen, insbesondere gegen die Thermodynamik – exponentiell zunimmt. Wir leben heute in einer Phase, wo die Beschleunigung der Komplexitätsbildung gegenüber den Zeiten vor uns ein Maximum erreicht hat (was nicht heißt, dass es nicht ’noch schneller‘ gehen könnte). Von den vielen Merkmalen der strukturellen Komplexitätsbildung hatte ich nur einige wenige herausgegriffen. Während der homo sapiens sapiens als solcher einen gewaltigen Sprung markiert, so ist es neben vielen seiner kognitiven Fähigkeiten insbesondere seine Fähigkeit zur Koordination mit den anderen Gehirnen, seine Fähigkeit zum Sprechen, zum Erstellen komplexer Werkzeuge, die Fähigkeit komplexe soziale Rollen und Strukturen einzurichten und zu befolgen, die überindividuelle Wissensspeicherung und der Wissensaustausch, die Erfindung des Computers und der Computernetzwerke, die das lokal-individuelle Denken ins scheinbar Unendliche ausgedehnt und beschleunigt haben.

ENDE DER NATIONALSTAATEN?

8) Fasst man alle diese Veränderungsphänomene zusammen, dann entsteht der Eindruck, als ob die Entwicklung des Lebens in Gestalt des homo sapiens sapiens auf einen neuen Entwicklungssprung hinausläuft, der sowohl eine massive Veränderung seines Körpers (durch Veränderung des Genoms) mit einschließt wie auch eine massive Veränderung in der Art des konkreten Lebens: so wie es ca. 2 Milliarden Jahre gedauert hat, bis aus den einzelnen Zellen organisierte Zellverbände gebildet haben, die hochdifferenzierte ‚Körper‘ als ‚Funktionseinheit‘ ausgebildet haben, so kann man den Eindruck gewinnen, dass wir uns in solch einer Übergangsphase von einzelnen Personen, kleinen Kommunen, Städten zu einem ‚globalen Organismus‘ befinden, in dem zwar jeder einzelne als einzelner noch vorkommt, wo aber die ‚Gesamtfunktion‘ immer größere Teile der Erdpopulation umfassen wird. Die Zeit der ‚Nationalstaaten‘ neigt sich dem Ende entgegen (ein paar tausend Jahre Übergangszeit wären in der Evolution weniger wie eine Sekunde; es spricht aber alles dafür, dass es erheblich schneller gehen wird)) .

FRAGEN DURCH DAS AKTUELL NEUE

9) Dies alles wirft ungeheuer viele Fragen auf, auf die wir bislang wohl kaum die passenden Antworten haben, woher auch. Antworten ergeben sich ja immer nur aus Fragen, und Fragen ergeben sich aus Begegnung mit etwas Neuem. Das neue geschieht ja erst gerade, jetzt.

KONTROLLE ODER KREATIVITÄT?

10) Wie schon in vorausgehenden Blogeinträgen angemerkt, gibt es unterschiedliche Stile, wie einzelne, Firmen und ganze Gesellschaften mit neuen Herausforderungen umgehen. Eine beliebte Form ist die ‚Kontrolle‘ anhand ‚bekannter‘ Parameter. Evolutionstheoretisch und aus Sicht des Lernens ist dies die schlechteste aller Strategien. Es ist der schnellste Weg zum Zusammenbruch des bisherigen Systems, speziell dann wenn es wenigstens ein konkurrierendes System gibt, das statt mit Kontrolle mit gesteigerter Kreativität, Kommunikation, und erneuerter Modellbildung reagieren kann. Die Wahrscheinlichkeit mit der zweiten Strategie neuere und bessere Antworten zu finden, ist um Dimensionen größer, wenngleich nicht ohne Risiko. Die Kontrollstrategie hat aber das größere Gesamtrisiko und führt fast unausweichlich zum Scheitern, während die Kreative Strategie partiell riskant ist, aber insgesamt – sofern es überhaupt eine Lösung gibt – diese finden wird. Die Kontrollstrategie ist emotional gekoppelt an ‚Angst‘, die Kreative Strategie an ‚Vertrauen‘. (In der Tradition der christlichen Spiritualität gibt es eine Grundregel, mittels der man erkennen kann, ob man sich in Übereinstimmung mit ‚Gott‘ befindet oder nicht: das Phänomen des ‚Trostes‘, der ‚Freude‘, der ‚Gelassenheit‘, des ‚Vertrauens‘, der ‚Angstfreiheit‘; d.h. wenn ich etwas tue, was in mir ‚real‘ (!) auf Dauer keinen ‚Trost‘ bewirkt, keine ‚Freude‘, keine ‚Gelassenheit‘, kein ‚Vertrauen‘, keine ‚Angstfreiheit‘, dann bewege ich mich nicht in die Richtung, die Gott von mir erwartet. Auch wenn man nicht an die Existenz eines ‚Gottes‘ glaubt, ist es interessant, dass die Kernelemente christlicher Spiritualität nahezu identisch sind mit den Kernelementen einer modernen mathematischen Lerntheorie, die für alle lernende System gilt, die auf der Erde überleben wollen).

DAS SNOWDON SYNDROM

11) Was hat dies alles mit dem ‚Snowdon Syndrom‘ zu tun? Warum ‚Syndrom‘? Ich verstehe unter ‚Syndrom‘ hier das Zusammenspiel vieler Faktoren, die einerseits einzeln zu wirken scheinen, andererseits aber vielfältig untereinander wechselwirken, sich gegenseitig beeinflussen. Und die Ereignisse ‚um Snowdon herum‘ erscheinen mir so als ein Netzwerk von Ereignissen, Äußerungen, Entscheidungen, die, bei näherer Betrachtung, sehr wohl Zusammenhänge erkennen lassen, die sich mit der Thematik des neuen Weltbildes berühren.
12) Innerhalb der letzten knapp vier Wochen (2.-27.Juli 2013) konnte ich 48 Artikel zum Snowdon Syndrom lesen, zwei Artikel aus dem Frühjahr 2012 habe ich nachgelesen. Dazu kam die eine oder andere Sendung im Radio und Fernsehen. Bedenkt man, wie wenig Zeit man täglich hat, überhaupt Zeitung zu lesen, ist das viel. Gemessen am Thema und seinen sachlichen Verästlungen ist es verschwindend gering. Die folgenden Gedanken sollten daher nur als Denkanstöße verstanden werden.

NETZÜBERWACHUNG REIN TECHNISCH

13) Auslöser für die vielen Artikeln und Beiträgen in den Medien waren die spektakuläre Reise von Snowdon nach Hongkong, seine Weitereise nach Moskau, sein dortiges bislang aufgezwungenes Verweilen, und natürlich seine Mitteilungen über Praktiken amerikanischer Geheimdienste, insbesondere der NSA, der National Security Agency. Viele behaupteten nach den ‚Enthüllungen‘, dass sich das ja eigentlich jeder hätte denken können, dass so etwas passiert, was zumindest für alle Informatikexperten gilt, und hier insbesondere bei jenen, die sich mit Netz- und Computersicherheit beschäftigen; die wissen seit vielen Jahren nicht nur, wie man in Netze und Computer eindringen und sie manipulieren kann, sondern auch, dass dies täglich in tausendfachen Formen geschieht. Akteure sind einmal kriminelle Organisation, die hier ein Eldorado zum Geldverdienen entdeckt haben, Teile davon sind Wirtschaftsspionage, anderes sind geheimdienstliche Aktivitäten für allerlei Zwecke, u.a. einfach zur ‚Absicherung der Macht‘ bestimmter Gruppen. Für diese Experten haben die Meldungen von Snowdon in der Tat nichts wirklich Neues gebracht, höchstens ein paar mehr Details zum Ausmaß der Aktivitäten der amerikanischen Regierung.
14) Ich würde hier auch gerne unterscheiden zwischen den ‚technischen‘ Aspekten von Datenausspähungen, Datenmanipulationen einerseits und den ’sozialen‘, ‚politischen‘, ‚kulturellen‘ und ‚ethischen‘ Aspekten andererseits. Rein technisch haben die Mitteilungen von Snowdon nichts Neues erbracht. Auch die verschiedenen Techniken, die sowohl Geheimdienste wie auch Netzfirmen wie Google, Facebook und Amazon (um die bekanntesten zu nennen) anwenden, aus einer großen Datenmenge (‚big data‘) solche ‚Informationen‘ zu extrahieren, die Hinweise auf spezielle Eigenschaften oder Trends bestimmter Personen und Personengruppen liefern, sind generell bekannt, werden an vielen Universitäten und speziellen Firmen dieser Welt gelehrt und entwickelt (dazu natürlich in vielen speziellen Labors vieler Staaten im Wahn, ein spezielles Labor könnte geheim etwas entwickeln, was die vielen Universitäten nicht könnten. Das ist eine grobe Täuschung. Würde man die Gelder der NSA in alle Universitäten umleiten, wäre der kreativ-produktive Effekt auf die Gesellschaft und Wirtschaft ein Vielfaches von dem, was jetzt stattfindet. Vielleicht sollten die anderen Staaten froh sein, dass die USA auf diese Weise einen Großteil ihres Kapital quasi ‚vernichten‘, da sonst die amerikanische Wirtschaft im Bereich Computer, Software und Netzwerke noch übermächtiger wäre…)).

NETZWERKE: JENSEITS DER TECHNIK

15) Was viele erregt und aufregt, liegt daher weniger im Bereich der verwendeten Technologien, sondern in den sozialen, kulturellen, ethischen und dann auch politischen Dimensionen, die sich mit dem immer mehr publik werden neuen Computer-Netz-Technologien und ihrer Nutzung verknüpfen.
16) Für die meisten wirkten sich die neuen Technologien zunächst darin aus, dass sie im Bereich alltäglicher Kommunikation und alltäglichen Informationsaustausches ganz praktisch neue Möglichkeiten erhielten. Sehr schnell änderten sich flächendeckend alltägliche Verhaltensweisen. Dazu kam, dass nahezu alle Dienste zu Beginn ‚kostenlos‘ waren. Das Geschäftsmodell war einfach: deine Informationen als frei verwertbarer Inhalt für mich, dafür für dich deine Nutzung aller Dienste kostenfrei. Dass die Netzfirmen und die Geheimdienste damit ein Dateneldorado vorfanden, in dem sie sich mit Zustimmung der ‚Lieferanten‘ ungehemmt bewegen konnten, war vielen zunächst nicht so richtig bewusst und erschien vernachlässigbar angesichts der konkreten praktischen Nutzen auf privater Ebene. Mit der massenhaften Nutzung kam natürlich auch der wachsende Missbrauch und in den beginnenden Klagen, Streitigkeiten und Prozessen begann zaghaft ein wachsendes Bewusstsein von der Realität (und den Gefahren) der freien Nutzung zu wachsen. Dass sich die öffentliche Diskussion speziell an den Mitteilungen Snowdons dann mehr als bisher entzündete (Wer konnte bis heute überhaupt Snowdons Miteilungen überprüfen?), erscheint mir eher als ein Zufall. Das Thema war am Aufkochen und auch ohne Snowdon gab es erste alternative Geschäftsmodelle, die sich den wachsenden Unmut der großen Menge zunutze machen wollen, und bezahlte Dienste anbieten, dafür aber ohne Ausspähung und Datenmissbrauch. Der Fall Snowdon hat den ganzen Prozess jetzt womöglich nur beschleunigt. Der Wertzuwachs in der Nutzung von Netzen für viele private und zivile Zwecke ist zu groß, als dass man darauf in der Zukunft wieder verzichten möchte. Wie immer gibt es hier eine ’natürliche‘ evolutionäre Entwicklung, bei der negative Auswüchse recht schnell von der Gesellschaft weder abgestoßen werden. Die Geschäftsmodelle von Google, Facebook und Amazon (und auch andere ‚closed shops‘ wie z.B. Apple, Samsung oder Microsoft) sind schon heute eigentlich tot, was nicht heißt, dass sie es noch ein paar Jahre schaffen.

US-REGIERUNGSFORM – PROBLEMATISCHE ENTWICKLUNG?

17) Ein ernsteres Problem hat nach meinem aktuellen Verständnis allerdings das amerikanische politische System. Die USA hatten immer einen überaus mächtigen Komplex aus Geheimdiensten, Militär und Wirtschaft, deren Interessen nicht unbedingt ‚zum Wohle‘ der übrigen amerikanischen Bevölkerung waren. Dazu kommt das Ethos des ‚weißen Ritters‘, der zumindest im Umfeld des zweiten Weltkrieges die USA lange Zeit weithin als ein großes Vorbild für viele hat erstrahlen lassen. Doch seitdem häufen sich Ereignisse, die eher die schmutzigen Seiten dieses Systems nach außen kehren. In dem Zusammenhang erscheinen die Ereignisse um den 11.September 2001 als sehr verhängnisvoll. Der Kampf gegen den ‚Terrorismus‘ wurde zu einem neuen Leitthema, das so stark war, dass diesem fast alles andere untergeordnet wurde. Nach der Verabschiedung des USA-Patriot Act: Uniting (and) Strengthening America (by) Providing Appropriate Tools Required (to) Intercept (and) Obstruct Terrorism Act 2001 war die Gründung des US Staatsministerium für Sicherheit der Heimat 2002 war nach Ansicht vieler Experten die größte Veränderung in der Architektur der Exekutive seit dem Nationalen Sicherheitsvertrag von 1947. Der Schutz vor Bedrohung, speziell ‚Terrorismus‘ gewann ein Ausmaß, das fast alles andere zu ersticken drohte. Ergänzend dazu gab es seit 1978 die Verordnung zur Überwachung fremder geheimdienstlicher Aktivitäten (Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA)), die mehrfach erweitert wurde und dabei die Grenzziehung zum Schutz der Privatsphäre selbst für Amerikaner immer schwächer werden lies (für Nichtamerikaner gibt es sowieso überhaupt keine Rechte; vor dem Gesetz ist ein Nicht-Amerikaner unterschiedslos ein rechtloses Subjekt, mit dem die Exekutive machen kann, was sie will). Das wachsende Unbehagen über die übermächtigen Zugriffsmöglichkeiten der Exekutive in die Privatsphäre des einzelnen, sollte durch Einrichtung des Staatlichen Gerichtshofes zur Überwachung der Überwachung (‚United States Foreign Intelligence Surveillance Court (FIS)) 1978 gewährleistet werden.
18) Wie der tatsächliche Verlauf seitdem mit seinen vielen Änderungen, Diskussionen und Gerichtsprozessen anzeigt, verläuft die Gesamtentwicklung eher in Richtung Ausweitung der Aktivitäten der Geheimdienste weit über die vorgesehenen Grenzwerte hinaus.
19) Es gibt zwar grundsätzlich den vierten Zusatz zur US-Verfassung, zum Schutz der Privatsphäre, auch ein Gesetz für den freien Zugang zu Informationen staatlicher Stellen (‚Freedom of Information Act (FOIA)‘), sowie zeitgleich mit dem Staatsministerium für die Sicherheit der Heimat ein Amt zur Sicherung des Schutzes der Privatsphäre (Privacy Office of the U.S. Department of Homeland Security), aber was nützt ein Verfassungsartikel, wenn die täglicher Praxis ihn beständig unterläuft und die Überwachungsgremien eher den Eindruck erwecken, dass sie alles durchwinken und sich einer öffentlichen politischen Diskussion entziehen. Wichtige kritische Gruppierungen sind hier vielleicht das Zentrum für Zivilrecht (Center for Civil Rights (CCR)) oder auch die der Vereinigung für die Grenzen der Elektronik (Electronic Frontier Foundation (EFF)) , aber der entscheidende Punkt ist, wieweit die staatlichen Stellen und die Regierung dem Bürger noch reale Freiräume einräumen, zuerst mal für die US-Bürger selbst, dann aber auch für Nicht-US-Bürger. Irgendwo gibt es die Idee der ‚Menschenrechte‘ und es wäre nicht schlecht, wenn ein Land wie USA die Menschenrecht innerhalb ihres Rechtssystems einen solchen Platz einräumen würden, der der reinen Willkür von US-Behörden gegenüber Nicht-Amerikaner einen klaren rechtlichen Rahmen geben würden. Ansonsten müßten alle Nichtamerikaner die USA aufgrund ihrer rechtlich fixierten Menschenverachtung als direkten Feind betrachten. Dies kann nicht das Ziel sein.

