Archiv für den Monat: Februar 2023

Pazifismus als ‚Pseudonym‘ für Realitätsverweigerung?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 24.Februar 2023 – 4.März 2023
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

Dieser Text ist eine spontane Reaktion auf die vielen Stimmen, die in unterschiedlichen Tonlagen einen ‚Pazifismus‘ vertreten, dessen eigentliche ‚Natur‘ sich in viel schillernden Vagheiten präsentiert, die bei Nachfragen immer genau das nicht sein sollen, für das man sie halten möchte. Den letzten Kick zur folgenden schriftlichen Reaktion ergab die Lektüre eines Textes von Annete Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland.[1]

‚Ecce Homo‘

Frau Kurschus schleudert dem Leser gleich zu Beginn den Ausdruck ‚Ecce Homo‘ entgegen, einen Ausdruck, den die meisten Menschen heute kaum sogleich verstehen werden, da er aus einer Zeit und Denkwelt kommt, die längst vergangen ist. ‚Ecce Homo‘ ist einer lateinischen Übersetzung des Neuen Testaments entnommen, das ursprünglich in Griechischer Sprache übermittelt worden ist.[2]

Der Kontext des Ausdrucks ist ein Text im Neuen Testament, dessen Überlieferungsgeschichte komplex ist, weder stammt er von Jesus selbst noch vermutlich von einem ‚Jünger‘ Jesu. [3] Die starken textlichen Abweichungen des Johannesevangeliums von den anderen sogenannten ‚Evangelien‘ deuten auf spezielle ‚Deutungsperspektiven‘ hin. Warum also ausgerechnet eine ‚literarische Formulierung‘ von einer möglicherweise ‚literarischen Situation‘ für uns heute in einer gänzlich anderen Situation relevant sein soll, das erschließt sich auf den ersten Blick keineswegs, vielleicht auch nicht auf einen zweiten Blick … was hat letztlich die Situation eines einzelnen Menschen, der machtlos vor dem Vertreter einer Staatsgewalt steht (wohlgemerkt: in einer literarisch fiktiven Situation), in die er sich durch sein eigenes Verhalten hinein manövriert hat, mit der Situation eines ganzen Volkes zu tun, das entgegen allen geltenden Verträgen und entgegen vorausgehenden russischen Beteuerungen plötzlich brutal überfallen wurde. Das tägliche brutale Zerstören und Ermorden seit nunmehr einem Jahr lässt unter normalen Menschen und bei Betrachtung der realen Geschehnisse keine zweite Deutung zu.

Dass eine liturgische Tradition unter Christen sich darin gefällt, den Leidensweg eines einzelnen Menschen zu betrachten (wo es täglich Millionen von Menschen gibt, die ähnlich oder noch furchtbarer leiden), mag ja sein, diese ‚fromme Übung‘ aber mit der brutalen Realität eines Vernichtungskriegs eines ganzen Volkes gleich zu setzen, erscheint mehr als grenzwertig.

Gewissheit der Kirche – Ungewissheit – Kontingenz

Die weitere Wortspielerei mit einer ‚Ungewissheit‘ angesichts der prinzipiellen ‚Kontingenz der Geschichte‘ und einer damit einhergehenden ‚Begrenztheit, weil wir Menschen‘ sind, und nicht Gott, klingt wie intellektueller Hohn angesichts von Menschen, die von anderen Menschen gegen ihren Willen mit brutalen Tötungen und unmenschlichen Gewalttaten überzogen werden, die weder ‚unsicher‘ noch ‚kontingent‘ sind sondern ‚brutal gewiss‘ und ‚brutal zwingend‘.

Dass wir Menschen unsere Welt — aus philosophischer Sicht! — als ‚unsicher‘ erleben können, als ‚kontingent‘, das verweist auf eine ‚Rahmenbedingung‘ unserer menschlichen Existenz, die nunmehr seit Anbeginn des Lebens auf dem Planeten Erde (seit ca. 3.5 Milliarden Jahren) gegeben ist. Diese Ungewissheit gehört zum Leben auf diesem Planeten, und Leben musste sich schon immer darin behaupten, und Herausforderungen, große Krisen, hohe Todesraten, bis hin zu 80 – 90% aller Lebensformen auf dem Planet Erde, gehören zu dieser ‚planetarischen Realität‘.

Wir selbst als Teil dieses planetarischen Lebens, gibt es nur, weil das Leben trotz anhaltender konkreter Bedrohungen sich immer wieder unter Aufbietung aller Fähigkeiten und aller Kraft dagegen gestemmt hat; dies schließt sehr oft mit ein, dass ganze Teile einer Population ihr eigenes Leben einsetzen mussten — und auch heute müssen — , um die Population als ganze für das weitere Leben zu retten![4]

Ja, Kontingenz, Ungewissheit gibt es, es ist eine Grundkonstante des Lebens auf diesem Planeten, diese Ungewissheit aber als ‚Ausrede‘ zu benutzen, um nichts zu tun, weil man ja etwas Falsches tun könnte, widerspricht der Erfahrung des Lebens auf dem Planeten von 3.5 Milliarden Jahren: nur weil das Leben zu allen Zeit massiv ‚ins Risiko gegangen‘ ist gerade weil man nicht wissen konnte, was kommt, gab es zu allen Zeiten eine hinreichend große ‚Risiko-Dividende‘, die ein Weiterleben — auch bei größten Änderungen der Umwelt — ermöglicht hat, zumindest bis heute. Wenn aber mit dem Vorwand eines ‚Pazifismus‘ genau jenes Ringen um Leben im Risiko gleichsam verhöhnt wird, dann stehen die Chancen für ein Weiterleben schlecht. Das grenzt dann an freiwillige ‚Selbstaufgabe‘ nur weil man möglicherweise ‚Angst‘ hat, das Wenige zu verlieren, was man gerade hat, was man aber auf jeden Fall verlieren wird, wenn man sich dem Unheil nicht entgegen stellt. Die egoistische Angst von einzelnen ist kein gutes Überlebensprinzip für das Überleben einer Population.

Die Unlogik der Unvollständigkeit

Es wundert nach all diesen bisherigen Überlegungen nicht, dass Frau Kurschus weitere ‚Tautologien‘ in ihrem Text benutzt.

So benutzt Sie auch eine Aussage, wie die, dass ‚keine Waffe allein den Frieden schaffen wird.‘ Noch etwas frappierender „Auch ein Sieg … schafft noch keinen Frieden.“ Bedenkt man, dass Sie an anderer Stelle die Kontingenz beschwört, die keine klaren Prognosen zulässt, so verwundert die in Worte gefasste Gewissheit, dass ‚Waffen‘ und ‚Siege‘ keinen Frieden bewirken können. Die Geschichte erzählt uns überwiegend das Gegenteil.

In diesen Beispielen deutet sich ein grundsätzliche Haltung von Frau Kurschus im Umgang mit Ungewissheit an: Wie in dem berühmten Beispiel von dem halb vollen Glas, das die einen als ‚eher voll‘, die anderen als ‚eher Leer‘ interpretieren, so nehmen die einen die durchgängige Ungewissheit und Unvollständigkeit als Argument, eher ’nichts‘ zu tun, man könnte ja Fehler machen, die anderen nehmen die durchgängige Ungewissheit und Unvollständigkeit als Argument, darum zu ringen, Ungewissheit und Unvollständigkeit so gut es geht zu ‚minimieren‘: angesichts einer sich ständig wandelnden Welt bedeutet ‚Stillstand‘ der Handelnden automatisch ‚Untergang‘. Ein schlechtes Wissen wird durch Abwarten nicht besser, sondern konstant schlechter. Stattfindendes Unheil muss man direkt bekämpfen, jedes Zögern verschlimmert es. Angst war noch nie ein guter Ratgeber.

In diesem Zusammenhang Worte von Jesus zu zitieren, die aus einem völlig anderen Kontext gerissen werden (der zudem in seinem Überlieferungsstatus — wie alle biblischen Texte — mehr oder weniger unklar ist), ist keine ernst zu nehmende Antwort. Es erscheint eher wie eine ‚Flucht aus der eigenen Verantwortung‘: Ja, man kann sich irren, man kann sogar Fehler machen, aber das Zitieren einer teils historischen, weitgehend literarischen Gestalt, deren Kontext in keiner Weise vergleichbar ist, ist auf jeden Fall Flucht aus der eigenen Verantwortung. Im übrigen ist seit Jahrtausenden klar, dass ‚Lernen‘ — der Erwerb von neuem Wissen für ein besseres Handeln — niemals gelingen kann, wenn nicht bewusst und systematisch Fehler in Kauf genommen werden. Ein aktuelles ‚Nicht-Wissen‘ kann man nur durch mutiges Handeln unter Risiko in ein ‚besseres Wissen‘ verwandeln; das Scheitern und Sterben sind im Erwerb von neuem Wissen inbegriffen. ‚Wahres Neues‘ gibt es niemals zum Nulltarif.

