Archiv der Kategorie: Gehirn

WAS IST LEBEN? Homo Sapiens Ereignis – Erste Umrisse

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Datum: 23.Febr 2025 – 2.März 2025

Kontakt: cagent@cognitiveagent.org

Eine englische Version  findet sich HIER.

KONTEXT

Dies ist keine weitere  Zwischenreflexion, sondern eine Fortsetzung im Hauptstrang des Text-Projektes ‚Was ist Leben?‘

HAUPTSTRANG: Was ist Leben?

  1. 17.Jan 2025 WAS IST LEBEN ? Welche Rolle haben wir ? Gibt es eine Zukunft ?
  2. 18.Jan 2025 WAS IST LEBEN ? … DEMOKRATIE – BÜRGER
  3. 21.Jan 2025 WAS IST LEBEN ? … PHILOSOPHIE DES LEBENS
  4. 9.Febr 2025 WAS IST LEBEN ? … Wenn Leben ‚Mehr‘ ist, ‚viel Mehr‘ …
  5. 17.Febr 2025 WAS IST LEBEN – GRAMMATIK DES ÜBERLEBENS. Im Focus: Homo sapiens …(noch nicht fertig)
  6. 2.März 2025 WAS IST LEBEN? Homo Sapiens Ereignis – Erste Umrisse

Dem Text Nr.4 ging ein Vortrag am 31.Jan 2025 voraus, in dem ich die grundlegenden Ideen schon mal formuliert hatte.

EINSCHÜBE BISHER:

  1. 15.Febr 2025 EINSCHUB: Kurze Geschichte zum Begriff der Intelligenz und seiner möglichen Zukunft 
  2. 18.Febr 2025 EINSCHUB : BIOLOGISCHE INTELLIGENZ braucht LERNEN. Strukturanalyse
  3. 20.Febr 2025 EINSCHUB : INTELLIGENZ – LERNEN – WISSEN – MATERIELLE BEDINGUNGEN; KI 

ÜBERLEITUNG

Im Text Nr.4 „WAS IST LEBEN ? … Wenn Leben ‚Mehr‘ ist, ‚viel Mehr‘ …“ gibt es einen zentralen Abschnitt, der hier nochmals in Erinnerung gerufen werden soll. Im Anschluss an die Offenlegung der faktisch starken Beschleunigung in der Entwicklung der Komplexität des Lebens auf diesem Planeten heißt es:

„Die Kurve erzählt jene ‚Wirkgeschichte‘, die ‚klassische biologische Systeme‘ bis zum Homo sapiens mit ihren ‚bisherigen Mitteln‘ erzeugen konnten. Mit dem Auftreten des Typs ‚Homo‘, und dann insbesondere mit der Lebensform ‚Homo sapiens‘, kommen aber völlig neue Eigenschaften ins Spiel. Mit der Teil-Population des Homo sapiens gibt es eine Lebensform, die mittels ihrer ‚kognitiven‘ Dimension und ihrer neuartigen ‚symbolischen Kommunikation‘ extrem viel schneller und komplexer Handlungsgrundlagen generieren kann.“

Nach diesem ‚Gesamtbild‘ deutet vieles darauf hin, dass das Auftreten des ‚Homo sapiens‘ (das sind wir) nach ca. 3.5 Mrd Jahren Entwicklung mit vorausgehenden ca. 400 Mio Jahren molekularer Entwicklung nicht ‚irgendwie zufällig‘ stattfindet. Es ist kaum zu übersehen, dass das Auftreten des Homo sapiens quasi im im ‚Zentrum der Entwicklungsrichtung‘ liegt. Dieser Sachverhalt kann — muss? — zur Frage führen, ob sich hieraus eine ‚besondere Verantwortung‘ für den Homo sapiens für die ‚Zukunft des gesamten Lebens‘ auf diesem Planeten — oder auch darüber hinaus? — herleitet? Daraus resultiert das zweite Zitat aus dem Text Nr.4:

