Archiv der Kategorie: Biologisches Leben

OPERATION ‚AM OFFENEN HERZEN‘?

(7.Juli 2023 – 7.Juli 2023)

KONTEXT

Anschließend an die grundlegenden Überlegungen zur Möglichkeit/ Unmöglichkeit einer allgemein gültigen Moral in dieser endlich-dynamischen Welt soll hier, ausgehend vom aktuell populäre Begriff der ‚Nachhaltigkeit‘, soll hier ein kleiner Blick auf das ‚Phänomen des Lebens‘, angeregt werden.

NACHHALTIGKEIT

Im Jahr 2023 ist der Begriff der ‚Nachhaltigkeit‘ in — fast — aller Munde; nicht nur positiv (Das ist es; das müssen wir tun, …) sondern sehr wohl auch negativ, ablehnend (Welch ein Quatsch; brauchen wir nicht, …). Dazu die vielen Milliarden Menschen, die von Nachhaltigkeit noch nie etwas gehört haben … Die Vereinten Nationen versuchen seit dem grundlegenden ‚Brundtland-Bericht‘ von 1987 [1] in immer neuen Konferenzen mit immer neuen Akzentsetzungen und möglichen Umsetzungsempfehlungen das Thema der ‚Nachhaltigkeit‘ in das Bewusstsein aller Regierungen zu heben. Wie weit dies bislang erfolgreich ist mag jeder selbst beurteilen, der sich den Gang des Weltgeschehens anschaut.

An dieser Stelle soll der Blick auf einen bestimmten Aspekt des Themas ‚Nachhaltigkeit‘ gelenkt werden, ein Aspekt, der bis heute irgendwie ‚unsichtbar‘ zu sein scheint, obwohl er zum Verständnis und zum Gelingen des Projekts ‚Nachhaltigkeit‘ fundamental ist. Ohne diesen Aspekt wird es keine wirksame Nachhaltigkeit geben.

Einfaches Beispiel: An einem bestimmten Ort auf dem Planet Erde gibt es einen Brunnen, aus dem man bislang täglich ungefähr 180 Liter Wasser schöpfen kann. Für sich gesehen ist es weder viel noch wenig. Wenn von diesem Wasser aber Pflanzen, Tiere oder Menschen leben müssen, dann kann dieses Wasser ganz schnell ‚zu wenig‘ sein. Dazu kommt die ‚Umgebungstemperatur‘: haben wir 10 °C, 20°C, …, 50 °C …? Auch ist es nicht unwichtig, ‚woher‘ der Brunnen sein Wasser bekommt: stammt es aus (i) oberflächennahem Wasser aus einem nahen Bach? oder aus (ii) tiefer gelegenem erneuerbaren Grundwasser (iii) oder aus …

Wenn sich dieser Brunnen in einem Dorf mit 20 Familien befindet, dann wird das Wasser angesichts des ‚Bedarfs‘ zu einer ‚knappen Ressource‘. Für den täglichen Bedarf der Familien, der Pflanzen und möglicherweise für Tiere wird dieses Wasser nicht reichen. Was immer jetzt in diesem Dorf mit dieser knappen Ressource geschieht/ geschehen wird, hängt von dem ‚Wissen‘/ der ‚Erfahrung‘ ab, die in den Köpfen seiner Einwohner verfügbar ist; dazu kommt die Art von ‚Emotionen‘, die in den gleichen Köpfen ‚wirksam‘ sind, und irgendwie — mehr oder weniger bewusst/ unbewusst — bestimmte ‚Werte‘ (was man in eine bestimmten Situation tun sollte). Ein ‚Grenzfall‘ wäre, (i) dass die Menschen eine große ‚Angst‘ haben zu sterben, dass sie deswegen vor dem ‚Töten‘ der anderen nicht zurückschrecken würden, falls sie “nicht wissen‘, dass es keine Alternativen gibt…; ein anderer Fall (ii) wäre, dass sie neben der Emotion ‚Angst‘ auch noch eine ‚Emotion‘ ‚Verbundenheit mit den anderen‘ haben, ergänzt um eine Wertvorstellung ‚Verwandte/ Freunde tötet man nicht‘. Deswegen dann vielleicht eher der Versuch, gemeinsam dem ‚Tod durch Verdursten‘ in die Augen schauen. Ein noch anderer Fall (iii) könnte sein, dass mindestens ein Mitglied des Dorfes ‚weiß‘, wann und wie es eine Lösung des Problems geben könnte (unterschiedlich sicher), das die Mehrheit des Dorfes ihm ‚vertraut‘, und dass ‚konkrete Verhaltensweisen verfügbar ‚ sind, die Lösung umzusetzen.

Wenn im Fall (iii) zwar ‚prinzipiell‘ eine Lösung bekannt ist, aber nicht bekannt ist, mit welchen ‚Maßnahmen‘ diese Lösung erreicht werden kann, trifft wieder Fall (i) oder (ii) zu. Wenn im Fall (iii) die Mehrheit der einen Person ’nicht vertraut‘, die sagt, über ‚Wissen/ Erfahrungen‘ zu verfügen, eine Lösung zu finden, dann kann sich ‚Niedergeschlagenheit‘ /’Verzweiflung‘ breit machen. Ganz schlecht wäre es auf jeden Fall, wenn niemand im Dorf ansatzweise über Wissen verfügen würde, aus dem sich ein brauchbare Handlung ableiten ließe. Oder, nicht weniger schlimm, einzelne ‚glauben‘, dass sie über ein Wissen verfügen, das Abhilfe verspricht, aber diese ‚geglaubte Lösung‘ erweist sich als ‚Irrtum‘.

Was dieses einfache Beispiel verdeutlichen kann, ist, dass eine ‚Ressource‘ als solche weder gut noch schlecht ist, weder wenig noch viel. Entscheidend ist das Vorhandensein eines ‚Bedarfs‘, und ein Bedarf ist letztlich immer gekoppelt an das ‚Vorhandensein von biologischen Lebensformen‘! ‚Biologische Lebensformen‘ — also ‚Leben‘ — repräsentieren jenes Phänomen auf dem Planeten Erde, zu dessen grundlegenden Eigenschaften es gehört einen ‚Bedarf‘ zu haben an Ressourcen, die notwendig sind, damit Leben ’sich realisieren kann‘, dass ‚Leben leben‘ kann.

Bezieht man sich auf die 17 Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, gültig ab Januar 2016, adressiert an Nationalstaaten [2], dann kann man viele Teilziele erkennen, die zur Förderung des ‚Lebens des Lebens‘ hilfreich erscheinen, man wird aber die klare Einordnung der menschlichen Population als Teilpopulation in das Gesamtphänomen ‚Leben‘ vermissen. Allem ‚Nicht-Menschlichem‘ Leben wird im Dunstkreis der 17 Entwicklungsziele nur eine Bedeutung zugestanden, insofern es für das ‚Leben der menschlichen Teilpopulation‘ hilfreich erscheint.

Was fehlt ist eine grundsätzliche Bestimmung dessen, was das Phänomen des Lebens auf dem Planet Erde als Teil des gesamten Universums repräsentiert: ist es ein zufälliges Phänomen, das es aktuell gibt, dem aber keine weitere Bedeutung beizumessen ist; es kann auch wieder verschwinden. Oder muss das Phänomen des Lebens als Teil des Universums als ein ‚außerordentliches Phänomen‘ eingestuft werden, das grundlegende Eigenschaften des Universums anzeigt, die weit über alles hinaus weisen, was wir bisher als Wirklichkeit, als mögliche Zukunft, zu denken gewohnt sind?

Wenn wir das ‚Phänomen des Lebens‘ als ein ‚außerordentliches Phänomen von globaler Bedeutung‘ einstufen — und zwar das ‚ganze Leben‘ !!! —, dann muss die Frage des ‚Erhalts‘ dieses ganzen Lebens samt seiner vielfältigen Wechselwirkungen im Zentrum der Betrachtungen stehen und man muss ‚wissend-lernend-fragend‘ in einem entsprechenden Alltag den Fragen nachgehen, was dies bedeutet; zugleich muss man ‚handelnd‘ an einer dauerhaften Gestaltung der ‚Bedingungen für ein globales Leben‘ arbeiten.

Vor diesem Hintergrund erscheint eine Kultur, die ‚Unwichtiges‘ auf Top 1 setzt und zugleich grundlegend Lebenswichtiges an den Rand drängt als das perfekte Rezept für einen schnellen gemeinsamen Tod. Dieser gemeinsame Tod, zersplittert in viele Millionen einzelne Tode, ist nicht einfach ‚ein Tod‘; er vernichtet das ‚Herz des Universums‘ selbst.

DER AUTOR

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ANMERKUNGEN

[1] Brundtland-Bericht von 1987: https://de.wikipedia.org/wiki/Brundtland-Bericht

[2] Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Ziele_f%C3%BCr_nachhaltige_Entwicklung

WISSENSCHAFT IM ALLTAG. Popper 1991/1994 (1999)

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 21.Februar 2022
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Kontext

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Fortsetzung der Besprechung der beiden Artikel von Popper „A World of Propensities“ (1988, 1990) sowie „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“ (1989,1990).[1] Der vorliegende Beitrag „All Life is Problem Solving“ (1991, 1994/1999)[2] stammt aus einem späteren Buch.

Vorbemerkung

In den beiden vorausgehenden Besprechungen wurden grobe Linien eines umfassenden Theoriebegriffs von Popper deutlich, in dem es weniger um ‚technische Details‘ eines begrifflichen Theoriebegriffs geht als vielmehr um eine philosophische Gesamtsicht von ‚Wissen‘ als konstitutiver Teil von jedem ‚biologischen Organismus‘. Damit werden alle ‚pragmatischen Konstituenten‘ eines Theoriebegriffs deutlich — einschließlich der möglichen Akteure –, aber die endgültige begriffliche Ausformulierung fehlt noch.

In dem vorliegenden Text „All Life is Problem Solving“ folgt Popper wieder eher seiner bisherigen ‚Gesamtphilosophischen Sicht‘ und weniger technischen Details.

Leben ist Problem Lösen

Von den beiden vorausgehenden Texten her kommend ist klar, dass das biologische Leben, so, wie Popper es rekonstruiert, in nichts anderem besteht als ‚Probleme zu lösen‘. Das zentrale Problem ist das ‚Überleben schlechthin‘, das sich dann in vielfältigen Formen realisieren kann. Bei den komplexeren Lebensformen finden wir unfassbare Netzwerk von vielen Faktoren vor, die alle ineinander greifen, die sich auf unterschiedlichen ‚Realisierungsebenen‘ organisiert haben, die unterschiedlichen Zeithorizonten folgen, so dass es immer schwerer wird, in dieser Vielfalt das allem innewohnende Ziel noch zweifelsfrei erkennen zu können.

Gleichzeitig mit dem Ansteigen der Komplexität der ‚inneren‘ Strukturen sind biologische Lebensformen als Akteure in einer Umwelt auch in der Lage, immer komplexere ‚Handlungsformate‘ hervor zu bringen, die die unterschiedlichsten ‚Ereignisse‘ in der umgebenden ‚Ereigniswelt‘ auslösen können. Über diese ‚erzeugten Ereignisse‘ können auch verschiedene Akteure ‚miteinander interagieren‘ um damit ‚Kommunikation‘ zu realisieren, oder ‚Koordination des Verhaltens‘ zu ermöglichen oder auch zur ‚Veränderung von Umgebungseigenschaften‘ in Richtung Werkzeuge, Bauten, Maschinen, usw. ‚Gesellschaft‘, ‚Technologie‘ und ‚Kultur‘ erscheinen in dieser Perspektive als ‚Auswirkungen menschlichen Verhaltens‘ auf die Ereigniswelt ohne die Menschen aber auch auf die Menschen selbst.

Gesellschaft – Kultur – Technologie

Für Popper scheint ‚Gesellschaft‘ der primäre Begriff zu sein. Abgeleitet scheint die ‚Kultur‘ als ein Teilphänomen innerhalb der Gesellschaft zu sein, und als weiteres spezielles Phänomen innerhalb von Kultur nennt Popper ‚Technologie‘. Genauere begriffliche Abgrenzungen nimmt er nicht vor.

Das unterstellte ‚innere Wechselverhältnis zwischen Kultur und Technologie‘ illustriert Popper dadurch, dass er eine Reihe von ‚technologischen Erfindungen‘ aufzählt, die im Laufe der Geschichte die Kultur ‚verändert‘ haben. In seinen Beispielen charakterisiert Popper ‚Technologie‘ ansatzweise als spezielle Verfahrensweisen/ Maschinen, die Menschen in ihrem Alltag benutzen können, und wie durch diese Nutzung sich vieles in den bekannten Abläufen ändert. Abläufe sind für gewöhnlich konstituiert durch Akteure, die bestimmte Rollenanforderungen erfüllen müssen, die implizit von ‚Werten‘ (und möglichen ‚Sanktionen‘) gesteuert werden, und durch die Verschiedenes ‚bewirkt‘ werden kann. Einerseits kosten diese Abläufe Ressourcen (Zeit, Kraft, Energie, Material, …), andererseits erlangt man dadurch ‚Ergebnisse‘ und ‚Anerkennungen‘, die gesellschaftlich ‚honoriert‘ werden.

Konstituieren also diverse ‚Abläufe‘ mit bestimmten ‚Rollen‘, ‚Regelwerken‘ und ‚Werten‘ den ‚Stoff, aus dem Kultur besteht‘, dann kommt ‚Technologie‘ in diesen Abläufen vor als ’nicht-menschliche Faktoren‘, die die Art und Weise der Abläufe verändern können (weniger Zeitbedarf, weniger Materialbedarf, weniger menschliche Anstrengung, weniger Kosten, …, größere Ergebnisse, mehr ‚Erfolg‘, …). Technik erscheint in dieser Sicht als ein ‚Medium‘, durch das sich eine aktuelle Kultur ‚fließend verändern‘ kann. Es wird kaum diskutiert, es wird einfach gehandelt, und das veränderte Handeln verändert das Erleben, das Miteinander, verändert bisherige ‚Skripte‘ und bisherige ‚Rollen‘, verändert letztlich unmerklich das ganze Denken und Verstehen.

Zeitsprung

Als Popper seinen Vortrag in Bad Homburg 1991 hielt, da war das später so einflussreiche World Wide Web [3] zwar im Prinzip schon ‚erfunden‘, aber es war noch nicht das öffentliche, später und heute dann globale Phänomen, das mittlerweile in nahezu jeden Lebensbereich eingedrungen ist, das immer mehr ‚überall‘ benutzt wird, und das durch diese umfassende Nutzung de facto das gesamte gesellschaftliche Leben der meisten Länder auf dieser Erde real und — wie es aussieht — nachhaltig verändert hat. Mit dieser umfassenden realen Veränderung des alltäglichen Lebens hat sich auch das ‚Denken‘ in diesem täglichen Ereignisstrom real verändert. Ein Bereich, in dem man diese deutlich ablesen kann, ist der Sozialisierungsprozess der heutigen Kinder verglichen mit Kindern von z.B. 1950 – 1955. Natürlich spielen hier viele andere Faktoren auch eine Rolle, aber der Faktor World Wide Web ist gut greifbar und in seinen Wirkungen (1950 – 1955 nicht vorhanden), heute gut abgrenzbar.

Klar ist hier, dass Technologie von Kultur nicht abgrenzbar ist. Technologie ist das Medium, in dem wir unsere Kultur leben.

Eine der interessanten Fragen in diesem Zusammenhang ist, ob und wie sich die Fähigkeit des Menschen zum Problemlösen dadurch möglicherweise verändert hat:

  1. Welche Probleme erkennen wir überhaupt als solche, die wir lösen müssten, um überleben zu können?
  2. Welche dieser Problemen können wir durch die neue WWW-Technologie besser lösen?
  3. Welche dieser Problemen können wir durch die neue WWW-Technologie jetzt schlechter oder gar nicht mehr lösen?

Für die Beantwortung dieser Fragen arbeiten wir am oksimo Projekt.

Anmerkung

[1] Karl Popper, „A World of Propensities“,(1988) sowie „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“, (1989) in: Karl Popper, „A World of Propensities“, Thoemmes Press, Bristol, (1990, repr. 1995)

[2] Karl Popper, „All Life is Problem Solving“, Artikel, ursprünglich ein Vortrag 1991 auf Deutsch, erstmalig publiziert in dem Buch (auf Deutsch) „Alles Leben ist Problemlösen“ (1994), dann in dem Buch (auf Englisch) „All Life is Problem Solving“, 1999, Routledge, Taylor & Francis Group, London – New York

[3] World Wide Web in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/World_Wide_Web

DER AUTOR

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VERANTWORTUNGSBEWUSSTE DIGITALISIERUNG: Fortsezung 1

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Autor: Gerd Doeben-Henisch
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So 16.Februar 2020

KONTEXT DEMOKRATIE

In einem vorausgehenden Beitrag hatte ich am Beispiel der Demokratie aufgezeigt, welche zentrale Rolle eine gemeinsame funktionierende Öffentlichkeit spielt. Ohne eine solche ist Demokratie nicht möglich. Entspechend der Komplexität einer Gesellschaft muss die große Mehrheit der Bürger daher über ein hinreichendes Wissen verfügen, um sich qualifiziert am Diskurs beteiligen und auf dieser Basis am Geschehen verantwortungsvoll partizipieren zu können. Eine solche Öffentlichkeit samt notwendigem Bildungsstand scheint in den noch existierenden Demokratien stark gefährdet zu sein. Nicht ausdrücklich erwähnt wurde in diesem Beitrag die Notwendigkeit von solchen Emotionen und Motivationen, die für das Erkennen, Kommunizieren und Handeln gebraucht werden; ohne diese nützt das beste Wissen nichts.

KONTEXT DIGITALISIERUNG

In einem Folgebeitrag hatte ich das Phänomen der Digitalisierung aus der Sicht des Benutzers skizziert, wie eine neue Technologie immer mehr eine Symbiose mit dem Leben der Gesellschaft eingeht, einer Symbiose, der man sich kaum oder gar nicht mehr entziehen kann. Wo wird dies hinführen? Löst sich unsere demokratische Gesellschaft als Demokratie schleichend auf? Haben wir überhaupt noch eine funktionierende Demokratie?

PARTIZIPATION OHNE DEMOKRATIE?

Mitten in den Diskussionen zu diesen Fragen erreichte mich das neue Buch von Manfred Faßler Partizipation ohne Demokratie (2020), Fink Verlag, Paderborn (DE). Bislang konnte ich Kap.1 lesen. In großer Intensität, mit einem in Jahrzehnten erarbeiteten Verständnis des Phänomens Digitalisierung und Demokratie, entwirft Manfred Faßler in diesem Kapitel eine packende Analyse der Auswirkungen des Phänomens Digitalisierung auf die Gesellschaft, speziell auch auf eine demokratische Gesellschaft. Als Grundidee entnehme ich diesem Kapitel, dass der Benutzer (User) in Interaktion mit den neuen digitalen Räumen subjektiv zwar viele Aspekte seiner realweltlichen sozialen Interaktionen wiederfindet, aber tatsächlich ist dies eine gefährliche Illusion: während jeder User im realweltlichen Leben als Bürger in einer realen demokratischen Gesellschaft lebt, wo es der Intention der Verfassung nach klare Rechte gibt, Verantwortlichkeiten, Transparenz, Kontrolle von Macht, ist der Bürger in den aktuellen digitalen Räumen kein Bürger, sondern ein User, der nahezu keine Rechte hat. Als User glaubt man zwar, dass man weiter ein Bürger ist, aber die individuellen Interaktionen mit dem digitalen Raum bewegen sich in einem weitgehend rechtlosen und demokratiefreiem Raum. Die allgemeinen Geschäftsbedingungen kaschieren diesen Zustand durch unendliche lange Texte, die kaum einer versteht; sprechen dem User nahezu alle Rechte ab, und lassen sich kaum bis gar nicht einklagen, jedenfalls nicht in einem Format, das der User praktisch einlösen könnte. Dazu kommt, dass der digitale Raum des Users ein geliehener Raum ist; die realen Maschinen und Verfügungsgewalten liegen bei Eignern, die jenseits der gewohnten politischen Strukturen angesiedelt sind, die sich eher keiner demokratischen Ordnung verpflichtet fühlen, und die diese Verfügungsgewalt — so zeigt es die jüngste Geschichte — skrupellos an jeden verkaufen, der dafür Geld bezahlt, egal, was er damit macht.

Das bisherige politische System scheint die Urgewalt dieser Prozesse noch kaum realisiert zu haben. Es denkt noch immer in den klassischen Kategorien von Gesellschaft und Demokratie und merkt nicht, wie Grundpfeiler der Demokratie täglich immer mehr erodieren. Kapitel 1 von Faßlers Buch ist hier schonungslos konkret und klar.

LAGEPLAN DEMOKRATISCHE DIGITALISIERUNG

Möglicher Lageplan zur Auseinandersetzung zwischen nicht-demokratischer und demokratischer Digitalisierung

Erschreckend ist, wie einfach die Strategie funktioniert, den einzelnen bei seinen individuellen privaten Bedürfnissen abzuholen, ihm vorzugaukeln, er lebe in den aktuellen digitalen Räumen so wie er auch sonst als Bürger lebe, nur schneller, leichter, sogar freier von üblichen analogen Zwängen, obwohl er im Netz vieler wichtiger realer Recht beraubt wird, bis hin zu Sachverhalten und Aktionen, die nicht nur nicht demokratisch sind, sondern sogar in ihrer Wirkung eine reale Demokratie auflösen können; alles ohne Kanonendonner.