Na dann …

Da ‚Wahrheit‘ kein Gegenstand ist, der sich ‚einfach so aufdrängt‘, sondern nur ’sichtbar‘ werden kann, wenn wir in unsrem Fühlen und Denken jenen Sachverhalten Raum gewähren, die ‚wahre Gegebenheiten konstituieren‘, ist es zunächst einmal jedem freigestellt, zu denken und zu sagen, was er will.

Viele bezweifeln ja heute, dass es überhaupt so etwas wie ‚Freiheit‘ und ‚Wahrheit‘ gibt, aber eine Weise, wie sich die grundlegende Freiheit des Lebens manifestiert, besteht genau darin, dass niemand in seinem Denken ‚gezwungen‘ wird, etwas Bestimmtes zu Denken. Unter Menschen ist es zwar ein beliebter Sport, dass der eine dem anderen versucht, bestimmte Meinungen ‚einzureden‘ oder gar ‚vorzuschreiben‘, aber ‚die Wahrheit selbst‘ zwingt sich nicht auf. Wir müssen sie ‚aktiv suchen‘, wir müssen konkret darum ringen. Die Entstehung der modernen empirischen Wissenschaften ist ein sehr spätes Produkt der Evolution, genauso die Gesellschaftsform der Demokratie. Aber beide ‚Systeme von Verhaltensweisen‘ können jederzeit wieder in sich zusammenfallen, weil ihre ‚innere Dynamik‘ auf Freiheit basiert, und auf ein ‚aktives und tägliches Bemühen um Wahrheit‘. ‚Dummheit‘ treibt alleine vor sich hin, egal was einer tut, und ‚Diktaturen‘ versuchen mit Anwendung von vielerlei Gewaltmittel jenes Denken und Handeln zu erzwingen, was einige wenige meinen, als richtig erkannt zu haben. Dies kann aber niemals wahre Freiheit und darin verborgene Wahrheit ersetzen.

Die Kraft des Lebens zu ‚gelingen‘ ist zwar um Dimensionen größer als sich die einzelnen vorzustellen vermögen, aber ‚partielles Scheitern‘ — auch von ganzen Völkern — ist damit nicht ausgeschlossen. Freiheit ist eine nicht hintergehbare Realität, die bis ins letzte Zipfelchen unsere Energie-Materie Wirklichkeit verankert ist.

ANMERKUNGEN

(Letzte Änderung: 4.März 2023)

wkp-de : = Deutsche Wikipedia

wkp-en: Englische Wikipedia

[1] Siehe FAZ, 24.Februar 2023, S.8., Annette Kurschus, „Keine Pflicht zu radikalem Pazifismus“, Dieser Text ist im Prinzip weitgehend ‚austauschbar‘ mit vielen anderen, die in diesen Monaten in Verbindung mit dem Begriff ‚Pazifismus‘ veröffentlicht werden. Allerdings enthält er das besondere Merkmal eines zusätzlichen Bezugs zum (evangelischen) Christentum.

[2] Siehe ‚ecce homo‘ in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Ecce_homo; etwas ausführlicher ‚ecce homo‘ in der wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Ecce_homo. Anmerkung: Überlieferungsgeschichtlich werden sogar für die Zeit vor der
Verschriftlichung noch andere lokal übliche Sprachformen angenommen

[3] Siehe ‚Das Johannesevangelium‘ in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Evangelium_nach_Johannes

[4] Haben wir schon jetzt vergessen, was notwendig war, um das menschenverachtende Machtstreben und die Tötungsorgien eines Hitler und seiner Unterstützer aufzuhalten? Waren die vielen Millionen Menschen, die ihr Leben geopfert haben, um dem Wahnsinn eines Hitlers Einhalt zu bieten, irregeleitet‘, ‚Friedensstörer‘, letztlich die eigentlichen ‚Kriegstreiber‘ und damit in den Augen von Menschen, die sich Christen nennen, ‚Ungläubige‘? Immerhin gab und gibt es ja zu allen Zeiten — auch heute — genügend viele Menschen, die sich Christen nennen, brutale Kriege richtig finden, und darin sogar einen ‚heiligen Dienst‘ sehen.

Lesetip 1: Das Thema des ‚Paradigmenwechsels‘, das sich im Umgang mit Begriffen wie ‚Pazifismus‘ heute vielfach in der Gesellschaft findet, finde ich in dem Artikel von Daniel Strassberg „Wenn Weltbilder wackeln“ sehr gut in Szene gesetzt: https://www.republik.ch/2023/02/28/strassberg-wenn-weltbilder-wackeln

Lesetip 2: Ein sehr aufschlussreiches Interview in der Frankfurter Rundschau vom 4./5. März 2023, S.32f, mit Jörn Leonhard, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, der zwei Bücher zum Umfeld des ersten Weltkriegs veröffentlicht hat, in denen es genau auch um die Fragen geht ‚Wann ein geeigneter Zeitpunkt gewesen wäre‘, einen Frieden zu schließen und warum der spätere ‚Friedensvertrag‘ mehrfache Keime für die nachfolgenden Konflikte und dann den zweiten Weltkrieg in sich trug. Wenn Putin aufgrund seines sehr speziellen Geschichtsbildes imperialen Zielen folgt und er seine Position gegenüber ’seinem Volk‘ an einen Sieg über jene knüpft, die er als ‚Feinde‘ einstuft‘, dann kann es keinen wirklichen Frieden geben, bevor er, Putin, sein Ziel auf seine Weise nicht eingelöst hat. Die Zahl der Toten spielt für ihn — genauso wenig wie für die Deutsche Generalität im ersten Weltkrieg — keine Rolle, solange noch die geringste Hoffnung besteht, das eigene Ziel zu erreichen.

DER AUTOR

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GRAMMATIK FÜR EINE NACHHALTIGE ENTWICKLUNG. Skizze

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 20.Februar 2023 – 20.Februar 2023, 15:38h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

(For an English Version see HERE)

Kontext

Der folgende Text ist ein Zusammenfluss von Ideen, die mich seit vielen Monaten umtreiben. Teile davon finden sich als Texte in allen drei Blogs (Bürgerwissenschaft 2.0 für Nachhaltige Entwicklung, Integrated Engineering and the Human Factor, Philosophie jetzt (= dieser Blog)). Die Wahl des Wortes ‚Grammatik‘ [1] für den folgenden Text ist eher ungewöhnlich, scheint mir aber den Charakter der Überlegungen gut wieder zu spiegeln.

Nachhaltigkeit für Populationen

Das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung wird hier betrachtet im Kontext von ‚biologischen Populationen‘. Solche Populationen sind dynamische Gebilde mit vielen ‚komplexen Eigenschaften‘. Für die Analyse der ‚Nachhaltigkeit‘ solcher Populationen gibt es einen Aspekt, der ‚fundamental‘ für ein angemessenes Verständnis erscheint. Es handelt sich um den Aspekt, ob und wie die Mitglieder einer Population — die Akteure — untereinander verbunden sind oder nicht.

Eine ‚unverbundene‘ Menge

Wenn ich ‚Akteure‘ einer ‚Population‘ habe, die in keinerlei direkter ‚Interaktion‘ miteinander stehen, dann ist auch das ‚Handeln‘ dieser Akteure voneinander isoliert. In einem weiten Gebiet kommen sie sich einander vermutlich ’nicht in die Quere‘; auf engstem Raum könnten sie sich leicht behindern oder gar wechselseitig bekämpfen, bis hin zur gegenseitigen Zerstörung.

Festzuhalten ist, dass auch solche unverbundene Akteure über ein minimales ‚Wissen‘ über sich und die Umgebung verfügen müssen, auch über minimale ‚Emotionen‘, um überhaupt leben zu können.

Ohne direkte Interaktion wird eine unverbundene Population als Population relativ schnell dennoch aussterben.