„Wie kann eine ‚Verantwortung für das globale Leben‘ für uns Menschen von uns einzelnen Menschen überhaupt ‚verstanden‘, geschweige denn ‚praktisch umgesetzt‘ werden? Wie sollen Menschen, die aktuell ca. 60 – 120 Jahre leben, sich Gedanken machen über eine Entwicklung, die viele Millionen oder gar mehr Jahre in die Zukunft zu denken ist?“

Eine solche ‚Verantwortung mit Blick auf eine Zukunft‘ würde — aus der Sicht des gesamten Lebens — nur Sinn machen, wenn es genau der Homo sapiens wäre, der als ‚aktuell einziger‘ im Vergleich zu allen anderen bisherigen Lebensformen über genau jene Eigenschaften verfügt, die man in der aktuellen Entwicklungsphase des Lebens für die ‚Wahrnehmung einer Verantwortung‘ benötigt.

Vorbemerkung

Im folgenden Text wird schrittweise erklärt, wie dies alles zusammenhängt. Dabei wird in dieser Phase kaum auf einschlägige Literatur verwiesen, weil dies bei jedem einzelnen Abschnitt zahllose Verweise erfordern würde. Einige wenige Anmerkungen werden trotzdem gelegentlich gemacht. Sollte die Perspektive der Texte zum Thema ‚Was ist Leben‘ sich grundsätzlich bewähren, müsste diese Perspektive in einem weiteren Durchgang weiter konkretisiert und ‚in aktuelles Spezial-Wissen eingebettet‘ werden. Dabei könnte jeder auf seine Weise mitwirken. Hier geht es zunächst nur um die Herausarbeitung einer neuen komplexen ‚Arbeitshypothese‘ unter Voraussetzung des bisherigen Wissens.

DAS HOMO SAPIENS EREIGNIS

In modernen Science Fiction Romanen und Filmen sind ‚Außerirdische‘ ein beliebtes Format, um auf dem Planet Erde etwas Besonderes einzuführen, oder abenteuerliche Entwicklungen, die ‚aus der Zukunft‘ auf der Erde erscheinen. Natürlich sind dies ‚Denkfiguren‘, mit denen wir Menschen uns ‚Geschichten‘ erzählen, weil wir als Menschen Geschichten seit Anbeginn lieben. Erstaunlich ist vor diesem Hintergrund, dass das ‚Homo sapiens Ereignis (HSE)‘ bislang kaum eine vergleichbar ‚empathische Aufmerksamkeit‘ gefunden hat. Dabei hat das HSE alle Zutaten, die selbst die kühnsten bisher bekannten Science Fiction Romane und Filme bei weitem übertreffen kann. Die ‚Entwicklungszeit‘ allein auf dem Planet Erde beträgt immerhin ca. 3.9 Mrd Jahre. Öffnet man sich der Erkenntnis, dass ‚das Biologische‘ möglicherweise als ‚direkte Entfaltung‘ jener Eigenschaften zu verstehen ist, die implizit im gesamten ‚Nicht-Biologischen‘ angelegt sind, damit letztlich in der ‚Energie‘ selbst, aus der das gesamte bekante Universum hervor gegangen ist, dann haben wir es hier mit einem ‚maximalen Ereignis‘ zu tun, dessen Wurzel so alt ist, wie das bekannte Universum. Letztlich — die ‚Energie‘ ist für uns noch mehr unbekannt als bekannt — könnte das HSE als Eigenschaft der Energie sogar ‚älter‘ sein als das bekannte Universum.