Es mag daher hilfreich sein, sich mindestens die folgenden Sachverhalte zu vergegenwärtigen:

  • Verankerung in der realen Welt
  • Zukunft gibt es nicht einfach so
  • Gesellschaft als emergentes Phänomen
  • Freie Kommunikation als Lebensader

REALE KÖRPERWELT

Fasziniert von den neuen digitalen Räumen kann man schnell vergessen, dass diese digitalen Räume als physikalische Zustände von realen Maschinen existieren, die reale Energie verbrauchen, reale Ressourcen, und die darin nicht nur unseren realen Lebensraum beschneiden, sondern auch verändern.

Diese physikalische Dimension interagiert nicht nur mit der übrigen Natur sehr real, sie unterliegt auch den bisherigen alten politischen Strukturen mit den jeweiligen nationalen und internationalen Gesetzen. Wenn die physikalischen Eigentümer nach alter Gesetzgebung in realen Ländern lokalisiert sind, die sich von den Nutzern in demokratischen Gesellschaften unterscheiden, und diese Eigentümer nicht-demokratische Ziele verfolgen, dann sind die neuen digitalen Räume nicht einfach nur neutral, nein sie sind hochpolitisch. Diese Sachverhalte scheinen in der europäischen Politik bislang kaum ernsthaft beachtet zu werden; eher erwecken viele Indizien den Eindruck, dass viele politische Akteure so handeln, als ob sie Angestellte jener Eigner sind, die sich keiner Demokratie verpflichtet fühlen (Ein Beispiel von vielen: die neue Datenschutz-Verordnung DSGVO versucht erste zaghafte Schritte zu unternehmen, um der Rechtlosigkeit der Bürger als User entgegen zu wirken, gleichzeitig wird diese DSGVO von einem Bundesministerium beständig schlecht geredet …).

ZUKUNFT IST KEIN GEGENSTAND

Wie ich in diesem Blog schon mehrfach diskutiert habe, ist Zukunft kein übliches Objekt. Weil wir über ein Gedächtnis verfügen, können wir Aspekte der jeweiligen Gegenwart speichern, wieder erinnern, unsere Wahrnehmung interpretieren, und durch unsere Denkfähigkeit Muster, Regelhaftigkeiten identifizieren, denken, und neue mögliche Kombinationen ausmalen. Diese neuen Möglichkeiten sind aber nicht die Zukunft, sondern Zustände unseres Gehirns, die auf der Basis der Vergangenheit Spekulationen über eine mögliche Zukunft bilden. Die Physik und die Biologie samt den vielen Begleitdisziplinen haben eindrucksvoll gezeigt, was ein systematischer Blick zurück zu den Anfängen des Universums (BigBang) und den Anfängen des Lebens (Entstehung von Zellen aus Molekülen) an Erkenntnissen hervor bringen kann. Sie zeigen aber auch, dass die Erde selbst wie das gesamt biologische Leben ein hochkomplexes System ist, das sich nur sehr begrenzt voraus sagen lässt. Spekulationen über mögliche zukünftige Zustände sind daher nur sehr begrenzt möglich.

Ferner ist zu berücksichtigen, dass das Denken selbst kein Automatismus ist. Neben den vielen gesellschaftlichen Faktoren und Umweltfaktoren, die auf unser Denken einwirken, hängt unser Denken in seiner Ausrichtung entscheidend auch von unseren Bedürfnissen, Emotionen, Motiven und Zielvorstellungen ab. Wirkliche Innovationen, wirkliche Durchbrüche sind keine Automatismen. Sie brauchen Menschen, die resistent sind gegen jeweilige ‚Mainstreams‘, die mutig sind, sich mit Unbekanntem und Riskantem auseinander zu setzen, und vieles mehr. Solche Menschen sind keine ‚Massenware’…

GESELLSCHAFT ALS EMERGENTES PHÄNOMEN

Das Wort ‚Emergenz‘ hat vielfach eine unscharfe Bedeutung. In einer Diskussion des Buches von Miller und Page (2007) Complex Adaptive Systems. An Introduction to Computational Models of Social Life habe ich für meinen Theoriezusammenhang eine Definition vorgeschlagen, die die Position von Miller und Page berücksichtigt, aber auch die Position von Warren Weaver (1958), A quarter century in then natural sciences. Rockefeller Foundation. Annual Report,1958, pages 7–15, der von Miller und Page zitiert wird.

Die Grundidee ist die, dass ein System, das wiederum aus vielen einzelnen Systemen besteht, dann als ein organisiertes System verstanden wird, wenn das Wegnehmen eines einzelnen Systems das Gesamtverhalten des Systems verändert. Andererseits soll man aber durch die Analyse eines einzelnen Mitgliedssystems auch nicht in der Lage sein, auf das Gesamtverhalten schließen zu können. Unter diesen Voraussetzungen soll das Gesamtverhalten als emergent bezeichnet werden: es existiert nur, wenn alle einzelnen Mitgliedssysteme zusammenwirken und es ist nicht aus dem Verhalten einzelner Systeme alleine ableitbar. Wenn einige der Mitgliedssysteme zudem zufällige oder lernfähige Systeme sind, dann ist das Gesamtverhalten zusätzlich begründbar nicht voraussagbar.

Das Verhalten sozialer Systeme ist nach dieser Definition grundsätzlich emergent und wird noch dadurch verschärft, dass seine Mitgliedssysteme — individuelle Personen wie alle möglichen Arten von Vereinigungen von Personen — grundsätzlich lernende Systeme sind (was nicht impliziert, dass sie ihre Lernfähigkeit ’sinnvoll‘ nutzen). Jeder Versuch, die Zukunft sozialer Systeme voraus zu sagen, ist von daher grundsätzlich unmöglich (auch wenn wir uns alle gerne der Illusion hingeben, wir könnten es). Die einzige Möglichkeit, in einer freien Gesellschaft, Zukunft ansatzweise zu erarbeiten, wären Systeme einer umfassenden Partizipation und Rückkopplung aller Akteure. Diese Systeme gibt es bislang nicht, wären aber mit den neuen digitalen Technologien eher möglich.

FREIE KOMMUNIKATION UND BILDUNG

Die kulturellen Errungenschaften der Menschheit — ich zähle Technologie, Bildungssysteme, Wirtschaft usw. dazu — waren in der Vergangenheit möglich, weil die Menschen gelernt hatten, ihre kognitiven Fähigkeiten zusammen mit ihrer Sprache immer mehr so zu nutzen, dass sie zu Kooperationen zusammen gefunden haben: Die Verbindung von vielen Fähigkeiten und Ressourcen, auch über längere Zeiträume. Alle diese Kooperationen waren entweder möglich durch schiere Gewalt (autoritäre Gesellschaften) oder durch Einsicht in die Sachverhalte, durch Vertrauen, dass man das Ziel zusammen schon irgendwie erreichen würde, und durch konkrete Vorteile für das eigene Leben oder für das Leben der anderen, in der Gegenwart oder in der möglichen Zukunft.

Bei aller Dringlichkeit dieser Prozesse hingen sie zentral von der möglichen Kommunikation ab, vom Austausch von Gedanken und Zielen. Ohne diesen Austausch würde nichts passieren, wäre nichts möglich. Nicht umsonst diagnostizieren viele Historiker und Sozialwissenschaftler den Übergang von der alten zur neuen empirischen Wissenschaft in der Veränderung der Kommunikation, erst Recht im Übergang von vor-demokratischen Gesellschaften zu demokratischen Gesellschaften.

Was aber oft zu kurz kommt, das ist die mangelnde Einsicht in den engen Zusammenhang zwischen einer verantwortlichen Kommunikation in einer funktionierenden Demokratie und dem dazu notwendigen Wissen! Wenn ich eine freie Kommunikation in einer noch funktionierenden Demokratie haben würde, und innerhalb dieser Diskussion würden nur schwachsinnige Inhalte transportiert, dann nützt solch eine Kommunikation natürlich nichts. Eine funktionierende freie Kommunikation ist eine notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie, aber die Verfügbarkeit von angemessenen Weltbildern, qualitativ hochwertigem Wissen bei der Mehrheit der Bürger (nicht nur bei gesellschaftlichen Teilgruppen, die sich selbst als ‚Eliten‘ verstehen) ist genauso wichtig. Beides gehört zusammen. Bei der aktuellen Zersplitterung aller Wissenschaften, der ungeheuren Menge an neuem Wissen, bei den immer schneller werdenden Innovationszyklen und bei der zunehmenden ‚Fragmementierung der Öffentlichkeit‘ verbunden mit einem wachsenden Misstrauen untereinander, ist das bisherige Wissenssystem mehr und mehr nicht nur im Stress, sondern möglicherweise kurz vor einem Kollaps. Ob es mit den neuen digitalen Technologien hierfür eine spürbare Unterstützung geben könnte, ist aktuell völlig unklar, da das Problem als solches — so scheint mir — noch nicht genügend gesellschaftlich erkannt ist und diskutiert wird. Außerdem, ein Problem erkennen ist eines, eine brauchbare Lösung zu finden etwas anderes. In der Regel sind die eingefahrenen Institutionen wenig geeignet, radikal neue Ansätzen zu denken und umzusetzen. Alte Denkgewohnheiten und das berühmte ‚Besitzstanddenken‘ sind wirkungsvolle Faktoren der Verhinderung.

AUSBLICK

Die vorangehenden Gedanken mögen auf manche Leser vielleicht negativ wirken, beunruhigend, oder gar deprimierend. Bis zum gewissen Grad wäre dies eine natürliche Reaktion und vielleicht ist dies auch notwendig, damit wir alle zusammen uns wechselseitig mehr helfen, diese Herausforderungen in den Blick zu nehmen. Der Verfasser dieses Textes ist trotz all dieser Schwierigkeiten, die sich andeuten, grundlegend optimistisch, dass es Lösungen geben kann, und dass es auch — wie immer in der bisherigen Geschichte des Lebens auf der Erde — genügend Menschen geben wird, die die richtigen Ideen haben werden, und es Menschen gibt, die sie umsetzen. Diese Fähigkeit zum Finden von neuen Lösungen ist eine grundlegende Eigenschaft des biologischen Lebens. Dennoch haben Kulturen immer die starke Tendenzen, Ängste und Kontrollen auszubilden statt Vertrauen und Experimentierfreude zu kultivieren.

Wer sich das Geschehen nüchtern betrachtet, der kann auf Anhieb eine Vielzahl von interessanten Optionen erkennen, sich eine Vielzahl von möglichen Prozessen vorstellen, die uns weiter führen könnten. Vielleicht kann dies Gegenstand von weiteren Beiträgen sein.

Einen Überblick über alle Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

IN ZWEI WELTEN LEBEN …

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 23.Juli 2019
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Nach einer längeren Schreibpause, hier ein kurzes Blitzlicht …

SCHWEIGEN IST VIELDEUTIG

Es ist ja ein beliebter Topos, über das Schweigen zu sinnieren. Korrespondiert es mit einem ‚Nichts‘ oder ist es nur ein Artefakt vielschichtiger, sich wechselseitig in Bann haltender Aktivitäten, die sich ’nach Außen quasi ‚aufheben’…

Dies ist ein Bild. Für mein Schweigen trifft weder das eine noch das andere zu. Tatsächlich ist bei mir die letzte Zeit extrem dicht angefüllt mit Aktivitäten, Denken, Schreiben, ja auch mit Programmieren, eine moderne Form des Schreibens. Letzteres leider in unserer Kultur von schöngeistigen Menschen wenig geachtet, tatsächlich aber der Stoff, aus dem das Meiste ist, was wir heute für unser Leben benutzen.

DENKEN – VIELFÄLTIG – IM DENKEN DENKEN

Die vielfältigen Formen des Denkens zu katalogisieren und zu bewerten, dann eventuell noch hierarchisch zu gewichten, ist sicher reizvoll. Bis zu einem gewissen Grade und in gewissen Situationen mag dies sogar notwendig sein (Gesetzestexte, Rezepten, Bauanleitungen, Sportberichte, Finanzberichte ….), aber man verliert die Wahrheit aus dem Blick wenn man übersieht, dass alle diese verschiedenen Spezialformen Ausdrucksformen einer einzigen Sache sind, nämlich der Bemühung des menschlichen Geistes — realisiert in den vielen einzelnen Menschen — sich im Hier und Jetzt zurecht zu finden; zu verstehen, wie denn das alles zusammenhängt. Warum das alles so ist, wie es ist. Gibt es irgendwie ein Ziel für die Zukunft? Mehrere? Welches ist am günstigsten? Für wen? Aus welchem Grund?

Für mich war das Schreiben in diesem Block seit ca. 10 Jahren mein Versuch, mich selbst in ein Gespräch zu verwickeln, das mich zwang, Eindrücken, Fragen nachzugehen, die ich ohne dies Schreiben eher achtlos beiseite gelassen hätte. Natürlich, neben viel Spaß, Lust an der Sache, Neugierde, Entdeckerfreuden usw. war es auch weite Strecken mühsam, quälend, mit der ständigen Frage: Muss das so sein? Bringt das was? Im Rückblick, nach ca. 9000 Seiten Text, würde ich sagen, es hat — zumindest für mich — sehr viel gebracht. Ich habe begonnen, Dinge zu verstehen, von denen ich vorher nicht wusste, dass es sie gibt, Zusammenhänge, die mir verborgen waren, überraschende neue Ausblicke, Glücksgefühle, noch mehr Neugierde, viel Hoffnung, ein wachsendes Vertrauen in dieses unfassbare Wunder genannt Leben. Ich bin jetzt soweit, dass ich zumindest ahnen kann, dass das Leben viel größer, tiefer, komplexer, reicher, gewaltiger ist, als alles, was uns die bekannten alten Traditionen — vor allem die alten Religionen, aber auch Einzelbereiche der Wissenschaften — bisher erzählt haben oder heute noch erzählen.

Insofern habe ich aus dem bisherigen Schreib- und Reflexionsprozess viel Kraft gezogen, viel Hoffnung, viel neues Vertrauen, Unternehmenslust, mit dabei zu sein, wenn es geht, die Unfassbarkeit unseres Lebens weiter zu gestalten.

MITGESTALTEN …

Je mehr man diesen Wunsch hegt, nicht nur passiv aufzunehmen, nicht nur zu verstehen, um so schwieriger wird dann die Frage, wo steigt man ein? Was kann man als einzelner mit seinen jeweiligen Möglichkeiten konkret tun?

Leute, die mit markigen Sprüchen durch die Welt laufen, die vielfarbige Slogans verteilen, die einfache schwarz-weiß Bilder austeilen, gibt es genug. Alles ist sehr einfach…

Aber, das Wunder des Lebens ist — nicht wirklich einfach. Wir selbst sind zwar zunächst als ‚Hineingeworfene‘ auf den ersten Blick einfach, weil wir etwas sehr Komplexes sind, das Komplexeste, was es im ganzen Universum gibt, aber wir haben keinen Finger dafür krumm gemacht, wir finden das alles einfach so vor, wir können sofort loslegen, ohne große umständliche Prozesse zu durchlaufen (OK, es gibt mittlerweile in den meisten Kulturen komplexe selbst definierte Lernprozesse in Kindergärten, Schulen, Betrieben, Hochschulen usw.), aber wir müssen nicht verstehen, wie wir funktionieren, um zu funktionieren. Unser Körper, das Äquivalent von ca. 450 Galaxien im Format der Milchstraße, funktioniert für uns, ohne dass wir verstehen müssen (und auch tatsächlich nicht verstehen können, bislang) wie er funktioniert. Wir sind ein Wunderwerk des Universums und können ‚funktionieren‘, obwohl wir uns praktisch nicht verstehen.

Da beginnt meine zweite Story: auf Ganze gesehen weiß ich so gut wie nichts, nah besehen weiß ich aber mittlerweile zu viel, als dass ich einfach so tun könnte, nichts zu wissen 🙂

EINZELTEILE ZUSAMMEN SUCHEN

Im Rahmen meiner unterschiedlichen Lehr- und Forschungstätigkeiten, zwischendrin auch ’normale‘ berufliche Arbeiten, habe ich schrittweise viele wissenschaftliche Bereiche kennen lernen dürfen und dabei entdeckt, dass wir aktuell ein ‚Zusammenhangs-Problem‘ haben, will sagen, wir haben immer mehr einzelne Disziplinen,die je für sich hoch spezialisiert sind, aber die Zusammenhänge mit anderen Bereichen, ein Gesamtverständnis von Wissenschaft, gar doch noch mit dem ganzen Engineering, dies geht uns zusehends ab. Dies bedeutet u.a. dass ein neuer Beitrag oft gar nicht mehr richtig gewürdigt werden kann, da die Umrisse des Ganzen, für das etwas entdeckt oder entwickelt wurde, kaum noch greifbar sind. Dies ist das Fake-News-Problem der Wissenschaften.

Ob geplant oder spontan oder zufällig, ich kann es nicht genau sagen, jedenfalls habe ich vor einigen Jahren damit begonnen, zu versuchen, die Disziplinen, in denen ich tätig sein konnte, langsam, schrittweise, häppchenweise, zu systematisieren, zu formalisieren, und sie auf die mögliche Wechselwirkungen mit den anderen Bereichen hin abzuklopfen.

Zu Beginn sah dies alles sehr bruchstückhaft, eher harmlos aus.

Doch im Laufe der Jahre entwickelten sich Umrisse, entstanden immer deutlicher Querbezüge, bis dann so langsam klar wurde, ja, es gibt hier mögliche begriffliche Rahmenkonzepte, die sehr prominente und doch bislang getrennte Disziplinen auf eine Weise zusammen führen können, die so bislang nicht sichtbar waren.

MENSCH – MASCHINE – UND MEHR …

Mein Fixpunkt war das Thema Mensch-Maschine Interaktion (MMI) (Englisch: Human-Machine Interaction, HMI), von mir dann weiter entwickelt zum allgemeinen Actor-Actor Interaction (AAI) Paradigma. Mehr zufällig bedingt, genau genommen durch einen wunderbaren Freund, einem Südafrikaner, ein begnadeter Systems Engineer, habe ich auch sehr früh begonnen, das Thema Mensch-Maschine Interaktion immer auch im Kontext des allgemeineren Systems Engineerings zu denken (im englischsprachigen Raum ist das Paradigma des Systems Engineering sehr geläufig, im deutschsprachigen Bereiche gibt es viele Sonderkonzepte). Irgendwann haben wir angefangen, das Systems Engineering zu formalisieren, und im Gefolge davon habe ich dies ausgedehnt auf das Mensch-Maschine Paradigma als Teil des Systems Engineerings. Dies führte zu aufregenden Verallgemeinerungen, Verfeinerungen und letztlich auch Optimierungen. Es war dann nur eine Frage der Zeit, bis das ganze Thema Künstliche Intelligenz (KI) integriert werden würde. KI steht bislang theoretisch ein wenig verloren im Raum der vielen Disziplinen, kaum verortet im Gesamt der Wissenschaften, des Engineering, der allgemeine Kognitions-, Lern- und Intelligenztheorien der biologischen Disziplinen. Im Rahmen des AAI Paradigmas ist KI eine Subdisziplin, die eine spezielle Teilmenge von Akteuren in ihrem Verhalten beschreiben, modellieren und simulieren kann, aber eben nicht isoliert, sondern eingeordnet in den Gesamtrahmen von Engineering und Wissenschaft. Dies eröffnet viele aufregende Perspektiven und Anwendungsmöglichkeiten.

Und so wird es auch niemanden verwunden, dass mein Engagement für ein integriertes begriffliches System für Systems Engineering, MMI und KI zugleich auch ein starkes Engagement für die philosophische Dimension wurde.

Ein Leser dieses Blocks wird nicht verwundert sein, wenn ich feststelle, dass es gerade die intensive Beschäftigung mit dem Engineering und seiner Meta-Probleme waren, die mich zur Philosophie zurück geführt hatten. Nach meiner völligen Frustration mit der klassischen Philosophie während des ersten Anlaufs einer Promotion in Philosophie an der LMU München (ca. 1980 – 1983) — ein Roman für sich — fand ich viele wertvolle Erkenntnisse im intensiven Studium der Wissenschaftsphilosophie und einiger konkreter Wissenschaften. Das Engineering (mit Schwerpunkt Informatik) war dann noch bereichernder. Aber gerade hier, im Systems Engineering, bei dem Thema Mensch-Maschine, und ausgerechnet mitten in den Lerntheorien der KI, bin ich auf so viele grundlegende philosophische Fragen gestoßen, dass ich von da ab — fast notwendigerweise — wieder angefangen habe philosophisch zu denken. Eines der Hauptmotive für diesen Block.

Natürlich, das merkt man wohl auch schon beim Lesen, führt die Breite und Fülle dieser Aspekte dazu, dass man nicht schnell, und nicht immer konzise arbeiten kann. Man muss viele Fragen mehrfach bedenken, oft von verschiedenen Seiten aus, muss immer wieder von vorne anfangen, und wenn man dann meint, jetzt habe man man den Bogen doch gut hinbekommen, entdeckt man von einer anderen Seite so viele anderen Aspekte, Löcher, Unzulänglichkeiten, dass man gerade nochmals von vorne anfangen kann.

Wie schwierig es auch sein mag, die Umrisse eines Ganzen deuten sich doch mittlerweile immer stärker an, so stark, dass ich das Gefühl habe, dass dieser andere Block — uffmm.org–, mein Blog für das Engineering, ab jetzt mehr — oder gar die ganze — Aufmerksamkeit verlangt.

Denn, eine Folge von Zusammenhangs-Sichten ist, dass man — fast unaufhaltsam — immer weitere Zusammenhänge entdeckt. So ist natürlich eng verknüpft mit dem Mensch-Maschine Paradigma der gesamte Komplex der biologischen und psychologischen Verhaltenswissenschaften, dazu gehörig auch das, was man Kognitionswissenschaft nennt, und damit ganz viele weitere spezielle Disziplinen, die irgendwie den Menschen und sein Verhalten thematisieren (Semiotik, Linguistik, Soziologie, …).