Eine ‚verbundene‘ Menge

Eine ‚verbundene Menge‘ liegt vor, wenn die Akteure einer Population über hinreichend viele direkte Interaktion verfügen, durch die sie ihr Wissen über sich und die Welt sowie ihre Emotionen soweit ‚abstimmen‘ könnten, dass sie zu einem ‚abgestimmten Handeln‘ fähig sind. Dadurch werden die einzelnen, individuellen Handlungen bezogen auf ihre mögliche Wirkung zu einer ‚gemeinsamen (= sozialen) Handlung‘ die mehr bewirken kann, als jeder einzeln es vermocht hätte.

Die beteiligten ‚Emotionen‘ müssen eher so sein, dass sie weniger ‚abgrenzen/ ausschließen‘, als vielmehr eher ‚einbeziehen/ anerkennen‘.

Das ‚Wissen‘ muss eher so sein, dass es nicht ’statisch‘ und nicht ‚unrealistisch‘ ist, sondern vielmehr ‚offen‘, ‚lernend‘ und ‚realistisch‘.

Das ‚Überleben‘ einer verbundenen Population ist grundsätzlich möglich, wenn die wichtigsten ‚Faktoren‘ eines Überlebens hinreichend erfüllt sind.

Übergänge von – zu

Der ‚Übergang‘ von einem ‚unverbundenen‘ zu einem ‚verbundenen‘ Zustand einer Population ist nicht zwangsläufig. Das primäre Motiv ist möglicherweise einfach der ‚Wille zum Überleben‘ (eine Emotion), und die wachsende ‚Einsicht‘ (= Wissen), dass dies nur bei ‚minimaler Kooperation‘ möglich ist. Ein einzelner kann allerdings Zeit seines Lebens im Zustand des ‚Einzelgängers‘ leben, weil er seinen individuellen Tod nicht als hinreichenden Grund erleben muss, sich mit anderen zu verbünden. Eine Population als solche kann aber nur überleben, wenn hinreichend viele einzelne überleben, die minimal miteinander interagieren. Die Geschichte des Lebens auf dem Planet Erde legt die Arbeitshypothese nahe, dass es in biologischen Populationen (einschließlich der menschlichen Population) seit 3.5 Milliarden Jahren immer hinreichend viele Mitglieder einer Population gegeben hat, die den ’selbst zerstörerischen Tendenzen‘ einzelner ein ‚aufbauende Tendenz‘ entgegen setzen konnten.

Das Entstehen und der Erhalt einer ‚verbundenen Population‘ benötigt zum Gelingen ein Minimum an ‚geeignetem Wissen‘ und ‚geeigneten Emotionen‘.

Es ist für alle biologischen Populationen eine bleibende Herausforderung, die eigenen Emotionen so zu gestalten, dass sie tendenziell eher nicht ausgrenzen, verachten, sondern tendenziell eher einbeziehen und anerkennen. Desgleichen muss das Wissen geeignet sein, ein realistisches Bild von sich, den anderen und der Umwelt zu erlangen, damit das jeweilige Verhalten ’sachlich angemessen‘ ist und tendenziell eher zum ‚Erfolg‘ führen kann.

Wie die Geschichte der menschlichen Population zeigt, wird sowohl die ‚Formung der Emotionen‘ wie die ‚Formung eines leistungsfähigen Wissens‘ in der Regel weitgehend unterschätzt und schlecht bis gar nicht organisiert. Es wird der notwendige ‚Aufwand‘ gescheut, man unterschätzt die notwendige ‚Dauer‘ solcher Prozesse. Innerhalb des Wissens gibt es zusätzlich das generelle Problem, dass die ‚kurzen Zeitspannen‘ innerhalb eines individuellen Lebens ein Hindernis sind, solche Prozesse dort zu erkennen und zu gestalten, wo größere Zeitspannen dies erfordern (das betrifft fast alle ‚wichtigen‘ Prozesse).

Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass ‚verbundene Zustände‘ von Populationen jederzeit auch wieder in sich zusammen fallen können, wenn jene Verhaltensweisen, die sie ermöglichen, abgeschwächt werden oder ganz verschwinden. Zusammenhänge im Bereich biologischer Populationen sind weitgehend ’nicht determiniert‘! Sie beruhen auf komplexen Prozessen in und zwischen den einzelnen Akteuren. Ganze Gesellschaften können ‚über Nacht kippen‘, wenn ein Ereignis das ‚Vertrauen in den Zusammenhang‘ zerstört. Ohne Vertrauen ist keinerlei Zusammenhang möglich. Das Entstehen und das Vergehen von Vertrauen sollte zum Grundanliegen jeder Gesellschaft im Zustand des Verbundenseins gehören.

Politische Spielregeln

‚Politik‘ umfasst die Gesamtheit der Regelungen, die die Mitglieder einer menschlichen Population vereinbaren, um gemeinsam verbindliche Entscheidungsprozesse zu organisieren.[2] In einer groben Skala könnte man zwei Extremwerte platzieren: (i) Einerseits eine Population mit einem ‚demokratischen System‘ [3] und eine Population mit einem maximal un-demokratischen System.[4]

Wie schon generell für ‚verbundene Systeme‘ angemerkt: das Gelingen von demokratischen Systeme ist in keiner Weise determiniert. Ermöglichung und Erhalt erfordern den totalen Einsatz aller Beteiligten ‚aus eigener Überzeugung‘.

Grundrealität ‚Körperlichkeit‘

Biologische Populationen sind grundlegend geprägt von einer ‚Körperlichkeit‘, die durch und durch von ‚Gesetzmäßigkeiten‘ der bekannten materiellen Strukturen bestimmt sind. In ihren ‚komplexen Ausgestaltungen‘ manifestieren biologische Systeme zwar auch ‚komplexe Eigenschaften‘, die sich nicht einfach aus ihren ‚Einzelteilen‘ ableiten lassen, aber die jeweiligen identifizierbaren ‚materiellen Bestandteile‘ ihres ‚Körpers‘ samt vieler ‚funktionalen Zusammenhänge‘ unterliegen grundlegend einer Vielzahl von ‚Gesetzen‘ die ‚vorgegeben‘ sind. Diese ‚abzuändern‘ ist — wenn überhaupt — nur unter bestimmten begrenzten Bedingungen möglich.

Alle biologischen Akteure bestehen aus ‚biologischen Zellen‘, die für alle gleich sind. Hierin sind die menschlichen Akteure Teil der Gesamtentwicklung des (biologischen) Lebens auf dem Planet Erde. Die Gesamtheit des (biologischen) Lebens nennt man auch ‚Biom‘ und den gesamten Lebensraum eines Bioms auch ‚Biosphäre‘. [5] Die Population des homo sapiens ist nur ein verschwindend kleiner Teil des Bioms, beansprucht aber mit der homo-sapiens typischen Lebensweise immer größere Teile der Biosphäre für sich zu Lasten aller anderen Lebensformen.

Das (biologische) Leben findet seit ca. 3.5 Milliarden Jahren auf dem Planet Erde statt.[6] Die Erde, als Teil des Sonnensystems [7], hatte eine sehr bewegte Geschichte und zeigt bis heute eine starke Dynamik, die sich unmittelbar auf die Lebensbedingungen des biologischen Lebens auswirkten kann und auswirkt (Kontinentalplatten-Verschiebung, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Magnetfeld-Verschiebung, Meeresströmungen, Klima, …).

Biologische Systeme benötigen generell eine kontinuierliche Aufnahme von materiellen Stoffen (mit Energiepotentialen), um ihre eigenen Stoffwechselprozesse zu ermöglichen. Sie scheiden auch Stoffe aus. Menschliche Populationen brauchen bestimmte Mengen an ‚Nahrungsmitteln‘, ‚Wasser‘, ‚Behausungen‘, ‚Lagerstätten‘, ‚Transportmittel‘, ‚Energie‘, … ‚Rohstoffe‘, … ‚Produktionsprozesse‘, ‚Austauschprozesse‘ … Mit dem Anwachsen der schieren Größe einer Population multiplizieren sich die materiellen Bedarfsmengen (und auch Abfälle) in Größenordnungen, die das Funktionieren der Biosphäre zerstören können.

Prognosefähiges Wissen

Wenn eine zusammenhängende Population mögliche zukünftige Zustände nicht dem puren Zufall überlassen will, dann braucht sie ein ‚Wissen‘, das geeignet ist, aus dem Wissen über die Gegenwart und über die Vergangenheit ‚Voraussagen‘ (‚Prognosen‘) für eine mögliche Zukunft (oder sogar vielen ‚Varianten von Zukunft‘) zu konstruieren.