BILD 1 : Homo sapiens Ereignis (HSE)

PHILOSOPHISCHE ANNÄHERUNG

In diesem Text wird über das ‚Homo Sapiens Ereignis (HSE)‘ ‚gesprochen‘ bzw. ‚geschrieben‘, da dies die einzige Möglichkeit ist, wodurch das ‚Gehirn des Autors‘ mit ‚Gehirnen von Lesern‘ ‚Gedanken austauschen‘ kann. Dies bedeutet — egal, um welche Inhalte es geht — ohne irgendeine Form der ‚Kommunikation‘ kann es zwischen verschiedenen Gehirnen keinen Austausch geben. Im Fall des Homo sapiens geschieht dies von Anbeginn durch eine ’symbolische Sprache‘, eingebettet in vielfältige Handlungen, Gesten, Mimik, Tonfällen und mehr. Daher ist es sinnvoll, diesen Mechanismus einer ’symbolischen Sprache‘ als Element in einem ‚menschlichen Kommunikationsprozess‘ soweit transparent zu machen, dass man verstehen kann, wann welche ‚Inhalte‘ mittels einer symbolischen Kommunikation ‚ausgetauscht‘ werden können.

Bei dem Versuch, diesen ‚Mechanismus‘ einer symbolischen Kommunikation zu erklären, zeigt sich, dass im ‚Vorfeld‘ dieser Erklärung einige ‚Voraussetzungen‘ bewusst gemacht werden müssen, ohne die die nachfolgende Erklärung nicht funktionieren kann.

Für die ‚umfassende Perspektive‘ der hier stattfindenden symbolischen Kommunikation wählt der Autor dieses Textes die Bezeichnung ‚Philosophische Perspektive‘ in dem Sinne, dass alle anderen bekannten und möglichen Perspektiven darin eingeschlossen sein sollen.

Drei isolierte Perspektiven (innerhalb der Philosophie)

Neben der Perspektive der ‚Biologie‘ (samt vieler anderer unterstützender Disziplinen), mit deren Hilfe die Entwicklung ‚des Biologischen‘ auf dem Planet Erde bis zum HSE beschrieben wurde, sollen jetzt einige ‚zusätzliche Perspektiven‘ aufgerufen werden, die unter Voraussetzung des Biologischen interessante Erkenntnisse ermöglichen können:

  1. ‚Phänomenologie‘ als Teildisziplin sowohl der Philosophie als auch der Psychologie: sie dient der Beschreibung und Analyse von ’subjektiven Erlebnissen‘.
  2. ‚Empirische Psychologie‘: sie dient der Beschreibung und Analyse ‚beobachtbaren Verhaltens‘ von Menschen.
  3. ‚Empirische Gehirnforschung‘: sie dient der Beschreibung und Analyse ‚beobachtbarer Prozesse in Gehirnen‘ von Menschen.

BILD 2 : (Handskizze, zur Illustration aus dem Entstehungsprozess) Philosophische Perspektive mit den Teildisziplinen ‚Phänomenologie‘, ‚(empirische) Psychologie sowie ‚Gehirnforschung‘

Wenn man diese drei Perspektiven nebeneinander anordnet, dann beinhaltet die phänomenologische Sicht nur unsere eigenen (’subjektiven‘) Erlebnisse ohne direkten Bezug zum Körper oder zur Welt außerhalb der Körper. Dies ist jene Perspektive, mit der jeder Mensch geboren wird und die ihn sein Leben lang als ’normale Sicht der Dinge‘ begleitet.

In der Perspektive der ‚empirischen Psychologie‘ steht das ‚beobachtbare Verhalten‘ von Menschen im Zentrum (es können auch andere Lebensformen auf diese Weise untersucht werden; dies gehört dann aber eher zur ‚Biologie‘). Die ‚Phänomene‘ des ’subjektiven Erlebens‘ sind der Perspektive der empirischen Psychologie entzogen. Die beobachtbaren Eigenschaften des Gehirns als empirischem Objekt sowie des Körpers sind der empirischen Psychologie zwar grundsätzlich zugänglich, jedoch ordnet man die empirisch beobachtbaren Eigenschaften des Gehirns heute eher der ‚(empirischen) Gehirnforschung‘ zu und jene des Körpers der ‚(empirischen) Physiologie‘.