Während das Lesen und Studieren einzelner Werke und Artikel aus diesen Bereichen ohne übergreifenden Zusammenhang oft so beliebig, und damit frustrierend, wirkt, gewinnen diese Werke bei einem expliziten begrifflichen Zusammenhang eine ganz andere Farbigkeit, leuchten auf, werden interessant. So ist mir dies z.B. in den letzten Monaten mit Büchern von Edelman, Gallistel und Gärdenfors gegangen (um einige Beispiele zu nennen).

Während es also einerseits darum geht, immer mehr prominente Beispiele aus den genannten Disziplinen in den neuen begrifflichen Rahmen einzuordnen, ist mir auch klar geworden, dass dies alles — so wunderbar das für sich genommen schon ist (obgleich noch im Prozess) — heute nicht mehr ausreichend ist, ohne eine hinreichende Softwareunterstützung, ohne Software-Modellierung und vielerlei Simulationsversionen. Schon ein rein empirisches verhaltenswissenschaftliches Buch wie das grundlegende Werk von Gallistel zur Organisation des biologischen Lernens bleibt ohne zugehörige Softewaremodelle irgendwie ein Torso, entsprechend auch die Werke von Gärdenfors zu Begriffs-Räumen (Conceptual Spaces). Ein positives Beispiel für Theorie und Computersimulation liefert Edelman in vielen Büchern, Artikeln und Programmen. Und ich weiß aus eigener Vorlesungserfahrung, dass die Vorlesungen zum dynamischen Lernen erste mit der zugehörigen Softwaremodellierung jene Farbe und Tiefe bekommen haben, die es heute braucht.

Für mich ergibt sich daraus, dass ich parallel zur Text-Version der Theorie — natürlich mit hinreichenden Formalisierungen — eine vollständige Softwareabdeckung brauche. Ohne diese wird das alles nur Stückwerk bleiben.

Damit entsteht ein ziemliches Aufgabenpaket: Systems Engineering mit Actor-Actor Paradigma, dazu KI integriert, bei AAI Kognitionswissenschaften integriert, und zu allem die notwendige Software.

Allerdings eine wichtige Dimension fehlt bei dieser Aufzählung noch: die allgemeine Philosophie und die Wissenschaftsphilosophie. Die allgemeine Philosophie und die Wissenschaftsphilosophie können zwar die Einzelwissenschaften nicht ersetzen, aber die Einzelwissenschaften ohne eine explizite allgemeine Philosophie und Wissenschaftsphilosophie gleichen einem Haufen gackernder Hühner, deren Einzelbeiträge schnell in Kakophonie umschlagen kann, wenn sie nicht integriert werden.

Also, im Prinzip ist sehr klar, wie es gehen soll, es konkret zu tun ist scheinbar unmöglich. Aber genau das ist es, worum es geht: das Leben als solches in diesem Universum ist die maximale Unmöglichkeit, aber dennoch ist es da, dennoch entwickelt es sich. Dieses Mysterium einer ungeheuren Kraft, das Unmögliche möglich zu machen, das ist das, was jeden Menschen, insbesondere jeden Wissenschaftler, antreiben sollte, ansonsten sind wir tatsächlich — möglicherweise — schlechter als alle denkbaren Roboter der Zukunft.

AUF DIE BAUSTELLE

Wie schon angedeutet, hat meine Theoriebaustelle einen Namen: uffmm.org . ‚uffmm‘ ist die Abkürzung eines ganzen Satzes. Ich verrate jetzt nicht, wie dieser Satz heißt. Schön wäre es, wenn er einmal wahr werden würde.

Wer will, kann die Ereignisse auf dem uffmm-Blog verfolgen, allerdings ist dort alles auf Englisch. Es ist nicht meine Sprache, ich fühle mich damit sprachlich amputiert, aber es ist die zur Zeit beste Arbeitssprache für den internationalen Raum.

Ich habe auch keine Ahnung, wie weit ich kommen werde.

Parallel betreibe ich noch ein Anwendungsprojekt mit Überschrift ‚Kommunalplanung als eGaming‚. Damit zielen wir auf alle ca. 11.000 Kommunen in Deutschland, mit einem neuen Ansatz für mehr Demokratie in einer digitalisierten Welt. Dieser Ansatz ist ein direkter Ausfluss der zuvor angedeuteten Theoriearbeit (plus Software).

Der Philosophie-Jetzt Block war der entscheidende Inkubator für diese Weiterentwicklung. Ob und wie sich dieser Blog weiter entwickelt, wird man sehen. Er war ganz und gar ungeplant, und so wird auch die weitere Zukunft sich ereignen 🙂

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DAS LEBEN ALS PROJEKT DER FREIHEIT

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 11.Dez. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KURZFASSUNG

Die grundlegende Idee einer Freiheit, die das Leben, insbesondere den Menschen, auszeichnet, die die großen wissenschaftlichen, politischen und auch wirtschaftlichen Umbrüche der Neuzeit hervorgebracht hat, scheint  unter zunehmender Atemnot zu leiden. Ein kurzer Blick auf die materielle Basis des Lebens unterstützt dies nicht. Leben ist gerade wissenschaftlich ein einziges Freiheitsprojekt …. Freiheit war aber noch nie ‚bequem‘ …

KONTEXT: REDE VON FREIHEIT

In einem aktuellen Beitrag in der Frankfurter Rundschau mit Titel ‚Der sanfte Umbruch‚ wird das Phänomen der Digitalisierung in seinen weitreichenden gesellschaftlichen und individuellen Wirkungen schlaglichtartig sichtbar gemacht, und zugleich als ein Leitmotiv auf den Menschen als Wesen der Freiheit hingewiesen. Dies ist bemerkenswert, da der Faktor Mensch heute weder in den Wissenschaften noch in vielen Gesellschaften als jener ausgezeichnete Ort von verdichteter Freiheit angesehen wird, der er – bei entsprechender Betrachtung – ist. Und damit sind wir am Kern des Problems: was nützen die spannendsten Sachverhalte, wenn der potentielle Betrachter eine mentale Brille auf hat, die ihn daran hindert, das zu sehen, was ‚ist‘.

IN GUTER GESELLSCHAFT: ZERSPLITTERUNG

Mit dem Aufhaben einer falschen mentalen Brille ist man allerdings in einer guten Gesellschaft. Wie der Überblick über die Vielzahl von Einzelwissenschaften im Rahmen der Relektüre von Edelmans Buch von 1992 gezeigt hat, zersplittert sich die Wissenschaft aufgrund ihres wissenschaftsphilosophischen Selbstverständnisses in immer mehr Einzelwissenschaften, die immer mehr Details zeigen, und immer weniger Zusammenhänge (die im Schaubild dieses Beitrags genannten Einzelwissenschaften sind nur die Spitze des Eisbergs). Selbst wenn es interessante komplexe Sachverhalte geben würde, die über den Wahrnehmungshorizont einer Einzelwissenschaft hinausreichen würden, solche Sachverhalte würden unerkannt bleiben, weil es keinen organisierten ‚integrierenden Blick‘ auf das ‚Ganze im Lichte des Einzelnen‘ gibt. Die verschiedenen Integrationsfantasien der Physik, die Vision einer Weltformel , haben sich weder erfüllt noch sind sie – aufgrund vieler kritischer Argumente – prinzipiell so möglich, wie sie die Physik gerne hätte.

KRANK IM KOPF?

Wer meint, „diese Probleme der Wissenschaft gehen ihn direkt nichts an, man selbst in seinem Alltag wisse ja doch schon, irgendwie, ‚wo es lang geht‘, was soll das also“, einem solchen ist natürlich zunächst wenig zu helfen. Wer so redet hat seine eigene mentale Brille, die offensichtlich darauf optimiert ist, alles auszublenden, was stört bzw. vielleicht stören könnte.

Dass mentale Brillen im Kopf selbst große Wissenschaftler beeinflussen können, ist nichts Neues. Die Geschichte ist voll davon. Edelman selbst, dessen Buch von 1992 ich einer Re-Lektüre mit Diskussion unterziehe (siehe den Überblick über alle bisherigen Beiträge), ist jemand, der eigentlich deutlich über die Grenzen seiner eigenen Wissenschaft hinaus schaut und hier auf interessante Fehlentwicklungen hinweist. Aber in seinem eigenen, angestammten Gebiet der Gehirnforschung, wird er dennoch Opfer seiner eigenen wissenschaftsphilosophischen Setzungen. In seiner Analyse und Diskussion des Phänomens ‚Bewusstsein‘  beginnt er mit sehr klaren, fast rabiaten Worten, in denen er den besonderen Charakter des Phänomens ‚Bewusstsein‘ herausstellt („Bewusstsein ist fremd, mysteriös, das ‚letzte Geheimnis‘.“ (S.137f)). Und er beschreibt auch die methodische Unmöglichkeit, das Phänomen als das, was es ist, ein erste-Person-Phänomen, wissenschaftlich angemessen beschreiben zu können. Dann aber – trotz eines eigenen Abschnitts über das, was genau die Eigenschaften einer wissenschaftlichen Theorie seien – beschreibt er wissenschaftliche Praktiken, die im Kern methodisch nicht das leisten, was sie leisten sollen, die aber dann in ihrem Ergebnis so gehandelt werden, ‚als ob‘ sie das Phänomen Bewusstsein behandelt hätten (dies erinnert ein wenig an die Praktiken der Finanzindustrie, die schrottige Finanzen (also eigentlich nicht vorhandenes Geld) so geschickt ‚mehrfach verpackt‘ haben, dass der Käufer  den Eindruck haben konnte, er kaufe ein funktionierendes Wertpapier)). Nun wird man Edelman sicher nicht jene kriminelle Energie unterstellen, die die Finanzkontrukteure angetrieben hat, aber irgendeine Form von ‚Energie‘ muss es dennoch sein, etwas mit einer Methode A erklären zu wollen, wofür die Methode A aber nicht ausgelegt ist.

Dieses Beispiel – wie gesagt, eines von vielen Hunderten wenn nicht Tausenden – zeigt, dass das Problem der mentalen Brille, die A zeigt, obgleich wir ein Nicht-A haben, jeden, selbst den größten Wissenschaftler, treffen kann. Und es ist die Gehirntheorie von Edelman selbst, die viele der Argumente liefert, warum wir ‚von Natur aus‘ das Problem der ‚mentalen Brille‘ haben; letztlich ist es eigentlich kein ‚Problem‘, sondern eine grandiose Errungenschaft des Lebens, das allerdings, bei ‚falschem Gebrauch‘, das Gegenteil von dem bewirkt, wofür es eigentlich ausgelegt ist.

BEWUSSTWERDUNG …

In den Kapiteln 11 und 12 beschreibt Edelman das Phänomen des Bewusstseins, wie es sich aus Sicht der Gehirnforschung und der Biologie darstellt.

Stark vereinfachend kann man seine Position vielleicht dahingehend zusammen fassen, dass er einmal zwischen einem ‚primären Bewusstsein‘ und einem ‚Höheren Bewusstsein‘ unterscheidet.

Das primäre Bewusstsein ist den aktuellen sinnlichen Wahrnehmungen der Außen- und Innenwelt verhaftet, kennt nur eine Gegenwart, das Jetzt, ist aber dennoch – auf unbewusste Weise – mit einer Gedächtnismaschinerie verbunden, die automatisiert die primären Erlebnisse ‚kategorisiert‘ und ‚bewertet‘. Schon hier beginnt also eine ‚Interpretation‘ von ‚Welt‘ sowohl in ihren ‚wissbaren Strukturen‘ wie auch in ihren ‚individuellen Bewertungen‘, und zwar ‚unbewusst‘. (Den Begriff ‚unbewusst‘  erläutert Edelman erst im Kap.13).

Vom primären, in der Gegenwart verhafteten Bewusstsein unterscheidet er das ‚höhere Bewusstsein‘, das in der Lage ist, die Gegenwart zu übersteigen durch Abstraktionsbildungen, welche die Gegenart und Vergangenheit explizit vergleichen können. Ein wichtiges Mittel ist hier ferner die symbolische Sprache, mit deren Hilfe nicht nur Momente des wahrgenommenen und erinnerten Wissens ‚fixiert‘, ‚bewusst erinnert‘, und ’neu konfiguriert (gedacht)‘ werden können, sondern das individuelle Gehirn kann mittels der Sprache mit einem anderen Gehirn in begrenztem Umfang ‚kommunizieren‘.

Die Wirkung dieser neuen inneren Organisationsstrukturen des Körpers zeigen sich in der Geschichte der Evolution unübersehbar und massiv: seit dem Auftreten des Homo  sapiens ist die Komplexität des Lebens auf der Erde in atemberaubend kurzer Zeit explodiert; dies ist eine extreme Form von exponentieller Beschleunigung.

Wichtig ist aber jene Unterscheidung von Edelman, dass die Entwicklung der Sprache der Entwicklung der komplexen Begriffsbildung sowie der Entwicklung des physiologischen Sprechapparates nachfolgt. Ohne komplexe Begriffsbildung und ohne Sprechapparat keine Sprache. Dies ist insofern wichtig als die Ausbildung bestimmter symbolischer Ausdrucksmittel und deren Assoziierung mit bestimmten ‚Inhalten‘ ein sekundärer Prozess ist.

KEIN DETERMINISMUS

Ebenso wichtig ist, sich bewusst zu machen, dass sowohl bei der ontogenetischen Entwicklung des Gehirns in einem einzelnen Organismus sowie in der kontinuierlichen Arbeit eines individuellen Gehirns in keiner Phase ein ‚Determinismus‘ vorliegt. Sowohl das individuelle Gehirnwachstum wie auch die kontinuierliche Arbeit des Gehirns ist sowohl von vielen zufälligen Faktoren geprägt wie auch von beständigen Selektionsprozessen: aus einer Fülle von Optionen müssen ständig einige wenige ausgewählt werden, um den Lebensprozess nicht zum Stillstand zu bringen. Und hier treffen wir auf die Wurzel aller mentalen Brillen!

Um zu überleben, muss der individuelle Organismus aufgrund begrenzter Ressourcen ständig auswählen und damit Entscheidungen fällen. Diese Entscheidungen sind primär ‚automatisch‘, ‚unbewusst‘, eine Mischung aus genetischen induzierten ‚Tendenzen‘ sowie durch bisherige ‚Erfahrungen mit ihren impliziten Bewertungen‘. Dieser Mechanismus kann ‚deterministisch‘ wirken. Allerdings erlauben die höheren Gehirnleistungen – insbesondere auch die Sprache – diese weitgehend unbewussten Prozesse partiell ’sichtbar‘ und damit zu ‚explizitem Wissen‘ zu machen, das dann in komplexere Beziehungen und Modelle eingebaut werden kann, mittels deren Tendenzen sichtbar werden, implizite Voraussetzungen, mögliche Zukünfte. Ein solches explizit reflektierendes Verhalten ist mühsam, bietet aber prinzipiell die Möglichkeit, aus dem dumpfen Automatismus einer genialen Maschinerie partiell und schrittweise zu entkommen. Allerdings auch nur, wenn man sowohl den Wahrnehmungsprozess wie auch den Denkprozess beständig mit Alternativen, mit anderen Mustern konfrontiert. Die eigene Erfahrung ist sich selbst gegenüber weitgehend ‚blind‘. Die verfügbare Erfahrung als solche ist weder ‚wahr‘ noch ‚falsch‘, sie wirkt sich aus auf den kognitiven Verarbeitungsprozess, und diese Auswirkungen sind primär unbewusst. Es erfordert explizit Anstrengung, sich diesen bewusst zu machen.

Die Erfindung der neuzeitlichen experimentellen Wissenschaften war in diesem Kontext ‚revolutionär‘, da man versucht hat, die automatisierten, unbewussten Abläufe der individuellen Denkprozesse zu ‚externalisieren‘, sie an ‚externe‘ Objekte und Verfahren zu knüpfen, sie wiederholbar und transparent zu machen, unabhängig von den Besonderheiten eines individuellen Beobachters. Bis zu einem gewissen Grad hat diese Strategie bis heute große Wirkungen erzielt.

Allerdings haben diese Erfolge aus den Blick geraten lassen, dass die individuellen Gehirne der Forscher immer noch im Spiel bleiben, und dass diese individuellen Gehirne ihr eigenes ‚Betriebsprotokoll‘ haben, ihre ‚Policy‘, wie sie mit erlebbaren Ereignissen umgehen. Das Gehirn aus sich heraus ermöglicht zwar eine ‚kritische Theoriebildung‘, wenn aber der ‚Steuermann des Verhaltens‘ (Wer ist das genau?) die Mechanismen einer kritischen Überprüfung, eines kritischen Lernens nicht aktiviert, nicht nutzt, dann kann das Gehirn – wie viele Jahrtausende Kulturgeschichte zeigen – sich in Modellbildungen verrennen, die ‚an sich‘ schön aussehen, aber von nur geringem Erklärungswert sind, die Leben behindern statt zu fördern.

FREIHEIT ODER UNFREIHEIT

So wie im berühmten Beispiel mit dem halb vollen Glas, das der ‚Optimist‘ anders sieht als der ‚Pessimist‘, ist es auch hier ein wenig eine Frage der Einschätzung, ob man das biologische Wunderwerk Homo sapiens nun als einen gewissen ‚Höhepunkt‘ (aber nicht Endpunkt!) der bisherigen Evolution ansieht, oder aber als das nächste ‚Auslaufmodell‘.

Wer sich den mühevollen Weg der biologischen Evolution vergegenwärtigt, am besten noch erweitert um die Evolution des Universums, der kann eigentlich nicht umhin ins Staunen zu geraten, welche unfassbare Komplexitäten sich hier ‚aus sich heraus‘ organisiert haben. Dass wir heute vielfach an Überlastungen, an Versagen dieser Komplexität leiden, die Schwierigkeiten erleben, die eine Umsetzung der implizit gegebenen Möglichkeiten mit sich bringen, ist aus Sicht des Beteiligtseins nachvollziehbar. Dennoch waren Schwierigkeiten der Umsetzung eigentlich noch nie ein Beweis der Unmöglichkeit. Gemessen an den Problemen, die das biologische Leben in den vergangenen ca. 3.8 Mrd Jahren erleben und meistern musste, ist das, was wir heute erleben, eigentlich ein ‚Luxusproblem‘. Allerdings, die grundsätzliche Einsicht in das ‚Wunder des Lebens‘ ist noch nicht automatisch die ‚Umsetzung eines lebbaren Weges‘.

Andererseits, alle diese Probleme gibt es nur, weil das Leben von Grunde auf ein Projekt der Freiheit ist und es diese Offenheit für eine je größere und andere Zukunft ist, die permanent ‚Stress‘ erzeugt. Alles in der Vergangenheit erworbene Wissen, umgesetzte Verfahren und Strukturen haben eine eingebaute ‚Verfallszeit‘, weil der umgebenden universale Weltprozess dynamisch ist, sich beständig verändert, und alles, was bis zu einem gewissen Zeitpunkt erreicht wurde, kann nur erhalten werden, wenn es ‚angemessen‘ (nachhaltig, resilient) verändert wird. Wäre unser menschliches und gesellschaftliches Denken weniger an ‚Statik‘ ausgerichtet, weniger an ‚Bewahrung‘, weniger an ‚politischer Korrektheit‘, sondern stattdessen eher an ‚kontinuierlicher Veränderung‘, an ‚kreativer Forschung‘, an ‚experimentellen Entwürfen‘, an ‚unkonventionellen Typen‘, dann wären wir wahrscheinlich grundlegend besser aufgestellt.

 

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ZUR ENTDECKUNG DER VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT IN DER GEGENWART. Zwischenbemerkung

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 10.Dez. 2017
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: cagent
Email: cagent@cognitiveagent.org

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IDEE

Wenn man gedanklich in komplexen Strukturen unterwegs ist, kann es bisweilen helfen, sich zwischen drin bewusst zu machen, wo man gerade steht,
worum es eigentlich geht. Dies ist so ein Moment.

I. BILDERFLUT AUS MÖGLICHKEIT

Wir leben in einer Zeit, wo die Technik die
Möglichkeit eröffnet hat, Bilder zu erschaffen, die
mehr oder weniger alles zum Gegenstand haben, auch
Unsinniges, Idiotisches, reinste Fantasien, explizite
Lügen, Verleumdungen, … und für einen normalen homo
sapiens, der – bei intaktem Sehvermögen – primär ein
visuell orientiertes Lebewesen ist, führt diese Bilderflut
dazu, dass die wahre Realität sich immer mehr auflöst
in dieser Bildersuppe. Selbst wenn die Bilder noch als
Science Fiction, Fantasy, Crime, … gelabelt werden, im
Gehirn entsteht eine Bildersuppe, wo sich wahres Reales
mit Irrealem zu einem Gebräu mischt, das den Besitzer
dieses Gehirns in einen Dauerzustand der zunehmenden
Desorientierung versetzt. Der einzelne Bildproduzent
mag vielleicht sogar redliche Absichten haben, aber die
Masse der irrealen Bilder folgt ihren eigenen Gesetzen.
Das einzelne Gehirn verliert Orientierungsmarken.
Die Bereitschaft und Neigung von Menschen aller
Bildungsschichten selbst mit Doktortiteln (!), beliebig
wirre populistische, fundamentalistische oder esoterische
Anschauungen über die Welt als ’wahr’ zu übernehmen,
ist manifest und erschreckend. Wenn die grundlegenden
Wahrheitsfähigkeit von Menschen versagt, weil das
Gehirn über zu wenig verlässlich Ankerpunkte in der
Realität verfügt, dann ist alles möglich. Ein alter Lehrsatz
aus der Logik besagt: Aus Falschem folgt alles.

More than Noise – But What?