WHISTLEBLOWER

20) Neben dem vierten Verfassungsartikel, dem Amt zum Schutz der Privatsphäre sowie dem Spezialgericht zur Kontrolle der Geheimdiensttätigkeiten (FISA) gibt es in den USA seit 1983 auch ein eigenes Gesetz, das Beschluss zur Ermöglichung von Hinweisen zum Missbrauch (False Claims Act), das eigentlich solche Menschen schützen soll, die Missbrauch entdecken und aufdecken, es geht um die ‚Whistleblower‘, etwa ‚Zuflüsterer‘. Bekanntgewordene Fälle zeigen aber, dass dieses Gesetz von staatlichen Stellen und der Regierung auf vielfache Weise abgeschwächt und unterdrückt werden kann. Die besten Gesetze nützen nichts, wenn die staatlichen Stellen sie nicht hinreichend anwenden (Eines von mehreren beeindruckenden Negativbeispielen für ein Versagen der staatlichen Stellen ist der Bericht (und das Buch) von Peter van Buren , hier eine Liste von einschlägigen Artikeln Artikel zu Whistleblower und Staatsverhalten). Im Falle von Snowdon sieht Snowdon sich als Whistleblower, da er aus seiner Sicht in den überbordenden Aktivitäten der NSA einen ‚Missbrauch‘ sieht, den man anzeigen muss. Die NSA selbst und die Regierung sieht aber in ihrem Verhalten ein ‚gesetzeskonformes‘ Vorgehen, das den Interessen der USA dient. Aus Sicht der staatlichen Stellen ist Snowdon von daher ein ‚Verräter‘; aus Sicht derjenigen Menschen, die im Verhalten der NSA und der US-Regierung eine Grenzüberschreitung sehen, die elementare Rechtsauffassungen verletzt, ist Snowdon ein ‚Whistleblower‘. Der Ausgang ist offen.

DIE USA HABEN EINE GLOBALE BEDEUTUNG

21) Man könnte versucht sein, diese Problemlage in den USA als ‚Sache der Amerikaner‘ abzutun. Das ist meines Erachtens zu einfach. Die USA sind nicht irgendein Land. Die USA sind eines der wichtigsten Länder dieser Erde und sie werden dies auch noch einige Zeit bleiben. Dort vollzieht sich momentan ein Prozess der Umwälzung der Gesellschaft durch die neuen Computer-Netz-basierten Technologien, bei gleichzeitiger Regredierung des politischen Systems in Richtung ‚Überwachungsstaat‘. Die Beteiligten selbst sehen dies noch nicht so, da sie alles mit der Brille der ‚Bedrohung‘ und des ‚Terrorismus‘ sehen (ich unterstelle mal, dass die entscheidenden Leute tatsächlich ‚Patrioten‘ sind und keine finstren Machtmenschen, die den Staat für sich unter Kontrolle bringen wollen (in den Filmen ist es so)). Und es gibt genügend kompetente Kritikern in den USA selbst, die vielfach aufzeigen, wie ineffizient, zu teuer, und letztlich weitgehend wirkungslos diese ganzen Maßnahmen sind (für jemanden, der einen terroristischen Akt gegen die USA ausüben wollte, sind alle die Maßnahmen geradezu lächerlich; meist werden ahnungslose Bürger aufgegriffen, die aus Versehen die falschen Worte benutzt haben). Doch kann keiner voraussagen, wie dieser Transformationsprozeß ausgehen wird. Wir sollten alle daran interessiert sein, dass er nicht in einem hochtechnologischen Überwachungsstaat endet.

ABSPANN

22) Es gibt einerseits die Visionen für das große Ganze, die weder leicht noch selbstverständlich sind, und dann gibt es die unendlich vielen kleinen Schritte im Alltag, durch die sich das große Ganze realisiert oder nicht.
23) Wenn der Erfolg nur davon abhängen würde, dass wir als einzelne alles perfekt und richtig machen, würde wir beständig grandios scheitern. Der Prozeß folgt aber vielen Logiken gleichzeitig. Die meisten verstehen wir nicht.
24) Vielleicht werden Historiker später einmal sagen, dass es gut war, dass die amerikanische Regierung diese Überwachungsmonströsitäten versucht hat, um alle aufzuwecken und zur ‚Vernunft‘ zu bringen, dass es so nicht geht. Vielleicht…
25) Ob der deutsche Innenminister dabei irgendeine Rolle spielen wird? Die Bundeskanzlerin? Welch Rolle die Presse in Deutschland überhaupt spielt? Vielleicht sollten Deutsche und Amerikaner in der Öffentlichkeit mehr miteinander reden. Anders wird sich kaum etwas ändern.

Eine Übersicht über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

DER HOBBIT, DAS BÖSE UND WIR


(Unter twitter bei ‚cagentartist‘))

BUCH UND FILM

1) Spätestens seit dem Film ‚Der Hobbit: Eine unerwartete Reise‘ ist vielen die märchenhaft fantastische Geschichte des gleichnamigen Buches ‚Der Hobbit‘ bekannt, das J.R.R. Tolkien erstmalig 1937 in einer ersten Fassung veröffentlicht hatte (für eine Übersicht aller Publikationen von J.R.R.Tolkien siehe die Liste der Publikationen.
2) Das Buch ‚Der Hobbit‘, ursprünglich ein Kinderbuch, erfuhr bei seinem ersten Erscheinen sehr starke, positive Reaktionen, mit vielen Besprechungen, Ehrungen und Preisen. Es ist eine fantastische Geschichte, ein Märchen, mit vielen wunderbaren Gestalten, in ungewöhnlichen Szenarien, mit einer Dramaturgie, voller tiefer Gefühlen, Witz, Humor, aber doch auch hohem Ernst, mit einer Fülle von lebensbedrohenden Gefahren, die letztlich eine zu Beginn unscheinbare Person, einen Hobbit, zu einer listenreichen, fantasievollen, charakterlich starken Persönlichkeit reifen lassen, die Licht und Hoffnung verbreitet. Zugleich verwandeln sich andere Persönlichkeiten aufgrund von Gefahr und Gier in unangenehme Zeitgenossen, zu Verrätern, zu Versagern, die nur mit Mühe zu ihrer Menschlichkeit zurückfinden. Dazwischen und darum herum findet sich eine breite Palette von normalen und wundersamen Gestalten, die – jeder für sich – eine Facette möglichen Lebens erlebbar machen.

DAS BÖSE

3) Viel wurde über dieses Buch schon geschrieben, vieles könnte man sicher noch schreiben. Als ich aber letztens den Film ‚Der Hobbit‘ nochmals sah, mit Freunden, inspirierte mich der Aspekt des ‚Bösen‘, der ‚dunklen Mächte‘, die in diesem Film (und natürlich im Buch) aufscheinen. Das Böse erscheint machtvoll, bedrohlich, und hat in der Regel ein entsprechend ’schreckliches Äußeres‘, durch das man es unzweifelhaft erkennen kann (die Orcs, der Negromant, der Drachen, die tödlichen Spinnen, usw.). Das Thema des Bösen ist nichts Spezifisches für die Geschichte des ‚Hobbit‘; das Böse taucht in jedem Märchen, in nahezu jedem Roman und Film auf, und nicht nur das, die täglichen Nachrichten scheinen das Böse in seinen vielen bedrohlichen Formen wie magisch anzuziehen – zumindest tun die Nachrichtenredaktionen weltweit alles, um ja nichts Bedrohliches zu verpassen (und sind dann doch wieder auch wählerisch, da sie vieles andere Böse, wie man dann gelegentlich erfährt, bewusst ‚auslassen’…).
4) Folgt man nicht dem kommerziell sehr erfolgreichen Trend von Fantasieprodukten, die von der beständigen Produktion von künstlichem Bösen gut leben, sondern fragt man sich, wo denn die möglichen Ursprungsorte von ‚Bosheit‘, von ‚Bedrohlichem‘ liegen, dann wird man feststellen müssen, dass es das ‚Böse‘ nur dort gibt, wo es Menschen gibt. Ohne Menschen gibt es nichts ‚Böses‘! Ohne Menschen gibt es zwar gewaltige Kräfte, die im Universum Sterne und ganze Galaxien entstehen und vergehen lassen, gibt es unterschiedliche Verteilungen von Energie, Verdichtungen und Ausbrüche allerlei Art, die über viele hunderte oder gar tausende von Lichtjahre ihre Wirkungen entfalten können, aber es gibt nichts ‚Böses‘. Es fehlt jeglicher Maßstab, jegliche Kategorie für ‚Böses‘.
5) Sobald aber ‚Leben‘ auf der Erde entstanden ist und nun da ist, kann man mit Bezug auf dieses Leben sagen, dass es Vorgänge gibt, Ereignisse, Kräfte, die für die Existenz und den Fortbestand dieses Lebens eher ‚günstig‘ erscheinen oder eher ‚ungünstig‘, ja ‚bedrohlich‘. Und da es eine Besonderheit des Lebens ist, dass es ’sensitiv‘ für seine Umgebung und sich selbst ist, kann ein Lebendiges seine Umgebung aus der Perspektive seiner individuellen konkreten Existenz punktuell als eher ‚bedrohlich‘ erfahren oder als ‚hilfreich‘. Ein Erdbeben, das ohne Lebensformen eben ’nur‘ ein ’normales Erdbeben‘ war (z.B. weil sich Oberflächenplatten der Erdkruste aneinander reiben, dadurch Spannungen erzeugen, die sich dann gelegentlich in freiwerdenden Schwingungen entladen), wird mit einem Male zu einem ’schlimmen‘ Ereignis für Lebensformen, da diese in ihrer Existenz unmittelbar betroffen sind. Eine Waldbrand, der als solcher halt vorkommt, in gewisser Weise sogar für den Fortbestand der Vegetation gut sein kann, wird plötzlich, weil bestimmte Lebensformen in dem betroffenen Gebiet ‚wohnen‘, zu einem ’schrecklichen‘ Ereignis, weil es Lebensformen ‚töten‘ kann. Völlig ’natürliche‘ Vorgänge können also mit Bezug zu konkreten Lebensformen in bestimmten Situationen ’schrecklich‘ werden, nicht, weil sie ‚in sich‘ schrecklich sind, sondern weil sich Lebensformen in eine Position gebracht haben, so dass es für diese, aus ihrer eigenen Perspektive, ‚lebensbedrohlich‘ erscheint und dann oft auch ist.