In der Perspektive der ‚(empirischen) Gehirnforschung‘ sind die beobachtbaren Eigenschaften des Gehirns zugänglich, aber nicht die Phänomene‘ des ’subjektiven Erlebens‘ und nicht das ‚beobachtbare Verhalten‘ (auch nicht die beobachtbaren Eigenschaften des Körpers;).

Man kann sehen, dass bei der hier ‚gewählten Systematik‘ der wissenschaftlichen Perspektiven jede Disziplin über einen ‚eigenen Beobachtungsbereich‘ verfügt, der von den Beobachtungsbereichen der anderen Disziplinen vollständig getrennt ist! Dies bedeutet, dass jede dieser drei Perspektiven ‚Anschauungen über ihr Objekt‘ entwickeln kann, die sich grundlegend von den ‚Anschauungen der anderen‘ unterscheiden. Bedenkt man, dass jede dieser drei Perspektiven ‚in der Realität‘ mit einem und dem selben ‚Objekt‘ zu tun hat — mit konkreten Exemplaren des ‚Homo sapiens (HS)‘ — muss man sich fragen, welchen ‚Stellenwert‘ man diesen drei so unterschiedlichen Perspektiven samt den darauf aufbauenden ‚Teilbildern des Homo sapiens‘ zumessen soll? Müssen wir in der wissenschaftlichen Sicht das ‚eine materielle Objekt‘ in drei verschiedenen Lesarten des ‚Homo sapiens (HS)‘ aufspalten: in den ‚HS-Phänomenal‘, in den ‚HS-SichVerhaltend‘ und in den ‚HS-Gehirn‘?

In der Praxis der Wissenschaft wissen natürlich alle Forscher, dass die ‚Inhalte‘ der einzelnen Beobachtungsperspektiven ‚untereinander‘ irgendwie ‚wechselwirken‘: Die Wissenschaft weiß heute, dass subjektive Erlebnisse (Ph) stark mit bestimmten Gehirnereignissen (N) ‚korrelieren‘; ebenso weiß man, dass bestimmten Verhaltensweisen (Vh) sowohl mit subjektiven Erlebnissen (Ph) wie auch mit Gehirnereignissen (N) korrelieren. Um diese ‚Wechselwirkungen‘ zwischen den verschiedenen Bereichen (Ph-Vh, Ph-N, N-Vh) zumindest schon mal ‚beobachten‘ zu können gibt es daher schon lange den Zusammenschluss verschiedener Perspektiven durch die ‚Kooperation verschiedener Disziplinen‘ wie z.B.‚Neurophänomenologie (N-Ph)‘ und ‚Neuropsychologie (N-Vh)‘. Für den Fall der Kooperation zwischen Psychologie und Phänomenologie ist die Lage nicht so klar. Einerseits war die ‚frühe Psychologie‘ selbst stark ‚introspektiv‘ orientiert und damit kaum unterscheidbar von einer reinen Phänomenologie, andererseits tut sich die Theoriebildung im Bereich der empirischen Psychologie bis heute schwer. Die Bezeichnung ‚phänomenologische Psychologie (Ph-Vh)‘ kommt vor, wenngleich ohne klaren Gegenstandsbereich.

Während es also ansatzweise ‚Kooperationen von unterschiedlichen Perspektiven‘ gibt, so ist eine ‚voll integrierte Sicht‘ noch nirgendwo zu erkennen.

Im Folgenden wird versuchsweise eine ‚Skizze des Gesamtsystems‘ vorgestellt, in der wichtige ‚Teilbereiche‘ hervorgehoben und die wichtigsten ‚Wechselwirkungen‘ zwischen diesen Teilbereichen angezeigt werden.

Skizze des Gesamtsystems

Die folgende ‚Skizze des Gesamtsystems‘ stellt einen ‚gedanklichen Zusammenhang‘ her zwischen den Bereichen ’subjektive Erlebnisse (Ph)‘, ‚Gehirnereignisse (N)‘, ‚Körperereignisse (BDY)‘, der ‚Umgebung des Körpers (W)‘, und dem ‚beobachtbaren Verhalten (Vh)‘ des Körpers in der Welt.