II. RÜCKERINNERUNG AN DIE WAHRHEIT

In einem vorausgehenden – eher grundlegenden –
Blogeintrag sind jene elementaren Grundstrukturen angesprochen worden, durch die jeder homo sapiens eine elementare Wahrheitsfähigkeit besitzt, auch in
Kommunikation und Kooperation mit anderen.
Aus diesem Text geht hervor, dass es grundsätzlich
möglich ist, dass dies aber kein Selbstgänger ist,
keinen Automatismus darstellt. Das Gelingen von
Wahrheit erfordert höchste Konzentration, erfordert
kontinuierliche Anstrengung, und vor allem auch das
Zusammenspiel vieler Faktoren. Moderne Demokratien
mit einer funktionierenden Öffentlichkeit, mit einem
ausgebauten Bildungs- und Forschungssystem kommen
diesen wissenschaftsphilosophischen Anforderungen
bislang am nächsten.

Wer die Bedeutung dieser Mechanismen zur
Voraussetzung von Wahrheit kennt und sich die
reale Welt anschaut, der kann weltweit eine
starke Rückentwicklung dieser Strukturen und
Prozesse beobachten, eine weltweite Regression
von Wahrheitsprozessen. Die Folgen sind schon jetzt
katastrophal und werden sich eher verstärken. Den Preis
werden letztlich alle zahlen. Wer glaubt, man könne sich
in einem Teilprozess isolieren, der täuscht sich.
Allerdings, im Fall der Wahrheit gelten andere Regel
als rein physikalische: Wahrheit selbst ist ein nicht-
physikalisch beschreibbares Phänomen. Es entstand
gegen alle Physik, es entstand auf eine Weise, die wir
bislang noch nicht richtig verstehen, und es macht im
Ansatz alle zu Verlierern, die sich außerhalb stellen.
Genauso irrational, wie sich weltweit eine Regression
von Wahrheit ereignen kann – und aktuell ereignet –,
genauso bizarr ist zugleich, warum so viele Mächtige
solch eine ungeheure Angst vor Wahrheit haben
(schon immer). Warum eigentlich? Warum gibt es
diesen ungeheuren Drang dazu, andere Menschen
zu kontrollieren, Ihnen Meinungen und Verhalten
vorzuschreiben, Algorithmen zu entwickeln, die die
Menschen in Richtungen leiten sollen, die schon falsch
sind, als sie ausgedacht wurden?

Solange es nur einen einzigen Menschen auf dem
Planet Erde gibt, so lange gibt es die Chance für
Wahrheit. Und so lange es die Chance für Wahrheit gibt,
muss jeder, der Wahrheit verrät, unterdrückt, verleugnet
sich als Verräter sehen, als Feind des Lebens.

More Beyond Noise – How Far away? Which kind of Distance?

III. UNIVERSUM – ERDE – LEBEN

Wenn man zu ahnen beginnt, wie kostbar Wahrheit
ist, wie schwierig sie zu gewinnen ist, und wenn man
weiß, wie viele Milliarden Jahre das Leben auf der
Erde gebraucht hat, um wahrheitsfähig zu werden, auch
noch in den späten Phase der Lebensform homo bzw.
dann des homo sapiens, dann kann man umgekehrt
zu einer geradezu andächtigen Haltung finden, wenn
man sich anschaut, was die modernen experimentellen
Wissenschaften im Laufe der letzten Jahrhundert, sogar
erst in den letzten Jahrzehnten (!!!) alles offenlegen
konnten.

Man bedenke, was wir primär wahrnehmen, das
ist Gegenwart, und die unfassbaren Blicke zurück in
die Vergangenheit der Evolution des Lebens und des
Universums (und möglicher weiterer Universen) liegen
nicht auf der Straße! Die Gegenwart ist Gegenwart und
ihr, der Gegenwart, Hinweise auf eine Zeit davor zu
entlocken, das war – und ist – eine der größten geistigen
Leistungen des homo sapiens.

Die Vergangenheit kann sich ja niemals direkt zeigen,
sondern immer nur dann, wenn eine bestimmte Zeit
mit ihren Strukturen und Prozessen Artefakte erzeugt
hat, die im Fluss der Zeit dann später als Spuren,
Hinweise, vorkommen, die ein Lebewesen dieser neuen
Gegenwart dann auch als Hinweise auf eine andere Zeit
erkennt.

So hat die Geologie irgendwann bemerkt, dass die
verschiedenen Gesteinsschichten möglicherweise
Ablagerungen aus vorausgehenden Zeiten sind.
Entsprechend haben die Biologen aus Versteinerungen
auf biologische Lebensformen schließen können,
die ’früher einmal’ gelebt hatten, heute aber nicht
mehr oder, heute auch, aber eventuell verändert. Die
Physik entdeckte, dass aufgrund der unterschiedlichen
Leuchtkraft gleicher Sternphänomene große Entfernungen im Universum anzunehmen sind, und mit der Fixierung der Geschwindigkeit des Lichts konnte
man auch auf Zeiten schließen, aus denen dieses Licht
gekommen sein muss: man war plötzlich bei vielen
Milliarden Jahren vor der Gegenwart.
Diese wenigen und vereinfachten Beispiele können
andeuten, dass und wie in der Gegenwart Zeichen einer
Vergangenheit aufleuchten können, die unsere inneren
Augen des Verstehens in die Lage versetzen, die scheinbare Absolutheit der Gegenwart zu überwinden und langsam zu begreifen, dass die Gegenwart nur
ein Moment in einer langen, sehr langen Kette von
Momenten ist, und dass es Muster zu geben scheint,
Regeln, Gesetze, Dynamiken, die man beschreiben
kann, die ansatzweise verstehbar machen, warum dies
alles heute ist, wie es ist.

Es versteht sich von selbst, dass diese unfassbaren
Erkenntnisleistungen der letzten Jahrzehnte nicht nur
möglich wurden, weil der Mensch qua Mensch über
eine grundlegende Wahrheitsfähigkeit verfügt, sondern
weil der Mensch im Laufe der letzten Jahrtausende
vielerlei Techniken, Abläufe ausgebildet hat, die ihm
bei diesen Erkenntnisprozessen unterstützen. Man
findet sie im technischen Bereich (Messgeräte, Computer,
Datenbanken, Produktionsprozesse, Materialtechniken, …..), im institutionellen Training
(langwierige Bildungsprozesse mit immer feineren
Spezialisierungen), in staatlichen Förderbereichen, aber
auch – und vielleicht vor allem! – in einer Verbesserung
der Denktechniken, und hier am wichtigsten die
Ausbildung leistungsfähiger formaler Sprachen in vielen
Bereichen, zentral die Entwicklung der modernen
Mathematik. Ohne die moderne Mathematik und formale
Logik wäre fast nichts von all dem möglich geworden,
was moderne Wissenschaft ausmacht.

Wenn man um die zentrale Rolle der modernen
Mathematik weiß und dann sieht, welche geringe Wertschätzung Mathematik sowohl im
Ausbildungssystem wie in der gesamten Kultur einer
Gesellschaft (auch in Deutschland) genießt, dann kann
man auch hier sehr wohl von einem Teilaspekt der
allgemeinen Regression von Wahrheit sprechen.(Anmerkung: Es wäre mal eine interessante empirische Untersuchung, wie viel
Prozent einer Bevölkerung überhaupt weiß, was Mathematik ist. Leider
muss man feststellen, dass das, was in den Schulen als Mathematik
verkauft wird, oft nicht viel mit Mathematik zu tun hat, sondern mit
irgendwelchen Rechenvorschriften, wie man Zeichen manipuliert, die
man Zahlen nennt. Immerhin, mehr als Nichts.)

Im Zusammenspiel von grundlegender Wahrheitsfähigkeit, eingebettet in komplexe institutionelle Lernprozesse, angereichert mit wissensdienlichen
Technologien, haben die modernen experimentellen
Wissenschaften es also geschafft, durch immer
komplexere Beschreibungen der Phänomene und ihrer
Dynamiken in Form von Modellen bzw. Theorien, den
Gang der Vergangenheit bis zum Heute ansatzweise
plausibel zu machen, sondern auf der Basis dieser
Modelle/ Theorien wurde es auch möglich, ansatzweise
wissenschaftlich begründete Vermutungen über die
Zukunft anzustellen.

In einfachen Fällen, bei wenigen beteiligten Faktoren
mit wenigen internen Freiheitsgraden und für einen
begrenzten Zeithorizont kann man solche Vermutungen ü̈ber die Zukunft (kühn auch Prognosen genannt), einigermaßen überprüfen. Je größer die Zahl der
beteiligten Faktoren, je mehr innere Freiheitsgrade, je
weitreichender der Zeitrahmen, um so schwieriger wir
solch eine Prognose. So erscheint die Berechnung des
Zeitpunktes, ab wann die Aufblähung unserer Sonne
aufgrund von Fusionsprozessen ein biologisches Leben
auf der Erde unmöglich machen wird, relativ sicher
voraussagbar, das Verhalten eines einfachen Tieres in
einer Umgebung über mehr als 24 Stunden dagegen ist
schon fast unmöglich.

Dies kann uns daran erinnern, dass wir es in der
Gegenwart mit sehr unterschiedlichen Systemen zu
tun haben. Das Universum (oder vielleicht sogar die
Universen) mag komplex sein, aber es erweist sich
bislang als grundsätzlich verstehbar, ebenfalls z.B. die
geologischen Prozesse auf unserem Heimatplaneten
Erde; das, was die Biologen Leben nennen, also
biologisches Leben, entzieht sich aber den bekannten
physikalischen Kategorien. Wir haben es hier mit
Dynamiken zu tun, die irgendwie anders sind, ohne dass
es bislang gelingt, diese spezifische Andersheit adäquat
zu erklären.

Life is Energy…

IV. KOGNITIVER BLINDER FLECK

Eine Besonderheit des Gegenstandsbereiches
biologisches Leben ist, dass diejenigen, die es
untersuchen, selbst Teil des Gegenstandes sind.
Die biologischen Forscher, die Biologen – wie überhaupt
alle Forscher dieser Welt – sind selbst ja auch Teil
des Biologischen. Als Exemplare der Lebensform
homo sapiens sind sie ganz klar einer Lebensform
zugeordnet, die ihre eigene typische Geschichte hat,
die sich als homo sapiens ca. 200.000 Jahre entwickelt
hat mit einer Inkubationszeit von ca. 100.000 Jahren, in
denen sich verschiedene ältere Menschenformen verteilt
über ganz Afrika partiell miteinander vermischt haben.
Nach neuesten Erkenntnissen hat dann jener Teil, der
dann vor ca. 60.000/ 70.000 Jahren aus Ostafrika
ausgewandert ist, einige tausend Jahre mit den damals
schon aussterbenden Neandertalern im Gebiet des
heutigen Israel friedlich zusammen gelebt, was durch
Vermischungen dann einige Prozent Neandertaler-Gene
im Genom des homo sapiens hinterließ, und zwar bei
allen Menschen auf der heutigen Welt, die gemessen
wurden.

Die Tatsache, dass die erforschenden Biologen selbst
Teil dessen sind, was sie erforschen, muss nicht per
se ein Problem sein. Es kann aber zu einem Problem
werden, wenn die Biologen Methoden zur Untersuchung
des Phänomens biologisches Leben anwenden, die
für Gegenstandsbereiche entwickelt wurden, die keine
biologischen Gegenstände sind.

In der modernen Biologie wurden bislang sehr
viele grundlegende Methoden angewendet, die
unterschiedlichste Teilbereiche zu erklären scheinen: In
Kooperation mit der Geologie konnte man verschiedenen
Phasen der Erde identifizieren, Bodenbeschaffenheiten,
Klima, Magnetfeld, und vieles mehr. In Kooperation
mit Physik, Chemie und Genetik konnten die
Feinstrukturen von Zellen erfasst werden, ihre
Dynamiken, ihre Wechselwirkungen mit den jeweiligen
Umgebungen, Vererbungsprozesse, Generierung neuer
genetischer Strukturen und vieles mehr. Der immer
komplexere Körperbau konnte von seinen physikalisch-
mechanischen wie auch chemischen Besonderheiten her
immer mehr entschlüsselt werden. Die Physiologie half,
die sich entwickelnden Nervensysteme zu analysieren,
sie in ihrer Wechselwirkung mit dem Organismus
ansatzweise zu verstehen. und vieles mehr.

Die sehr entwickelten Lebensformen, speziell dann
der homo sapiens, zeigen aber dann Dynamiken, die
sich den bisher bekannten und genutzten Methoden
entziehen. Die grundlegende Wahrheitsfähigkeit des
homo sapiens, eingebunden in grundlegende Fähigkeit
zur symbolischen Sprache, zu komplexen Kooperation,
zu komplexen Weltbildern, dies konstituiert Phänomene
einer neuen Qualität. Der biologische Gegenstand homo
sapiens ist ein Gegenstand, der sich selbst erklären
kann, und in dem Maße, wie er sich selbst erklärt,
fängt er an, sich auf eine neue, bis dahin biologisch
unbekannte Weise, zu verändern.

Traditioneller Weise gab es in den letzten
Jahrtausenden spezielle Erklärungsmodelle zum
Phänomen der Geistigkeit des homo sapiens, die
man – vereinfachend – unter dem Begriff klassisch-
philosophische Erklärung zusammen fassen kann.
Dieses Erklärungsmodell beginnt im Subjektiven und
hat immer versucht, die gesamte Wirklichkeit aus der
Perspektive des Subjektiven zu erklären.

Die Werke der großen Philosophen – beginnend
mit den Griechen – sind denkerische Großtaten,
die bis heute beeindrucken können. Sie leiden
allerdings alle an der Tatsache, dass man aus der
Perspektive des Subjektiven heraus von vornherein
auf wichtige grundlegende Erkenntnisse verzichtet
hatte (in einer Art methodischen Selbstbeschränkung,
analog der methodischen Selbstbeschränkung der
modernen experimentellen Wissenschaften). Das,
was diese subjekt-basierte und subjekt-orientierte
Philosophie im Laufe der Jahrtausende bislang erkannt
hat, wird dadurch nicht falsch, aber es leidet daran,
dass es nur einen Ausschnitt beschreibt ohne seine
Fundierungsprozesse.

Eigentlich ist das Subjektive (oder das ’Geistige’,
wie die philosophische Tradition gerne sagt) das
schwierigste Phänomen für die moderne Wissenschaft, das provozierendste, aber durch die frühzeitige Selbstbeschränkung der Biologie auf die bisherigen
Methoden und zugleich durch die Selbstbeschränkung
der klassischen Philosophie auf das Subjektive wird
das Phänomen des Lebens seiner Radikalität beraubt.
Es wird sozusagen schon in einer Vor-Verabredung der
Wissenschaften entmündigt.

In einem Folgeartikel sollte dieser blinde Fleck der
Wissenschaften in Verabredung mit der Philosophie
nochmals direkt adressiert werden, etwa: Das Subjektive
im Universum: Maximaler Störfall oder Sichtbarwerdung
von etwas radikal Neuem?

KONTEXT BLOG

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ZUFALL – REGEL – LEBEN. MEMO ZUR PHILOSOPHIE-WERKSTATT vom 12.Nov.2017

eJournal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 13.Nov. 2017
URL: cognitiveagent.org
info@cognitiveagent.org
Autor: cagent
Email: cagent@cognitiveagent.org

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ÜBERBLICK

Die Philosophiewerkstatt am 12.November 2017 (siehe Einladung) startete anhand von einfachen Computersimulationen mit grundlegenden Begriffen wie Rauschen – Ordnung,
Zufall – Regel, Regeländerungen durch Zufall, Präferenzen – Ziele.
Daraus entwickelte sich ein Gespräch, bei dem immer mehr zusätzliche
Aspekte beigesteuert wurden. Dabei überlagerten sich verschiedene
Sichten aufgrund der unterschiedlichen Ausgangspunkte.

1. SIMULATIONEN

Die Philosophiewerkstatt startete dieses Mal mit zwei einfachen Computersimulationen.

1.1 Akteur – Umgebung

In der einen Simulation konnte man einen einzelnen Akteur in einer Umgebung beobachten, der entweder nach einem Zufallsprinzip vorging oder mit
einer festen Regel.
Das Zufallsprinzip schloss zwar einen Erfolg grundsätzlich nicht aus,
setzt aber für einen nachhaltigen Erfolg voraus, dass eine genügend lange
Zeit zur Verfügung steht oder sehr viele Akteure gleichzeitig im Einsatz

 

Ideen-Netzwerk zur Sitzung vom 12.Nov.2017
Ideen-Netzwerk zur Sitzung vom 12.Nov.2017

sind, so dass das Scheitern von vielen begleitet sein kann von dem Erfolg
von wenigen.
Das Vorgehen nach einer festen Regel bot 100%-tigen Erfolg, wenn die
Regel zur Umgebung passt, aber zugleich 100%-tiges Scheitern, wenn die
Regel nicht passt. Bei einer sich verändernden Umwelt wäre die Fixierung
auf eine feste Regel also ein Todesurteil, mehr noch als nach dem Zufallsprinzip vorzugehen; Letzteres kann zumindest gelegentlich Erfolg haben.
In der Diskussion der beiden Beispiele ergab sich dann als mögliche
Verbesserung die Idee einer sich verändernden Regel.

1.2 Sich Verändernde Regel

Dazu gab es eine Simulation, in der drei einfache – zu Beginn durch Zufall
– erzeugte Melodien vorgespielt wurden. Man konnte diese relativ zueinander bewerten. Aus den beiden am höchsten bewerteten wurden wieder drei
neue Melodien gebildet und wieder zur Bewertung gestellt.
In diesem Fall waren die Melodien die ’Regeln’, die als Melodie festliegen, die aber nach Rückmeldung durch die Zuhörer ’abgeändert’ wurden.
Klar erkennbar war, dass die Melodien tatsächlich abgeändert wurden.
Es stellte sich dann aber bald die Frage, welche nun besser sei als die an-
deren?
Die Fähigkeit, eine Regel zu ändern bildet die Voraussetzung dafür, ein
regelgeleitetes Verhalten den Gegebenheiten der Umgebung anzupassen,
aber die Richtung der Änderung war damit noch nicht geklärt. Richtungen
haben mit Präferenzen zu tun, mit Werturteilen, mit Zielen.

2. CHAOS, ORDNUNG UND ZIELE

Im Kontext des Begriffs Zufall wurden auch Begriffe wie Rauschen, Entropie und Chaos angesprochen. Diese Begriffe entstammen unterschiedlichen
Sprachspielen (Zufall – Mathematik, Rauschen – Akustik, Entropie – Physik,
Chaos – Mythologie (mit neueren mathematischen Deutungen)). In der
Diskussion wurden sie als letztlich gleichbedeutend behandelt, da sie Systemzustände beschreiben, in denen sich keine Regelhaftigkeiten beobachten
lassen. Insofern stellen diese Begriffe einen Gegenpol dar zu jeder Art von
Regelhaftigkeit, unabhängig davon, wie diese zustande kommt.
Regeln bilden die Bausteine für komplexere Ordnungen, die implizit
Zielsetzungen enthalten, Präferenzen, Wertentscheidungen. Solche Präferenzen
können einen konventionellen = arbiträren Charakter haben (z.B. Verkehrsregeln),
oder aber werthaftig sein im Sinne einer Normentscheidung, die die Alter-
native nicht-diskutierbar ausschließt (z.B. Grundgesetz Art.1: ’Die Würde
des Menschen ist unantastbar…’).
Werthafte Entscheidungen hängen von Wissen ab, mehr noch: von
Überzeugungen, dass A in einem nicht-diskutierbaren Sinne besser sei
als B.
Wenn solche Wertüberzeugen kompatibel sind mit einem nachhaltigen
Leben sind solche Wertüberzeugungen hilfreich. Falls nicht, sind sie nachhaltig destruktiv und tödlich. Beispiele für Wertüberzeugungen liefern viele
institutionell-religiöse System oder Populismen, in denen Wertüberzeugungen
das Handeln anleiten, ohne dass diese – in der Regel – selbst in Frage
gestellt werden werden dürfen (Gilt abgeschwächt auch für staatliche Verfassungen).
Im Bereich des Biologischen manifestiert sich in vielen Beispielen, dass Individuen nach bestimmten individuell festen Regeln miteinander komplexe soziale Systeme realisieren, die in ihrer Gesamtwirkung die Fähigkeiten
des einzelnen Individuums weit überragen. Die hier beobachtbaren Regel
sind – jede für sich – fest programmiert.
Menschen können solche festen Regelsysteme auch leben; allerdings
besitzen sie die zusätzliche Fähigkeit, solche Regelsysteme abzuändern.

3. INDIVIDUUM – SYSTEM

Als Individuum tendiert man dazu, die Welt aus der individuellen Perspektive zu sehen und zu bewerten. Auch ein möglicher Sinn wird in der individuellen Perspektive verankert. Tatsache ist aber, dass das Individuum
weitgehend nur als Teil eines größeren Zusammenhangs (Population, Art,…,
Umwelt, …) existieren kann. Wenn der größere Zusammenhang nicht auf
die Existenz des Individuums abgestimmt ist, hungert es, dürstet, friert, ist
schutzlos, ist hilflos, … Der je größere Kontext ist also möglicherweise der
wichtigere Sinnträger.

4. DEUTUNGSBILDER

Aufgrund der unterschiedlichen Sichten, die im Gespräch zutage traten,
wurde es wichtig, sich bewusst zu machen, dass die Worte, die jemand
benutzt, die sprachlichen Äußerungen, ihre intendierten Bedeutungen über
spezifische Bedeutungsbeziehungen beziehen, die unterschiedlichen Spiel-
regeln unterliegen können.
Eine philosophische Redeweise unterliegt anderen Spielregeln als eine
experimentell-wissenschaftliche Redeweise. Manches, was experimentell-
wissenschaftlich nicht gesagt werden kann, kann philosophisch gesagt wer-
den.
So kann man philosophisch Begriffe wie z.B. Geist, Psyche, und Seele
in bestimmten Kontexten benutzen, experimentell-wissenschaftlich sind diese
Begriffe aber nur schwer, wenn überhaupt, definierbar.
Entsprechend gehören auch biblische Redeweisen, wie man sie z.B.
im Buch Genesis des Alten Testaments zur Entstehung der Erde und des
Lebens lesen kann, einem ganz anderen Sprachspiel an als jene experimentell-
naturwissenschaftlichen Redeweisen über die Entstehung des physikalischen Universums und des biologischen Lebens auf dem Planet Erde.