MENSCHEN UND BÖSES

6) Wir Menschen als Teil des Lebens auf der Erde haben die Sensitivität für die umgebende Welt und unseren eigenen Zustand sehr weit kultiviert. Wir können nicht nur aktuelle Ereignisse als ‚aktuelle Gefahren‘ ‚identifizieren‘, wir können auch die Ereignisse der Vergangenheit ‚erinnern‘ und damit zurückliegende ‚Bedrohungen‘, ‚Zerstörungen‘, ‚Beschädigungen‘. Außerdem haben wir eine Vorstellungskraft gepaart mit viel ‚Fantasie‘; aufgrund von Erinnerungen und Gegenwart können wir uns auch ‚potentielle Gefahren‘ ausdenken, können versuchen, kommende Szenarien gedanklich vorweg zu nehmen. Sofern wir damit ‚reale‘ Situationen gedanklich vorweg nehmen, die ‚real‘ bedrohen können, ist dies sehr hilfreich. Wenn wir aber gedankliche Szenarien, die es so kaum oder gar nicht gibt, ausdenken und ihnen dann ein ‚Gewicht‘ verleihen, das sie gar nicht verdienen, dann beginnen wir, die Kraft unserer Gedanken gegen uns zu wenden. Dann beginnen wir mit unserer Fantasie unser Verhalten im Vorfeld zur kommenden Realität ‚fehl zu steuern‘, dann beginnen wir unsere ‚reale‘ Zukunft durch ‚irreale‘ Vorstellungen zu torpedieren. In diesem Kontext erscheint die moderne Unterhaltungsindustrie in einem zwielichtigen Licht: wenn man in den Videoregalen sieht, dass es kaum Videos über die reale Welt gibt, dafür aber sehr viele ‚Fantasieprodukte‘ und es diese Fantasieprodukte sind, die viele Menschen überwiegend sehen, dann infiltriert das ‚falsche Denken eines fiktiven Bösen‘ die alltägliche Vorstellungskraft und kann den Eindruck erwecken, es gibt tatsächlich mehr ‚Böses‘ als ‚Gutes‘.
7) Natürlich liegt dies auch daran, dass die menschlichen Belohnungssysteme stärker ausschlagen bei ‚Gefahr‘ als bei ‚Normalität‘. In realer und auch ’simulierter‘ Gefahr versetzt uns unser Gehirn in besondere Spannungszustände und bei Überwindung von diesen gewährt es uns besondere Belohnungen; dies wird als ‚Kick‘ erfahren, und in einem Alltag, der als ‚gefahrenarm‘ erscheint, mag dies genau das sein, was man sich dann wünscht. Wie die berühmten Ratten in dem Experiment, die sich durch Betätigung eines Hebels in ihrer Versuchsanordnung per Elektrode ihr eigenes Lustzentrum reizen konnten, solange, bis sie starben, so können viele Menschen in manchen Ländern dieser Erde sich mit künstlichen Kickzuständen permanent selbst in einen scheinbaren Ausnahmezustand versetzen, der sie berauscht, ohne dass dadurch die reale Welt verändert würde (allerdings werden die Produzenten des Kicks monetär ‚reicher‘) und so, dass sie ihre eigene Lebenszeit und Energie auf Dinge verwenden, die sie selten weiterentwickeln (zugleich gibt es auch Suchtphänomene, die zerstören, psychische Erkrankungen, die die Betreffenden wie ihre Umgebung belasten) und die der Gesamtheit des Lebens entzogen werden.
8) Die Koexistenz von ‚Bosheit‘ und Leben, insbesondere im Falle des Menschen, hat aber auch noch weitere Seiten. In dem Maße, wie der Handlungsraum der Menschen wächst, zunimmt, wo Werkzeuge und Maschinen dem Menschen ‚Kräfte‘ verleihen, die nicht nur einzelne Menschen verletzen oder gar töten können, sondern viele Menschen, ganze Städte oder Landstriche, in dem Maße entstehen ganz neuartige und ’schreckliche‘ ‚Bedrohungsszenarien‘, die es so vorher noch nicht gab. Die große Stärke des Menschen, seine Flexibilität, Vielseitigkeit, Anpassungsfähigkeit, sein spielerisch-experimenteller Charakter, wird damit zu einer potentiellen Quelle nicht nur von konstruktiven Entwicklungen und Maßnahmen, sondern auch eben von ‚Zerstörung‘. gerade weil der Mensch in seinem Verhalten nicht vollständig ‚determiniert‘ ist sondern beständig gezwungen ist, sich in einer wandelnden Welt zurecht zu finden, sein Weltbild immer wieder neu finden, erfinden und wechselseitig bestätigen muss, gerade deswegen ist prinzipiell jede Situation ‚ambivalent‘: wir Menschen können potentiell immer ‚alles‘ tun, was unser Handlungsraum an Möglichkeiten bietet. Und da jeder Mensch als Lebewesen mit einer biologischen Geschichte alle die Standardtriebe und Reflexe in seinem Körper mit sich herumträgt, die alle anderen Lebewesen auch haben, kann es immer wieder passieren (und passiert ständig), dass ein Mensch sich nicht ‚rational‘ verhält im Sinne einer zuvor eingeübten Verhaltensweise, sondern dass die angeborenen Grundtriebe die Oberhand gewinnen und dass er dann Dinge tut, die scheinbar im Widerspruch stehen zu allem, was er in anderen, eher ’sozialen‘ Situationen getan hat. Dies bedeutet, das ‚primär Böse‘ auf dieser Erde ist der Mensch selbst, genauso wie wahr ist, dass das ‚primär Gute‘ auf dieser Erde ebenfalls der Mensch ist. Wenn es eine Verhaltensweise geben soll, die vom deterministisch vorgegebenen Geschehen der Natur ‚abweichen‘ soll, dann kann dies nur eine biologische Lebensform sein, und nach all unserem aktuellen Wissen ist dies in besonderer Weise der Mensch, WIR: wenn etwas irgendetwas ‚Gutes‘ auf dieser Erde geben soll, dann kann dies nur durch uns Menschen kommen, die zugleich auch die primäre Quelle des ‚Bösen‘ sind. Es gibt nichts ‚Böses‘ unabhängig und außerhalb des Menschen, genauso wenig wie es etwas ‚Gutes‘ unabhängig und außerhalb des Menschen, von uns, gibt (siehe Ergänzung weiter unten).
9) Die Geschichte hat uns zudem gelehrt, dass das ‚Böse‘ nicht unbedingt ‚böse aussehen‘ muss. Finanzspekulanten, die ganze Länder in den Ruin getrieben haben, kommen meist ‚alert‘ daher, können gut reden, erwecken Hoffnungen, sind überaus freundlich, haben aber nur ihren eigenen Vorteil im Blick. Der Faschismus der Hitlerzeit beispielsweise hat den Menschen Arbeit verkauft, Ordnung, Ehre, ein neues Selbstbewusstsein, berauschende Massenereignisse, ein neues Belohnungssystem, technische und wirtschaftliche Erfolge, und gleichzeitig wurden Menschen systematisch vernichtet, wurden Kriege systematisch geplant, wurden Menschen flächendeckend bespitzelt und kontrolliert (Phänomene, die sich auch in heutigen Staaten zu großen Teilen wiederfinden!). In vielen (allen?) Ländern dieser Welt beobachten wir das Phänomen, dass Verwaltungen dazu tendieren, unter dem Schein von Legitimität ihre eigenen partikulären Interessen zu verfolgen anstatt den ‚Bürgern‘ des Landes den Dienst zu erweisen, der ihnen zugedacht ist. Diese Beispiele sind endlos.
10) Außerdem passiert es immer wieder, dass ‚Krisen‘, ‚bedrohliche Situationen‘, ‚Verluste‘ usw. zu neuen Situationen, zu neuen Verhaltensweisen führen können, die – im Nachhinein betrachtet – ‚besser‘ erscheinen als das, was man vorher hatte. So schmerzlich und grauenhaft gewisse aufgezwungene Änderungen waren, sie haben Menschen dazu gebracht, etwas Neues zu versuchen, Neues, das man ohne die Bedrohung nicht getan hätte. ‚Böses‘ fordert heraus. ‚Böses‘ definiert sich dadurch, dass es den allgemeinen Lebensprozess ‚behindert‘, ‚gefährdet‘ und ein Handeln unausweichlich macht.

DAS GUTE UND DAS BÖSE

11) Im Buch der Hobbit siegt am Ende das ‚Gute‘ über das ‚Böse‘. Viele lesen dies mit einem guten Gefühl, weil in diesem Fall alle diejenigen etwas davon haben, die den realen Alltag so am Laufen halten, dass möglichst viele darin möglichst gut leben können. Die ‚Bösen‘ erscheinen als die ‚Deserteure vom Alltag‘, die sich gegen die ‚Normalität des Guten‘ auflehnen und glauben, sie könnten auf eigene Rechnung ihr Süppchen kochen, ohne und gegen alle anderen, eine Strategie, ein ‚Spiel‘, wodurch der Blick beschränkt wird auf die wenigen ‚Auserwählten‘, die besonderes clever sind, die es besonders verdient haben, die halt ‚anders‘ sind als alle anderen. Doch diese Art von ‚Cleverness‘ ist jene, die ihren Zusammenhang mit dem Gesamtprojekt Leben aufs Spiel setzt, die eine ‚geborgte Cleverness‘ ist; sie kann nur begrenzt funktionieren; ihr fehlt die ‚breite Basis des gesamten Lebens‘. Ein paar hundert Jahre, selbst ein paar tausend Jahre bedeuten hier gar nichts. Aus Sicht eines begrenzten individuellen Lebens mag dies ‚unwirklich‘ wirken, mag die partikulare Sicht daher Sinn machen, aber letztlich wird nur der Blick aufs Ganze entscheiden, wo wir alle stehen werden, nicht nur heute.
12) Will man das ‚Gute‘ bzw. das ‚Böse‘ genau definieren, dann verschwimmt es, wird unwirklich; die Maßstäbe sind gewöhnlich nicht so klar, so fest, wie man es gerne haben möchte. Manches was als ‚gut‘ daherkommt entpuppt sich plötzlich als ‚böse‘ und umgekehrt. Der Philosoph Kant hat den Begriff der ‚regulativen Idee‘ geprägt, etwa in dem Sinne, dass man für das Verhalten zwar eine Art Leitidee benötigt, aber diese ist immer wieder neu konkret zu bestimmen…
13) Nochmals, wenn ich oben gesagt habe, dass der Mensch die einzige Quelle für ‚Gut‘ und ‚Böse‘ ist, dann muss dies kein Gegensatz zu der allgemeinen Annahme über einen ‚Schöpfergott‘ sein, dann nämlich nicht, wenn man zwischen Schöpfergott und Leben einen Zusammenhang annimmt (was naheliegt, sonst wäre es ja kein Schöpfergott). In den sogenannten ‚heiligen‘ Schriften der großen Offenbarungsreligionen Judentum – Christentum – Islam finden sich viele Texte, aber fast keine Texte, die das innere Verhältnis zwischen Schöpfergott und dem einzelnen Menschen beschreiben. Dies ist kein Zufall.

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NOTIZ: KRANK DURCH ZU VIEL GUTES (oder: ‚Burn out‘ trifft nicht nur die ‚Bösen‘)

KRANKHEIT ALS STRAFE?

1) Jede Kultur hat so ihre ‚Interpretationsreflexe‘, die sich im Laufe der Jahrzehnte oder – oft – gar Jahrhunderten in das alltägliche Denken eingelagert haben. Einer dieser Reflexe lungert in der Nähe von ‚Krankheit‘: sogenannte ‚religiöse‘ imprägnierte Menschen tendieren dazu, Krankheiten mit dem Thema ‚Strafe‘ zu verbinden, dass Gott ’strafe‘, sie strafe, oder eben andere, oder, andere Variante, dass man Gott ‚verantwortlich‘ macht, dass er so etwas (meist eine schlimme Krankheit) ‚zulassen‘ könnte. Weniger oder gar nicht religiös imprägnierte Menschen (oder solche, die ein anderes Bild von Gott haben (denn Gott kennt naturgemäß niemand direkt und voll)) müssen die Phänomene ohne Gott erklären. Dazu gibt es allerlei Theorien; manche treffen die Sache, manche sind irgendwie ‚richtig‘, aber zu ungenau; andere sind schlichtweg falsch. Man nimmt halt, was man hat und kann; eine Alternative gibt es nicht (zumindest solange nicht, wie Menschen noch keine automatische ‚Vollerkenntnis‘ besitzen (was aufgrund der Struktur des bekannten Universums bislang in gewissem Sinne ausgeschlossen ist)).

WUNDERWELT DER MIKROORGANISMEN

2) In einem vorausgehenden Beitrag ‚Koevolution im Alltag (Viren)‘ hatte ich mich anlässlich konkreter Grippefälle mal mit den Erkenntnissen zu Viren (und Bakterien) beschäftigt, dies im engen Zusammenhang mit dem menschlichen Immunsystem. Nun bin ich hier kein Spezialist. Aber immerhin ist es schon sehr erstaunlich, was man hier lernen kann, wenn man sich dafür interessiert. Im Grunde genommen erschlägt es einen, was man hier finden, wenn man anfängt zu suchen. Die Welt der Mikroorganismen (Bakterien, Viren) erscheint als eine Art ‚Fundamentaldimension‘ des Lebens auf der Erde, die die gesamte Erde an der Oberfläche, bis in Tiefen von vielen tausend Metern (7000m oder mehr), auch im Ozean und am Ozeangrund, in der Nähe von Vulkanen in einer Weise durchdringt, die unser Vorstellungsmöglichkeiten real übersteigt. Die Raffinesse und Vielfalt im Bereich der Mikroorganismen, ihre Anpassungsfähigkeit, ihre Innovationskraft, ihre Innovationsgeschwindigkeit ist überwältigend und kann uns ahnen lassen, warum und wieso es irgendwann auf der Basis dieser wunderbaren Systeme zu komplexeren Lebensformen kommen konnte. Das, was sich hier real seit Milliarden Jahren (nach heutigem Wissen geschätzt ca. seit 3.8 – 4.1 Mrd Jahren) täglich, stündlich, minütlich im weltweiten Maßstab abspielt, ist ein unfassbares ‚Wunder‘ des Lebens, von dem wir ein kleiner Teil sind.
3) Dass Mikroorganismen gelegentlich in den Körper von Menschen so eindringen können, dass sie die bestehende Organisation stören, gar zerstören, ist für den betroffenen Organismus (also jeweils ein konkreter Mensch, Du, Ich, ein Dritter) schlimm, schmerzhaft, angsteinflössend. Solange man nicht begreift, dass das eigene individuelle Leben ja nur existiert, weil es seit Milliarden Jahren diese Mikroorganismen gibt, aus denen heraus die komplexeren Lebensformen entstanden sind, solange man nicht begreift, dass wir heute mit unseren Körpern nur leben können, weil ca. 1 Billion Mikroorganismen in unseren Körper selbständig leben und viele lebenswichtige Funktionen unterstützen, ebenso ca. 1 Billion auf unserer Haut mit z.T. auch schützenden Funktionen, und dann in unserer Umgebung, in der ganzen Welt unfassbar viele Mikroorganismen durch ihre Zersetzungs- und Umwandlungsprozesse unser individuelles Großaorganismus-Leben überhaupt erst ermöglichen, – -solange man dies alles nicht begreift, solange erscheint einem eine individuelle Beeinträchtigung, Schädigung oder gar der Tod als ‚ungerecht‘. Doch ist dies die völlig falsche und unangemessene Kategorie. Eher ist es umgekehrt so, dass die Tatsache, dass wir als Großorganismus aus all dem wahnwitzigen kontinuierlichem hochturige Prozessieren der Mikroorganismen ‚hervorgegangen‘ sind das Ungewöhnliche, das ‚Nicht-zu-Erwartende‘, das Hochkomplexe und darin entsprechend hoch Anfällige. Jede Minute unserer Existenz ‚ohne‘ erkennbarem Schaden ist das Ungewöhnliche, das Wunder, ein Geschenk auf Zeit. Dass dieses hochkomplexe Geschehen unserer Körper irgendwann ‚Schaden‘ nimmt, Dysfunktionen aufzeigt, auseinanderfällt, das ist der unausweichlich zu erwartende Zustand, der nicht überraschen darf, weil es das ‚Normale‘ ist, das, was ‚in der Natur der Sache‘ angelegt ist. Wer also im Falle von ‚Krankheit‘ von ‚Ungerechtigkeiten‘ spricht, gar von ‚Schuld‘ und ‚Strafe‘, der hat noch nicht einmal ansatzweise begriffen, was es heißt, als Großorganismus in einem unfassbaren Meer von Mikroorganismen ‚leben‘ zu dürfen. Jede Minute eines funktionierenden Großorganismus ist ein unfassbares ‚Geschenk auf Zeit‘. Systemtheoretisch dürften die ca. 10 Billionen Zellen unseres Körpers mit den jeweils 1 Billion Mikroorganismen im und auf dem Körper keine Minute funktionieren. Aber der Körper tut es, immer mehr, über Jahre….

WUNDERWERK IMMUNSYSTEM

4) Außerdem, im Falle von Krankheiten klagen wir oft und schnell unser Immunsystem an. Stellt man aber die wenigen Fälle, in denen es versagt, den unsagbar vielen Fällen gegenüber, wo es ‚lautlos‘, ’stillschweigend‘, ‚klaglos‘ seine Arbeit macht und die millionenfachen Angriffe abwehrt, die in jeder Sekunde in unserem Körper stattfinden, dann sollten wir uns entspannt zurücklehnen und von einer einzigen Dankbarkeit durchströmt sein, dass im Laufe von vielen Milliarden Jahren dieses hochkomplexe Schutzsystem sich in unseren Körpern ‚herausbilden‘ konnte. Das Immunsystem (in Verschränkung mit unserem hochkomplexen Blut-System) ist so unfassbar komplex, dass wir bis heute nur erste Umrisse ‚erahnen‘, von Verstehen wage ich nicht zu reden (wem mal langweilig ist, empfehle ich die Lektüre von Artikeln und Büchern zu diesem Thema; kein Krimi kann spannender sein).