BILD 3 : (Handskizze, zur Illustration aus dem Entstehungsprozess) (1) ’subjektive Erlebnisse (Ph)‘, (2) ‚Gehirnereignisse (N)‘, (3) ‚Körperereignisse (BDY)‘, (4) ‚beobachtbares Verhalten (Vh)‘ des Körpers in der Welt, und (5) ‚Umgebung des Körpers (W)‘. Unten links im Bild ist ein konkretes Exemplar eines ‚Homo sapiens (HS)‘ angedeutet, der die ‚Welt (W)‘ samt den verschiedenen ‚Körpern (BDY)‘ von anderen Homo sapiens-Exemplaren ‚beobachten‘ und seine Beobachtungen mit Hilfe einer ‚Sprache (L)‘ in Form eines ‚Textes‘ aufschreiben kann.

BILD 3b : Handskizze, zur Illustration aus dem Entstehungsprozess: Die Kernidee für das Konzept eines ‚Kontextuellen Bewusstseins (CCONSC)

Wie man ersehen kann, gibt es eine Nummerierung der verschiedenen Bereichen von (1) bis (5), wobei die Nummer ‚(1)‘ dem Bereich der subjektiven Erlebnisse (Ph) zugeordnet ist. Dies ist dadurch motiviert, dass für jeden Menschen durch die Struktur seines Körpers vorgegeben ist, dass wir ‚uns selbst‘ und ’sämtliche anderen Ereignisse‘ in Form solcher ’subjektiver Erlebnisse‘ als Phänomene ‚wahrnehmen‘. ‚Wo‘ diese Phänomene herkommen — aus dem ‚Gehirn‘, aus dem ‚Körper‘, aus der ‚umgebenden Welt‘ –, das kann man den Phänomenen selbst nicht so ohne weiteres ansehen. Es sind ‚unsere‘ Phänomene. Während ein Philosoph wie Kant — und alle seine Zeitgenossen — noch darauf angewiesen war, die ‚mögliche Welt‘ und ’sich selbst‘ ausschließlich aus der Perspektive ’seiner Phänomene‘ zu betrachten, haben die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften seit ca. 1900 schrittweise dazu geführt, dass die ‚Prozesse hinter den Phänomenen‘ — lokalisiert im ‚Gehirn‘ — immer konkreter untersucht werden konnten. Es konnten dann immer mehr ‚Beziehungen (über Korrelationen in der Zeit)‘ zwischen ‚Gehirnereignissen (N)‘ und den ‚Phänomenen (Ph)‘ entdeckt werden.

Eine wichtige Entdeckung bestand darin, dass es möglich wurde, ’subjektive Erlebnisse (Ph)‘ in eine zeitliche Beziehung zu Gehirnereignissen (N) zu setzen. Damit legte sich die Sichtweise nahe, dass unsere subjektiven Erlebnisse zwar ‚als Erlebnisse‘ nicht direkt ‚gemessen‘ werden können, dass aber zeitliche Beziehung zu Gehirnereignissen es erlauben, ‚Bereiche im Gehirn‘ zu lokalisieren, deren ‚Funktionieren‘ eine Voraussetzung für unser subjektives Erleben zu sein scheint. Damit gewann auch das verbreitete Reden über ein ‚Bewusstsein‘ eine erste empirische Konkretisierung, die man als Arbeitshypothese so formulieren kann: das, was wir mit ‚Bewusstsein (CONSC, 1)‘ meinen, bezieht sich auf solche ’subjektiven Erlebnisse (Ph), die von bestimmten Bereichen im Gehirn durch ‚Gehirnereignisse (N)‘ ermöglicht werden. Wie dies im einzelnen gesehen werden kann, wird weiter unten weiter erläutert.