5. AUSBLICK

Nach diesem sehr angeregten und intensivem Gespräch wurden als Themenwünsche für die nächste Sitzung am So 9.Dez 2017 genannt:

1. Was ist der Mensch? Einerseits ist der Mensch ein biologisches
Lebewesen, Teil des allgemeinen biologischen Lebens, andererseits
verfügt der Mensch über einige Eigenschaften, die ihn von den übrigen
Lebensformen unterscheiden. Welche sind dies? Was bedeutet dies?
2. Zukunft des Menschen: wie muss man sich die Zukunft des Menschen vorstellen? Was kann, was muss sich ändern, wenn das Leben
erhalten bleiben soll?
3. Wie soll man das Zusammenspiel von Mensch und Technologie in
der Zukunft sehen? In welche Richtung könnte sich der Mensch
verändern? In welche Richtung sollte er sich verändern? Inwieweit
kann die Technik hier helfen?
4. Ist es denkbar, dass sich das Bedürfnisprofil des Menschen in der
Zukunft ändert? Muss es sich nicht sogar ändern? Welche Bedürfnisse
sind eigentlich wichtig?

KONTEXTE

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MENSCHENBILD – VORGESCHICHTE BIS ZUM HOMO SAPIENS – Überlegungen

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 27.August 2017
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Letzte Altualisierung: 27.Aug.2017 - 17:37h
Es gibt eine Weiterentwicklung dieses Beitrags in einem Folgebeitrag!

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Überblick

Eingeleitet durch wissenschaftsphilosophische
Überlegungen wird versucht, die Entwicklung der
Säugetiere bis hin zum homo sapiens anhand der aktuellen
Forschungsdaten abzubilden. Das Hauptaugenmerk liegt
auf der allgemeinen Struktur. Für die vielen Details sei auf
die Literatur verwiesen, die angegeben wird.

I. KONTEXT

Eine der Leitfragen dieses Blogs ist die Frage nach
dem neuen Menschenbild, speziell auch im Kontext
der Diskussion um die Zukunft von Menschen und
intelligenten Maschine.

Wer nach der Zukunft des Menschen fragt,
braucht ein gutes Bild vom aktuellen Menschen und
seiner Entstehungsgeschichte, um auf dieser Basis
Überlegungen zu einer möglichen Zukunft anstellen zu
können.

Während zur biologischen Evolution allgemein schon
einige Blogbeiträge geschrieben wurden, fehlt es im Blog
an konkreten Daten zur Entwicklung unmittelbar vor dem
Auftreten des homo sapiens, etwa in dem Zeitfenster -10
Mio Jahren bis ca. -30.000 Jahren vor dem Jahr 0. Dies
soll hier in einem ersten Beitrag nachgeholt werden.

II. WISSENSCHAFTLICHE SICHTWEISEN

Bei der Frage nach der Entwicklung des homo
sapiens spielen mehrere wissenschaftliche Disziplinen
ineinander. Einmal ist es die Geologie (Siehe: [WD17g]),
die den Kontext Erde untersucht; dann die Klimatologie
(Siehe: [WD17n]), die sich mit den klimatischen
Verhältnissen im Kontext Erde beschäftigt. Für das
Phänomen des Lebens selbst ist die Biologie zuständig,
speziell die Evolutionsbiologie (Siehe: [SWW13],
[WD17e]). Als Teil der Evolutionsbiologie sind noch
zu nennen die Molekularbiologie (Siehe: [WD17s]) mit
der Genetik (Siehe: [WD17f]). Ferner könnte man als
Teil der Evolutionsbiologie auch noch die Paläontologie
(Siehe: [WD17u], [Par15]) nennen und auch die
Archäologie (Siehe: [WD17a]). Wobei das Wechselspiel
von Evolutionsbiologie und Archäologie nicht ganz
so klar erscheint. Viele weitere wissenschaftliche
Disziplinen tauchen innerhalb der genannten Disziplinen
in unterschiedlichsten Kontexten auf.

Diese Vielfalt spiegelt ein wenig die Komplexität der
Phänomene wieder, um die es hier geht. Der Autor
cagent selbst betrachtet die hier zu verhandelnden
empirischen Phänomene aus Sicht der Philosophie
mit den Schwerpunkten Erkenntnisphilosophie, die
Überschneidungen hat mit Phänomenen wie z.B.
‚Lernen’ und ’Intelligenz’. Dies sind Themen, die
feste Orte auch in der Psychologie haben, heute
oft parallelisiert mit der Gehirnforschung (letztere
methodisch gesehen ein Teil der Biologie).

Angesichts dieser Komplexität ist es praktisch
unmöglich, ein völlig konsistentes, einheitliches Bild der
Phänomene zu zeichnen. An dieser Stelle ist es das
Anliegen von cagent, einen ’hinreichenden’ Überblick
über die ’unmittelbare’ Vorgeschichte des homo sapiens
zu bekommen.

Der homo sapiens ist jene biologische Art (Spezies),
die zur Gattung homo gerechnet wird, die sich aus
dem biologischen Formenstrom über Jahrmillionen
herausgeschält hat. Es zeigt sich, dass die zeitliche
Abgrenzung, wann genau ’das Menschliche’ anfängt,
und wann das ’Tierische’ aufhört, irgendwie beliebig
erscheint. Der homo sapiens ab ca. -30.000 besitzt
natürlich Eigenschaften, die wir beschreiben können
wie Körperbau, genetisch bestimmte Erbanlagen,
typische Verhaltensweisen, aber diese Eigenschaften
tauchen nicht abrupt in der Geschichte auf, sind nicht
irgendwann einfach so da, sondern man findet in
der vorausgehenden Zeit eine große Formenvielfalt
in den Artefakten, mit unterschiedlichen genetischen
Distanzen zum heutigen homo sapiens. Daraus muss
man schließen, dass es einen viele Millionen dauernden
Prozess des Formenwandels gab, innerlich genetisch
und äußerlich durch die jeweiligen geologischen und
klimatologischen Verhältnisse beeinflusst, die sich
zudem noch verknüpfen mit der jeweiligen Pflanzen- und
Tierwelt. Alle diese genannten Faktoren waren selbst
einem kontinuierlichen Wandel unterworfen.

Wenn die Grenzziehung zwischen dem ’Tierischen’
und dem ’Menschlichen’ von daher nicht ganz scharf
gezogen werden kann, ist auch eine Zeitangabe dazu,
wie weit zurück in der Zeit man gehen soll, um die
Vorgeschichte’ zu beschreiben, relativ, d.h. abhängig
von den Kriterien, die man bei der Analyse anlegen
will.

In diesem Beitrag wurde der Startpunkt für die
Beschreibung bei den Lebensformen gewählt, die die
Biologen ’Primaten’ nennen, und zwar spezieller den
Punkt der Aufspaltung in die Strepsirrhini und Haplorhini
(Siehe: [WE17l] und [WD17r]), die sich um etwa -80
Mio Jahren ereignet haben soll. Aus Sicht der heutigen
menschlichen Geschichte, wo 100 Jahre oder gar 1000
Jahre eine lange Zeit sind, wirken diese 80 Millionen
Jahre sehr, sehr lang. Innerhalb der Geschichte des
Lebens mit ca. 3.5 Milliarden Jahre fallen die 0.08 Mrd
Jahre seit dieser Aufspaltung nahezu kaum ins Gewicht,
es sind gerade mal 2.2% der gesamten Entwicklungszeit
des biologischen Lebens. Betrachtet man dagegen nur
die Zeit seit dem Auftreten der Lebensform homo, die
dem heute bekannten Menschlichem schon nahe kommt
(etwa ab -2.5 Mio), dann schrumpft der Zeitanteil auf
0.071 % der Entwicklungszeit des biologischen Lebens
zusammen. Umgerechnet auf das 12-Stunden Ziffernblatt
einer Uhr mit 720 Minuten würde die Entstehung der
Lebensform homo die letzte halbe Minute auf dem
Ziffernblatt ausmachen. Die Lebensform homo sapiens,
zu der wir uns zählen, tauchte frühestens um -190.000 in
Afrika auf. Das wären auf dem Ziffernblatt dann (bei ca.
81.000 Jahren pro Sekunde) die letzten 2.3 Sekunden.

Im Spiel des Lebens erscheint dies nicht viel. Betrachtet
man aber, was sich allein in den letzten ca. 10.000
Jahren ereignet hat, und hier speziell nochmals in den
letzten 100 Jahren, dann legt sich der Schluss nahe,
dass die Lebensform homo sapiens offensichtlich über
Fähigkeiten verfügt, die gegenüber der Vorgeschichte
von ca. 3.5 Mrd Jahren etwas qualitativ ganz Neues
sichtbar macht. Autor cagent ist sich nicht sicher,
ob der homo sapiens selbst bislang wirklich begreift,
was hier passiert, welche Rolle er in diesem Prozess
spielt. Auf der einen Seite zeichnet sich eine immer
größere Zerstörungskraft ab (die auch stattfindet), auf
der anderen Seite deuten sich konstruktive Potentiale
an, die alles übersteigen, was bislang vorstellbar war.

III. DEUTUNGEN: MATERIAL, MUSTER, FUNKTION, KONTEXTE

Die Tätigkeit der eingangs erwähnten Wissenschaft
kann man verstehen als eine Deutung, ausgeführt in
einem Deutungsprozess. Diese Deutung beginnt bei der
Bestimmung der Substanzen/ Materialien, die Forscher
vorfinden. Ist das eine Gesteinsart, sind das Knochen,
sind das pflanzliche Bestandteile …. ? Ein anderer
Aspekt ist die Frage nach ’Formen’ und ’Mustern’:
kann man an dem Material auffällige Formen oder
Muster erkennen, dann auch im Vergleich zu anderen
Materialien? Schließlich auch die Frage nach möglichen funktionalen Zusammenhängen’: wenn es ein Knochen
ist, in welchem Zusammenhang eines Knochengerüsts
kommt er vor? Wenn etwas ein Zahn sein soll, wie sah
das zugehörige Gebiss aus? Oder ist dieser Knochen Teil
eines Werkzeugs, einer zu unterstellenden Handlung,
die das Stück benutzt hat? Schließlich, in welchem
Kontext kommt ein Material vor? Ist es zufälliger Kontext,
ein Kontext durch einen geologischen Prozess, ein
Kontext erzeugt durch Verhalten von Lebewesen?
Schon bei diesen Fragen bieten sich eine Vielzahl von
Deutungsmöglichkeiten, bestehen viele Ungewissheiten.

IV. DEUTUNGEN 2: ZEITLICHE ABFOLGE

Was Forscher zur Evolutionsbiologie besonders
interessiert, ist das Erfassen von zeitlichen Abfolgen:
unter Voraussetzung eines bestimmten Zeitmaßes
möchte die Evolutionsbiologie wissen, ob ein
Gegenstand/ Artefakt A im Sinne des Zeitmaßes ‚vor’ oder ’nach’ einem anderen Gegenstand/ Artefakt B ‚anzuordnen’ ist.
Diese Frage macht nur Sinn, wenn man neben
einem definierten Zeitmaß auch annehmen darf
(muss), dass sich die Erde als Generalumgebung aller
vorfindbaren Materialien/ Artefakte grundsätzlich in
einem Veränderungsmodus befindet, dass also die
Erde zu zwei verschiedenen Zeitpunkten grundsätzlich
verschieden sein kann.

Dass sich am Kontext Erde Veränderungen feststellen
lassen, dies haben Menschen schon sehr früh erleben
können: Temperatur, Regen oder nicht Regen, Tag und
Nacht, Wachstum der Pflanzen, Geboren werden und
Sterben, usw. Es passierte aber erst im 17.Jahrhundert,
dass die Fragestellung nach dem Vorher und Nachher in
der Entwicklung der Gesteine mit Nils Stensen (nicolaus
steno) eine systematische Form fand, aus der sich nach
und nach die moderne Geologie entwickelte (Siehe:
[WD17h]).

Erst durch die wissenschaftliche Geologie wissen
wir zunehmend, dass die Erde selbst ein dynamisches
System ist, das sich beständig verändert, wo sich
ganze Kontinente bilden, verschieben, verformen; wo
Vulkanismus stattfindet, Erosion, Klimaänderungen, und
vieles mehr. Erst durch die geologische Sehweise konnte
man nicht nur verschiedene Zustände der Erde entlang
einem definierten Zeitmaß identifizieren, sondern damit
dann auch Veränderungen in der Zeit’ sichtbar machen.

Dieses geologische Wissen vorausgesetzt,  besteht
plötzlich die Möglichkeit, ein Material/ Artefakt einer
erdgeschichtlichen Phase, einem Zeitpunkt in einem
Veränderungsprozess, zuzuordnen. Die Geologie hat – mittlerweile unterstützt durch viele Spezialgebiete, wie z.B. auch die Klimatologie (Siehe:
[WD17n]) – unter anderem eine zeitliche Abfolge von
Vulkanausbrüchen in den verschiedenen Regionen
der Erde identifizieren können und auch das sich
verändernde Klima.

So spricht man in der Klimatologie von sogenannten
Eiszeitaltern’ (Siehe: [WD17d]). In der schwachen
Version einer Definition von Eiszeitalter geht man davon
aus, dass mindestens eine Polkappe vereist ist. Die
letzte Eiszeit dieser Art fand statt um -33.5 Mio Jahren.
In der starken Version geht man davon aus, dass beide
Polkappen vereist sind. Die letzte Eiszeit dieser Art
begann um ca. -2.7 Mio Jahren und hält bis heute
an. In dieser Zeit gab es unterschiedliche Kalt- und
Warm-Phasen. Seit ca. -1 Mio Jahren haben sich 6
mal Kaltzeiten wiederholt: ca. -0.9 Mio, -0.77 Mio, -0.6
Mio, -0.48 Mio, -0.35 Mio, -12.000 (siehe: [WD17o],
[Rot00]:SS.173ff ).

Ein anderer starker Faktor, der das Klima
beeinflussen kann, sind Supervulkanausbrüche
(Siehe: [WD17w]). Hier eine Zusammenstellung
von Eiszeitaltern mit Kaltphasen in Kombination mit
den Supervulkanausbrüchen sofern sie das frühe
Ausbreitungsgebiet von homo und homo sapiens berührt
haben (wobei auch andere große Ausbrüche sich
weltweit auswirken konnten)(man beachte, dass die
Zeitangaben mit großen Unschärfen versehen sind):

  • Eiszeit: ab ca. -2.7 Mio Jahren
  • Vulkan:-1 Mio Äthiopien
  • Vulkan: -788.000 Indonesien
  • Kaltzeit: ca. -0.77 Mio Jahren
  • Kaltzeit: ca. -0.6 Mio Jahren
  • Vulkan: -500.000 (+/- 60.000) Äthiopien
  • Kaltzeit: ca. -0.48 Mio Jahren
  • Vulkan: -374.000 Italien
  • Kaltzeit: ca. -0.35 Mio Jahren
  • Vulkan:-161.000 Griechenland
  • Vulkan: -74.000 Indonesien
  • Vulkan:-50.000 Italien
  • Vulkan:-39.000 Italien
  • Kaltzeit: ca. -12.000

Bei der Entstehung von Eiszeiten spielen eine Vielzahl
von Faktoren eine Rolle, die ineinandergreifen. Sofern
es sich um periodische Faktoren handelt, kann sich dies
auf den Periodencharakter von Kalt- und Warmzeiten
auswirken (siehe: [WD17o], [Rot00]:SS.173ff ). Die globale Erwärmung, die
aktuell beklagt wird, ist ein Ereignis innerhalb eines noch
existierenden Eiszeitalters. Insofern ist die Erwärmung
eigentlich keine Anomalie, sondern eher die Rückkehr
zum ’Normalzustand’ ohne Eiszeitalter. Wobei sich
natürlich die Frage stellt, welcher Zustand der Erde ist
eigentlich ’normal’? Kosmologisch betrachtet – und darin
eingebettet die Wissenschaften von der Erde – wird
die Erde in einem Zustand enden, der nach heutigem
Wissen absolut lebensfeindlich sein wird (siehe: [WD17p],
[WE17b], [WE17c]). Für die Erde ist dieser Zustand
normal’, weil es dem physikalischen Gang der Dinge
entspricht, aus Sicht der biologischen Lebensformen
ist dies natürlich überhaupt nicht ’normal’, es ist ganz
und gar ’fatal’.

Insofern wird hier schon deutlich, dass
die innere Logik des Phänomens ‚biologisches Leben‘
nicht automatisch kongruent ist mit einem aktuellen
Lebensraum. Das Phänomen des biologischen Lebens
manifestiert einen Anspruch auf Geltung, für den
es im Licht der physikalischen Kosmologie keinen
natürlichen’ Ort gibt. Das biologische Leben erscheint
von daher als eine Art ’Widerspruch’ zum bekannten
physikalischen Universum, obgleich es das physikalische
Universum ist, das das biologische Leben mit ermöglicht.

V. DEUTUNGEN 3: ENTWICKLUNG VON KOMPLEXITÄT

Wenn man so weit vorgestoßen ist, dass man
Materialien/ Artefakte auf einer Zeitachse anordnen kann,
dann kann man auch der Frage nachgehen, welche
möglichen Veränderungen sich entlang solch einer
Zeitachse beobachten lassen: Bleibt alles Gleich? Gibt
es Änderungen? Wie lassen sich diese Veränderungen
klassifizieren: werden die beobachtbaren Phänomene
einfacher’ oder ’komplexer’?

Um solche eine Klassifikation in ’einfach’ oder
komplex’ vorzunehmen, braucht man klare Kriterien für
diese Begriffe. Aktuell gibt es aber keine einheitliche, in
allen Disziplinen akzeptierte Definition von ’Komplexität’.

In der Informatik wird ein Phänomen relativ zu
einem vorausgesetzten Begriff eines ’Automaten’ als
komplex’ charakterisiert: je nachdem wie viel Zeit
solch ein Automat zur Berechnung eines Phänomens
benötigt oder wie viel Speicherplatz, wird ein Phänomen
als mehr oder weniger ’komplex’ eingestuft (Siehe
dazu: [GJ79]). Dieser vorausgesetzte Automat ist eine
sogenannte ’Turingmaschine’. Dieses Konzept entstand
in der Grundlagendiskussion der modernen Mathematik
um die Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert, als sich
die Mathematiker (und Logiker) darüber stritten, unter
welchen Bedingungen ein mathematischer Beweis
für einen Menschen (!) als ’nachvollziehbar’ gelten
kann. Nach gut 30 Jahren heftigster Diskussionen fand
man mehrere mathematische Konzepte, die sich als
äquivalent erwiesen. Eines davon ist das Konzept der
Turingmaschine, und dieses gilt als das ’einfachste’
Konzept von allen, das sich seit 1936/7 bisher in
allen Widerlegungsversuchen als stabil erwiesen hat.
Dies ist zwar selbst kein unwiderleglicher logischer
Beweis, aber ein empirisches Faktum, was alle Experten
bislang glauben lässt, dass mit diesem Konzept eine
zentrale Eigenschaft des menschlichen Denkens
eine konzeptuelle Entsprechung gefunden hat, die
sich formal und empirische experimentell überprüfen
lässt. So, wie die Physiker zum Messen Standards
entwickelt haben wie das ’Kilogramm’, das ’Meter’
oder die ’Sekunde’, so haben die Informatiker zum
Messen der ’Komplexität’ eines Phänomens relativ zur
(menschlichen) Erkenntnisfähigkeit die ’Turingmaschine’
(samt all ihren äquivalenten Konzepten) gefunden. Der
Vorteil dieser Definition von Komplexität ist, dass man
über das zu klassifizierende Phänomen vorab nahezu
nichts wissen muss. Darüber hinaus macht es Sinn, das
menschliche Erkennen als Bezugspunkt zu wählen, da
die Frage der Komplexität jenseits des menschlichen
Erkennens keinen wirklichen Ort hat.

Zurück zum Ausgangspunkt, ob sich im ’Gang der
Dinge’ auf der Erde Phänomene erkennen lassen,
die ’im Lauf der Zeit’ an Komplexität zunehmen,
deutet sich Folgendes an: es scheint unbestritten,
dass die Beschreibung einer biologischen ’Zelle’
(siehe: [AJL+15]) einen erheblich größeren Aufwand
bedeutet als die Beschreibung eines einzelnen Moleküls.
Zellen bestehen aus Milliarden von Molekülen, die
in vielfältigsten funktionellen Zusammenhängen
miteinander wechselwirken. Der Übergang von einzelnen
Molekülen zu biologischen Zellen erscheint von daher
gewaltig, und es ist sicher kein Zufall, dass es bis heute
kein allgemein akzeptiertes Modell gibt, das diesen
Übergang vollständig und befriedigend beschreiben
kann.

Für den weiteren Verlauf der biologischen Evolution
gibt es zahllose Phänomene, bei denen eine Vielzahl
von Faktoren darauf hindeuten, dass es sich um eine
Zunahme von Komplexität’ im Vergleich zu einer
einzelnen Zelle handelt, wenngleich manche dieser
Komplexitäts-Zunahmen’ Milliarden oder hunderte von
Millionen Jahre gebraucht haben. Im Fall der Entwicklung
zum homo sapiens ab ca. -80 Millionen Jahre gibt es
auch solche Phänomene, die sich aber immer weniger
nur alleine im Substrat selbst, also im Körperbau
und im Gehirnbau, festmachen lassen, sondern wo
das ’Verhalten’ der Lebewesen ein Indikator ist für
immer komplexere Wechselwirkungen zwischen den
Lebewesen und ihrer Umwelt.