KRANKHEIT IST NICHT ÜBERRASCHEND

5) Noch einmal, sollten wir tatsächlich ‚krank‘ werden, d.h. einen Zustand erleben, in dem Teilbereiche unseres hochkomplexen Großorganismus nicht so funktionieren wie ‚üblich‘, dann sollten wir uns klar machen, dass das eigentliche Wunder das ‚Funktionieren‘ dieses Großorganismus ist und ein Nichtfunktionieren das ist, was im Laufe der Zeit unausweichlich kommen wird (das wenige, was unsere heutige Medizin bislang kann, sind – vergleichsweise – primitive Klempnerarbeiten an einem System, das der normale Arzt immer nur partiell versteht. Niemand kann das Gesamtsystem wirklich voll verstehen, niemand; nicht mit den heute zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten. Und nochmals: wer in diesem Zusammenhang Kategorien wie ‚Strafe‘ oder ‚Gott‘ ins Spiel bringt, ist nicht nur einfach ‚dumm‘, sondern möglicherweise sogar ‚bösartig‘. Das eigene Denken bringt dann das ‚Böse‘ hervor, nicht die biologische Struktur, die ist, wie sie ist, und als solche eigentlich nur Staunen und ‚Dankbarkeit‘ verdient…

PSYCHO-SOMATISCH: ERSCHÖPFUNG

6) Die Medizin hat verschiedene ‚Indizien‘ gesammelt von Verhaltensweisen und Faktoren, die unser Immunsystem schwächen können bzw. nicht notwendigerweise nur das Immunsystem, sondern irgendwie ‚den ganzen Körper‘. Da die tatsächlichen Prozesse im Detail noch nicht wirklich verstanden sind spricht man vorsichtig von ‚psycho-somatisch‘ bedingten Symptomen. Ein Symptommuster, was sich seit Jahren immer mehr ‚auszubreiten‘ scheint (zumindest nehmen wir es heute so wahr) ist das sogenannte ‚psycho-somatische Erschöpfungssyndrom‘, neudeutsch ‚Burn-Out‘.
7) Typische ‚Erscheinungsweisen‘ dieses Erschöpfungssyndroms sind eine um sich greifende anhaltende Müdigkeit, Lustlosigkeit, Antriebsschwäche, die dann immer auch gepaart sein kann mit allerlei möglichem Unwohlsein, Schlaflosigkeit, mit Schmerzen, bis hin zu Lähmungen, Atemnot, Schwindel, usw. Kurzum, die ’normalen‘ Funktionen lassen nach, fallen aus, der Alltag funktioniert immer weniger. Die Symptome sind real. Kommt es soweit, dass man sich klinisch untersuchen lässt, ist der ’normale‘ Befund meistens der, dass Blutbild und Organfunktionen OK sind. Das wirkt wie ein Paradox: man fühlt sich todelend, kann sich kaum bewegen, aber der Befund sagt, man sei organisch gesund! (ich kann mich noch gut an folgenden Vorfall erinnern. Ich war zu dem Zeitpunkt 29 Jahre alt und hatte – nachdem ich ca. 3 Jahre als Jugendsozialarbeiter gearbeitet hatte –, noch einmal studieren können, wie im Rausch. Eines morgens wache ich auf und konnte mich nicht mehr bewegen; ich war wie gelähmt. Ich wurde total durchgecheckt und man fand nichts, außer ein paar punktuell erhöhte Gallenwerte. Es dauerte damals fast 8 Wochen bis ich als junger gesunder Mensch wieder einigermaßen normal gehen und arbeiten konnte. Die ersten Wochen lief ich umher wie ein alter, schwacher Greis, der Mühe hatte, länger Strecken zu gehen (wobei heute Senioren mit über 80 keinesfalls ’schwach‘ sein müssen, sondern höchste Fitnss besitzen können…)).
8) Wie gesagt, wer solches nicht selbst real erlebt hat, kann es sich nicht vorstellen (ich kenne Ärzte, die als hochbelastbar gelten, die sich auch aufgrund massiver Schmerzen klinisch untersuchen ließen, dann erfahren mussten, dass organisch alles OK ist, und sich dann mit der Diagnose ‚Psychosomatische Überlastung‘ (Burn Out) konfrontiert sahen.
9) Jetzt gibt es ja zahllose Gründe, warum jemand in einen Überlastungszustand hineinsteuern kann. Am Übelsten sind wohl jene Situationen, in denen jemand von einer bestimmten beruflichen Tätigkeit finanziell abhängig ist und im Rahmen dieser Arbeit Leistungen erbringen muss, die objektiv von ihm nicht leistbar sind. Es ist dann nicht nur eine Frage der Zeit, bis die Überlastung auf den Körper durchschlägt; es kommt dazu eine psychische Angstsituation, die dem Betroffenen daran hindert, das sachlich Notwendige zu erkennen und zu tun, um sich vor der Überlastung zu schützen. Zur körperlichen Überlastung kommt dann noch eine psychische ‚Lähmung‘; beides zusammen ist eine Art hochkonzentriertes Gift, dem der eigentlich geniale Großorganismus dann irgendwann zwar seine ‚Scheinerkrankung‘ als Warnsignal entgegen setzen kann, aber aufgrund der eingeschränkten psychischen Reaktionsmöglichkeit wird es tendenziell überhört, übergangen.
10) Klar wird an diesem Beispiel auch, dass diese Form von ‚Krankheit‘ normalerweise nicht von dem einzelnen alleine ‚geheilt‘ werden kann. Da die ‚Ursache‘ außerhalb von dem einzelnen in seiner beruflichen Situation liegt, ist die gesamte berufliche Situation ‚verantwortlich‘, also die entsprechenden ‚Chefs‘ sind gefordert. In manchen Firmen hat man – zumindest für die ganz ‚teuren‘ Mitarbeiter – mittlerweile regelrechte Anti-Überlastungsprogramme eingeführt, in denen sorgsam darauf geachtet wird, möglichst frühzeitig Überlastungsphänomene zu deuten und durch entsprechende Maßnahmen den einzelnen zu schützen. Aber eben nur für die ‚höchste‘ Ebene. Alle ‚darunter‘, einschließlich den ‚Chefs‘, arbeiten tendenziell unter einer ‚bedrohlichen‘ Situation (Es gibt mittlerweile Untersuchungen von großen Firmen, in denen sich in manchen Abteilungen die Krankheitsfälle häufen, in anderen ist fast niemand krank. Die Untersuchungen brachten zutage, dass in den ‚krank machenden Abteilungen‘ speziell der Umgang untereinander erhebliche Defizite aufwies…).
11) Als eine besonderes ‚raffinierte‘ Form von Überarbeitung erscheint jene, in denen Menschen ‚aus Begeisterung heraus‘, aus ‚Faszination heraus‘ arbeiten, Prozesse und Projekte anstoßen, Dinge tun, sich engagieren usw. Alles, jedes für sich genommen, ‚gute‘ Ideen, Projekte, Aktivitäten. Aber auch diese Menschen kann es nicht nur treffen sondern trifft es unweigerlich, wenn sie in ihrem ‚Rausch‘ die realen Grenzen des Körpers überziehen. Wo die ‚realen Grenzen‘ des Körpers genau liegen ist natürlich individuell verschieden, aber sie sind ‚endlich‘. Wenn nun jemand ‚krank wird aus Begeisterung‘, ‚Krank wird weil er etwas Gutes tut‘, dann ist es nicht so sehr die berufliche Umgebung als solche, die ursächlich ist, sondern der Betroffene selbst ist ’sein eigener Feind‘!
12) Wie jeder, der diese Zeilen aufmerksam liest, ahnen kann, ist es genau das, was dem Autor dieser Zeilen aktuell passiert ist. Nach Wochen von allen möglichen ‚Pseudophänomenen‘ wurde dann irgendwann klar, es gibt nichts Organisches, keinen Virus oder etwas Vergleichbares, er selbst mit seiner Begeisterung für so vieles hat sich in einen Zustand manövriert, in dem sein Körper streikt. Das erzeugte ein Wechselbad von Gefühlen und Zuständen. Vor allem: wie ’stoppt man sich selbst‘? Wenn die Gedanken einfach so, quasi von selbst hervorbrechen, wenn sie spannend sind, wenn sie geradezu faszinieren, warum und wieso soll man sie stoppen? Aber so ist es. Wir alle – jeder auf seine Weise – leben am Abgrund, auf Abruf, an der Schwelle, reiten ‚auf der Welle‘ oder von ihr ‚begraben‘ werden….
13) In und an uns tragen wir unaufhebbar ein Moment von ‚Endlichkeit‘ das uns (heilsam?) daran erinnert, dass unser Denken (noch nicht?) im luftleeren Raum stattfindet, sondern auf der Grundlage materiell-energetischer Prozesse höchster Komplexität, für die es schlappe 13.8 Mrd Jahre gebraucht hat, bis es soweit war. Und dann liegen wir ‚agonisch‘ in einem Sessel und lamentieren über unsere Schwachheiten…. Vollkommenheit ist vielleicht etwas anderes…:-)

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REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Epilog

1. Es gibt nur wenige Bücher, denen ich so viel Zeit für eine Diskussion gewidmet habe (was nicht heißt, dass es nicht auch andere Bücher gibt, die großartig sind oder denen man viel Zeit widmen sollte). Und, diesen Blog mit ‚Epilog‘ zu überschreiben gibt nicht die ganze Wahrheit wieder. Das Wort ‚Epilog‘ könnte den Eindruck erwecken als ob die Sache damit ‚abgeschlossen‘ sei, etwas, das ‚hinter‘ uns liegt. Dem ist aber nicht so, in keiner Weise. Die Gedanken, die Kauffman in seinem Buch aufblitzen läßt sind eher wie ‚Blitze‘, die in einer großen Dunkelheit für einen kurzen Moment in der Nacht Dinge sichtbar werden lassen, an die man ’normalerweise‘ so nicht denkt.
2. Gewiss kann man an seinem Buch auch viel Kritik üben: streckenweise sehr langatmig, viele Formulierungen wiederholen sich immer wieder, die Quellen sind oft nicht klar, es fehlt eine strenge Systematik, die alle Teile erfasst, sehr Wissenschaftliches paart sich teilweise mit sehr Spekulativem, usw. Alles dies ist richtig. Aber betrachtet man alles zusammen, nimmt man alle Aussagen als Teile eines großen Akkords, dann blitzt in all den Fragmenten eine Gesamtsicht auf, die – nach allem, was ich kenne, weiß und verstehe – sehr ungewöhnlich ist, originell, wissenschaftlich sehr begründet und – vor allem – Dinge zusammen bringt, die für gewöhnlich getrennt sind.

EIN AUßERGEWÖHNLICHES BUCH

3. Insofern würde ich sagen, ja, es ist ein sehr außergewöhnliches Buch.

KRITIK AN EINER ZU ENGEN WISSENSCHAFTLICHEN WELTSICHT

4. Es gibt immer wieder Wissenschaftler die ihre eigene Disziplin kritisieren. Aber es ist selten. Meist sind es Nobelpreisträger, die keine Angst mehr haben müssen, dass die eigene Zunft Sie danach sozial ausgrenzt. Kauffman ist kein Nobelpreisträger, und doch hat er den Mut, dies zu tun. Dies liegt nach meiner Einschätzung vor allem darin begründet, dass er nicht nur innerhalb einer einzigen Disziplin geforscht hat, sondern in verschiedenen Disziplinen, mehr noch, er hat sich nicht nur ‚innerhalb‘ der Paradigmen bewegt, sondern er hat sich mit Phänomenen beschäftigt, die es verlangt haben, auch immer ‚über‘ die anzuwendenden Methoden nachzudenken. Dadurch sind ihm natürlich die Schwachstellen des Vorgehens aufgefallen, dadurch hat er begonnen, über alternative Sichten nachzudenken.
5. Eine der zentralen Schwachstelle trägt den Namen ‚Physikalischer Reduktionismus‘. Damit verbindet sich die Auffassung, dass es zur Erklärung der Phänomene in dieser Welt ausreiche, diese in eine kausale Beziehung zu setzen zu den ‚zugrunde liegenden elementaren Bestandteilen‘; als solche elementaren Bestandteile gelten Moleküle, Atome, und subatomaren Partikel. Diese Art von ‚wissenschaftlicher (reduzierender) Erklärung‘ macht aus der Gesamtheit aller Phänomene ein Wirkungsfeld von elementaren (letzlich physikalischen) Teilchen und elementaren Kräften.
6. Kauffman hat durch seine vielfältigen Arbeiten aber den Eindruck gewonnen, dass bei dieser Erklärungsweise sehr viele Besonderheiten der Phänomene oberhalb der Atome (ab einem bestimmten Komplexitätsgrad vielleicht sogar alle Besonderheiten) auf der Strecke bleiben. Sie werden epistemisch ‚unsichtbar‘. Für einfache Gemüter ist dies OK. Für differenzierter denkende Menschen, wie Kauffman einer ist, stellen sich hier aber Fragen. Und es ist genau hier wo sich die besondere Qualität von Kauffman zeigt: er stellt sehr viele Fragen, er geht ihnen auf vielfältige Weise nach, und kommt dann zum Ergebnis, dass eine reduktionistische Sicht letztlich genau die interessanten Phänomene zerstört. Nicht das Zurückfragen nach möglichen elementaren Bestandteilen ist der Fehler, sondern der Verzicht auf eine Beschäftigung mit der Makroebene selbst, mit der Komplexität, die sich gerade in den Makrophänomenen manifestiert.

NICHTVORAUSSAGBARKEIT

7. In für den Leser z.T. sehr mühevollen, aber von der Sache her sehr wohl berechtigten, Analysen unterschiedlichster Phänomenbereiche (grob: Biologie, Wirtschaft, Physik) gelingt es Kauffman immer wieder aufzuzeigen, dass eine reduzierende Betrachtungsweise genau das verfehlt, übersieht, was dieses Phänomen ausmacht. Und in all seinen vielfältigen Beispielen ist es u.a. die ‚Nichtvoraussagbarkeit‘, die man überall feststellen kann. Es beginnt bei der generellen ‚Nichtergodizität‘ des Universums als Ganzem, es setzt sich fort im Bereich der Molekülbildungen, der Zellentstehung, der Herausbildung von Lebensformen, in der generellen Nichtvoraussagbarkeit von Gehirnaktivitäten, die wechselseitigen Beeinflussungen von Naturprozessen im allgemeinen und biologischen Formen als Besonderem (Evolution, Ko-Evolution), die Wechselwirkungen unter biologischen Akteuren, die Wechselwirkungen eines wirtschaftlichen Verhaltens, die ihrer Natur nach in keiner Weise mehr voraussagbar sind, und vieles mehr. Wer die Sehweise von Kauffman übernimmt für den wird die Welt sehr vielfältig, sehr besonderes, sehr dynamisch, grundsätzlich nicht voraussagbar.