In der bisherigen Geschichte des homo sapiens gibt es nur eine Wissensform, mit der nachweisbar demonstriert werden konnte, dass sie für belastbare nachhaltige Prognosen geeignet ist: die Wissensform der empirischen Wissenschaften. [8] Diese Wissensform ist bislang nicht perfekt, aber eine bessere Alternative ist nicht bekannt. Im Kern umfasst ‚empirisches Wissen‘ die folgenden Elemente: (i) Die Beschreibung einer Ausgangslage, die als ‚empirisch zutreffend‘ angenommen wird; (ii) Eine Menge von ‚Beschreibungen von Veränderungsprozessen‘, die man im Laufe der Zeit formulieren konnte, und von denen man weiß, dass es ‚hoch wahrscheinlich‘ ist, dass die beschriebenen Veränderungen unter bekannten Bedingungen immer wieder stattfinden; (iii) ein ‚Folgerungskonzept‘, das beschreibt, wie man auf die Beschreibung einer ‚gegebene aktuelle Situation‘ die bekannten Beschreibungen von Veränderungsprozessen so anwenden kann, dass man die Beschreibung der aktuellen Situation so abändern kann, dass eine ‚veränderte Beschreibung‘ entsteht, die eine neue Situation beschreibt, die als ‚hoch wahrscheinliche Fortsetzung‘ der aktuellen Situation in der Zukunft gelten kann.[9]

Die eben skizzierte ‚Grundidee‘ einer empirischen Theorie mit Prognosefähigkeit kann man konkret auf vielerlei Weise realisieren. Dies zu untersuchen und zu beschreiben ist Aufgabe der ‚Wissenschaftstheorie‘ bzw. ‚Wissenschaftsphilosophie‘. Allerdings, die Vagheiten, die sich im Umgang mit dem Begriff einer ‚empirischen Theorie‘ finden, finden sich auch im Verständnis dessen, was denn mit ‚Wissenschaftstheorie‘ gemeint sein soll.[10]

In dem vorliegenden Text wird die Auffassung vertreten, dass der ‚Grundbegriff‘ einer empirischen Theorie sich im normalen Alltagshandeln unter Benutzung der Alltagssprache vollständig realisieren lässt. Dieses Konzept einer ‚Allgemeinen Empirischen Theorie‘ kann man nach Bedarf durch beliebige spezielle Sprachen, Methoden und Teiltheorien erweitern. Damit ließe sich das bislang ungelöste Problem der vielen verschiedenen empirischen Einzeldisziplinen nahezu von selbst lösen.[11]

Nachhaltiges Wissen

Im Normalfall kann eine empirische Theorie im günstigsten Fall Prognosen generieren, denen eine gewisse empirisch begründete Wahrscheinlichkeit zugesprochen werden kann. In ‚komplexen Situationen‘ kann solch eine Prognose viele ‚Varianten‘ umfassen: A, B, …, Z. Welche dieser Varianten nun im Lichte eines ‚anzunehmenden Kriteriums‘ ‚besser‘ oder schlechter‘ ist, kann eine empirische Theorie selbst nicht bestimmen. Hier sind die ‚Produzenten‘ und die ‚Benutzer‘ der Theorie gefragt: Verfügen diese über irgendwelche ‚Präferenzen warum z.B. die Variante ‚B‘ der Variante ‚C‘ vorzuziehen sei‘?: „Fahrrad, U-Bahn, Auto oder Flugzeug?“ , „Gentechnik oder nicht?“, „Pestizide oder nicht?“, „Atomenergie oder nicht?“, „Unkontrollierter Fischfang oder nicht?“ …

Die zur Anwendung kommenden ‚Bewertungskriterien‘ verlangen selbst eigentlich einerseits nach ‚explizitem Wissen‘ zur Abschätzung eines möglichen ‚Nutzens‘, andererseits ist der Begriff des ‚Nutzens‘ verankert im Fühlen und Wollen von menschlichen Akteuren: Warum genau will ich etwas? Warum ‚fühlt sich etwas gut an‘? …

Die aktuellen Diskussionen weltweit zeigen, dass das Arsenal der ‚Bewertungskriterien‘ und ihre Umsetzung alles andere als ein klares Bild bieten.

ANMERKUNGEN

[1] Für die typische Verwendung des Begriffs ‚Grammatik‘ siehe die Deutsche Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Grammatik. In dem Text hier im Blog übertrage ich dieses Konzept von der ‚Sprache‘ auf jenen ‚komplexen Prozess‘, in dem die Population der Lebensform ‚homo sapiens‘ versucht, auf dem Planet Erde einen ‚Gesamtzustand‘ zu erreichen, der für möglichst viel ‚Leben‘ (mit den Menschen als Teilpopulation) eine ‚maximal gute Zukunft‘ ermöglicht. Eine ‚Grammatik der Nachhaltigkeit‘ setzt eine bestimmte Menge von Grundgegebenheiten, Faktoren voraus, die in einem dynamischen Prozess miteinander ‚wechselwirken‘, um in einer ‚Folge von Zuständen‘ möglichst viele Zustände realisiert, die für möglichst viele ein möglichst gutes Leben ermöglichen.

[2] Für die typische Verwendungsweise des Begriffs Politik siehe die Deutsche Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Politik. Diese Bedeutung wird in dem vorliegenden Text hier auch vorausgesetzt.

[3] Ein sehr aufschlussreiches Projekt zur empirischen Forschung zum Zustand und zur Entwicklung von ‚empirischen Systemen’Demokratien‘ auf dem Planet Erde ist das V-dem Institut: https://www.v-dem.net/

[4] Natürlich könnte man auch ganz andere Grundbegriffe für eine Skala wählen. Mit erscheint aber das Konzept eines ‚demokratischen Systems‘ (bei allen Schwächen) im Lichte der Anforderungen für eine nachhaltige Entwicklung als das ‚geeignetste‘ System zu sein; zugleich stellt es aber von allen System die höchsten Anforderungen an alle Beteiligten. Dass es überhaupt zur Ausbildung von ‚Demokratie ähnlichen‘ Systemen im Laufe der Geschichte kam, grenzt eigentlich fast an ein Wunder. Die weitere Entwicklung solcher Demokratie ähnlicher Systeme schwankt beständig zwischen Erhalt und Zerfall. Positiv könnte man sagen, dass das beständige Ringen um den Erhalt eine Art ‚Training‘ ist, um eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen.

[5] Für die typischen Verwendungsweisen der Begriffe ‚Biom‘ und ‚Biosphäre‘ siehe die entsprechenden Einträge in der Deutschen Wikipedia: Biom (https://de.wikipedia.org/wiki/Biom) und Biosphäre (https://de.wikipedia.org/wiki/Biosph%C3%A4re).

[6] Einige Grunddaten zur Erde: https://de.wikipedia.org/wiki/Erde

[7] Einige Grunddaten zum Sonnensystem: https://de.wikipedia.org/wiki/Sonnensystem

[8] Der Begriff der ‚empirischen Wissenschaft‘ wird in der Deutschen Wikipedia sehr unterbestimmt dargestellt: https://de.wikipedia.org/wiki/Empirie#Empirische_Wissenschaften. Die englische Wikipedia ist hier auch nicht besser: https://en.wikipedia.org/wiki/Science. Der Begriff ‚empirische Wissenschaft‘ kommt erst gar nicht vor, nur der vage Begriffe ‚Science‘ (‚Wissenschaft‘).

[9] Wenn man eine Uhr mit Stunden- und Minutenzeiger besitzt, die aktuell 11:04h anzeigt, und man aus alltäglicher Erfahrung weiß, dass der Minutenzeiger jede Minute um einen Strich vorrückt, dann kann man mit einer ziemlich hohen Wahrscheinlichkeit folgern, dass der Minutenzeiger ’sehr bald‘ um einen Strich weiter wandert. Die Ausgangsbeschreibung ‚Die Uhr zeigt 11.04h an‘ würde dann zu der der neuen Beschreibung ‚Die Uhr zeigt 11:05h an‘ verändert werden können. Vor dem ’11:05h Ereignis‘ hätte die Aussage ‚Die Uhr zeigt 11:05h an‘ den Status einer ‚Prognose‘.