Der Körper des homo sapiens selbst umfasst ca.
37 Billionen (10^12) Körperzellen, dazu im Innern des
Körpers geschätzte ca. 100 Billionen Bakterien, und
zusätzlich auf der Körperoberfläche ca. 224 Milliarden
Bakterien (siehe dazu [Keg15]). Diese ca. 137 Billionen
Zellen entsprechen etwa 437 Galaxien im Format
der Milchstraße. Während Menschen beim Anblick
des Sternenhimmels zum Staunen neigen, bis hin
zu einer gewissen Ergriffenheit über die Größe (und
Schönheit) dieses Phänomens, nehmen wir einen
anderen menschlichen Körper kaum noch wahr (falls
er sich nicht irgendwie auffällig ’inszeniert’). Dabei
ist der menschliche Körper nicht nur 437 mal größer in seiner Komplexität
als die Milchstraße, sondern jede einzelne Zelle ist
ein autonomes Individuum, das mit den anderen auf
vielfältigste Weise interagiert und kommuniziert. So kann
eine einzelne Gehirnzelle bis zu 100.000 Verbindungen
zu anderen Zellen haben. Körperzellen können über
elektrische oder chemische Signale mit vielen Milliarden
anderer Zellen kommunizieren und sie beeinflussen.
Bakterien im Darm können über chemische Prozesse
Teile des Gehirns beeinflussen, das wiederum aufgrund dieser Signale Teile des
Körpers beeinflusst. Und vieles mehr. Obgleich
die Erfolge der modernen Wissenschaften in den letzten
20 Jahren geradezu atemberaubend waren, stehen wir
in der Erkenntnis der Komplexität des menschlichen
Körpers noch weitgehend am Anfang. Niemand hat
bislang eine umfassende, zusammenhängende Theorie.

Dazu kommen noch die vielen immer komplexer
werden Muster, die sich aus dem Verhalten von
Menschen (und der Natur) ergeben. Zusätzlich wird das Ganze
stark beeinflusst von modernen Technologi wie z.B. der
Digitalisierung.

VI. DEUTUNGEN4: SELBSTREFERENZ: CHANCE UND
RISIKO

Ist man also zur Erkenntnis einer Zunahme an
Komplexität vorgestoßen, gerät das Erkennen vermehrt
in einen gefährlichen Zustand. Das Erkennen von
Zunahmen an Komplexität setzt – nach heutigem
Wissensstand – symbolisch repräsentierte ’Modelle’
voraus, ’Theorien’, mittels deren das menschliche
(und auch das maschinelle) Denken Eigenschaften
und deren Anordnung samt möglichen Veränderungen
repräsentieren’. Sobald ein solches Modell vorliegt, kann
man damit die beobachteten Phänomene ’klassifizieren’
und in ’Abfolgen’ einordnen. Die ’Übereinstimmung’
von Modell und Phänomen erzeugt psychologisch ein
befriedigendes’ Gefühl. Und praktisch ergibt sich daraus
meist die Möglichkeit, zu ’planen’ und Zustände ’voraus
zu sagen’.

Je komplexer solche Modelle werden, um so größer
ist aber auch die Gefahr, dass man nicht mehr so leicht
erkennen kann, wann diese Modelle ’falsch’ sind. Solche
Modelle stellen Zusammenhänge (im Kopf oder in der
Maschine) her, die dann vom Kopf in die Wirklichkeit
außerhalb des Körpers ’hinein gesehen’ werden, und
mögliche Alternativen oder kleine Abweichungen können
nicht mehr so ohne weiteres wahrgenommen werden.
Dann hat sich in den Köpfen der Menschen ein bestimmtes
Bild der Wirklichkeit ’festgesetzt’, das auf Dauer
fatale Folgen haben kann. In der Geschichte der empirischen
Wissenschaften kann man diese Prozesse mit
zahlreichen Beispielen nachvollziehen (siehe den Klassiker:
[Kuh62]). Dies bedeutet, je umfassender Modelle
des Erkennens werden, um so schwieriger wird es auf
Dauer – zumindest für das aktuelle menschliche Gehirn
das ’Zutreffen’ oder ’Nicht-Zutreffen’ dieser Modelle
zu kontrollieren.

Nachdem mit dem Gödelschen ’Unentscheidbarkeitstheorem’
schon Grenzen des mathematischen Beweisens sichtbar wurden (Siehe: [WD17q]),
was dann mit der Heisenbergschen ’Unschärferelation’
(Siehe: [WD17j]) auf das empirischen Messen erweitert
wurde, kann es sein, dass das aktuelle menschliche
Gehirn eine natürliche Schranke für die Komplexität
möglicher Erklärungsmodelle bereit hält, die unserem
aktuellen Erkennen Grenzen setzt (Grenzen des Erkennens
werden im Alltag in der Regel schon weit vorher
durch psychologische und andere Besonderheiten des
Menschen geschaffen).

VII. PERIODISIERUNGEN: BIS HOMO SAPIENS

Wie schon angedeutet, ist das Vornehmen einer
Periodisierung ein Stück willkürlich. Autor cagent hat
den Zeitpunkt der Aufspaltung der Primaten um etwa
-80 Mio Jahren vor dem Jahr 0 gewählt. Dabei gilt
generell, dass solche Zeitangaben nur Näherungen sind,
da die zugehörigen Wandlungsprozesse sich immer als
Prozess über viele Millionen Jahre erstrecken (später
dann allerdings immer schneller).

Bei der Datierung von Artefakten (primär
Knochenfunden, dazu dann alle weiteren Faktoren,
die helfen können, den zeitlichen Kontext zu fixieren),
gibt es einmal den Ansatzpunkt über die äußere und
materielle Beschaffenheit der Artefakte, dann aber
auch – im Falle biologischer Lebensformen – den
Ansatzpunkt über die genetischen Strukturen und
deren Umformungslogik. Über die Genetik kann man
Ähnlichkeiten (Distanzen in einem Merkmalsraum)
zwischen Erbanlagen feststellen sowie eine ungefähre
Zeit berechnen, wie lange es gebraucht hat, um von
einer Erbanlage über genetische Umformungen zu
einer anderen Erbanlage zu kommen. Diese genetisch
basierten Modellrechnungen zu angenommenen Zeiten
sind noch nicht sehr genau, können aber helfen,
die Materie- und Formen-basierten Zeitangaben zu
ergänzen.

  • Ordnung: Primates (Siehe: [SWW13]:Kap.5.2)
    (Aufteilung ab ca. -80 Mio) –->Strepsirrhini (Lorisi-,
    Chiromyi-, Lemuriformes) und Haplorhini (Tarsier,
    Neu- und Altweltaffen (einschließlich Menschen))
    (Siehe: [SWW13]:S.428,S.432, S.435 [WE17l],
    [WD17r])
  • Unterordnung: Haplorrhini (Aufteilung ab ca. -60
    Mio) (Siehe: [WE17l]) –->Tarsiiformes und Simiiformes
    Nebenordnung: Simiiformes (Aufteilung ab ca. –
    42.6 Mio) -–>Platyrrhini (Neuwelt- oder Breitnasenaffen)
    und Catarrhini (Altwelt- oder Schmalnasenaffen)
    (Siehe: Siehe: [SWW13]:S.428, [WE17l])
  • Teilordnung: Catarrhini (Altwelt- oder Schmalnasenaffen)
    (Aufteilung ab ca. -29/-25 Mio) -–>Cercopithecoidea
    (Geschwänzte Altweltaffen) und Hominoidea
    (Menschenartige) (Siehe: Siehe: [WE17l] und
    [WD17r])

    • Überfamilie: Hominoidea (Menschenartige)
      (Aufteilung ab ca. -20 Mio/ -15 Mio) –>Hylobatidae
      (Gibbons)und Hominidae (Große Menschenaffen
      und Menschen) (Siehe: [WD17r])
    • Aufspaltung der Menschenaffen (Hominidae) in die
      asiatische und afrikanische Linie (ca. -11 Mio)
      (Siehe: [WD17r])

      • Familie: Hominidae (Menschenaffen)(Aufteilung ab
        ca. -15Mio/-13 Mio in Afrika) –>Ponginae (Orang-
        Utans) und Homininae (Siehe: [WD17r])

        • Unterfamilie: Homininae
          Aufteilung der Homininae (ab ca. -9 Mio/ -8 Mio) –>
          Tribus: Gorillini und Hominini (Siehe: [WE17d])

          • Gattung: Graecopithecus (Süden von Griechenland)
          • Spezies/ Art: Graecopithecus freybergi (Siehe: [WD17i]) (ca. -7.2 Mio)
          • Gattung: Sahelanthropus (ab ca. -7.0/ -6.0 Mio)
          • Spezies/ Art: Sahelanthropus tchadensis
            (Siehe: [WD17v] [WE17k]) (im Tschad)
        • Tribus (Stamm/ Tribe): Hominini
        • Aufteilung der Hominini (ab ca. -6.6/-4.2 Mio)
          (Siehe: [SWW13]:S.435, [WE17d]) -–>Pan
          (Schimpansen) und Homo (Die Lebensform
          Panina bildet einen Unterstamm zum
          Stamm ’homini’. Für die Trennung zwischen
          Schimpansen (Pan) und Menschen (Homo) wird
          ein komplexer Trennungsprozess angenommen,
          der viele Millionen Jahre gedauert hat. Aktuelle
          Schätzungen variieren zwischen ca. -12 Mio und
          -6-8 Mio Jahren (Siehe: [WE17a])

          • Gattung: Orrorin tugenensis (ab ca. -6.2 bis
            ca. -5.65 Mio) (Siehe: [WD17t])
          • Gattung: Ardipithecus (ab ca. -5.7 Mio bis ca.
            -4.4 Mio) (Siehe: [WD17b])
          • Gattung: Australopithecus anamensis (ab
            ca. -4.2 Mio bis ca. -3.9 Mio) (Siehe:
            [SWW13]:S.475f)
          • Gattung: Australopithecus (ab ca. -4 Mio bis
            ca. -2/-1.4 Mio) (Siehe: [SWW13]:S.475f)
          • Gattung: Australopithecus afarensis (ab
            ca. -3.5 Mio bis ca. -3 Mio) (Siehe:
            [SWW13]:S.476)
          • Gattung: Kenyanthropus platyops (ab ca. –
            3.5/ -3.3 Mio) (Siehe: [WD17m]) Kann
            möglicherweise auch dem Australopithecus
            zugerechnet werden (Siehe: [SWW13]:S.475,
            479).
          • Gattung: Australopithecus africanus (ab
            ca. -3.2 Mio bis ca. -2.5 Mio) (Siehe:
            [SWW13]:S.477)
          • Gattung: Australopithecus ghari (um ca.- 2.5
            Mio) (Siehe: [SWW13]:S.477)
          • Gattung: Paranthropus (Australopithecus)
            (ab ca. -2.7 Mio) (Siehe: [WE17j]).
            Kann möglicherweise auch dem
            Australopithecus zugerechnet werden (Siehe:
            [SWW13]:S.475).

            • Spezies/ Art: Paranthropus (Australopithecus)
              aethiopicus (ab ca. -2.6 Mio bis ca. -2.3
              Mio) (Siehe: [SWW13]:S.478)
            • Spezies/ Art: Paranthropus (Australopithecus)
              boisei (ab ca. -2.3 Mio bis ca. -1.4 Mio)
              (Siehe: [SWW13]:S.478). Mit dem Australopithecus
              boisei starb der Australopithecus
              vermutlich aus.
            • Spezies/ Art: Paranthropus (Australopithecus)
              robustus (ab ca. -1.8 Mio bis ca. -1.5
              Mio) (Siehe: [SWW13]:S.478)
          • Gattung: Homo (ab ca. -2.5/ -2.0 Mio).
            Im allgemeinen ist es schwierig, sehr klare
            Einteilungen bei den vielfältigen Funden
            vorzunehmen. Deswegen gibt es bei der
            Zuordnung der Funde zu bestimmten Mustern
            unterschiedliche Hypothesen verschiedener
            Forscher. Drei dieser Hypothesen seien hier
            explizit genannt:

            1. Kontinuitäts-Hypothese: In dieser Hypothese
              wird angenommen, dass es vom
              homo ergaster aus viele unterschiedliche
              Entwicklungszweige gegeben hat, die
              aber letztlich alle zum homo sapiens
              geführt haben. Die Vielfalt der Formen
              in den Funden reflektiert also so eine
              genetische Variabilität.
            2. Multiregionen-Hypothese: In dieser Hypothese
              wird angenommen, dass sich –
              ausgehend vom homo ergaster – regional
              ganz unterschiedliche Formen ausgebildet
              haben, die dann – bis auf den homo sapiens
              mit der Zeit ausgestorben sind
            3. Out-of-Africa Hypothese: Neben
              früheren Auswanderungen aus Afrika
              geht es in dieser Hypothese darum, dass
              sich nach allen neuesten Untersuchungen
              sagen lässt, dass alle heute lebenden
              Menschen genetisch zurückgehen auf
              den homo sapiens, der ca. um -100.000
              Jahren von Afrika aus kommend nach und
              nach alle Erdteile besiedelt hat (Siehe:
              [SWW13]:S.488ff, 499).

            Natürlich ist auch eine Kombination der ersten
            beiden Hypothesen möglich (und wahrscheinlich),
            da es zwischen den verschiedenen Formen
            immer wieder Vermischungen geben
            konnte.

          • Spezies/ Art: Homo rudolfensis (von
            ca. -2.4 bis ca. -1.8 Mio) (Siehe:
            [SWW13]:S.481)
          • Spezies/ Art: Homo habilis (von ca. -2.4 Mio bis ca. 1.65 Mio). Erste Art der Gattung Homo. Benutzte Steinwerkzeuge (Oldowan Kultur). Diese Artefakte sind
            nachweisbar für -2.5 bis -700.000 (Siehe: [SWW13]:S.480)
          • Gattung: Australopithecus sediba (um ca.
            -2 Mio) (Siehe: [SWW13]:S.477)
          • Spezies/ Art: Homo gautengensis (von ca.
            -1.9 Mio bis ca. -0.6 Mio)(Südafrika) (Siehe:
            [WE17h])
          • Spezies/ Art: Homo ergaster (von ca. -1.9
            Mio bis ca. -1.0 Mio) Werkzeuggebrauch
            wahrscheinlich, ebenso die Nutzung von
            Feuer (Lagerplätze mit Hinweisen um ca.
            -1.6 Mio). Stellung zu homo erectus unklar.
            (Siehe: [SWW13]:S.482f) Funde in
            Nordafrika (ca. -1.8 Mio), Südspanien (ca. –
            1.7-1.6 Mio und -1 Mio), Italien (ca. -1 Mio),
            Israel (ca. -2 Mio), Georgien (ca. -1.8 bis –
            1.7 Mio) und China (ca. -1.0 Mio) zeigen,
            dass homo ergaster sich schon sehr früh
            aus Afrika heraus bewegt hat.
          • Spezies/ Art: Homo erectus (Siehe:
            [WE17f]) (ab ca. -1.9 Mio bis ca. -85.000/
            -56.000); entwickelte sich vor allem in
            Asien (China, Java…), möglicherweise
            hervorgegangen aus dem homo ergaster.
            Ist fas zeitgleich zu homo ergaster in Afrika
            nachweisbar. Würde voraussetzen, dass
            homo ergaster in ca. 15.000 Jahren den
            Weg von Afrika nach Asien gefunden hat.
            (Siehe: [SWW13]:S.484-487)
          • Spezies/ Art: Homo antecessor (Siehe:
            [WE17e]) (von ca. -1.2 Mio bis –
            800.000). Hauptsächlich Funde in
            Nordafrika und Südspanien. Wird zur
            ersten Auswanderungswelle ’Out of Africa’
            gerechnet, die nach Europa und Asien kam.
            Letzte Klarheit fehlt noch. Es scheint viele
            Wechselwirkungen zwischen h.ergaster,
            h.erectus, h.antecessor, h.heidelbergensis,
            h.rhodesiensis, h.neanderthalensis sowie
            h.sapiens gegeben zu haben. (Siehe:
            [SWW13]:S.489)
          • Spezies/ Art ?: Homo cepranensis
            (Datierung zwischen ca. -880.000 bis
            ca.-440.000); (Siehe: [WD17k]) noch keine
            klare Einordnung (siehe Anmerkungen zu
            h.antecessor.)
          • Spezies/ Art: Homo heidelbergensis
            (Siehe: [WD17l]) (von ca. -600.000 bis
            -200.000). Überwiegend in Europa; es
            gibt viele Ähnlichkeiten mit Funden
            außerhalb von Europa in Afrika, Indien,
            China und Indonesien, z.B. Ähnlichkeiten
            zu homo rhodesiensis. Steinwerkzeuge,
            weit entwickelte Speere, Rundbauten,
            Feuerstellen, evtl. auch Kultstätten. (Siehe:
            [SWW13]:SS.490-493).
          • Spezies/ Art: Homo rhodesiensis (Siehe:
            [WE17i]) (von ca.-300.000 bis ca. –
            125.000)(Ost- und Nord-Afrika, speziell
            Zambia)
          • Spezies/ Art: Homo neanderthalensis
            (ab ca. -250.000 bis ca. -33.000). Frühe
            Formen und späte Formen. Genetische
            Eigenentwicklung seit ca. -350.000/ -400.000. Schwerpunkt Europa, aber Ausdehnung von Portugal, Spanien, bis
            Wales, Frankreich, England, Deutschland,
            Kroatien, schwarzes Meer, Nordirak,
            Zentralasien, Syrien, Israel . Meist nie
            mehr als insgesamt einige 10.000 in ganz
            Europa. In der Schlussphase parallel
            mit homo sapiens für ca. 50.000 Jahre.
            Es kam zu geringfügigen genetischen
            Beeinflussungen. Eine eigenständige
            hohe Werkzeugkultur, die aus der
            Steinwerkzeugkultur der Acheul´een ca.
            -200.000 hervorging und bis -40.000
            nachweisbar ist. Neben Steinwerkzeugen
            auch Schmuck. Sie pflegten Kranke,
            bestatteten ihre Toten. Die differenzierte
            Sozialstruktur, das gemeinsames Jagen,die
            Werkzeugkultur, das großes Gehirn
            sowie die Genbeschaffenheit lassen es
            wahrscheinlich erscheinen, dass der
            Neandertalerüber Sprache verfügte. Ein
            besonders kalter Klimaschub um -50.000
            verursachte einen starken Rückzug aus
            West- und Mitteleuropa, der dann wieder
            mit Einwanderer aus dem Osten gefüllt
            wurde. Im Bereich Israels/ Palästina gab
            es zwischen ca. -120.000 und -50.000
            eine Koexistenz von Neandertaler und
            homo sapiens. Was auch darauf hindeutet,
            dass eine erste Auswanderungswelle von
            h.sapiens schon um ca. -120.000/ -100.000
            stattgefunden hatte, aber nur bis Israel
            gekommen ist. Warum die Neandertaler
            ausstarben ist unbekannt. homo sapiens
            hat seine Population in Europa im Zeitraum
            -55.000 und -35.000 etwa verzehnfacht.
            (Siehe: [SWW13]:SS.493-498)
          • Spezies/ Art: Homo sapiens (ab ca. -190.000 bis heute); Wanderungsbewegungen aus Afrika heraus ab ca. -125.000
            erster Vorstoß bis Arabien. Parallel gab
            es eine kleine Auswanderung um -120.000
            über das Niltal bis Palästina/Israel, die
            aber keine weitere Expansion zeigte. Um
            -70.000 von Arabien aus in den Süden des mittleren Ostens, um ca. -60.000/ -50.000 nach Neuguinea und
            Australien. Vor ca. -50.000 bis -45.000 über
            Kleinasien nach Südost-, Süd- und Westeuropa.
            Um ca. -40.000 über Zentralasien
            bis Nordchina. Von Asien aus um -19.000/ -15.000 Einwanderung in Nordamerika über
            die Beringstraße, bis nach Südamerika um
            ca. -13.000. Es gibt aber auch die Hypothese,
            dass Südamerika schon früher
            (ca. -35.000 ?)über den Pazifik besiedelt
            wurde. Die Gene der Indianer in Nord- und
            Südamerika stimmen mit Menschen aus
            Sibirien, Nordasien und Südasien überein.
            Ab der Zeit -60.000/ -40.000 wird ein deutlicher
            kultureller Entwicklungssprung beim
            homo sapiens diagnostiziert, dessen Entwicklung
            seitdem anhält und sich heute
            noch erheblich beschleunigt. Felszeichnungen
            ab ca. -40.000, Werkzeuge, Wohnungen,
            Kleidung, Sprache.
          • Spezies/ Art: Homo floresiensis
            (Siehe: [WE17g])(ca. um -38.000 bis -12.000)(Insel Flores, Indonesien). Benutze Steinwerkzeuge, beherrschte das Feuer, Kleinwüchsig, entwickeltes Gehirn. Insel
            war seit mindestens -800.000 besiedelt.
            Vorfahren könnten seit -1 Mio dort gewesen
            sein. (Siehe: [SWW13]:S.487f)
          • Spezies/ Art: Denisovaner (noch kein
            wissenschaftlicher Name vereinbart)(um
            -40.000) (Siehe: [WD17c]), Funde im
            Altai Gebirge (Süd-Sibierien); es gibt
            Funde auf den Pilippinen, in Indonesien,
            Neuguinea, Australien, auf einigen Inseln
            des südlichen Pazifik, mit den Genen der
            Denisovaner. Herkunft möglicherweise von
            h.heidelbergensis. Es gab genetischen
            Austausch mit h.sapiens. (Siehe:
            [SWW13]:S.498)

VIII. WAS FOLGT AUS ALLEDEM?

Jeder, der diesen Text bis hierher gelesen haben
sollte, wird sich unwillkürlich fragen: Ja und, was heißt
das jetzt? Was folgt aus Alledem?