QUANTENPHYSIK

8. Kauffman macht sich die Mühe, die Eigenschaft der Nichtvoraussagbarkeit auf sehr vielen Ebenen aufzuzeigen. Letztlich wurzelt sie aber schon in der Grundlage von allem, im ‚Medium‘ von aller erfahrbaren Wirklichkeit, die die Wissenschaft als ‚Quantenwelt‘ enttarnt hat. Die aus dem menschlichen Alltag bekannte Raum-Zeit-Welt mit ihren Makroeigenschaften ist ein Artefakt unseres Körpers und des darin eingebetteten Gehirns, das uns mit Erkenntnissen über diese Welt versorgt. ‚Hinter‘ den alltäglichen Phänomenen existiert nach den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen aber eine Welt von Quanten, deren mathematische Beschreibung uns darüber belehrt, dass es sich hier nur noch um Wahrscheinlichkeitsfelder handelt: Was zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort an Eigenschaften gegeben sein soll lässt sich grundsätzlich nur als ein Wert in einer Wahrscheinlichkeitsverteilung angeben. Zusätzlich enthüllt diese Quantenwelt Eigenschaften von Wechselwirkungen zwischen den Quanten, die mit der Alltagserfahrung nicht kompatibel sind (so können z.B. Quanten in einer Geschwindigkeit und über Entfernungen interagieren, die in der Alltagswelt unmöglich sind).
9. Nimmt man die quantenphysikalische Sicht ernst, dann hat man ein großes Problem, nämlich die ‚Koexistenz‘ von Quantenwelt und physikalischer Makrowelt zu erklären. Die Konkretheit der alltäglichen Makrowelt bildet quantenphysikalisch eine ‚Dekohärenz‘, die zu erklären bislang schwerfällt. Dazu kommt, dass diese Dekohärenz aus Sicht des Alltags ‚andauert‘, dass aber zugleich die Kohärenz der Quantenwelt nicht aufgehoben wird. Hier herrscht bislang ein großes Schweigen der Physik.
10. Kauffman vermutet vor dem Hintergrund der Quantenwelt, dass wir viele Eigenschaften des Gehirns möglicherweise nur durch Rückgriff auf diese Quantenwelt wirklich verstehen können; Genaues kann er nicht sagen, obgleich er Autoren zitiert, die (ähnlich wie Descartes mit seiner Zirbeldrüse) versuchen, konkrete Strukturen in der Biochemie der neuronalen Maschinerie zu identifizieren, die für die ‚Übersetzung der Quanteneffekte‘ in die Makrowelt eines Gehirns verantwortlich sind. Man kann sich über diese Erklärungsversuche lustig machen, zeigen sie aber doch auch, dass selbst die besten Denker unserer Zeit bislang hier vor mehr Rätseln stehen als Antworten.

KREATIVITÄT, HEILIGES, GOTT

11. Eine Kehrseite von Nichtvoraussagbarkeit ist die ‚Kreativität‘. Denn um immer wieder neue Ereignisse, Ereignisketten, Strukturen, komplexe Wechselwirkungen hervorbringen zu können, benötigt man Verhaltensweisen, Rahmenbedingungen, die das ermöglichen. Kauffman meint in der Vielfalt dieser nicht voraussagbaren Prozessen eine ‚Kreativität‘ ‚am Werke‘ zu sehen, die sich vom physikalischen Anfang des Universums, über Materiebildung, Sternenbildungen, Galaxien, Sonnensystem, Leben auf der Erde usw. in gleicher Weise manifestiert. Eine Kreativität, die geradezu eine ‚innere Eigenschaft‘ unseres Universums zu sein scheint. Und dass es genau diese Kreativität ist, die das eigentlich zu erklärende Phänomen bildet, das, an dem sich alle Wissenschaften zu messen haben. Es überrascht dann nicht, wenn Kauffman für diese Zentraleigenschaft des Universums den Begriff ‚Heiliges‘ (’sacred‘) vorschlägt, und im zweiten Schritt (oder im ersten, das lässt sich hier nicht genau sagen), den Begriff ‚Gott‘ (‚god‘).

KRITIK WEGEN GOTT?

12. Speziell an dieser Stelle könnte man Kritik laut werden lassen. Schließlich haben genau die Begriffe ‚Gott‘ und ‚Heiliges‘ in der menschlichen Geschichte in nahezu allen Kulturen seit mindestens 2000 – 3000 Jahren eine lange und vielschichtige Tradition. Die Kritik bestände darin, Kauffman vorzuwerfen, dass er sich nicht genügend um die Vermittlung zwischen seiner Verwendungsweise der Begriffe ‚Gott‘ und ‚Heiliges‘ und der vielfältigen Verwendungsweisen dieser Begriffe in der bisherigen kulturellen Geschichte gekümmert habe. Dies sei eigentlich eines Wissenschaftlers unwürdig.
13. Einerseits würde ich diese Kritik auch erheben. Andererseits muss man aber auch klar sehen, dass die Aufgabe eines konstruktiven Dialoges zwischen dem Erklärungsansatz von Kauffman und den bisherigen Verwendungsweisen des Begriffs ‚Gott‘ und ‚Heiliges‘ (z.B. in der jüdischen, dann in der jüdisch-christlichen, und dann noch in der jüdisch-christlich-islamischen Tradition) eine gewaltige Aufgabe ist, die kaum ein Mensch alleine leisten kann, sondern vermutlich sehr vieler Menschen bedarf, die zudem vermutlich über mehrere Generationen hinweg solch einen Reflexionsprozess leisten müssten.
14. Ich persönlich sehe zwischen dem Kern eines jüdisch-christlichen (vermutlich auch jüdisch-christlichen-islamischen) Gottesbegriffs und dem Ansatz von Kauffman keinerlei Gegensatz. Aber ich bin Theologe, Philosoph und Wissenschaftler und habe mich mehrere Jahrzehnte mit diesen Fragen beschäftigt. Für jemanden, der diese Gelegenheit nicht hatte, ist diese Fragestellung möglicherweise eher ‚undurchdringlich‘ und von daher kaum entscheidbar.

UND SONST

15. Diese wenigen Gedanken können die Breite und Tiefe, die Vielfalt der Gedanken von Kauffman in seinem Buch nicht einmal annähernd wiedergeben. Wer sich also von den hier angeschnittenen Themen angesprochen fühlt, sollte dieses Buch unbedingt selber lesen. Allerdings sage ich ganz offen: das Buch ist hart zu lesen, z.T. wegen des spezifischen Inhalts, z.T. wegen einer nicht ganz straffen Systematik, z.T. wegen vieler Wiederholungen bestimmter Gedanken. Aber ich halte es trotz dieser Schwächen für eine sehr, sehr wichtiges Buch. Mir persönlich hat es eine Menge an Klärungen gebracht.

SYNOPSYS DER EINTRÄGE ZU KAUFFMAN

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil1. Zusammenstellung vieler Phänomene und Erkenntnisse, die die Position eines physikalischen Reduktionismus in Frage stellen. Dann Verlagerung zu den grundlegenden Mechanismen des Biologischen und Vorstellen des autokatalytischen Modells zur Modellierung biologischer Emergenz.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil2. Es werden dann wichtige Konzepte vorgestellt und diskutiert: Agentenschaft, Arbeit und Information. Information ist zu wenig, Arbeit ist mehr als Wärme, Agentenschaft impliziert Werte.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil 3. Anhand der Begriffe ‚Adaption‘. ‚Präadaption‘ sowie ‚Ko-Evolution‘ versucht er die Behauptung von der Nichtvoraussagbarkeit des Universums zu motivieren. Dazu das sehr starke Argument von der ‚Nichtergodizität‘ des Universums. Erste Einführung des Begriffs ‚Kreativität‘.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil 4. Zitiert prominente Modelle, die den Anspruch erheben, das wirtschaftliche Geschehen zu beschreiben. Diskutiert die Grenzen dieser Modelle. Stellt seine autokatalytischen Modellierungsversuche vor. Zeigt die prinzipiellen Grenzen auf, die eine Beschreibung wirtschaftlicher Vorgänge unmöglich macht.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil 5. Es folgen einige allgemeine Einschätzungen zu ‚Seele‘, ‚Geist‘ und ‚Wissenschaften‘, die nicht klar einordenbar sind. Längere Diskussion zur Algorithmisierung und Nichtalgorithisierung von Geist, Geirn als physikalischem Prozess, kognitiven Modellen und deren Grenzen, Geist und Bedeutung.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil 6. Zunächst einmal Warnung, da das Folgende sehr spekulativ sei. Ordnet die Neurowissenschaften der klassischen Sicht der Physik zu. Ein quantenphysikalischer Ansatz wäre besser. Erinnerung an Positionen der Phiilosophie und deren eigene Fragwürdigkeit. Erwähnt die Position der sogenannten ’starken KI‘. Quantenphysik, ‚Geist‘, ‚Selbstbewusstsein‘, Möglichkeiten und Grenzen. Emergenz statt Reduktionismus. Drei harte Argumente gegen den Geist ‚Epiphänomenalismus‘, ‚Qualia‘ und ‚freier Wille‘. ‚Geist‘ als Phänomen der ‚Natur‘. Eigener Gottesbegriff.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil 7. Zusammenfassung der bisherien Erkenntnisse und wiederholt Einführung eines eigenen Gotesbegriffs (kritische Anmerkung dazu). Prinzipielle Unabgeschlossenheit allen Wissens. Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft: ‘Kunst’ als Form der Kreativität gehört letztlich zum inneren Prinzip des kreativ-evolutionären Geschehens. Nochmals ‚Gott‘ (und kritische Anmerkugen). Faktum des Bösen. Begriff der ‚Agentenschaft‘ führt zu ‚Bedeutung‘ und ‚Werten‘, Ethik. Kritisiert den ‘Deontologismus’ und den ‘Konsequentialismus’ innerhalb der Ethik. Werte als ‚Pareto-Optimum‘. Globale Ethik. Nochmals ‚Gott‘ und ‚Heiligkeit‘

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REDUKTIONISMUS, EMERGENZ, KREATIVITÄT, GOTT – S.A.Kauffman – Teil 7

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Letzte Änderungen: 22.April 2013, 08:18h

KAUFFMANS GOTTESBEGRIFF

1. In den folgenden Kapiteln 14-19 spekuliert Kauffman auf der Basis des bislang Gedachten. Das Kapitel ‚Living in Mystery‘ (etwa ‚Leben im Geheimnis‘) SS.230-245 beginnt er mit der zusammenfassenden Feststellung, dass nach den vorausgehenden Untersuchungen die gesamte bisherige – biologische wie auch kulturelle – Geschichte ’selbst-konsistent‘ (’self-consistent‘) sei, ‚ko-konstruierend‘ (‚co-constructing‘), ‚evolvierend‘ (‚evolving‘), ‚emergent‘ und ’nicht voraussagbar‘ (‚unpredictable‘).(vgl. S.231) In allem erkennt er eine fortschreitende ‚Individualisierung‘ (‚individuation‘) von Teilsystemen und Prozessen mit kontinuierlichen Ausprägungen von ’selbst-konsistenten Zusammenfügungen von Gemeinschaften‘. Alle diese Prozesse geschehen ständig, ohne dass wir in der Lage wären, sie mit den bekannten physikalischen Gesetzen hinreichend beschreiben zu können. (vgl. S.231) Für all dieses Geschehen, in dem er eine spezifische ‚Kreativität‘ am Werke sieht, führt er seinen Begriff von ‚Gott‘ (‚god‘) ein als eine Art technischen Begriff für das Ganze. (vgl.S.276) Und unter Voraussetzung dieses seines speziellen Gottesbegriffs führt er dann als weiteren technischen Begriff den Term ‚Heilig(es)‘ (’sacred‘) ein mit der Bemerkung, dass wir mit unserer Entscheidung (‚our choice‘) das ‚Heilige‘ im Universum und seinem Werden hochhalten (‚hold‘). (vgl. S.232,)

KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU KAUFFMANS GOTTESBEGRIFF

2. [Anmerkung: Dieses Vorgehen ist schon etwas merkwürdig. Einerseits beteuert Kauffman dass er mit Glauben und Religion nichts zu schaffen habe, andererseits versucht er hier den historisch gewaltig aufgeladenen Begriff ‚Gott‘ in diesem neuen Kontext mit seiner Bedeutung zu etablieren, zusätzlich ergänzt um den nicht weniger aufgeladenen Begriff ‚heilig’/ ‚Heiligkeit‘. Warum tut er das? Wenn ihm die bisherigen Glaubenstraditionen egal wären, gäbe es eigentlich keine Motivation, Begriffe wie ‚Gott‘ bzw. ‚heilig‘ in diesen Kontexten zu erwähnen. Wenn er es aber dennoch tut, scheinen ihm diese Begriffe wichtig zu sein. Irgendwie verbindet sich für ihn mit den Begriffen ‚Gott‘ und ‚heilig‘ etwas, was er mit den für ihn spannendsten Eigenschaften dieser Welt verknüpft sehen will. Ich selbst bin 1990 aus der katholischen Kirche ausgetreten, da ich mit ihrer Art den Glauben an das Ganze zu vermitteln, einfach nicht mehr einhergehen konnte. Andererseits sind für mich die verschiedenen religiösen Traditionen (jüdisch, jüdisch-christlich, jüdisch-christlich-islamisch,…) trotz all ihrer Unvollkommenheiten nicht grundsätzlich etwas ‚Schlechtes‘, transportieren sie doch in ihrer geschichtlichen Konkretheit wertvolle menschliche Erfahrungen, von denen wir alle lernen können, sofern wir unser kritisches Denken dabei nicht ausschalten. Und mit Blick auf diese Traditionen muss man sagen, dass es hier Bilder und Überlegungen zu dem Begriff ‚Gott‘ gibt, die mit den Überlegungen von Kauffman vollständig kompatibel sein können; man könnte die Überlegungen von Kauffman ohne weiteres als eine Art weiterführenden Beitrag zum Thema sehen. Ein christlicher Theologe wie Teilhard de Chardin (1881 – 1955) war – trotz seiner beständigen Unterdrückung durch das kirchliche Lehramt – sehr nahe bei den Sichten, die Kauffman propagiert; in gewisser Weise vielleicht sogar weiter, wenngleich im technischen Detail natürlich – zeitbedingt – nicht so weit wie Kauffman. Kurzum, mir scheint dass Kauffman entweder das Thema ‚Gott‘ aus seinen Überlegungen heraushalten sollte (wenn Religion doch so unwichtig ist) oder aber, wenn er doch historisch so aufgeladene Begriffe wie ‚Gott‘ und ‚heilig‘ benutzt, sich die Mühe machen müsste, seine Art der Verwendung dieser Begriffe mit den in diesen gewachsenen Traditionen gebräuchlichen Verwendungen abzugleichen. Die wissenschaftliche Redlichkeit, um die er sich ansonsten immer bemüht, gebietet dies. Seine seltsam ‚verdrängende‘ Vorgehensweise im Gebrauch der Begriffe ‚Gott‘ und ‚heilig‘ erscheint mir von daher – so stimulierend diese Gedanken sind – wissenschaftlich unredlich und damit der schwächste Teil seines ganzen Buches. Nicht nur das, indem er diese Dimension seines Buches nahezu vollständig ausklammert beraubt er sein Buch einer wichtigen möglichen Wirkkomponente: die große Schwäche der religiösen Traditionen Judentum, jüdisches Christentum, jüdisch-christlicher Islam heute besteht nach meiner Wahrnehmung darin, dass sie die gesamten modernen Entwicklungen mehr oder weniger vollständig ausgeklammert haben. Ein konstruktiver Brückenschlag zwischen Erkenntnissen, wie sie Kauffman kommuniziert und diesen Positionen könnte ‚belebend‘ sein für beide Seiten. Dies setzt allerdings voraus, dass man die religiösen Traditionen nicht als vollständigen Unsinn abtut sondern in ihrem ‚Kern‘ eine empirisch vollziehbare Gottesbeziehung erkennt und für möglich hält, die jedem Lebewesen, ja dem ganzen Universum ‚innewohnt‘. Es ist für mich eine offene Frage, ob es irgend einen offiziellen religiösen Repräsentanten gibt, der in diesem radikalen Sinne ‚an Gott glaubt‘ – oder verbirgt sich hinter der ‚religiösen Fassade‘ letztlich ein abgrundtiefer Unglaube? Wirklich entscheiden werden wir diese Frage nie können. Es bleibt uns letztlich nur eine ‚Vertrauen‘ in den anderen, eine Art von ‚Glauben‘, der natürlich enttäuscht werden kann. Jede Art von Radikalismus ist hier fehl am Platz.]