[10] In dem Übersichtsartikel in der Deutschen Wikipedia zum Begriff ‚Wissenschaftstheorie‘ (https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftstheorie) findet man eine große Zahl von Varianten zum Begriff, aber wichtige Teilgebiete, erste Recht nicht die Grundstruktur empirischer Theorien, findet man in diesem Artikel nicht. Etwas klarer erscheint hier die Englische Wikipedia, wenngleich auch sie neben dem großen Panorama keine alles zusammenfassende Arbeitshypothese für das bietet, was denn ‚empirische Wissenschaft‘ ist: https://en.wikipedia.org/wiki/Philosophy_of_science

[11] ‚Aus sich heraus‘ kann eine Einzeldisziplin (Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, …) nicht ‚das Ganze‘ begrifflich fassen; muss sie ja auch nicht. Die verschiedenen Versuche, irgendeine Einzeldisziplin auf eine andere (besonders beliebt ist hier die Physik) zu ‚reduzieren‘, sind bislang alle gescheitert. Ohne eine geeignete ‚Meta-Theorie‘ kann keine Einzeldisziplin sich aus ihrer Spezialisierung befreien. Das Konzept einer ‚Allgemeinen Empirischen Theorie‘ versteht sich als solch eine Meta-Theorie. Eine solche Meta-Theorie passt in das Konzept eines modernen philosophischen Denkens.

DER AUTOR

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chatGPT – Wie besoffen muss man sein?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 13.Februar 2023 – 17.April 2023
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

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Seit der Freigabe des chatbots ‚chatGPT‘ für die größere Öffentlichkeit geht eine Art ‚Erdbeben‘ durch die Medien, weltweit, in vielen Bereichen, vom Privatpersonen über Institutionen, Firmen, Behörden …. jeder sucht das ‚chatGPT Erlebnis‘. Diese Reaktionen sind erstaunlich, und erschreckend zugleich.

Anmerkung: In meinem Englischen Blog hatte ich nach einigen Experimenten mit chatGPT eine erste Reflexion über den möglichen Nutzen von chatGPT geschrieben. Mir hatte es für ein erstes Verständnis geholfen; dieses hat sich dann bis zu dem Punkt weiterentwickelt, der im vorliegenden Text zum Ausdruck kommt.[6]

Form

Die folgenden Zeilen bilden nur eine kurze Notiz, da es sich kaum lohnt, ein ‚Oberflächenphänomen‘ so intensiv zu diskutieren, wo doch die ‚Tiefenstrukturen‘ erklärt werden sollten. Irgendwie scheinen die ‚Strukturen hinter chatGPT‘ aber kaum jemanden zu interessieren (Gemeint sind nicht die Details des Quellcodes in den Algortihmen).

chatGPT als Objekt

Der chatbot mit Namen ‚chatGPT‘ ist ein Stück Software, ein Algorithmus, der (i) von Menschen erfunden und programmiert wurde. Wenn (ii) Menschen ihm Fragen stellen, dann (iii) sucht er in der ihm bekannten Datenbank von Dokumenten, die wiederum Menschen erstellt haben, (iv) nach Textmustern, die nach bestimmten formalen Kriterien (z.T. von den Programmierern vorgegeben) einen Bezug zur Frage aufweisen. Diese ‚Textfunde‘ werden (v) ebenfalls nach bestimmten formalen Kriterien (z.T. von den Programmierern vorgegeben) in einen neuen Text ‚angeordnet‘, der (vi) jenen Textmustern nahe kommen soll, die ein menschlicher Leser ‚gewohnt‘ ist, als ’sinnvoll‘ zu akzeptieren.

Textoberfläche – Textbedeutung – Wahrheitsfähig

Ein normaler Mensch kann — mindestens ‚intuitiv‘ — unterscheiden zwischen den (i) ‚Zeichenketten‘, die als ‚Ausdrücke einer Sprache‘ benutzt werden, und jenen (ii) ‚Wissenselementen‘ (im Kopf des Hörer-Sprechers), die als solche ‚unabhängig‘ sind von den Sprachelementen, aber die (iii) von Sprechern-Hörer einer Sprache ‚frei assoziiert‘ werden können, so dass die korrelierten ‚Wissenselemente zu dem werden, was man gewöhnlich die ‚Bedeutung‘ der Sprachelemente nennt.[1] Von diesen Wissenselementen (iv) ‚weiß‘ jeder Sprachteilnehmer schon ‚vorsprachlich‘, als lernendes Kind [2], dass einige dieser Wissenselemente unter bestimmten Umständen mit Umständen der Alltagswelt ‚korrelierbar‘ sind. Und der normale Sprachbenutzer verfügt auch ‚intuitiv‘ (automatisch, unbewusst) über die Fähigkeit, solche Korrelation — im Lichte des verfügbaren Wissens — einzuschätzen als (v) ‚möglich‘ oder (vi) als eher ‚unwahrscheinlich‘ bzw. (vi) als ‚bloße Fantasterei‘.[3]

Die grundlegende Fähigkeit eines Menschen, eine ‚Korrelation‘ von Bedeutungen mit (intersubjektiven) Umweltgegebenheiten feststellen zu können, nennen — zumindest einige — Philosophen ‚Wahrheitsfähigkeit‘ und im Vollzug der Wahrheitsfähigkeit spricht man dann auch von ‚zutreffenenden‘ sprachlichen Äußerungen oder von ‚wahren (empirischen) Aussagen‘.[5]

Unterscheidungen wie ‚zutreffend‘ (‚wahr‘), ‚möglicherweise zutreffend‘, ‚eher nicht zutreffend‘ oder ‚auf keinen Fall zutreffend‘ deuten an, dass der Wirklichkeitsbezug menschlicher Wissenselemente sehr vielfältig und ‚dynamisch‘ ist. Etwas, das gerade noch zutreffend war, kann im nächsten Moment nicht mehr zutreffend sein. Etwas, das lange als ‚bloße Fantasterei‘ abgetan wurde, kann dann doch plötzlich als ‚möglich‘ erscheinen oder ‚trifft plötzlich zu‘. Sich in diesem ‚dynamisch korrelierten Bedeutungsraum‘ so zu bewegen, dass eine gewisse ‚innere und äußere Konsistenz‘ gewahrt bleibt, stellt eine komplexe Herausforderung dar, die von Philosophie und den Wissenschaften bislang eher nicht ganz verstanden, geschweige denn auch nur annähernd ‚erklärt‘ worden ist.

Fakt ist: wir Menschen können dies bis zu einem gewissen Grad. Je komplexer der Wissensraum ist, je vielfältiger die sprachlichen Interaktion mit anderen Menschen werden, umso schwieriger wird es natürlich.

‚Luftnummer‘ chatGPT

(Letzte Änderung: 15.Februar 2023, 07:25h)

Vergleicht man den chatbot chatGPT mit diesen ‚Grundeigenschaften‘ des Menschen, dann kann man erkennen, dass chatGPT nichts von alledem kann. (i) Fragen kann er von sich aus nicht sinnvoll stellen, da es keinen Anlass gibt, warum er fragen sollte (es sei denn, jemand induziert ihm eine Frage). (ii) Textdokumente (von Menschen) sind für ihn Ausdrucksmengen, für die er über keine eigenständigen Bedeutungszuordnung verfügt. Er könnte also niemals eigenständig die ‚Wahrheitsfrage‘ — mit all ihren dynamischen Schattierungen — stellen oder beantworten. Er nimmt alles für ‚bare Münze‘ bzw. man sagt gleich, dass er ’nur träumt‘.

Wenn chatGPT aufgrund seiner großen Text-Datenbank eine Teilmenge von Ausdrücken hat, die irgendwie als ‚wahr‘ klassifiziert sind, dann kann der Algorithmus ‚im Prinzip‘ indirekt ‚Wahrscheinlichkeiten‘ ermitteln, die andere Ausdrucksmengen, die nicht als ‚wahr‘ klassifiziert sind, dann doch ‚mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit‘ als ‚wahr erscheinen‘
lassen. Ob der aktuelle chatGPT Algorithmus solche ‚wahrscheinlichen Wahrheiten explizit‘ benutzt, ist unklar. Im Prinzip übersetzt er Texte in ‚Vektorräume‘, die auf verschiedene Weise ‚ineinander abgebildet‘ werden, und Teile dieser Vektorräume werden dann wieder in Form eines ‚Textes‘ ausgegeben. Das Konzept ‚Wahrheit‘ taucht in diesen mathematischen Operationen — nach meinem aktuellen Kenntnisstand — nicht auf. Wenn, dann wäre es auch nur der formale logische Wahrheitsbegriff [4]; dieser liegt aber mit Bezug auf die Vektorräume ‚oberhalb‘ der Vektorräume, bildet in Bezug auf diese einen ‚Meta-Begriff‘. Wollte man diesen auf die Vektorräume und Operationen auf diesen Vektorräumen tatsächlich anwenden, dann müsste man den Code von chatGPT komplett neu schreiben. Würde man dies tun — das wird aber keiner schaffen — dann würde sich der Code von chatGPT dem Status einer formalen Theorie nennen (wie in der Mathematik) (siehe Anmerkung [5]). Von einer empirischen Wahrheitsfähigkeit wäre chatGPT dann immer noch meilenweit entfernt.