Die ‚Gehirnereignisse (N)‘, die im ‚Gehirn (BRAIN, 2)‘ lokalisiert werden, bilden einen komplexen Ereignisraum, der seit ca. 1900 immer mehr erforscht wird. Generell ist klar, dass dieser Raum ‚hoch dynamisch‘ ist, was sich darin manifestiert, dass alle Ereignisse untereinander auf vielfache Weise ‚wechselwirken‘. Das Gehirn ist gegenüber dem übrigen Körper einerseits klar abgegrenzt, andererseits gibt es einen ‚Austausch‘ zwischen dem ‚Körper (BDY, 3) und dem ‚Ereignisraum des Gehirns (BRAIN, 2)‘. Dieser Austausch läuft über ‚Schnittstellen‘, die in der Lage sind sowohl (i) Ereignisse im Körperraum so zu ‚übersetzen‘, dass sie im Gehirn als Gehirnereignisse erscheinen, als auch (ii) Gehirnereignisse so zu ‚übersetzen‘, dass sie im Körper als Körperereignisse wirksam werden können. Beispiele für (i) sind z.B. unsere ‚Sinnesorgane‘ (Augen, Ohren, Geruch, …), durch die ‚Licht‘ bzw. ‚Schall‘ bzw. ‚Moleküle in der Luft‘ in Gehirnereignisse ‚umgewandelt/ transformiert/ übersetzt …‘ werden. Beispiele für (ii) sind Gehirnereignisse, durch die z.B. ‚Muskulatur‘ aktiviert wird, welche zu ‚Bewegungen‘ führen kann, oder ‚Drüsen‘, durch die spezielle Moleküle ‚abgesondert‘ werden können, welche Prozesse von Körperorgane steuern können, und vieles mehr.

Der ‚Körperraum (BODY, 4)‘ ist etwa 450 mal größer als der Raum der Gehirnereignisse. In ihm lassen sich viele ‚Bereiche‘ abgrenzen, die man als ‚Organe‘ bezeichnet, die für sich komplexe Strukturen besitzen und die untereinander in vielfachen Wechselbeziehungen stehen. Mit dem Raum der Gehirnereignisse stehen die Körperereignisse ebenfalls auf vielfache Weise in direktem Austausch. Mit der ‚umgebenden Welt (W,5)‘ gibt es zwei Arten von Austauschbeziehungen. Einmal (i) solche ‚Schnittstellen‘, in denen ‚Körperereignisse‘ als ‚Ausscheidungen‘ in den Ereignisraum der Welt (W) auftreten oder (ii) als solche Körperereignisse, die direkt von Gehirnereignissen gesteuert werden (z.B. im Fall von Bewegungen). Beide Ereignisformen zusammen bilden den ‚OUTPUT (4a)‘ des Körpers in die umgebenden Welt (W). Umgekehrt gibt es auch einen ‚INPUT (4b)‘ von der Welt in den Ereignisraum des Körpers. Auch hier kann man unterscheiden zwischen (i) Ereignissen der Welt, die direkt in den Ereignisraum des Körpers eintreten (z.B. bei der Nahrungsaufnahme), oder solche (ii) in denen Ereignisse der Welt durch eine sensorische Schnittstelle des Körpers in Gehirnereignisse übersetzt werden (z.B. beim ‚Sehen‘, ‚Hören’…).

Bei dieser Sachlage stellt sich natürlich die Frage, wie kann das Gehirn bei der Vielzahl der Gehirnereignisse (N) ‚unterscheiden‘, welche Ereignisse (i) aus dem Raum der Gehirnereignisse (N) stammen oder (ii) Gehirnereignisse sind, die vom Raum der Körperereignisse (BDY) hervorgerufen werden oder (iii) Gehirnereignisse sind, die — vermittelt durch den Körper — vom Ereignisraum der umgebenden Welt (W) herrühren. Anders formuliert: Woran kann das Gehirn ‚erkennen‘ ob ein Gehirnereignis N ein (i) N aus N ist, ein (ii) N aus BDY oder ein (III) N aus W?