In der Tat ist dieser Text noch nicht abgeschlossen.

Der Text stellt allerdings eine notwendige
Vorüberlegung dar zu der – hoffentlich – weiter führenden
Frage nach der Besonderheit des homo sapiens als
Erfinder und Nutzer von intelligenten Maschinen.

Während die abschließende Definition von potentiell
intelligenten Maschinen mit dem mathematischen
Konzept der Turingmaschine im Prinzip vollständig
vorliegt, erscheint die Frage, wer oder was denn der
homo sapiens ist, je länger umso weniger klar. Mit
jedem Jahr empirischer Forschung (in allen Bereichen)
enthüllt sich scheibchenweise eine immer unfassbarere
Komplexität vor unseren Augen, die ein Verständnis
des homo sapiens samt seinem gesamten biologischen
Kontext eher in immer weitere Ferne zu rücken scheint.

Konnten die großen Offenbarungsreligionen über
viele Jahrhunderte irgendwie glauben, dass sie
eigentlich wissen, wer der Mensch ist (obwohl sie
nahezu nichts wussten), ist uns dies heute – wenn wir
die Wissenschaften ernst nehmen – immer weniger
möglich. Wenn im jüdisch-christlichen Glauben der
Mensch bildhaft als ’Ebenbild Gottes’ bezeichnet werden
konnte und damit – zumindest indirekt – angesichts
dieser unfassbaren Erhabenheit eine Art Schauer über
den Rücken jagen konnte (ohne dass zu dieser Zeit
verstehbar war, worin denn die Besonderheit genau
besteht), so werden wir in den letzten Jahren durch
immer tiefere Einblicke in die Abgründe der Komplexität
von Leben und Lebensprozessen in einem scheinbar
lebensfremden physikalischen Universum provoziert,
herausgefordert, und Gelegenheit zum Staunen gäbe es
allerdings genug.

In diesem anwachsenden Wissen um
unser Nichtwissen begegnen wir einer schwer fassbaren
Größe, die wir salopp ’biologisches Leben’ nennen, die
aber alles übersteigt, dessen wir denkerisch fähig sind.

Eine der vielen Paradoxien des Universums ist
genau dieses Faktum: in einem scheinbar ’leblosen’
physikalischen Universum ’zeigen sich’ materielle
Strukturen, die Eigenschaften besitzen, die es strikt
physikalisch eigentlich nicht geben dürfte, und die sich
in einer Weise verhalten, die das ganze Universum
prinzipiell zu einem ’Un-Ort’ machen: das bekannte
physikalische Universum ist lebensfeindlich, das
biologische Leben will aber genau das Gegenteil:
es will leben. Wie kann das zusammen gehen? Warum
kann ein scheinbar lebloses physikalisches Universum
Überhaupt der Ort sein, wo Leben entsteht, Leben
stattfinden will, Leben sich schrittweise dem inneren
Code des ganzen Universums bemächtigt?

In weiteren Beiträgen wird es darum gehen, dieses
Phänomen ’biologisches Leben’ weiter zu erhellen,
und zu zeigen, wie das biologische Leben sich mit
Hilfe intelligenter Maschinen nicht nur generell weiter
entwickeln wird, sondern diesen Prozess noch erheblich
beschleunigen kann. Es gilt hier die Arbeitshypothese,
dass die intelligenten Maschinen ein konsequentes
Produkt der biologischen Evolution sind und dass es
gerade dieser Kontext ist, der dieser Technologie ihre
eigentliche Zukunftsfähigkeit verleiht.

Die heutigen Tendenzen, die Technologie vom biologischen Leben
zu isolieren, sie in dieser Isolation zugleich in geradezu
religiöser Manier zu Überhöhen, wird die evolutionär
induzierte Entwicklung dieser Technologie eher
behindern, und damit auch das vitale Element der
biologischen Evolution, den homo sapiens.

Der homo sapiens ist kein Individuum, er wird
repräsentiert durch eine Population, die wiederum nur
Teil einer umfassenderen Population von Lebensformen
ist, die sich gegenseitig am und im Leben halten. Es wird
wichtig sein, dass der homo sapiens diese Arbeitsteilung
versteht, bevor er mit seiner wachsenden Aufbau- und
Zerstörungskraft das biologische Universum zu stark
beschädigt hat.

Zum aktuellen Zeitpunkt kann niemand mit Gewissheit
sagen, ob das alles irgendeinen ’Sinn’ besitzt, d.h. ob es
in all den Abläufen in der Zukunft eine Menge möglicher
Zielzustände gibt, die in irgendeinem Sinne als ’gut’/
’schön’/ ’erfüllend’ oder dergleichen bezeichnet werden
können. Genauso wenig kann aber irgend jemand zum
aktuellen Zeitpunkt mit Gewissheit einen solchen Sinn
ausschließen. Rein empirisch kann man schon heute
eine solche Menge an atemberaubenden Strukturen und
Zusammenhänge erfassen, die ’aus sich heraus’ ein
Exemplar der Gattung homo sapiens in ’Erstaunen’ und
’Begeisterung’ versetzen können; aber weder gibt es für
solch ein Erstaunen einen Zwang, eine Regel, ein Muss,
noch ist all dies ’zwingend’. Noch immer können wir
nicht ausschließen, dass dies alles nur ein Spiel ist,
eine gigantische kosmologische Gaukelei, oder – wie
es die physikalischen kosmologischen Theorien nahelegen
– in einem gigantischen Kollaps endet, aus der
möglicherweise wieder ein Universum entsteht, aber ein
anderes.

REFERENCES

  • [AJL+15] B. Alberts, A. Johnson, J. Lewis, D. Morgan, M. Raff,
    K. Roberts, and P. Walter.Molecular Biology of the Cell.
    Garland Science, Taylor & Francis Group, LLC, Abington
    (UK) – New York, 6 edition, 2015.
  • [GJ79] Michael R. Garey and David S. Johnson.Computers and
    Intractibility. A Guide to the Theory of NP.Completeness.
    W.H. Freeman an Company, San Francisco (US), 1 edition,
    1979.
  • [Keg15] Bernhard Kegel.Die Herrscher der Welt. DuMont, Köln (DE),
    1 edition, 2015.
  • [Kuh62] Thonas S. Kuhn.The Structure of Scientific Revolutions.
    University of Chicago Press, Chicago (US), 1 edition, 1962.
  • [Par15] Hermann Parzinger.DIE KINDER DES PROMETHEUS.
    Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift.
    Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt (DE), 2 edition,
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  • [Rot00] Peter Rothe.Erdgeschichte. Spurensuche im Gestein. Wissenschaftliche
    Buchgesellschaft, Darmstaadt (DE), 1 edition, 2000.
  • [SWW13] Volker Storch, Ulrich Welsch, and Michael Wink, editors.
    Evolutionsbiologie. Springer-Verlag, Berlin – Heidelberg, 3 edition, 2013.
  • [WD17a] Wikipedia-DE. Archäologie. 2017.
  • [WD17b] Wikipedia-DE. Ardipithecus. 2017.
  • [WD17c] Wikipedia-DE. Denisova-mensch. 2017.
  • [WD17d] Wikipedia-DE. Eiszeitalter. 2017.
  • [WD17e] Wikipedia-DE. Evolutionsbiologie. 2017.
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  • [WD17g] Wikipedia-DE. Geologie. 2017.
  • [WD17h] Wikipedia-DE. Geschichte der geologie. 2017.
  • [WD17i] Wikipedia-DE. Graecopithecus freybergi. 2017.
  • [WD17j] Wikipedia-DE. Heisenbergsche unschärferelation. 2017.
  • [WD17k] Wikipedia-DE. Homo cepranensis. 2017.
  • [WD17l] Wikipedia-DE. Homo heidelbergensis. 2017.
  • [WD17m] Wikipedia-DE. Kenyanthropus platyops. 2017.
  • [WD17n] Wikipedia-DE. Klimatologie. 2017.
  • [WD17o] Wikipedia-DE. Känozoisches eiszeitalter. 2017.
  • [WD17p] Wikipedia-DE. Kosmologie. 2017.
  • [WD17q] Wikipedia-DE. Kurt gödel. 2017.
  • [WD17r] Wikipedia-DE. Menschenaffen. 2017.
  • [WD17s] Wikipedia-DE. Molekularbiologie. 2017.
  • [WD17t] Wikipedia-DE. Orrorin tugenensis. 2017.
  • [WD17u] Wikipedia-DE. Paläontologie. 2017.
  • [WD17v] Wikipedia-DE. Sahelanthropus tchadensis. 2017.
  • [WD17w] Wikipedia-DE. Supervulkan. 2017.
  • [WE17a] Wikipedia-EN. chimpanzee–human last common ancestor
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  • [WE17b] Wikipedia-EN. Cosmology. 2017.
  • [WE17c] Wikipedia-EN. Earth science. 2017.
  • [WE17d] Wikipedia-EN. Homininae. 2017.
  • [WE17e] Wikipedia-EN. Homo antecessor. 2017.
  • [WE17f] Wikipedia-EN. Homo erectus. 2017.
  • [WE17g] Wikipedia-EN. Homo floresiensis. 2017.
  • [WE17h] Wikipedia-EN. Homo gautengensis. 2017.
  • [WE17i] Wikipedia-EN. Homo rhodesiensis. 2017.
  • [WE17j] Wikipedia-EN. Paranthropus. 2017.
  • [WE17k] Wikipedia-EN. Sahelanthropus tchadensis. 2017.
  • [WE17l] Wikipedia-EN. Simian. 2017.

Eine FORTSETZUNG findet sich HIER.

VIII. KONTEXTE

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PLANET DER AFFEN: SURVIVAL – Nahe an einer Bankrotterklärung? – Andere Sichten

Übersicht

Eigentlich nur ein Film, aber wenn man den aktuellen kulturellen Kontext bedenkt, vielschichtig, nicht nur negativ. (Anmerkung: der englische Titel des Films lautet: War for the Planet of the Apes)

I. DIE GESCHICHTE

1) Wie man in Wikipedia-DE nachlesen kann gründet die dreiteilige Verfilmung auf einem Roman, dessen Ausgangsszenario darin besteht, dass ein an Affen getestetes virales Medikament gegen Alzheimer diese so intelligent gemacht hatte, dass sie ausbrechen und ihre eigene Zivilisation gründen konnten. Unter Menschen führte das Medikament zu der meist tödlich verlaufenden ’Affengrippe’, die hoch ansteckend war und die sich rasant verbreitete.

2) Mikrobiologisch ist dieser Plot in seiner spezifischen Doppelwirkung ziemlich unsinnig, aber er liefert ein interessantes Szenario, um Menschheit und veränderte Tierwelt in ungewöhnlichen Konstellationen zu konfrontieren.

3) Im dritten Teil gibt es nur noch wenige Menschen, die als zwei verfeindete Militäreinheiten vorkommen. Die eine Einheit genannt Alpha-Omega, die die Affen bekämpft und auszurotten versucht, die andere, die lange Zeit nur in Anspielungen auftaucht, in Andeutungen, die möglicherweise die Alpha-Omega Einheit besiegen will.

4) Die Darstellung der Soldaten selbst mit all ihren Waffen kommt sehr realistisch daher (sogar als 3D-Ereignis), ist aber in nahezu jeder Hinsicht bizarr unrealistisch.

5) Dazu gibt es als Gegenspieler die intelligenten Affen unter ihrem legendären Anführer Cäsar. Diese werden im Kontrast zu den rein militärischen Menschen als ein soziales Gebilde dargestellt mit Jung und Alt, Frauen und Männer, mit normalem gesellschaftlichen Leben, und manifestieren darin das, was man von menschlichen Gesellschaften her kennen kann (nicht muss, da es in den aktuellen menschlichen Gesellschaftsformen viele soziale Formen gibt, die kaum noch ’traditionelle’ Muster erkennen lassen).

6) Das Verhältnis zwischen den Soldaten-Menschen und den intelligenten Affen ist aus der Vergangenheit heraus sehr belastet, kommt aber im dritten Teil immer nur indirekt vor (Andeutungen, Erinnerungen, Handlungsreflexe…). Und damit der Zuschauer gleich weiß, wo hier die Guten und Bösen sind, beginnt der dritte Teil mit einem Überraschungsangriff auf das Lager der Affen. Während der Anführer der Affen, Cäsar, nach dem Sieg einige Gefangene wieder großzügig ziehen lässt mit der Hoffnung auf Besinnung, folgt ziemlich bald der nächste Überraschungsangriff als Kommandounternehmen, durch das Cäsar Frau und Sohn verliert.

7) Dies führt zu einer Expedition von Cäsar und wenigen Getreuen, die letztlich zur Entdeckung des Hauptlagers der Alpha-Omega Einheit führt, die dort eine Art Affen-Konzentrationlager betreiben. Wofür die Arbeit der Affen gut sein soll, erschließt sich nicht wirklich. Das Konzentrationslager mit seinen grausamen Methoden liefert allerdings genügend Anlässe, um die Emotionen gegen die Soldaten-Menschen und für die fühlenden intelligenten Affen weiter anzufachen.

8) Wie in jedem klassischen Schurkenstück gibt es aber ein Happy-End für die Unterdrückten. In einem Endgefecht greifen die bis dahin nur in Zitaten existierenden anderen Soldaten-Menschen die Einheit Alpha-Omega an und können diese (mit Unterstützung der Affen) vollständig vernichten (Feuer, Explosionen, das große Inferno). Als die Sieger plötzlich Cäsar entdecken, der sich noch in der Nähe des Lagers befindet, und sie auf ihn schießen wollen, donnert eine gigantische Schneelawine aus den Bergen ins Tal herab und begräbt das Lager mit allen Soldaten-Menschen unter sich.

9) Nachdem sich der Schneestaub verzogen hat sieht man in den Baumkronen der stehen gebliebenen Bäumen überall die Affen, die zuvor hatten fliehen können. Der Film endet in wunderschönen Naturbildern, die Affen habenüberlebt, und Cäsar stirbt friedlich als großer Retter seiner Volkes.

II. ALS WAHRNEHMUNGSERLEBNIS

1) Der Film kommt als 3D-Film daher. Die im Kino erhältlichen 3D-Brillen vermitteln weitgehend 3D-Eindrücke, allerdings nicht wirklich perfekt. Irgendwo ist diese ganze 3D-Idee auch unsinnig: das menschliche Gehirn wurde im Laufe von Millionen von Jahren darauf ausgelegt, aus den 2D-Pixeln der Netzhaut 3D-Asichten einer Welt zu generieren. Dies macht das Gehirn so perfekt, dass jeder Mensch spontan immer eine räumliche Welt sieht, obgleich die Netzhaut nur Lichtpunkte einer 2D-Oberfläche besitzt, dazu noch auf den Kopf gestellt, auf zwei Augen verteilt, mit unterschiedlichen Schärferegionen. Niemand nimmt aber diese Netzhautwirklichkeit wahr; jeder sieht eine perfekte 3D-Welt. Und das Gehirn ist trainiert, aus 2D-Bildern und Filmen ein 3D-Erlebnis zu machen; im Falle von Bildern ’weiß’ dann jeder auch, dass es ’Bilder’ sind und noch nicht die ’reale Welt’. Vielfach eine sehr nützliche Information.

2) Wohltuend in der Wahrnehmung dieses Films war die gewollte Dauer von vielen Einstellungen; das Verweilen in Situationen, länger als in vielen neuen Filmen üblich. Als Zuschauer hatte man Zeit zum ’Verarbeiten’, zum ’Fühlen’, zum ’denkenden Sehen’.

III. KULTURELLE VOREINSTELLUNGEN

1) Man kann den Film nach kurzer Betrachtung wieder vergessen, wie es so viele Filme gibt, die heute über die Leinwand und den Computerbildschirm rauschen, das Gemüt ein wenig kitzeln, das Gehirn ein wenig in Richtung Markenfixierung programmieren, und im Rausch der bunten Bilder die Alltagsbilder vergessen machen.

2) Man kann den Film aber auch zum Anlass nehmen, ein wenig darüber nachzudenken, welche Botschaften er aussendet, direkte Botschaften, aber auch indirekte Botschaften.

3) Die direkten Botschaften sind eher langweilig, konventionell und erschöpfen sich weitgehend im zuvor geschilderten Plot.

4) Die indirekten Botschaften sind eher interessant.

5) Bedenkt man, dass die meisten Menschen heute ihre Welt aus einer Alltagsperspektive erleben, in der sie selbst kaum noch brauchbares Weltwissen besitzen: Täglich vollgedröhnt mit fragmentierten Nachrichten, einer Fülle von Marketing-Informationen über mehr oder weniger sinnlose Produkte, einer spezialisierten – oft sinnfreien – Arbeitswelt, einem gestressten Alltag, einer erlebnisorientierten Freizeitwelt ohne weiterführende Kontexte, ein Menschenbild, das zwischen blassen Erinnerungen einer religiös eingefärbten Humanität (selbst das bei vielen nicht mehr), und Fragmenten wissenschaftlicher Erkenntnisse, die keinerlei schlüssiges Gesamtbild liefern, …. dann kann man den Film auch sehen als ein Ausdruck eben dieses Verlustes an einer grundlegenden und umfassenden Perspektive.

6) Im Film erscheinen die Menschen nur noch als verzerrte, gefühllose Wesen, umfassend zerstörerisch, nichts aufbauend, blind für das wahre Leben. Und die einzige Quelle von Hoffnung sind jene Lebewesen, die wir bislang als ’Tiere’ kennen, die wir als Menschen (obgleich selbst biologisch Tiere) vielfach brutal ausrotten oder nur zum Verzehr unter unwürdigsten Bedingungen züchten. Und die Hoffnung auf eine Zukunft des Lebens wird in diese Tiere, in diese Affen, projiziert, in Gestalt einer genetischen Veränderung, die dann quasi automatisch, über Nacht, zu einem psychologischen Profil führt, das Affen ermöglicht, intelligent, gefühlvoll, sozial miteinander und der Natur umzugehen.

IV. DAS WAHRE DRAMA

Vieles an dem zuvor angesprochenen Klischee ist richtig und die Umsetzung dieses Klischees in die Handlung des Films hat eine gewisse Logik und Folgerichtigkeit. Dennoch kann – und muss? – man die Frage stellen, ob es die ’richtige’ Folgerung ist.

A. Künstlerisch

1) Bei künstlerischen Ereignissen – und Filme werten wir schon noch als Kunst, bei allem realem Kommerz – sollte man eigentlich die Frage nach der ’Richtigkeit’ nicht stellen, da Kunst sich ja gerade über einen spielerisch-kreativen Umgang mit der Wirklichkeit definiert und uns darin, möglicherweise, Aspekte unserer Wirklichkeit sichtbar machen kann, die uns anregen können, das Leben ’besser’ zu verstehen.

2) Und doch, selbst im Spielerisch-Kreativen der Kunst kann und muss man die Frage erlauben, ob es irgendetwas zeigt, sichtbar, erlebbar macht, was uns weiter führen könnte, ansonsten verliert auch die Kunst ihre Lebensfunktion.

B. Wissen

1) Und hier spielt jetzt das ’Wissen’ eine wichtige Rolle. Wissen ist jener spezielle Zustand im Gehirn eines Menschen, in dem die erlebten und denkbaren Aspekte unserer Welt sich zu Mustern, Bildern, Modellen zusammenfinden können, die Zusammenhänge sichtbar machen, Abläufe, mögliche Entwicklungen. Im ’Lichte unseres Wissens’ können wir dann – nicht notwendigerweise – unsere aktuellen Alltagseindrücke einordnen, relativieren, gewichten, und Zusammenhänge sichtbar machen, die uns weiterführende Bewertungen und dann Handlungen ermöglichen.

2) Und es sind gerade die vielfältigen Erkenntnisse aus den Wissenschaften der letzten 10-20 Jahren, die ein Bild des Universums, unseres Sonnensystems, des biologischen Lebens samt seiner kulturellen Ausprägungen ermöglicht haben, die den Menschen (uns selbst als homo sapiens) im Kontext des gesamten biologischen Lebens völlig neu betrachten lassen.

C. Leben und seine Grenzen

1) Vor diesem möglichen Gesamthintergrund (viele Beiträge in diesem Blog haben versucht, Teile davon zu artikulieren) werden mindestens zwei Botschaften sichtbar: das eine ist eine vertiefte Sicht auf die ungeheuerlich komplexen Zusammenhänge des biologischen Lebens, das als das größte Wunder im bekannten Universum bezeichnet werden muss. Das andere ist die Erfahrung der Letzten paar tausend Jahre, speziell auch der letzten 100 Jahre, dass wir Menschen zwar einerseits eine immer komplexere Welt schaffen konnten, dass wir aber mit unseren individuellen Körpern (Gehirn, Gefühlen, Denkfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, soziale Interaktionen, Vorausschau,…) an Grenzen angekommen sind, um mit dieser komplexen Welt weiterhin konstruktiv positiv, nachhaltig umzugehen.

2) Ein klein wenig können wir mittlerweile eine ganz neue, fantastische Welt erahnen und fühlen, aber zugleich erleben wir konkrete Grenzen, Endlichkeiten, Bedürfnis-Gefühls-Chaos, destruktive Kräfte, die uns daran hindern, die ganz neue Vision voll zu verstehen, sie voll im Alltag umzusetzen.