Hybride Scheinwahrheiten

Im Anwendungsfall, bei dem der Algorithmus mit Namen ‚chatGPT‘ Ausdrucksmengen benutzt, die den Texten ähneln, die Menschen produzieren und lesen, navigiert sich chatGPT rein formal und mit Wahrscheinlichkeiten durch den Raum der formalen Ausdruckselemente. Ein Mensch, der die von chatGPT produzierten Ausdrucksmengen ‚liest‘, aktiviert aber automatisch (= unbewusst!) sein eigenes ’sprachliches Bedeutungswissen‘ und projiziert dieses in die abstrakten Ausdrucksmenge von chatGBT. Wie man beobachten kann (und hört und liest von anderen), sind die von chatGBT produzierten abstrakten Ausdrucksmengen dem gewöhnten Textinput von Menschen in vielen Fällen — rein formal — so ähnlich, dass ein Mensch scheinbar mühelos seine Bedeutungswissen mit diesen Texten korrelieren kann. Dies hat zur Folge, dass der rezipierende (lesende, hörende) Mensch das ‚Gefühl‘ hat, chatGPT produziert ’sinnvolle Texte‘. In der ‚Projektion‘ des lesenden/hörenden Menschen JA, in der Produktion von chatGPT aber NEIN. chatGBT verfügt nur über formale Ausdrucksmengen (kodiert als Vektorräume), mit denen er ‚blind‘ herumrechnet. Über ‚Bedeutungen‘ im menschlichen Sinne verfügt er nicht einmal ansatzweise.

Zurück zum Menschen?

(Letzte Änderung: 27.Februar 2023)

Wie leicht sich Menschen von einer ‚fake-Maschine‘ so beeindrucken lassen, dass sie dabei sich selbst anscheinend vergessen und sich ‚dumm‘ und ‚leistungsschwach‘ fühlen, obgleich die Maschine nur ‚Korrelationen‘ zwischen menschlichen Fragen und menschlichen Wissensdokumenten rein formal herstellt, ist eigentlich erschreckend [7a,b], und zwar mindestens in einem doppelten Sinne: (i)Statt die eigene Potentiale besser zu erkennen (und zu nutzen), starrt man gebannt wie das berühmte ‚Kaninchen auf die Schlange‘, obgleich die Maschine immer noch ein ‚Produkt des menschlichen Geistes‘ ist. (ii) Durch diese ‚kognitive Täuschung‘ wird versäumt, das tatsächlich ungeheure Potential ‚kollektiver menschlicher Intelligenz‘ besser zu verstehen, das man dann natürlich durch Einbeziehung moderner Technologien um mindestens einen evolutionären Level weiter voran bringen könnte. Die Herausforderung der Stunde lautet ‚Kollektiver Mensch-Maschine Intelligenz‘ im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung mit Priorität bei der menschlichen kollektiven Intelligenz. Die aktuelle sogenannte ‚Künstliche (= maschinelle) Intelligenz‘ sind ziemlich primitive Algorithmen. Integriert in eine entwickelte ‚kollektive menschliche Intelligenz‘ könnten ganz andere Formen von ‚Intelligenz‘ realisiert werden, solche, von denen wir aktuell höchstens träumen können.

Kommentierung weiterer Artikel von anderen Autoren zu chatGPT

(Letzte Änderung: 17.April 2023)

Achtung: Einige der Text in den Anmerkungen sind aus dem Englischen zurück übersetzt worden. Dies geschah unter Benutzung der Software www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version).

Siehe [8], [9], [10], [12],[13],[14],[15]

Anmerkungen

[1] In den vielen tausend ’natürlichen Sprachen‘ dieser Welt kann man beobachten, wie ‚erfahrbare Umweltgegebenheiten‘ über die ‚Wahrnehmung‘ zu ‚Wissenselementen‘ werden können, die dann in jeder Sprache mit unterschiedlichen Ausdrücken korreliert werden. Die Sprachwissenschaftler (und Semiotiker) sprechen daher hier von ‚Konventionen‘, ‚frei vereinbarte Zuordnungen‘.

[2] Aufgrund der körperlichen Interaktion mit der Umgebung, die ‚Wahrnehmungsereignisse‘ ermöglicht, die von den ‚erinnerbaren und gewussten Wissenselementen‘ unterscheidbar sind.

[3] Die Einstufung von ‚Wissenselementen‘ als ‚Fantasterei‘ kann falsch sein, wie viele Beispiele zeigen, wie umgekehrt, die Einstufung als ‚wahrscheinlich korrelierbar‘ auch falsch sein kann!

[4] Nicht der ‚klassischen (aristotelischen) Logik‘ da diese noch keine strenge Trennung von ‚Form‘ (Ausdruckselementen) und ‚Inhalt‘ (Bedeutung) kannte.

[5] Es gibt auch Kontexte, in denen spricht man von ‚wahren Aussagen‘, obgleichgar keine Beziehung zu einer konkreten Welterfahrung vorliegt. So z.B. im Bereich der Mathematik, wo man gerne sagt, dass eine Aussage ‚wahr‘ ist. Dies ist aber eine ganz ‚andere Wahrheit‘. Hier geht es darum, dass im Rahmen einer ‚mathematischen Theorie‘ bestimmte ‚Grundannahmen‘ gemacht wurden (die mit einer konkreten Realität nichts zu tun haben müssen), und man dann ausgehend von diesen Grundannahmen mit Hilfe eines formalen Folgerungsbegriffs (der formalen Logik) andere Aussagen ‚ableitet‘. Eine ‚abgeleitete Aussage‘ (meist ‚Theorem‘ genannt), hat ebenfalls keinerlei Bezug zu einer konkreten Realität. Sie ist ‚logisch wahr‘ oder ‚formal wahr‘. Würde man die Grundannahmen einer mathematischen Theorie durch — sicher nicht ganz einfache — ‚Interpretationen‘ mit konkreter Realität ‚in Beziehung setzen‘ (wie z.B. in der ‚angewandten Physik‘), dann kann es unter speziellen Bedingungen sein, dass die formal abgeleiteten Aussagen einer solchen ‚empirisch interpretierten abstrakten Theorie‘ eine ‚empirische Bedeutung‘ gewinnen, die unter bestimmten Bedingungen vielleicht ‚korrelierbar‘ ist; dann würde man solche Aussagen nicht nur ‚logisch wahr‘ nennen, sondern auch ‚empirisch wahr‘. Wie die Geschichte der Wissenschaft und der Wissenschaftsphilosophie zeigt, ist der aber ‚Übergang‘ von empirisch interpretierten abstrakten Theorien zu empirisch interpretierbaren Folgerungen mit Wahrheitsanspruch nicht trivial. Der Grund liegt im benutzten ‚logischen Folgerungsbegriff‘. In der modernen formalen Logik gibt es mahezu ‚beliebig viele‘ verschiedene formale Folgerzungsbegriffe. Ob ein solcher formaler Folgerungsbegriff tatsächlich die Struktur empirischer Gegebenheiten über abstrakte Strukturen mit formalen Folgerungen ‚angemessen wiedergibt‘, ist keinesfalls gesichert! Diese Problemstellung ist in der Wissenschaftsphilosophie bislang nicht wirklich geklärt!