Diese Frage wird im weiteren Verlauf mit einer Arbeitshypothese beantwortet werden.

Konzept ‚Bewusstsein‘; Grundannahmen

Schon im vorausgehenden Abschnitt wurde mittels einer ersten Arbeitshypothese eine Charakterisierung des Konzepts ‚Bewusstsein‘ versucht: das, was wir mit ‚Bewusstsein (CONSC, 1)‘ meinen, bezieht sich auf solche ’subjektiven Erlebnisse (Ph), die von bestimmten Bereichen im Gehirn durch ‚Gehirnereignisse (N)‘ ermöglicht werden.

Diese Arbeitshypothese soll jetzt durch einige weitere Annahmen noch ein wenig verfeinert werden. Obwohl alle diese Annahmen auf ‚wissenschaftlichem‘ und ‚philosophischem Wissen‘ beruhen, welches vielfältig ‚begründet‘ wird, sind dennoch viele Fragen im Detail noch nicht vollständig geklärt; auch fehlt bis heute noch eine ‚alles zusammenfassende (integrierende) Theorie‘. Folgende zusätzliche Annahmen:

  1. Normalerweise rechnet man alle Phänomene, die man subjektiv explizit erleben kann, zum Raum des ‚expliziten Bewusstseins (ECONSC ⊆ CONSC)‘. Man spricht dann davon, dass einem ‚etwas bewusst‘ sei.
  2. Es gibt aber auch ein ‚Bewusstsein von etwas‘, das mit ‚keinem direkten Phänomen‘ korreliert. Dies sind solche Konstellationen, in denen wir Beziehungen zwischen Phänomenenannehmen, obwohl die ‚Beziehungen selbst‘ kein Phänomen sind (z.B: ‚gesprochene Laute‘ mit ‚Bezug auf‘ ‚Phänomene‘, ‚Größenverhältnisse zwischen Phänomenen‘, ‚Teil-Eigenschaften eines Phänomens‘, ‚aktuelles‘ und ‚erinnertes‘ Phänomen, ‚wahrgenommenes‘ und ‚erinnertes‘ Phänomen, …). Diese Form des ‚Bewusstseins im Umfeld von Phänomenen, dem direkt kein Phänomen entspricht‘ soll hier ‚Kontextbewusstsein (CCONSC ⊆ CONSC)‚ genannt werden. Auch hier kann man dann sagen, dass einem ‚etwas bewusst‘ sei, wenn auch ‚irgendwie anders‘.
  3. Diese Unterscheidung zwischen ‚explizitem Bewusstsein (ECONSC)‘ und ‚Kontextbewusstsein (CCONSC)‘ deutet darauf hin, dass die Fähigkeit, ’sich einer Sache bewusst zu sein‘, umfassender ist als das, was eine explizites Bewusstheit nahelegt. Dies führt zu der Arbeitshypothese, dass das, was wir ‚intuitiv‘ ‚Bewusstsein (CONSC)‘ nennen, das ‚Ergebnis‘ der Arbeitsweise unseres Gehirns ist.
  4. Im Licht der heutigen Gehirnforschung erscheint das Gehirn also als ein überaus komplexes System. Für die Überlegungen in diesem Text soll hier folgende stark vereinfachte Arbeitshypothesen formuliert werden:
    • Die ‚empirischen Gehirnereignisse‘ werden hauptsächlich von speziellen ‚Zellen‘, den ‚Neuronen (N)‘, erzeugt und verarbeitet. Ein Neuron kann von vielen anderen Neuronen ‚Ereignisse registrieren‘, und kann genau ‚ein Ereignis generieren‘, das dann aber an viele andere Neuronen verteilt werden kann. Dieses ‚Ausgangsereignis‘ kann auch wieder als ‚Eingangsereignis‘ auf das generierende Neuron ‚zurück geführt werden‘ (direkte Rückkopplungsschleife). Bei der Erzeugung wie auch Weitergabe von Ereignissen spielen auch weitere Faktoren eine Rolle wie z.B. ‚Zeit‘ und ‚Intensität‘.
    • Die Anordnung von Neuronen ist sowohl ’seriell‘ (ein Ereignis kann von einem Neuro zum nächsten gesendet werden, dann wieder zum Nächsten, usw. Bei dieser Weitergabe können die Ereignisse ‚verändert‘ werden) als auch ‚hierarchisch‘. Dies bedeutet, dass man im Gehirn ‚Schichten/ Ebenen‘ annehmen kann, in denen Ereignisse einer ‚tieferen Schicht‘ auf einer ‚höheren Schicht‘ in einer ‚verdichteten/ abstrahierten Form ‚repräsentiert‘ werden können.
  5. Die grundlegende Annahmen des Wechselverhältnisses von Gehirnereignissen zu Bewusstseinsereignissen sind dann die folgenden:
    • Einige der Gehirnereignisse können uns als ‚Phänomene‘ ‚explizit bewusst‘ werden (ECONSC).
    • ‚Kontextuelles Bewusstsein‘ (CCONSC) liegt vor, wenn ein Verbund von Neuronen eine ‚Beziehung zwischen verschiedenen Einheiten‘ repräsentiert. Die ‚Beziehung als solche‘ ist uns dann bewusst, aber da eine ‚Beziehung‘ kein ‚Objekt‘ (kein explizites Phänomen) ist, können wir die Beziehung zwar ‚wissen‘, aber explizit sind diese ‚gewussten Beziehungen‘ nicht (z.B. die expliziten Phänomene ‚rotes Auto‘ als Text und ein ‚Wahrnehmungsobjekt‘ ‚rotes Auto‘; die mögliche Beziehung zwischen beiden könne wir ‚wissen‘, aber sie ist nicht explizit gegeben).
  6. Das Konzept ‚Bewusstsein (CONSC)‘ setzt sich somit mindestens zusammen aus dem ‚expliziten Phänomenbewusstsein (ECONSC)’und dem ‚kontextuellen Bewusstsein (CCONSC)‘. Bei genauerer Analyse sowohl des Phänomenraumes (Ph) wie auch der Arbeitsweise des ‚Gehirns‘ als Bereich aller Gehirnereignisse (N) lassen sich diese Arbeitshypothesen weiter differenzieren.