3) Diese Hilflosigkeit empfinden viele stark, bis hin zur Ohnmacht. Für die große Mehrheit der Menschheit gibt es kaum wirksame Mechanismen der konstruktiven Verarbeitung; für den Rest erscheinen die Mittel auch schwach, zu schwach?

4) Und in dieser Situation gibt es einen gewissen Trend, selbst in den Wissenschaften (!), die Sache des Menschen als hoffnungslos einzustufen. Die einen schreiben Bücher über die Welt nach dem Aussterben des homo sapiens, die anderen ergehen sich in filmische Untergangsszenarien, andere werfen ihren ganzen Glauben auf die kommenden (super-)intelligenten Maschinen, die all das richten können sollen, was wir Menschen bislang anscheinend nicht können. Wieder andere suchen ihr Heil in populistisch-autoritären

Bewegungen, die kurzfristig einzelnen Gruppen Vorteile verschaffen sollen auf Kosten aller anderen.

D. Leben als Vision

1) Was aber not täte, das wäre das ruhige, besonnene, sachliche Aufsammeln aller Fakten, die nüchterne Analyse der bislang bekannten Prozesse, um damit – vielleicht – ein neues, breiteres Bild der Ereignisse gewinnen zu können. Ein zentrales Thema ist dabei die Einsicht, dass man die lange bestehende Abgrenzung zwischen einer Welt da draußen’ (Physik, Chemie ..), der Welt der Zellen (Biologie, Mikrobiologie, Genetik…), dem inneren Erleben (Phänomenologie, Spiritualität,…), dem Sozialen (zwischen Menschen, aber auch zwischen Menschen und Umwelt) beendet, und begreift, dass dies alles eine Einheit bildet, und dass der Mensch als homo sapiens nur verstehbar ist, als Teil (!) des gesamten biologischen Lebens, mit all der weitreichenden Verantwortung, die dem Menschen dadurch für das Gesamte erwächst. Dass intelligente Maschinen dem Menschen dabei helfen könnten, die wachsende Komplexität zu managen, liegt nahe und ist als Teil der biologischen Evolution verstehbar, allerdings eben nicht als Anti-Bewegung gegen den Menschen und das übrige Leben sondern als konstruktives Moment am Gesamtphänomen Leben!

2) Es ist sicher kein Zufall in der Evolution des Lebens, dass der Übergang von den ersten Zellen zu kooperativen Zellverbänden fast 2 Milliarden Jahre gebraucht hat (bei einer bisherigen Gesamtdauer der biologischen Evolution von 3.5 Milliarden Jahren). Die Integration vieler komplexer Einheiten auf einer noch höheren Integrationsstufe ist immer eine Herausforderung. Dass es überhaupt soweit kommen konnte, dass sich das Leben im Universum durch den homo sapiens gleichsam ’selbst anschauen’ kann und darin ’seine eigene Zukunft vorwegnehmen’ kann, ist ein bis heute schwer fassbares Phänomen. Was ansteht, ist eine konstruktive Integration von biologischem Leben als Ganzem inklusive dem homo sapiens inklusive der biologisch ermöglichten Kultur (inklusive Technologie) als Phänomen IM physikalischen Universum, als TEIL des physikalischen Universums, als jenes Moments, das sämtliche bekannten physikalischen Gesetze nachhaltig beeinflussen kann. Wenn wir irgendetwas über das physikalische Universum gelernt haben, dann dieses, dass es keine festen, starren ’Naturgesetze’ gibt. Die Physik ist ganz am Anfang, dies zu verstehen, und es wäre sicher nicht uninteressant, Physik und Biologie ein bisschen mehr zu verzahnen; die Physik könnte eine Menge lernen.

V. KONTEXTE

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Offenbarung – Der blinde Fleck der Menschheit

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Als Nachhall zur Diskussion des Artikels von Fink hier ein paar Überlegungen, dass der durch die Religionen vereinnahmte Begriff der ‚Offenbarung‘ ein Grundbegriff ist, der wesentlich zum Menschen generell gehört, bevor irgendeine Religion darauf einen Anspruch anmelden kann.

I. KONTEXT

Diesen Beitrag könnte man unter ‚Nachwehen‘ einordnen, Nachwehen zu dem letzten Beitrag. In diesem Beitrag hatte ich versucht, deutlich zu machen, dass die üblichen Vorgehensweisen, in die neuen Erkenntnisse zur Entstehung, Struktur und Dynamik des physikalischen Universums, den Glauben an ein sehr bestimmtes, klassisches Gottesbild zu ‚interpolieren‘, heute nicht mehr überzeugen können, ja, abgelehnt werden müssen als eher wegführend vom wahren Sachverhalt.

Zu dieser kritisch-ablehnenden Sicht tragen viele Argumente bei (siehe einige in dem genannten Artikel). Besonders erwähnen möchte ich hier nochmals das Buch ‚Mysticism and Philosophy‘ von Stace (1960) [ siehe Teil 3 einer Besprechung dieses Buches ]. Stace konzentriert sich bei seinen Analysen an der Struktur der menschlichen Erfahrung, wie sie über Jahrtausende in vielen Kulturen dieser Welt berichtet wird. Während diese Analysen darauf hindeuten, dass der Kern der menschlichen Erfahrungen eher gleich erscheint, erklärt sich die Vielfalt aus der Tatsache, dass — nach Stace — jede Erfahrung unausweichlich Elemente einer ‚Interpretation‘ umfasst, die aus den bisherigen Erfahrungen stammen. Selbst wenn Menschen das Gleiche erleben würden, je nach Zeit, Kultur, Sprache können sie das Gleiche unterschiedlich einordnen und benennen, so dass es über den Prozess des Erkennens etwas ‚anderes‘ wird; es erscheint nicht mehr gleich!

In einem sehr kenntnisreichen Artikel The Myth of the Framework von Karl Popper, veröffentlicht im Jahr 1994 als Kapitel 2 des Buches The Myth of the Framework: In Defence of Science and Rationality [Anmerkung: Der Herausgeber M.A.Notturno weist im Epilog zum Buch darauf hin, dass die Beiträge zum Buch schon in den 1970iger Jahren vorlagen!] hatte sich Popper mit diesem Phänomen auch auseinandergesetzt, allerdings nicht von der ‚Entstehung‘ her (wie kommt es zu diesen Weltbildern), sondern vom ‚Ergebnis‘ her, sie sind jetzt da, sie sind verschieden, was machen wir damit? [Siehe eine Diskussion des Artikels von Popper als Teil des Beitrags].

Angeregt von diesen Fragen und vielen weiteren Ideen aus den vorausgehenden Einträgen in diesem Blog ergeben sich die folgenden Notizen.

II. DER ‚BIG BANG‘ HÖRT NIE AUF …

Die Geschichte beginnt im Alltag. Wenn man in die Gegenwart seines Alltags eingetaucht ist, eingelullt wird von einem Strom von scheinbar selbstverständlichen Ereignissen, dann kann man leicht vergessen, dass die Physik uns darüber belehren kann, dass dieser unser Alltag eine Vorgeschichte hat, die viele Milliarden Jahre zurück reicht zur Entstehung unserer Erde und noch viel mehr Milliarden Jahre bis zum physikalischen Beginn unseres heute bekannten Universums. Obgleich dieses gewaltige Ereignis mitsamt seinen gigantischen Nachwirkungen mehr als 13 Milliarden Jahre zurück liegt und damit — auf einer Zeitachse — längst vorbei ist, passé, gone, … haben wir Menschen erst seit ca.50 – 60 Jahren begonnen, zu begreifen, dass das Universum in einer Art ‚Urknall‘ ins physikalische Dasein getreten ist. Was immer also vor mehr als 13 Milliarden Jahren geschehen ist, wir selbst, wir Menschen als Exemplare der Lebensform homo sapiens, haben erst vor wenigen Jahrzehnten ‚gelernt‘, dass unsere aktuelle Gegenwart bis zu solch einem Ereignis zurück reicht. Das reale physikalische Ereignis ‚Big Bang‘ fand also erst viele Milliarden Jahre später in den Gehirnen und damit im Bewusstsein von uns Menschen (zunächst nur wenige Menschen von vielen Milliarden) statt. Erst im schrittweisen Erkennen durch die vielen tausend Jahre menschlicher Kultur entstand im Bewusstsein von uns Menschen ein virtuelles Wissen von etwas vermutet Realem. Das reale Ereignis war vorbei, das virtuelle Erkennen lies es viel später in einem realen Erkenntnisprozess virtuell wieder entstehen. Vorher gab es dieses Ereignis für uns Menschen nicht. So gesehen war das Ereignis indirekt ‚gespeichert‘ im physikalischen Universum, bis diese Erkenntnisprozesse einsetzten. Welch gigantische Verzögerung!

III. OFFENBARUNG

Der Begriff ‚Offenbarung‘ ist durch seine Verwendung in der zurückliegenden Geschichte sehr belastet. Vor allem die großen Religionen wie Judentum, Christentum und Islam haben durch ihre Verwendung des Begriffs ‚Offenbarung‘ den Eindruck erweckt, dass Offenbarung etwas sehr Besonderes sei, die Eröffnung von einem Wissen, das wir Menschen nicht aus uns selbst gewinnen können, sondern nur direkt von einem etwas, das mit der Wortmarke ‚Gott‘ [die in jeder Sprache anders lautet] gemeint sei. Nur weil sich dieses etwas ‚Gott‘ bestimmten, konkreten Menschen direkt zugewandt habe, konnten diese ein spezielles Wissen erlangen, das diese dann wiederum ‚wortwörtlich‘ in Texten festgehalten haben, die seitdem als ‚heilige‘ Texte gelten.

Im Fall der sogenannten heiligen Schriften des Judentums und des Christentums hat intensive wissenschaftliche Forschung seit mehr als 100 Jahren gezeigt, dass dies natürlich nicht so einfach ist. Die Schriften sind alle zu unterschiedlichen Zeiten entstanden, bisweilen Jahrhunderte auseinander, wurden mehrfach überarbeitet, und was auch immer ein bestimmter Mensch irgendwann einmal tatsächlich gesagt hat, das wurde eingewoben in vielfältige Interpretationen und Überarbeitungen. Im Nachhinein — von heute aus gesehen also nach 2000 und mehr Jahren — zu entscheiden, was ein bestimmter Satz in hebräischer oder griechischer Sprache geschrieben, tatsächlich meint, ist nur noch annäherungsweise möglich. Dazu kommt, dass die christliche Kirche über tausend Jahre lang nicht mit den Originaltexten gearbeitet hat, sondern mit lateinischen Übersetzungen der hebräischen und griechischen Texte. Jeder, der mal Übersetzungen vorgenommen hat, weiß, was dies bedeutet. Es wundert daher auch nicht, dass die letzten 2000 Jahre sehr unterschiedliche Interpretationen des christlichen Glaubens hervorgebracht haben.

Im Fall der islamischen Texte ist die Lage bis heute schwierig, da die bisher gefundenen alten Manuskripte offiziell nicht wissenschaftlich untersucht werden dürfen [Anmerkung: Siehe dazu das Buch von Pohlmann (2015) zur Entstehung des Korans; eine Besprechung dazu findet sich  hier: ]. Die bisherigen Forschungen deuten genau in die gleiche Richtung wie die Ergebnisse der Forschung im Fall der jüdisch-christlichen Tradition.

Die Befunde zu den Überlieferungen der sogenannten ‚heiligen‘ Schriften bilden natürlich nicht wirklich eine Überraschung. Dies liegt eben an uns selbst, an uns Menschen, an der Art und Weise, wie wir als Menschen erkennen, wie wir erkennen können. Das Beispiel der empirischen Wissenschaften, und hier die oben erwähnte Physik des Universums, zeigt, dass alles Wissen, über das wir verfügen, im Durchgang durch unseren Körper (Sinnesorgane, Körperzustände, Wechselwirkung des Körpers mit der umgebenden Welt, dann Verarbeitung Gehirn, dann Teile davon im Bewusstsein) zu virtuellen Strukturen in unserem Gehirn werden, die partiell bewusst sind, und die uns Teile der unterstellten realen Welt genau so zeigen, wie sie im bewussten Gehirn gedacht werden, und zwar nur so. Die Tatsache, dass es drei große Offenbarungsreligionen gibt, die sich alle auf das gleiche Etwas ‚Gott‘ berufen, diesem Gott dann aber ganz unterschiedliche Aussagen in den Mund legen [Anmerkung: seit wann schreiben Menschen vor, was Gott sagen soll?], widerspricht entweder dem Glauben an den einen Gott, der direkt spricht, oder diese Vielfalt hat schlicht damit zu tun, dass man übersieht, dass jeder Mensch ‚Gefangener seines Erkenntnisprozesses‘ ist, der nun einmal ist, wie er ist, und der nur ein Erkennen von X möglich macht im Lichte der bislang bekannten Erfahrungen/ Erkenntnisse Y. Wenn jüdische Menschen im Jahr -800 ein X erfahren mit Wissen Y1, christliche Menschen in der Zeit +100 mit Wissen Y2 und muslimische Menschen um +700 mit Wissen Y3, dann ist das Ausgangswissen jeweils völlig verschieden; was immer sie an X erfahren, es ist ein Y1(X), ein Y2(X) und ein Y3(X). Dazu die ganz anderen Sprachen. Akzeptiert man die historische Vielfalt, dann könnte man — bei gutem Willen aller Beteiligten — möglicherweise entdecken, dass man irgendwie das ‚Gleiche X‘ meint; vielleicht. Solange man die Vielfalt aber jeweils isoliert und verabsolutiert, so lange entstehen Bilder, die mit Blick auf den realen Menschen und seine Geschichte im realen Universum kaum bis gar nicht zu verstehen sind.

Schaut man sich den Menschen und sein Erkennen an, dann geschieht im menschlichen Erkennen, bei jedem Menschen, in jedem Augenblick fundamental ‚Offenbarung‘.

Das menschliche Erkennen hat die Besonderheit, dass es sich bis zu einem gewissen Grad aus der Gefangenschaft der Gegenwart befreien kann. Dies gründet in der Fähigkeit, die aktuelle Gegenwart in begrenzter Weise erinnern zu können, das Jetzt und das Vorher zu vergleichen, von Konkretem zu abstrahieren, Beziehungen in das Erkannte ‚hinein zu denken‘ (!), die als solche nicht direkt als Objekte vorkommen, und vieles mehr. Nur durch dieses Denken werden Beziehungen, Strukturen, Dynamiken sichtbar (im virtuellen Denken!), die sich so in der konkreten Gegenwart nicht zeigen; in der Gegenwart ist dies alles unsichtbar.

In dieser grundlegenden Fähigkeit zu erkennen erlebt der Mensch kontinuierlich etwas Anderes, das er weder selbst geschaffen hat noch zu Beginn versteht. Er selbst mit seinem Körper, seinem Erkennen, gehört genauso dazu: wir wurden geboren, ohne dass wir es wollten; wir erleben uns in Körpern, die wir so nicht gemacht haben. Alles, was wir auf diese Weise erleben ist ’neu‘, kommt von ‚außen auf uns zu‘, können wir ‚aus uns selbst heraus‘ nicht ansatzweise denken. Wenn irgendetwas den Namen ‚Offenbarung‘ verdient, dann dieser fundamentale Prozess des Sichtbarwerdens von Etwas (zu dem wir selbst gehören), das wir vollständig nicht gemacht haben, das uns zu Beginn vollständig unbekannt ist.

Die Geschichte des menschlichen Erkennens zeigt, dass die Menschen erst nur sehr langsam, aber dann immer schneller immer mehr von der umgebenden Welt und dann auch seit kurzem über sich selbst erkennen. Nach mehr als 13 Milliarden Jahren erkennen zu können, dass tatsächlich vor mehr als 13 Milliarden Jahren etwas stattgefunden hat, das ist keine Trivialität, das ist beeindruckend. Genauso ist es beeindruckend, dass unsere Gehirne mit dem Bewusstsein überhaupt in der Lage sind, virtuelle Modelle im Kopf zu generieren, die Ereignisse in der umgebenden Welt beschreiben und erklären können. Bis heute hat weder die Philosophie noch haben die empirischen Wissenschaften dieses Phänomen vollständig erklären können (obgleich wir heute viel mehr über unser Erkennen wissen als noch vor 100 Jahren).

Zu den wichtigen Erkenntnissen aus der Geschichte des Erkennens gehört auch, dass das Wissen ‚kumulierend‘ ist, d.h. es gibt tiefere Einsichten, die nur möglich sind, wenn man zuvor andere, einfachere Einsichten gemacht hat. Bei der Erkenntnis des großen Ganzen gibt es keine ‚Abkürzungen‘. In der Geschichte war es immer eine Versuchung, fehlendes Wissen durch vereinfachende Geschichten (Mythen) zu ersetzen. Dies macht zwar oft ein ‚gutes Gefühl‘, aber es geht an der Realität vorbei. Sowohl das kumulierende Wissen selbst wie auch die davon abhängigen alltäglichen Abläufe, die Technologien, die komplexen institutionellen Regelungen, die Bildungsprozesse usw. sie alle sind kumulierend.

Aus diesem kumulierenden Charakter von Wissen entsteht immer auch ein Problem der individuellen Verarbeitung: während dokumentiertes und technisch realisiertes Wissen als Objekt durch die Zeiten existieren kann, sind Menschen biologische Systeme, die bei Geburt nur mit einer — wenngleich sehr komplexen — Grundausstattung ihren Lebensweg beginnen. Was immer die Generationen vorher gedacht und erarbeitet haben, der jeweils neue individuelle Mensch muss schrittweise lernen, was bislang gedacht wurde, um irgendwann in der Lage zu sein, das bisher Erreichte überhaupt verstehen zu können. Menschen, die an solchen Bildungsprozessen nicht teilhaben können, sind ‚Fremde‘ in der Gegenwart; im Kopf leben sie in einer Welt, die anders ist als die umgebende reale Welt. Es sind wissensmäßig Zombies, ‚Unwissende‘ in einem Meer von geronnenem Wissen.

Sollte also das mit der Wortmarke ‚Gott‘ Gemeinte eine Realität besitzen, dann ist der Prozess der natürlichen Offenbarung, die jeden Tag, in jedem Augenblick ein wenig mehr die Erkenntnis Y über das uns vorgegebene Andere ermöglicht, die beste Voraussetzung, sich diesem Etwas ‚X = Gott‘ zu nähern. Jede Zeit hat ihr Y, mit dem sie das Ganze betrachtet. Und so sollte es uns nicht wundern, dass die Geschichte uns viele Y(X) als Deutungen des Etwas ‚X = Gott‘ anbietet.

Empirisches Wissen, Philosophisches Wissen, religiöses Wissen kreisen letztlich um ein und dieselbe Wirklichkeit; sie alle benutzen die gleichen Voraussetzungen, nämlich unsere menschlicher Existenzweise mit den vorgegebenen Erkenntnisstrukturen. Niemand hat hier einen wesentlichen Vorteil. Unterschiede ergeben sich nur dadurch, dass verschiedenen Kulturen unterschiedlich geschickt darin sind, wie sie Wissen kumulieren und wie sie dafür Sorge tragen, dass alle Menschen geeignete Bildungsprozesse durchlaufen.

IV. VEREINIGTE MENSCHHEIT

Schaut man sich an, wie die Menschen sich auch nach den beiden furchtbaren Weltkriegen und der kurzen Blüte der Idee einer Völkergemeinschaft, die Ungerechtigkeit verhindern sollte, immer wieder — und man hat den Eindruck, wieder mehr — in gegenseitige Abgrenzungen und Verteufelungen verfallen, vor grausamen lokalen Kriegen nicht zurück schrecken, die Kultur eines wirklichkeitsbewussten Wissens mutwillig schwächen oder gar zerstören, dann kann man schon mutlos werden oder gar verzweifeln.

Andererseits, schaut man die bisherige Geschichte des Universums an, die Geschichte des Lebens auf der Erde, die Geschichte des homo sapiens, die letzten 10.000 Jahre, dann kommt man nicht umhin, festzustellen, dass es eine dynamische Bewegung hin zu mehr Erkenntnis und mehr Komplexität gegeben hat und noch immer gibt. Und wenn man sieht, wie wir alle gleich gestrickt und auf intensive Kooperation angewiesen sind — und vermutlich immer mehr –, dann erscheinen die Menschen eher wie eine Schicksalsgemeinschaft, wie ‚earth children‘, wie eine ‚Gemeinschaft von Heiligen kraft Geburt‘!

Das Wort ‚Heilige‘ mag alle irritieren, die mit Religion nichts verbinden, aber die ‚Heiligen‘ sind in den Religionen alle jene Menschen, die sich der Wahrheit des Ganzen stellen und die versuchen, aus dieser Wahrheit heraus — ohne Kompromisse — zu leben. Die Wahrheit des Ganzen ist für uns Menschen primär diese Grundsituation, dass wir alle mit unseren Körpern, mit unserem Erkennen, Teil eines Offenbarungsprozesses sind, der für alle gleich ist, der alle betrifft, und aus dem wir nicht aussteigen können. Wir sind aufeinander angewiesen. Anstatt uns gegenseitig zu bekriegen und abzuschlachten, also die ‚Bösen‘ zu spielen, wäre es näherliegender und konstruktiver, uns als ‚Heilige‘ zu verhalten, die bereit sind zum Erkennen, die bereit sind aus der Erkenntnis heraus zu handeln. Das alles ist — wie wir wissen können — nicht ganz einfach, aber es hat ja auch niemand gesagt, dass es einfach sei. Das Leben auf der Erde gleicht eher einem Expeditionschor, das im Universum an einer bestimmten Stelle gelandet ist, und jetzt den Weg zum Ziel finden muss. Wir brauchen keine TV-Reality-Shows, wir selbst sind die radikalste Reality-Show, die man sich denken kann. Und sie tritt gerade in eine sehr heiße Phase ein [Anmerkung: … nicht nur wegen des Klimas 🙂 ].

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