[6] Gerd Doeben-Henisch, 15.-16.Januar 2023, „chatGBT about Rationality: Emotions, Mystik, Unconscious, Conscious, …“, in: https://www.uffmm.org/2023/01/15/chatgbt-about-rationality-emotions-mystik-unconscious-conscious/

[7a] Der chatbot ‚Eliza‘ von Weizenbaum von 1966 war trotz seiner Einfachheit in der Lage, menschliche Benutzer dazu zu bringen, zu glauben, dass das Programm sie ‚versteht‘ selbst dann, wenn man ihnen erklärte, dass es nur ein einfacher Algorithmus sei. Siehe das Stichwort ‚Eliza‘ in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/ELIZA

[7b] Joseph Weizenbaum, 1966, „ELIZA. A Computer Program For the Study of Natural Language. Communication Between Man And Machine“, Communications of the ACM, Vol.9, No.1, January 1966, URL: https://cse.buffalo.edu/~rapaport/572/S02/weizenbaum.eliza.1966.pdf Anmerkung: Obwohl das Programm ‚Eliza‘ von Weizenbaum sehr einfach war, waren alle Benutzer fasziniert von dem Programm, weil sie das Gefühl hatten „Es versteht mich“, dabei spiegelte das Programm nur die Fragen und Aussagen der Benutzer. Anders gesagt: die Benutzer waren ‚von sich selbst‘ fasziniert mit dem Programm als eine Art ‚Spiegel‘.

[8] Ted Chiang, 2023, „ChatGPT Is a Blurry JPEG of the Web. OpenAI’s chatbot offers paraphrases, whereas Google offers quotes. Which do we prefer?“, The NEW YORKER, February 9, 2023. URL: https://www.newyorker.com/tech/annals-of-technology/chatgpt-is-a-blurry-jpeg-of-the-web . Anmerkung: Chang betrachtet das Programm chatGPT im Paradigma eines ‚Kompressions-Algorithmus‘: Die Fülle der Informationen wird ‚verdichtet/ abstrahiert‘, so dass ein leicht unscharfes Bild der Textmengen entsteht, keine 1-zu-1 Kopie. Dies führt beim Benutzer zum Eindruck eines Verstehens auf Kosten des Zugriffs auf Details und Genauigkeit. Die Texte von chatGPT sind nicht ‚wahr‘, aber sie ‚muten an‘.

[9] Dietmar Hansch, 2023, „Der ehrlichere Name wäre ‚Simulierte Intelligenz‘. An welchen Defiziten Bots wie chatGBT leiden und was das für unseren Umgang mit Ihnen heißen muss.“, FAZ, 1.März 2023, S.N1 . Bemerkung: Während Chiang (siehe [8] sich dem Phänomen chatGPT mit dem Konzept ‚Kompressions-Algorithmus‘ nähert bevorzugt Hansch die Begriffe ’statistisch-inkrementelles Lernen‘ sowie ‚Einsichtslernen‘. Für Hansch ist Einsichtslernen an ‚Geist‘ und ‚Bewusstsein‘ gebunden, für die er im Gehirn ‚äquivalente Strukturen‘ postuliert. Zum Einsichtslernen kommentiert Hansch weiter „Einsichtslernen ist nicht nur schneller, sondern auch für ein tiefes, ganzheitliches Weltverständnis unverzichtbar, das weit greifende Zusammenhänge erfasst sowie Kriterien für Wahrheit und Wahrhaftigkeit vermittelt.“ Es verwundert dann nicht wenn Hansch schreibt „Einsichtslernen ist die höchster Form des Lernens…“. Mit Bezug auf diesen von Hansch etablierten Referenzrahmen klassifiziert er chatGPT in dem Sinne dass er nur zu ’statistisch-inkrementellem Lernen‘ fähig sei. Ferner postuliert Hansch für den Menschen, „Menschliches Lernen ist niemals rein objektiv, wir strukturieren die Welt immer in Bezug auf unsere Bedürfnisse, Gefühle und bewussten Zwecke…“. Er nennt dies den ‚Humanbezug‘ im menschlichen Erkennen, und genau diesen spricht er chatGPT auch ab. Für geläufige Bezeichnung ‚KI‘ als ‚Künstliche Intelligenz‘ postuliert er, dass der Terminus ‚Intelligenz‘ in dieser Wortverbindung nichts mit der Bedeutung zu tun habe, die wir im Fall des Menschen mit ‚Intelligenz‘ verbinden, also auf keinen Fall etwas mit ‚Einsichtslernen‘, wie er zuvor schon festgestellt hat. Um diesem Umstand mehr Ausdruck zu verleihen würde er lieber den Begriff ‚Simulierte Intelligenz‘ benutzen (siehe dazu auch [10]). Diese begriffliche Strategie wirkt merkwürdig, da der Begriff Simulation [11] normalerweise voraussetzt, dass es eine klare Sachlage gibt, zu der man ein vereinfachtes ‚Modell‘ definiert, mittels dem sich dann das Verhalten des Originalsystems in wichtigen Punkten — vereinfacht — anschauen und untersuchen lässt. Im vorliegenden Fall ist aber nicht ganz klar, was denn überhaupt das Originalsystem sein soll, das im Fall von KI simuliert werden soll. Es gibt bislang keine einheitliche Definition von ‚Intelligenz‘ im Kontext von ‚KI‘! Was die Begrifflichkeit von Hansch selbst angeht, so sind die Begriffe ‚statistisch-inkrementelles Lernen‘ sowie ‚Einsichtslernen‘ ebenfalls nicht klar definiert; der Bezug zu beobachtbarem menschlichen Verhalten geschweige den zu den postulierten ‚äquivalenten Gehirnstrukturen‘ ist beliebig unklar (was durch den Bezug zu bis heute nicht definierten Begriffen wie ‚Bewusstsein‘ und ‚Geist‘ nicht gerade besser wird).

[10] Severin Tatarczyk, 19.Februar 2023, zu ‚Simulierter Intelligenz‘: https://www.severint.net/2023/02/19/kompakt-warum-ich-den-begriff-simulierte-intelligenz-bevorzuge-und-warum-chatbots-so-menschlich-auf-uns-wirken/

[11] Begriff ‚Simulation‘ in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Simulation

[12] Doris Brelowski machte mich auf folgenden Artikel aufmerksam: James Bridle, 16.März 2023, „The stupidity of AI. Artificial intelligence in its current form is based on the wholesale appropriation of existing culture, and the notion that it is actually intelligent could be actively dangerous“, URL: https://www.theguardian.com/technology/2023/mar/16/the-stupidity-of-ai-artificial-intelligence-dall-e-chatgpt?CMP=Share_AndroidApp_Other . Anmerkung: Ein Beitrag, der kenntnisreich und sehr differenziert das Wechselspiel zwischen Formen der AI beschreibt, die von großen Konzernen auf das gesamte Internet ‚losgelassen‘ werden, und was dies mit der menschlichen Kultur und dann natürlich mit den Menschen selbst macht. Zwei Zitate aus diesem sehr lesenwerten Artikel: Zitat 1: „The entirety of this kind of publicly available AI, whether it works with images or words, as well as the many data-driven applications like it, is based on this wholesale appropriation of existing culture, the scope of which we can barely comprehend. Public or private, legal or otherwise, most of the text and images scraped up by these systems exist in the nebulous domain of “fair use” (permitted in the US, but questionable if not outright illegal in the EU). Like most of what goes on inside advanced neural networks, it’s really impossible to understand how they work from the outside, rare encounters such as Lapine’s aside. But we can be certain of this: far from being the magical, novel creations of brilliant machines, the outputs of this kind of AI is entirely dependent on the uncredited and unremunerated work of generations of human artists.“ Zitat 2: „Now, this didn’t happen because ChatGPT is inherently rightwing. It’s because it’s inherently stupid. It has read most of the internet, and it knows what human language is supposed to sound like, but it has no relation to reality whatsoever. It is dreaming sentences that sound about right, and listening to it talk is frankly about as interesting as listening to someone’s dreams. It is very good at producing what sounds like sense, and best of all at producing cliche and banality, which has composed the majority of its diet, but it remains incapable of relating meaningfully to the world as it actually is. Distrust anyone who pretends that this is an echo, even an approximation, of consciousness. (As this piece was going to publication, OpenAI released a new version of the system that powers ChatGPT, and said it was “less likely to make up facts”.)“