PRINZIPIELL UNVOLLSTÄNDIGES WISSEN

3. Auf den SS.232-235 folgen dann verschiedene Überlegungen, in denen er unterschiedlichste Autoren zitiert (u.a. T.S.Eliot, Plato, Aristoteles, Newton, Carl Jung, Paul Dirac, Nietzsche) und das ‚Deep Blue‘ Computerprogramm von IBM, das den damaligen Schachweltmeister Gary Kasparow schlagen konnte. Alle diese Stellen sollen illustrieren, dass und wie wir mit einem begrenzten Wissen in einer offenen, sich beständig wandelnden Situation agieren.
4. Es folgt dann ein etwas systematischerer Abschnitt SS.236-245, in dem er anhand einer spieltheoretischen Situation illustriert, wie zwei Spieler sich wechselseitig hochschaukeln können, indem sie nach und nach jeweils ein ‚Modell des Anderen‘ konstruieren, das sie in ihren Entscheidungen leitet. Jede Ereigniskette, die solche Akteure als Produzenten enthält, verliert damit auf Dauer ihren ‚zufälligen‘ Charakter. Andererseits ist es so, dass die Verhaltensweisen solcher ‚lernfähiger‘ Akteure nicht ‚konstant‘ ist, sondern sich aufgrund ihrer aktiven Modellbildungen beständig verändert. D.h. adaptive Rationalität selbst ändert die erfahrbare Rationalität der Wirklichkeit. Und folgerichtig stellt Kauffman die Frage, was es denn heißt, ‚vernünftig‘ (‚wisely‘) zu handeln, wenn wir nicht nur das Ganze noch nicht kennen, sondern durch unser eigenes Verhalten das Ganze beständig verändern? (vgl. S.244) Und er kommt aufgrund wissenschaftlicher Überlegungen zu dem bedenkenswerten Schluss: „Das, was wir brauchen, um unser Leben zu leben, ist Glauben (‚faith‘); bei weitem wichtiger als Wissen (‚knowing‘) oder Erkennen (‚reckoning‘).“ (S.244) Und diese Art zu glauben ist ein biologisches Phänomen, eine inhärente Eigenschaft biologischer Lebensformen, die auf dieser Erde entstanden sind. (vgl. S.245)

DIE ZWEI KULTUREN (und Religion)

5. Auf den folgenden Seiten SS.246-254 variiert Kauffman diese Gedanken weiter anhand der kulturellen Aufspaltung in Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft, wie sie Europa – und dann auch andere Teile der Erde – seit dem Aufkommen der modernen empirischen Wissenschaften charakterisiert und prägt. Angesichts der von ihm herausgearbeiteten grundsätzlichen ‚Kreativität‘ des ganzen Universums und des evolutionären Geschehens auf der Erde, hält er diese Aufspaltung für nicht mehr gerechtfertigt. Mit zahlreichen Zitaten von diversen Wissenschaftlern, Philosophen und Künstlern versucht er zu unterstreichen, dass die ‚Kunst‘ letztlich zum inneren Prinzip des kreativ-evolutionären Geschehens gehört. Wie zuvor aufgezeigt stößt die menschliche Vernunft beständig an ihre Grenzen, die sie nur überwinden kann, wenn sie diese Grenzen akzeptiert und sie durch ein geeignetes kreativ-koevolutionäres Verhalten ‚erweitert‘ und so dem Werden des je Unbekannten Raum gibt.
6. Verräterisch ist, wenn Kauffman zu Beginn dieses Kapitels hervorhebt, dass man jetzt mit einem Gottesbegriff leben kann, den ‚wir selber erfunden haben‘ (‚our own invention‘).(S.246) Damit bestätigt er indirekt die oben von mir geäußerte Vermutung, dass er die ‚älteren Verwendungsweisen des Begriffes ‚Gott“ als unangemessen ablehnt. [Anmerkung: Hier baut Kauffman einen Gegensatz auf, der so meines Erachtens nicht nur unnötig, sondern sogar falsch ist. Noch mehr, er vergibt sich die Chance, zu zeigen, dass auch die traditionellen jüdisch-christlich-islamischen Verwendungsweisen des Wortes ‚Gott‘ historisch gewachsen sind, dass sie sich kreativ-koevolutiv im Wechselspiel von menschlichem Leben und umgebender sich ereignender Geschichte ‚entwickelt‘ haben. Und dass gerade diese Entwicklung der verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs ‚Gott‘ in dramatisch wissenschaflich-künstlerischer Weise dokumentieren, wie hier der menschliche Geist damit ringt, trotz seiner konkreten und historischen Begrenztheiten das je Größere zu ahnen, irgendwie doch zu fassen, irgendwie doch das je Größere Absolute Transzendente in die endliche Konkretheiten einer historisch bedingten Körperlichkeit zu ‚übersetzen‘. Wer in den Wörtern der ‚heiligen‘ Texte immer nur die historischen Bedingtheiten, die zeitlich bezogenen Konkretheiten sieht, der verweigert diesen Texten genau die Ehrfurcht, die Weite, die Tiefe, die Großzügigkeit, den Mut, die transzendierende Mystik, die in ihnen ‚lebt‘, sich Ausdruck gesucht hat. Natürlich ist dieser ‚weitere, tiefere‘ Blick nicht logisch zwingend, nicht deduktiv absolut herleitbar (was manche immer wieder glauben), aber Kraft der transzendenten Wahrheit, die in jedem menschlichen Erkennen lebt, kann sie jeder ’sehen‘, wenn er will, und, vor allem, er kann sie mit seinem eigenen Leben ‚ausprobieren‘; dies nennt man dann entweder ‚Künstlersein‘ oder ‚religiös sein‘, gespeist von Kreativität und Glauben, oder beides in einem. Es ist sehr schade, dass Kauffman diesen tieferen und umfassenderen Zusammenhang offensichtlich nicht sieht. Dies kann u.a. daran liegen, dass die offiziellen religiösen Gemeinschaften den tieferen ‚Schatz ihrer eigenen Überlieferung‘ oft nicht voll verstehen und dass die sogenannten ‚geistlichen Führer‘ weniger ‚geistliche‘ Führer sind sondern Machtmenschen und Geschäftsleute, die ihre sehr persönlichen Vorteile in allem suchen. Die innere Freiheit des Geschehens kann solchen Missbrauch nicht verhindern und kann dann zur Abkehr von sehr vielen Menschen von den religiösen Traditionen führen. Schon ein Jesus von Nazareth hatte den Unterschied zwischen ’sich religiös geben‘ und ‚tatsächlich religiös sein‘ sehr klar erkannt und benannt.]

FÄHIG ZUM BÖSEN

7. Auf den SS.255-258 verweist Kauffman auf das Faktum, dass wir Menschen als konkreter Teil einer konkreten Evolution aufgrund unserer limitierten Ausstattung sehr vieles falsch machen können und auch schon falsch gemacht haben. zusätzlich haben wir Bedürfnisse, Emotionen, Motivationen die sehr partikulär sein können, sehr egoistisch und sehr, sehr grausam. Die Technologien der Zerstörung (und des Tötens) gehören immer mit zu den am weitesten entwickelten. Ob und wie wir diese destruktiven limitierenden Kräfte auf Dauer hinreichend konstruktiv einbinden können muss die Zukunft zeigen.

ETHIK

8. Ein Hauptthema des Buches von Kauffman war und ist der Versuch, aufzuzeigen, dass der sogenannte ‚Reduktionismus‘ aller Phänomene auf einen ‚Physikalismus‘ nicht haltbar ist. Ein zentrales Argument innerhalb dieses Aufweises ist die Behauptung, dass die meisten für uns Menschen interessante Phänomene der Evolution ‚emergenter‘ Natur sind, d.h. sich in ihrer Komplexität nicht aus den physikalischen Bestandteilen als solchen erschließen. Innerhalb dieser emergenter Phänomene gibt es das, was Kauffman ‚Agentenschaft‘ (‚agency‘) nennt, und verbunden mit der Agentenschaft, die Fähigkeit, bestimmten Vorkommnissen nicht nur allgemein eine ‚Bedeutung‘ zuzuweisen, sondern sogar eine ausgezeichnete Bedeutung im Sinne eines ‚Wertes‘: ein Vorkommnis x hat einen bestimmten ‚Wert‘ v mit Bezug auf einen ‚lebensrelevanten‘ Faktor L. D.h. innerhalb der biologischen Evolution haben sich Strukturen entwickelt, für die die wahrnehmbare Welt nicht ’neutral‘ ist, sondern ‚wertig‘; es gibt Ereignisse die mit Bezug auf das ‚Überleben‘ der Art ‚relevant‘ sind, ‚bedeutungsvoll‘, ‚wichtig‘.(vgl. S.259)
9. [Anmerkung: Man muss also sagen, dass es zum ‚Auftreten‘ des ‚Lebens‘ auf dieser Erde gehört, dass das Leben ‚als Teil von sich‘ bestimmte Ereignisse/ Eigenschaften dieser Welt als ‚wertvoll‘ erlebt. Oder, anders ausgedrückt, das Leben definiert sich wesentlich dadurch, dass es selbst einen ‚Wert‘ darstellt, der ‚von sich aus‘ ‚erhalten‘ sein will. Das Leben muss nicht künstlich irgendwelche Werte finden, derentwillen es sich lohnt zu leben, sondern das Leben als biologisches Phänomen ‚ist selbst der primäre Wert‘, um den es geht. Es existiert nur, weil es in dieser Form vom ‚Kosmischen Gesamtzusammenhang‘ Erde – Sonnensystem – Milchstraße – Universum in dieser Besonderheit ‚induziert‘ wurde und sich in Form dieser Besonderheit entwickeln konnte. Eine Alternative ist praktisch nicht möglich, da die Alternative vom kosmischen Gesamtzusammenhang her nicht unterstützt wird! Alle Atome, Moleküle, die sich nicht ‚in der Weise verhalten‘, wie es vom kosmischen Gesamtzusammenhang ‚belohnt‘ wird, haben keine Existenzmöglichkeit!!! Damit erscheint das Leben, so, wie es sich im kosmischen Gesamtzusammenhang entwickelt hat, als der einzige ‚fundamentale Wert‘, den wir bis heute kennen!!! Und natürlich liegt der Schluss nahe, dass sich aus diesem fundamentalen Wert (der sich aber nur den ‚im Leben befindlichen Akteuren‘ erschließt) alle anderen Werte ableiten lassen müssen.]
10. Im Lichte dieser fundamentalen Werteposition wundert es nicht, dass Kauffman zwei wichtige Positionen der heutigen Ethik kritisiert: den ‚Deontologismus‘ und den ‚Konsequentialismus‘. (vgl. S.259).
11. Sein Hauptargument besteht darin, dass unser moralisches Empfinden und unser Wertesystem sich erst in der Evolution und der zugehörigen Kultur ‚entwickelt‘ hat und dass von daher die Bezugnahme auf eine höheres, absolutes moralisches Fühlen im Sinne eines Deontologismus (sich verpflichtet fühlen) bzw. eines die Folgen des Handelns Bedenkens im Sinne eines Konsequentialismus ohne die Berücksichtigung der Entstehung und ihres jeweiligen Kontexts keinen Sinn macht. (vgl.S.259f)
12. Kauffman illustriert diese Kernthese mit vielen Zitaten (vgl. SS.260-266) und ergänzt den Entwicklungscharakter der Ethik noch um den Aspekt er formalen Unabgeschlossenheit (Gödels Theorem) jeglichen möglichen ethischen Systems. (vgl. S.266) [Anmerkung: Diese formale Unabgechlossenheit ergibt sich u.a. aus der evolutiven Entstehung des Wertesystems bzw. aus der inneren Struktur des Lebens. Diese innere Struktur besteht prinzipiell im beständig über das Gegebene Hinausgehen mit einem – zum Zeitpunkt des Darüberhinausgehens – unvollständigen Wissen! D.h. das ‚Innovative‘ am Leben ist seine ‚Kreativität‘ und die Fähigkeit, sich selbst permanent ‚transzendieren‘ zu können. Die Struktur des Lebens ist – was viele Philosophen früher auch schon erkannt hatten, ohne den Mechanismus der Evolution zu verstehen – in sich so, dass die ‚Erfüllung‘ des Lebensprozesses nur möglich ist, indem sich die bestehenden Strukturen mit etwas ‚außerhalb ihrer selbst‘ ‚verbinden‘!! Zum Zeitpunkt des Lebens ist dem jeweiligen lebenden System aber nicht vollständig klar, was dies genau ist; es erlebt sich selbst allerdings in einer ‚prinzipiellen Unabgeschlossenheit‘ (eine mögliche Version von ‚Transzendentalität‘), durch die es ‚angetrieben‘ ist, das ’noch Fehlende‘ zu ‚finden‘!!!]
13. Aus diesen Überlegungen folgert Kauffman, dass es nicht ein einzelnes höchstes Gut gibt, sondern eher – entsprechend der Idee eines ‚Pareto Optimums‘ im Kontext der Pareto Effizienz (nicht zu verwechseln mit dem Pareto Prinzip) – viele verschiedene Dinge, die alle zugleich wichtig sein können, damit bestimmte Lebensprozesse funktionieren. Nicht die Luftreinheit alleine oder die Wasserqualität oder die Ressourcenschonung oder …. bilden biologisch relevante Werte, sondern das Zusammenspiel vieler verschiedener Faktoren in einem bestimmten Gleichgewicht. (vgl. S.266f). Es kann also nicht darum gehen einige wenige absolute Werte zu identifizieren und zu isolieren. Nein, die biologische Evolution wird kontinuierlich neue Werteensembles ’sichtbar‘ machen, deren Einhaltung und Zusammenspiel wichtig sind; diese Werte können und werden sich im Laufe der Zeit ändern. (vgl. S.271f)

GLOBALE ETHIK

14. Es liegt nahe, den Gedanken der Ethik in einem globalen Rahmen weiter zu denken. Viele Gedanken aus den vorausgehenden Kapiteln wiederholen sich hier (vgl. SS.273-280). Ausdrücklich genannt wird das Thema Vielfalt und Vermischung von Kulturen, globale Ressourcenknappheit, die Problematik verzerrter (fundamentalistischer) religiöser Richtungen und unser Missbrauch anderer Lebewesen für unsere Ernährung. Und er wiederholt auch das Problem der prinzipiellen Wissensgrenzen zu jedem Zeitpunkt bei gleichzeitiger Notwendigkeit, handeln zu müssen. Dieses wissens-unvollständige Handeln verlangt nach Werten, die nicht ‚partikulär‘ sein können. Wo sollen diese neuen Werte herkommen? Er hofft, dass seine Deutung der natürlichen Entwicklung mit seinem Begriff der ‚Kreativität‘ als ‚Heiligkeit‘ eine Art ’natürlichen Gottesbegriff‘ begründet, der als gemeinsamer Grund für alle dienen kann. (vgl. S.276, 280)
15. [Anmerkung: Hier wird unmissverständlich deutlich, dass Kauffman einen bestimmten globalen Zusammenhang voraussetzt, ganz bestimmte kulturelle Gegebenheiten, die in seinem Verständnis eine neue Weltsicht einschließlich einer neuen Ethik verlangen. Während er glaubt, dass dies möglicherweise durch bloße Einführung eines neuen Begriffs (‚God‘, ‚Sacred‘) gelingt, beschreibt er indirekt, dass sehr viele Menschen noch unter dem Eindruck der ‚alten Bilder und Interpretationen‘ stehen, die durch ihre Begrenztheiten ein ‚angemesseneres‘ Verhalten verhindern. Angesichts des Beharrungsvermögens, das psychische und kognitive Muster an den Tag legen, ist es eher unwahrscheinlich, dass die bloße Einführung einer neuen Deutung von ‚Gott‘ die Gewohnheiten von 2000 – 3000 Jahren einfach so ändern; sie sind im Alltag eingebettet und leben dort u.a. in Form von Gewohnheiten, Gebräuchen, Schriftstücken, und Gesetzen, die sich von alleine nicht ändern. Ihre ‚Faktizität‘ prägt aber täglich das Verhalten und damit das Bewusstsein großer Teile der Bevölkerung. Durch diese Rückkopplung des subjektiven Erlebens und Denkens an objektive, soziale Tatbestände kann eine einschneidende Veränderung des Denkens von Dauer immer nur über eine entsprechende Änderung der realen Lebensverhältnisse führen. Die Geschichte hat Beispiele parat, wann und wie solche Prozesse stattgefunden haben.]

NOCHMALS GOTT

16. Auf den abschließenden Seiten SS.281-288 kulminiert nochmals das Denken von Kauffman in der Verwendung und Motivierung der Begriffe ‚Gott‘ und ‚Heilig‘, wie er sie eingeführt hat. Er nimmt ausdrücklich Bezug auf die jüdisch-christliche Traditionen, auch den Buddhismus, nicht aber auf den jüdisch-christlichen Islam. Er unterstreicht, dass eigentlich nur der Begriff ‚Gott‘ die kulturelle Kraft hat, die tiefsten und wichtigsten Überzeugungen der Menschheit zu repräsentieren. Er spricht von der Notwendigkeit von ‚Spiritualität‘ und auch von ‚Riten‘.
17. [Mit diesen vielfachen Wiederholung immer des gleichen Themas in den letzten Kapiteln manifestiert sich sowohl die Bedeutung, die Kauffman diesen Begriffen beimisst wie auch die Schwierigkeit, dieser Bedeutungschwere den angemessenen Ausdruck zu verleihen. Wenn man Kaufman auf all den Seiten seines Buches gefolgt ist, und schrittweise miterlebt hat, wie er sich seine eigene, neue Sichtweise mühsam gegen vielseitig gewohnte Sehweisen erkämpft hat, dann kann man ansatzweise nachempfinden, wie das Neue nachhallt und sich zugleich immer mehr Perspektiven auftun, neue Ansatzpunkte greifbar werden, wo und wie man diese stimulierenden Gedanken weiterführen und möglicherweise sogar umsetzen kann. Jeder erlebt die Lektüre eines Buches notgedrungen im Lichte seiner eigenen Fragen und seines eigenen Wissens. Für mich war dies Buch eine Art ‚Katalysator‘ für sehr viele wichtige Gedanken und Perspektiven. In der nächsten Zeit werde ich mit Sicherheit darauf zurückkommen. ]

Ende der besprechenden Lektüre von Kauffman’s Buch ‚Reinventing the Sacred‘.

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GOTT OHNE KIRCHE? Warum es dennoch immer Kirchen geben wird

GOTTUNMITELBAR FÜR JEDEN

Wenn die Überlegungen aus dem letzten Blogeintrag stimmen, dann ist jeder Mensch ‚gottunmittelbar‘, und nicht nur jeder Mensch, sondern jede Lebensform in diesem Universum, letztlich jedes Molekül, jedes Atom, alles.

WORTMARKE ‚GOTT‘

Dabei, das sei nochmals erwähnt, ist das mit der Wortmarke ‚Gott‘ Gemeinte aus sich heraus zunächst nicht klar bestimmt. Wie schon die vielen verschiedenen Namen für Gott in den verschiedenen Sprachen andeuten (‚Gott‘, ‚deus‘, ‚theos‘, ‚Elohim‘, ‚Jhw‘, ‚Allah‘, ….) ist die Wahl der Wortmarke fast ein bischen beliebig (wie bei jeder Wortmarke in einer Sprache), und was die einzelnen Sprecher in ihrer jeweiligen Verwendung dieser Wortmarke damit jeweils ‚meinen‘, das ist zunächst niemals klar. Selbst in einem historisch gewachsenen Interpretationsraum wie dem Christentum (oder dem Judentum, oder dem Islam, oder….) kann es (wie jeder in der Geschichte der Bibelauslegung beispielsweise nachlesen kann) zu tausenderlei verschiedenen Interpretationen des gleichen Textes kommen und jeder kann im Brustton der Überzeugung sagen, ‚meine‘ Interpretation ist ‚richtig‘. Das liegt daran, dass im Falle von Religion/ Glauben der Fluchtpunkt der Bedeutungen irgendwo ‚im Innern eines jeden Menschen‘ liegt, zugleich aber auch in der ‚Menge aller Handlungen‘ bzw. im ‚Gesamt des ganzen Universums‘. Welche speziellen Bezugspunkte hier jemand jeweils wählt, hängt ganz und gar von dem jeweiligen Interpreten ab (ich kenne keine einzige theologische Interpretation, die von Kriterien abhängt, die man ‚hart‘ entscheiden könnte).

NUR EIN EINES

Sofern die verschiedenen Wortmarken ‚Gott‘, … irgendwie auf jene Superwirklichkeit abzielen (sie unterstellen, sie annehmen, sie für möglich halten….), die ‚hinter allem‘ steht, die ‚alles hervorgebracht‘ hat bzw. beständig alles ‚hervorbringt‘, sozusagen der klassische ‚Schöpfer‘ (creator) (hebräisch z.B. ‚barah‘), kann es natürlich nur ‚eine‘ geben. D.h. welche Wortmarke man auch immer benutzen mag, sofern man sie in diesem einen Sinne benutzt, kann man nur das gleiche Eine meinen, nämlich diese schöpferische Superwirklichkeit, aus der wir alle hervorgegangen sind und in deren andauernder Gegenwart wir uns befinden. So viele verschiedene Wortmarken wir auch in den verschiedenen Sprachen generieren mögen (im hebräischen Alten Testament gibt es z.B. mindestens zwei verschiedene: ‚Elhm‘ und ‚Jhw‘), um diese eine Superwirklichkeit zu benennen)(die hebräisch-aramäischen Worte Jesu sind uns nicht überliefert; die griechischen Autoren des Neuen Testaments legen ihm aber Worte in den Mund wie ‚theos‘, ‚pater‘,…), sofern es um die letze, alles umfassende Wirklichkeit geht, kann es (nach heutigem Wissen) nur eine einzige geben.

RELIGIOSITÄT UNIVERSELL?

Die Entwicklung des Universums, unserer Milchstraße, unseres Sonnensystems, unserer Erde, des Lebens auf der Erde — unser aller Lebens — zeigt, dass z.B. alle lebenden Menschen aus den gleichen Vorläuferorganismen hervorgegangen sind und dass entweder niemand einen Kontakt zur allumfassenden Superwirklichkeit hat oder jeder. Das Auftreten von religiösen Verhaltensweisen im Umfeld der Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten zeigt, dass das ‚Wissen‘ um den größeren Zusammenhang quasi ‚in jedem Organismus steckt. Je ‚bewusster‘ ein Organismus sein kann, um so expliziter und ausgeprägter kann sich dieses allem innewohnende Verbundenheit ‚zeigen‘. Und, wie die unzählig vielen Zeugnisse aus allen Kulturen zeigen, berichten so viele Menschen von ‚ihrer Beziehung zu Gott‘. Aufgrund der spezifischen Art und Weise der hier involvierten ’subjektiven Wirklichkeiten‘ ist es natürlich schwer bis unmöglich, diese Aussagen direkt zu vergleichen. Aber als Verhaltensphänomene sind sie manifest.

DAS ANDERE ALS PRINZIP

Im übrigen gilt hier auch das ‚Erfahrungsprinzip‘; zwar nicht so reduziert wie im Falle der empirischen Wissenschaften, wo das Messen genialerweise auf solche Vergleichsprozesse eingeschränkt wurde, die sich unabhängig von den subjektiven Zuständen einer menschlichen Person unter den gleichen Bedingungen reproduzieren lassen müssen, sondern in einem verallgemeinerten Sinne, dass jeder Mensch mit seinem Körper (die Frage ist, wie viele Arten von körperlichen Einschränkungen bleiben ohne Einfluss) subjektiv Erlebniszustände haben kann, die auf unzählbar vielen Faktoren zurückgehen können (Bei der Entschlüsselung dieser Erlebniszustände und deren Verursachung steht die Wissenschaft ganz am Anfang, und beschränkt sich bislang auch weitgehend auf partielle Aspekte des Gehirns). Die wenigen Texte von großem Mystikern, die ich intensiver über Jahre lesen konnte, sind sich darin einig, dass diese eine Superwirklichkeit sich jedem Menschen jederzeit mitteilen kann, wenn diese Superwirklichkeit will (ein Ignatius von Loyola nennt Erlebniszustände dieser Art ’sine causa‘, d.h. zwar verursacht, aber nicht durch die Kausalketten der uns umgebenden körperlichen Welt). Man kann diese Art von Erlebniszuständen ’nicht erzwingen‘ (auch kein Papst, oder Bischof oder welche Art von religiösem Funktionär auch immer). In dieser Unabhängigkeit vom individuellen Wollen zeigt sich eine Art von ‚Andersartigkeit‘, die diese Erlebniszustände mit allen ‚empirischen‘ Phänomenen teilen. Sie sind zwar (zumindest mit den bisherigen Messmethoden) nicht intersubjektv (= empirisch) messbar, aber sie sind nicht beliebig (so wie auch die Funktion unseres Gedächtnisses in unserem Erleben nicht beliebig ist, allerdings unter gewissen Bedingungen in der Regel ‚aktivierbar‘).

ERLEBEN ALS KOMMUNIKATION

Wichtig bei all diesen möglichen subjektiven Erlebniszuständen — so stark sie auch sein mögen — ist, dass man sich klar macht, dass das, was man erlebt, nicht ‚die Superwirklichkeit selbst in ihrem ganzen Umfang‘ ist, sondern nur solche Zustände, über die diese mit dem Individuum ‚kommuniziert‘ (so, wie wir uns mit Schallwellen im Gespräch austauschen und darin uns sehr ’nahe‘ sein können). Durch unsere materiell-energetische Existenz können wir zwar in gewissem Sinne ‚voll‘ mit der Superwirklichkeit verbunden sein, aber diese Aspekte der Vereinigung entziehen sich unserer Sprache, da diese an den Bewusstseinsraum geknüpft ist. Was über diesen hinausgeht, entzieht sich dem direkten Sprechen, mutiert zu Andeutungen, Bildern, die für den, der Ähnliches erlebt hat, vielleicht noch die Ahnung eines möglichen Verstehens hervorrufen kann, aber kein volles, explizites Verstehen. Wittgenstein lässt grüßen.

IM PRINZIP KEINE KIRCHE NOTWENDIG

Für alle diese Dinge braucht niemand strenggenommen eine Kirche. Jeder ist hier frei, seine eigenen Erfahrungen zu machen. Da aber viele (die meisten? alle?) Menschen — aus welchen Gründen auch immer — sich in der Regel schwer tut, hier einen eigenen Weg zu gehen, gab es — und wird es vermutlich immer wieder geben — Zusammenschlüsse von Menschen zentriert um solche Menschen, die den Eindruck erweckten, sie wüssten, wie das geht. Dass solche ‚Institutionalisierungen‘ von ‚Glauben‘ nicht nur viel Gutes, sondern auch viel Missbrauch hervorgebracht haben (und hervorbringen) ist offensichtlich der spezifischen psychologischen Struktur des Menschen geschuldet. Nicht wenige Menschen sind offensichtlich bereit, Leib, Leben und Geld für den letzten Unsinn zu bezahlen, wenn Sie nur subjektiv das Gefühl haben, sie hätten sich damit ‚in Sicherheit‘ gebracht. Für diejenigen, die davon profitieren, ist offensichtlich die Versuchung der Macht (und aller möglicher weiterer Privilegien) zu groß, um diesem Unsinn gegen zu steuern. Die Fähigkeit von Menschen, Unwahres zu glauben und sich gegen mögliche Kritik zu ‚immunisieren‘, ist beeindruckend, und findet sich in allen Bereichen.

LITERATURHINWEISE

Liste ökumenischer Konzilien: http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_%C3%B6kumenischer_Konzilien

Offizieller Schriftbestand in der jüdisch-christlichen Tradition: http://de.wikipedia.org/wiki/Biblischer_Kanon (zuletzt: 16.2.2013)

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Eine Welt ohne Seele und freien Willen? – Teil 2

Reflexionen im Anschluss an Herms: Horizont der Hirnforschung….

Letzte Änderung: 2.März 2013, 10:10h (Anmerkung am Ende des Artikels)

PHILOSOPHIE

Herms nutzt in seinem Denken über das Ganze die phänomenologische Tradition, hier insbesondere Husserl und Heidegger (mündlich bestätigt). Die phänomenologische Tradition in der Philosophie wurde in diesem Blog schon mehrfach diskutiert (siehe Themenüberblick). Ihre Stärke liegt eindeutig darin, dass sie den Ankerpunkt unseres subjektiven Denkens ernst nimmt und die Wirklichkeit, wie sie sich dort darbietet, so voraussetzungslos wie möglich wahrzunehmen und zu beschreiben versucht. Die Schwierigkeiten, die sich hier bieten, wurden schon oft von sehr vielen reflektiert und angemerkt.

Positiv kann man festhalten, dass der gesamte Erkenntnishorizont eines Individuums dort aufscheint und sich in seiner Gesamtheit besprechen lässt. Man kann auch weitere Reflexionsschichten eröffnen und als solche benennen und explizieren. Einzelwissenschaftliche Erkenntnisse erscheinen hier als Teilmengen in der Gesamtmenge der Phänomene und die diversen begrifflichen Explikationen sind Teilmodelle im Gesamtrahmen möglicher Modelle. Aus phänomenologischer Sicht ist das Individuum daher grundsätzlich ‚mehr‘ als eine einzelwissenschaftliche Beschreibung eines Weltausschnitts.