[13] David Krakauer in einem Interview mit Brian Gallagher in Nautilus, March 27, 2023, Does GPT-4 Really Understand What We’re Saying?, URL: https://nautil.us/does-gpt-4-really-understand-what-were-saying-291034/?_sp=d9a7861a-9644-44a7-8ba7-f95ee526d468.1680528060130. David Krakauer, Evolutionstheoretiker und Präsident des Santa Fe Instituts für Complexity Science, analysiert die Rolle von Chat-GPT-4-Modellen im Vergleich zum menschlichen Sprachmodell und einem differenzierteren Verständnis dessen, was „Verstehen“ und „Intelligenz“ bedeuten könnte. Seine Hauptkritikpunkte stehen in enger Übereinstimmung mit der obigen Position. Er weist darauf hin, dass (i) man klar zwischen dem „Informationskonzept“ von Shannon und dem Konzept der „Bedeutung“ unterscheiden muss. Etwas kann eine hohe Informationslast darstellen, aber dennoch bedeutungslos sein. Dann weist er darauf hin (ii), dass es mehrere mögliche Varianten der Bedeutung von „Verstehen“ gibt. Die Koordinierung mit dem menschlichen Verstehen kann funktionieren, aber Verstehen im konstruktiven Sinne: nein. Dann setzt Krakauer (iii) GPT-4 mit dem Standardmodell der Wissenschaft in Beziehung, das er als „parsimony“ charakterisiert; chat-GPT-4 ist eindeutig das Gegenteil. Ein weiterer Punkt (iv) ist die Tatsache, dass die menschliche Erfahrung einen „emotionalen“ und einen „physischen“ Aspekt hat, der auf somato-sensorischen Wahrnehmungen im Körper beruht. Dies fehlt bei GPT-4. Dies hängt (v) mit der Tatsache zusammen, dass das menschliche Gehirn mit seinen „Algorithmen“ das Produkt von Millionen von Jahren der Evolution in einer komplexen Umgebung ist. Die GPT-4-Algorithmen haben nichts Vergleichbares; sie müssen den Menschen nur ‚überzeugen‘. Schließlich (vi) können Menschen „physikalische Modelle“ generieren, die von ihren Erfahrungen inspiriert sind, und können mit Hilfe solcher Modelle schnell argumentieren. So kommt Krakauer zu dem Schluss: „Das Narrativ, das besagt, dass wir das menschliche Denken wiederentdeckt haben, ist also in vielerlei Hinsicht falsch. Einfach nachweislich falsch. Das kann nicht der richtige Weg sein.“ Anmerkungen zum Text von Krakauer: Benutzt man das allgemeine Modell von Akteur und Sprache, wie es der Text oben annimmt, dann ergeben sich die Punkt (i) – (vi) als Folgerungen aus dem allgemeinen Modell. Die Akzeptanz eines allgemeinen Akteur-Sprache Modells ist leider noch nicht verbreitet.

[14] Von Marie-José Kolly (Text) und Merlin Flügel (Illustration), 11.04.2023, „Chatbots wie GPT können wunderbare Sätze bilden. Genau das macht sie zum Problem“. Künstliche Intelligenz täuscht uns etwas vor, was nicht ist. Ein Plädoyer gegen die allgemeine Begeisterung. Online-Zeitung ‚Republik‘ aus der SChweiz, URL: https://www.republik.ch/2023/04/11/chatbots-wie-gpt-koennen-wunderbare-saetze-bilden-genau-das-macht-sie-zum-problem? Hier einige Anmerkungen:

Der Text von Marie-José Kolly sticht hervor weil der Algorithmus mit Namen chatGPT(4) hier sowohl in seinem Input-Output Verhalten charakterisiert wird und zusätzlich ein Vergleich zum Menschen zumindest in Ansätzen vorgenommen wird.

Das grundsätzliche Problem des Algorithmus chatGPT(4) besteht darin (wie auch in meinem Text oben herausgestellt), dass er als Input-Daten ausschließlich über Textmengen verfügt (auch jene der Benutzer), die nach rein statistischen Verfahren in ihren formalen Eigenschaften analysiert werden. Auf der Basis der analysierten Regelmäßigkeiten lassen sich dann beliebige Text-Kollagen erzeugen, die von der Form her den Texten von Menschen sehr stark ähneln, so sehr, dass viele Menschen sie für ‚von Menschen erzeugte Texte‘ nehmen. Tatsächlich fehlen dem Algorithmus aber das, was wir Menschen ‚Weltwissen‘ nennen,es fehlt echtes ‚Denken‘, es fehlen ‚eigene‘ Werte-Positionen, und der Algorithmus ‚versteht‘ seine eigenen Text ’nicht‘.

Aufgrund dieses fehlenden eigenen Weltbezugs kann der Algorithmus über die verfügbaren Textmengen sehr leicht manipuliert werden. Eine ‚Massenproduktion‘ von ‚Schrott-Texten‘, von ‚Desinformationen‘ ist damit sehr leicht möglich.

Bedenkt man, dass moderne Demokratien nur funktionieren können, die Mehrheit der Bürger über eine gemeinsame Faktenbasis verfügt, die als ‚wahr‘ angenommen werden können, über eine gemeinsame Wissensmenge, über zuverlässige Medien, dann können mit dem Algorithmus chatGPT(4) genau diese Anforderungen an eine Demokratie massiv zerstört werden.

Interessant ist dann die Frage, ob chatGPT(4) eine menschliche Gesellschaft, speziell eine demokratische Gesellschaft, tatsächlich auch positiv-konstruktiv unterstützen kann?

Vom Menschen ist jedenfalls bekannt, dass dieser den Gebrauch seiner Sprache von Kindes Beinen an im direkten Kontakt mit einer realen Welt erlernt, weitgehend spielerisch, in Interaktion mit anderen Kindern/ Menschen. Für Menschen sind ‚Worte‘ niemals isolierte Größen sondern sie sind immer dynamisch eingebunden in ebenfalls dynamische Kontexte. Sprache ist nie nur ‚Form‘ sondern immer zugleich auch ‚Inhalt‘, und dies auf mannigfaltige Weise. Dies geht nur weil der Mensch über komplexe kognitiven Fähigkeiten verfügt, die u.a. entsprechende Gedächtnisleistungen wie auch Fähigkeiten zur Verallgemeinerung/ Generalisierung umfassen.

Die kulturgeschichtliche Entwicklung von gesprochener Sprache, über Schrift, Buch, Bibliotheken bis hin zu gewaltigen digitalen Datenspeichern hat zwar bezüglich der ‚formen‘ von Sprache und darin — möglicherweise — kodiertem Wissen Gewaltiges geleistet, aber es besteht der Eindruck, dass die ‚Automatisierung‘ der Formen diese in die ‚Isolation‘ treibt, so dass die Formen ihren Kontakt zur Realität, zur Bedeutung, zur Wahrheit immer mehr verlieren. Aus der Sprache als zentralem Moment der Ermöglichung von mehr komplexem Wissen und mehr komplexem Handeln wird damit zunehmend ein ‚Parasit‘, der immer mehr Raum beansprucht und dabei immer mehr Bedeutung und Wahrheit vernichtet.

[15] Gary Marcus, April 2023, Hoping for the Best as AI Evolves, Gary Marcus on the systems that “pose a real and imminent threat to the fabric of society.” Communications of the ACM, Volume 66, Issue 4, April 2023 pp 6–7, https://doi.org/10.1145/3583078 . Anmerkung: Gary Marcus schreibt anlässlich der Wirkungen von Systemen wie chatGPT(OpenAI), Dalle-E2 und Lensa über die ernst zunehmenden negativen Wirkungen, die diese Werkzeuge innerhalb einer Gesellschaft haben können, und zwar in einem Ausmaß, das eine ernsthafte Bedrohung für jede Gesellschaft darstellt! Sie sind inhärent fehlerhaft in den Bereichen Denken, Tatsachen und Halluzinationen. Mit nahezu Null Kosten lassen sich mit ihnen sehr schnell umfangreiche Desinformationskampagnen erstellen und ausführen. Am Beispiel der weltweit wichtigen Webseite ‚Stack Overflow‘ für Programmierer konnte (und kann) man sehen, wie der inflationäre Gebrauch von chatGPT aufgrund der inhärenten vielen Fehler dazu führt, dass das Management-Team von Stack Overflow seine Benutzer dringend bitten musste, den Einsatz von chatGPT komplett zu unterlassen, um den Zusammenbruch der Seite nach 14 Jahren zu verhindern. Im Falle von großen Playern, die es gezielt auf Desinformationen absehen, ist solch eine Maßnahme unwirksam. Diese Player zielen darauf ab, eine Datenwelt zu erschaffen, in der niemand mehr irgend jemandem vertrauen kann. Dies vor Augen stellt Gary Marcus 4 Postulate auf, die jede Gesellschaft umsetzen sollte: (1) Automatisch generierter Inhalt sollte komplett verboten werden; (2) Es müssen rechtswirksame Maßnahmen verabschiedet werden, die ‚Missinformationen‘ verhindern können; (3) User Accounts müssen fälschungssicher gemacht werden; (4) Es wird eine neue Generation von KI Werkzeugen gebraucht, die Fakten verifizieren können.

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