Andererseits gibt es grundsätzliche Grenzen der phänomenologischen Weltsicht. Die eine resultiert aus den vorgegebenen Grenzen des einzelnen Bewusstseinsraumes, die andere aus der Existenz vieler Bewusstseinsräume, die sich über die Interaktion von Wahrnehmungsräumen erschließen kann.

Erscheint ‚der Andere‘ innerhalb der Phänomene zunächst nur als ‚Oberfläche‘ mit sich veränderten Phänomenmengen als ‚Manifestationen‘ eines möglichen ‚Zusammenhangs‘, so erzwingt das soziale Zusammenleben schon sehr früh eine ‚auf-den-anderen-bezogene‘ Modellbildung im (betrachtenden individuellen) Phänomenraum. Dies bedeutet, dass der aktive Phänomenraum die auftretenden Phänomensequenzen ‚versuchsweise/ hypothetisch‘ mit Teilen seines ‚Selbsmodells‘ in Verbindung bringen muss, um diese Phänomensequenzen des potentiell Anderen zu ‚interpretieren‘.

Sei PH der jeweils aktive Phänomenraum, seien PH_a jene Sequenzen von Phänomenen aus PH, die man einem ‚bestimmten Anderen‘ zuordnen möchte, also PH_a subset pow(PH^n), und sei M ein expliziertes Modell innerhalb von PH über Teilbereiche von PH, also M:PH —> PH (!!! Ein logisches Paradoxon, da M auch in PH liegt !!!), dann wäre eine ‚Interpretation‘ eine Abbildung zwischen PH_a und solch einem M, also I: Ph_a —> M. Dies zeigt u.a., dass jemand einen potentiell anderen nur insoweit verstehen kann, als er über ein explizites Selbstmodell verfügt. Normalerweise führt solch eine Interpretation I(PH_a) auch dazu, dass der aktive Phänomenraum PH ‚unterstellt/ annimmt‘, dass das explizierte Selbstmodell M ‚im anderen‘ auch ‚gegeben‘ ist und im anderen ‚funktioniert‘. Dies ist eine Art ‚Ontologisierung‘ des Selbstmodells im anderen, eine Form von ‚realistischer Transzendenz‘. Man könnte also sagen, dass das Selbstmodell in seiner Projektion auf einen anderen — nennen wir es M_a — ein Modell des Anderen darstellt.

Interaktionen im ‚vorsprachlichen‘ Bereich können unterschiedliche ‚Bestätigungen‘ für die Interpretation I(Ph_a) liefern, sie sind allerdings nur sehr grob. Durch Einbeziehung der Sprache lässt sich die Bestätigung — und eventuell die Interpretation I(PH_a) selbst — verfeinern.

Dazu muss man sich kurz vergegenwärtigen, wie Sprache funktioniert. In der Tradition von Peirce, Saussure und Morris kann man einen Zeichenbegriff extrahieren, in dem ‚Zeichenmaterial‘ ZM subset PH mit anderen Phänomenen PH_x subset PH ‚assoziiert‘ wird, und zwar als ‚aktivierbare Beziehung‘ BED(ZM,PH_x). Phänomenologisch ist diese Beziehung nicht ‚explizit‘, d.h. sie ist kein Phänomen wie ein sensorisches Phänomen, das ‚auftritt‘, sondern es ist ein ‚Wirkzusammenhang‘, der sich ‚indirekt andeutet‘. Also wenn das Phänomen ‚Haus‘ als Zeichenmaterial auftritt, dann werden diverse andere assoziierte Phämene PH_haus auftreten, da sie in einer aktivierbaren Beziehung zu ‚Haus‘ stehen. Diese phänomenologische Wenn-Dann-Beziehung kann man erklären durch die Annahme einer Hilfsstruktur ‚Gedächtnis‘ (MEM), deren Inhalte als solche ‚unbewusst‘ sind, die aber über den aktiven Phänomenraum PH ‚zugänglich‘ sind, so eine Art ‚phänomenologische Schnittstelle‘. Diese ‚indirekten‘ Phänomene berühren einen Sachverhalt, den wir weiter unten noch diskutieren werden.

Unter Voraussetzung von Bedeutungsbeziehungen kann man sich immer komplexere Hierarchien solcher Beziehungen denken, die es erlauben, ‚Ketten von Zeichen‘ zu bilden, bis hin zu dem, was wir Äußerungen, Sätze nennen. Diese Bedeutungsbeziehungen beruhen auf den Phänomenen eines aktiven Phänomenraumes PH. In Kombination mit dem Modell des Anderen M_a können jetzt Zeichenbeziehungen dazu benutzt werden, differenzierte Strukturen mit Hilfe des Selbstmodells M zu kodieren, die dann über das Konstrukt ‚Modell des Anderen M_a‘ auch ‚im anderen unterstellt werden können‘.

Diese Annahme macht allerdings nur Sinn, wenn man zugleich annimmt — ganz im Sinne der Bildung eines Fremdmodells M_a überhaupt — dass die Gesetze des aktiven Phänomenraumes PH auch im anderen M_a gelten (Symmetrie, Homomorphie,…)!!! Je mehr man diese Annahmen akzeptiert, um so mehr wird klar, dass man eine mögliche explizite Beschreibung M eines aktiven Phänomenraumes PH ergänzen sollte um eine ‚Metaebene‘ MM, die nicht mehr nur über einen einzelnen Phänomenraum PH spricht, sondern über die Menge aller möglichen Phänomenräume UPH. Diese universelle Menge UPH ist rein fiktiv, rein gedacht, und doch kann sie durch Interaktionen einer mehr oder weniger großen Bestätigung zugeführt werden. MM wäre eine genuin philosophische Theorie!

Kommen wir zurück zum Phänomen der indirekten Bedeutungsbeziehung und dem Konzept des ‚unbewussten‘.

Grundsätzlich ist die Annahme des Unbewussten M_ubw nicht sehr anders als die Annahme eines ‚Anderen‘ M_a. Es gibt bestimmte Phänomene, die sich in der Zeit verteilen, die aber einen ‚übergreifenden Zusammenhang‘ offenbaren (der letztlich schon immer ein Konstrukt wie ein Gedächtnis voraussetzt), der als ‚Zusammenhang‘ zu thematisieren ist. Analog wie man im Falle des Anderen, wo man ‚hinter der Oberfläche‘ eine Struktur M_a annehmen muss, kann man auch ‚hinter dem aktiven Phänomenraum‘ PH Strukturen annehmen, den ‚Körper‘, das ‚Gedächtnis‘, usw. Dies führt dazu, dass man das Selbstmodell M entsprechend ‚erweitern‘ muss. Je differenzierter das Selbstmodell M wird, umso differenzierter wird auch das Modell des anderen M_a und das universelle Modell MM.

WELTHEORIE?

Mit den obigen Überlegungen eröffnet sich die Perspektive einer möglichen phänomenologischen Theorie der Welt, in der alle Teiltheorien integriert werden können. Meines Wissens hat dies bis heute noch niemand versucht. Es wäre interessant, zu schauen, inwieweit eine solche Theorie helfen könnte, aktuelle Bruchstellen durch die Vielzahl der nicht integrierten Teiltheorien ein wenig zu überbrücken.

THEOLOGIE

Der Theologe Prof. Herms hatte ziemlich zu Beginn seines Vortrags vermerkt, dass sein Verständnis von Theologie nicht so sei, wie die meisten sich Theologie vorstellen. Diese zunächst kryptische Bemerkung gewann im Laufe seines Vortrags mehr und mehr Gestalt. Durch seine philosophische Grundausrichtung benötigt er zunächst keine offenbarungsspezifische Inhalte, da er nach den allgemeinen Bedingungen von Leben (und Erkennen) fragt. Aus diesen allgemeinen Bedingungen kann er dann allgemeine Prinzipien ableiten, innerhalb deren wir uns als Lebende orientieren sollten. Übernimmt man diese Position dann kann man sogar die Grundsatzfrage stellen, ob man überhaupt offenbarungsspezifische Inhalte noch benötigt, da ja diese keinesfalls im Gegensatz zu den allgemeinen Prinzipien stehen dürften. Vielmehr müsste es so sein, dass die potentiellen ‚Offenbarungsinhalte‘ nichts anderes sind als Instanzen dieses allgemeinen Möglichkeitsraumes.

Innerhalb des Vortrags wurde diese Fragen nicht Thema, da Herms sich auf die allgemeine Perspektive und daraus resultierenden allgemeinen Prinzipien beschränkte.

Allerdings könnte man — oder müsste man sogar? — natürlich die Frage aufwerfen, inwieweit nicht die tatsächlichen Realisierungen — wie auch im Falle der Entwicklung des Universums, der Milchstraße, der Erde, des Lebens auf der Erde … — dann doch in ihrer Konkretheit eine wichtige Aussage darstellen können. Konfrontiert mit den konkreten Ergebnissen der biologischen Evolution hat man auch dieses Dilemma: (i) relativiert man die gewordene Konkretheit durch den Verweis auf den allgemeinen Möglichkeitsraum oder (ii) nimmt man die Konkretheit ‚beim Wort‘ und sieht in ihre eine Form von ‚Mitteilung‘. Im letzteren Fall wäre die ‚Konkretheit an sich‘ dann eine Form von ‚Offenbarung‘ einer unterstellten ‚Superwirklichkeit‘, die ‚ihr Inneres‘ über die ungeheuren Werdeprozesse in der jeweiligen Konkretheit zeigt und — im Falle des menschlichen Bewusstseins — sich quasi ’selbst anschaut‘! Menschliches Bewusstsein also als eine Art ‚Minimodell‘ von universaler ‚Selbstanschauung‘ als Hinweis auf die ‚wahre Natur‘ des im Werden des Universums sich andeutenden Superwirklichkeit.

Diese Perspektive des allgemeinen Werdens als ‚möglicher Offenbarung‘ würde damit in jeder Art von Konkretisierung eine Aussage zutreffen. Vor diesem Hintergrund sind alle historisch überlieferten spezielle Ereignisse, die von Menschen als ‚offenbarungsrelevant‘ qualifiziert wurden, interessantes empirisches Material, das entweder das allgemeines Offenbarungskonzept zusätzlich konkretisieren kann oder aber nicht kompatibel ist. Im Falle der Nichtübereinstimmung (Inkompatibilität) würde dies dann eher gegen (!) die spezifischen Stoffe sprechen, da die Fülle der allgemein zusätzlichen Daten um ein Vielfaches größer ist als fragil überlieferte historische Ereignisse.

Versteht man Theologie als jene Denkhaltung und Theoriebildung, die von der allgemeinen Offenbarung ausgeht, um innerhalb dieses Rahmens mögliche konkrete Inhalte zu studieren, dann würde ich mein Erkenntnisinteresse auch als ‚theologisch‘ qualifizieren. Ich habe auch den Eindruck, dass Prof. Herms sich so versteht. Eine endgültige Bestätigung müsste ein Gespräch liefern. Ferner unterscheidet sich solch eine allgemein orientierte Theologie nicht grundsätzlich von einer philosophischen Gesamttheorie der Welt, höchstens in einer unterschiedlichen Akzentsetzung: die philosophische Gesamttheorie der Welt MM orientiert sich primär an den allgemeinen Erkenntnisstrukturen und der möglichen Integration des Einzelwissens, während eine Allgemeine Theologie sich speziell für den Aspekt einer möglichen Mitteilung durch das Gesamtgeschehen interessiert.

Diese spezifische Interessenrichtung der Theologie hat eine spezielle Pragmatik im Gefolge: während die Einzelwissenschaften (und die Philosophie) letztlich objektivierbare Messverfahren benutzen, um ihre Daten zu sichern, kann die Theologie darüber hinaus (!) die spezifischen bewusstseinsgebundenen Erfahrungsmöglichkeiten benutzen, die unter dem Begriff ‚Gotteserfahrung‘ gehandelt werden.

Der Kern des Konzepts ‚Gotteserfahrung‘ besteht — zumindest in der jüdisch-christlichen — Tradition darin, dass die Arbeitshypothese einer ‚Superwirklichkeit‘ genannt ‚Gott‘ (deus, theos, Jahwe,….) davon ausgeht, dass diese Superwirklichkeit sich nicht nur über die allgemeinen Offenbarungsstrukturen ‚mitteilen‘ kann, sondern auch zugleich ganz individuell in jedem Bewusstseinsraum (angesichts der neuesten Erkenntnisse zur Struktur der Materie grundsätzlich zumindest kein physikalisches Problem). Diese ‚Mitteilungen‘ haben — nimmt man die bekannten Zeugnisse ernst — (i) die Form von spezifischen ‚Gefühlsregungen‘, ‚Stimmungen‘, bisweilen begleitet von weiteren ‚Vorstellungsinhalten‘. Dabei kommt es auch hier nicht auf das ‚punktuelle‘ Erleben alleine an, sondern auf die ‚Abfolge verschiedener solcher Erlebnisse‘ und deren ‚Deutung‘ in Form eines Modells. Ferner (ii) implizieren sie normalerweise bestimmte Handlungen, um diese Art von innerem Erleben nicht zum ‚Versiegen‘ zu bringen, und (iii) können diese inneren Erlebnisse nicht durch das eigene Wollen verursacht werden, sondern gehen ‚von einem anderen‘ aus (dies unterscheidet Gotteserfahrung wesentlich von jeglicher Form von ‚Meditation‘, die sich auf selbstinszenierte Zustände bezieht). Im einzelnen sind diese Tatbestände eingebettet in das ‚allgemeine Rauschen des Alltags‘ und bedürfen — wie alle anderen Lernprozesse auch — meist eine Praxis von vielen, vielen Jahren, um sie wirklich zu ‚beherrschen‘, und, wie auch beim allgemeinen Lernen, geht es meist nicht ohne ‚Lehrer‘ im Sinne von ‚geistlichen Führern‘ ab. Durch die unvermeidbar radikal subjektivistischen Anteile bleibt all dies immer schwierig. Denken alleine hilft nicht. Praxis ohne Denken kann durch unreflektierte Interpretationen zu vielen falschen Schlüssen kommen.

Es ist schwer zu sagen, ob und wieweit die bekannten kirchlichen Gemeinschaften in der Lage sind, solche ‚geistliche (= spirituelle, mystische) Erfahrungen‘ angemessen zu vermitteln. Wir befinden uns hier in einer rechten Grauzone. Die offiziellen theologischen Positionen und die bekannten kirchlichen Praktiken sprechen eher gegen die Annahme.

Anmerkung 2.3.13: Eine Fortsetzung dieser Überlegungen findet sich im nachfolgenden Beitrag Gott ohne Kirche …. Der zentrale Punkt ist eigentlich ein neues Verständnis von Theologie und Offenbarung, durch die ‚Kirchen‘ nicht eigentlich verschwinden, aber stark relativiert werden auf ihren wesentlichen Punkt: ihre einzige Existenzberechtigung liegt in ihrem möglichen Dienst, anderen Menschen zu helfen, ihre Gottesbeziehung zu finden und zu leben. Wenn sie darin versagen, verlieren sie ihre Existenzberechtigung.

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