Nach diesen Vorüberlegungen zu den verschiedenen Ereignisräumen, an denen ein Homo sapiens (HS) mit unterschiedlichen Zugangsweisen beteiligt sein kann (W – BDY – N(CONSC)), soll hier in einem ersten Schritt der Einsatz von ‚Sprache (L)‘ skizziert werden (weitergehende Ausführungen folgen später).

Beschreibungstexte

Wie zuvor angedeutet wurde, entstehen in jeder der aufgezählten Beobachtungsperspektiven ‚Vh‘, ‚Ph‘ und ‚N‘ (siehe BILD 2) ‚Texte‘, mittels deren die ‚Akteure‘ ihre individuellen ‚Ansichten‘ austauschen. Natürlich müssen diese Texte in einer ‚Sprache‘ abgefasst sein, die alle Beteiligten ‚verstehen‘ und aktiv benutzen können.

Im Gegensatz zur ‚Alltagssprache‘ werden in der heutigen Wissenschaft minimale Anforderungen an diese Texte gestellt. Einige dieser Anforderungen könnte man so beschreiben:

  1. Für alle sprachlichen Ausdrücke, die Bezug nehmen auf ‚beobachtbare Ereignisse im Gegenstandsbereich der Perspektive‘, muss klar sein, wie man den ‚empirischen Bezug zum realen Objekt‘ intersubjektiv überprüfen kann. Es muss bei der Überprüfung dann möglich sein mindestens zu sagen (i) ‚Es trifft zu (ist wahr)‘, (ii) ‚Es trifft nicht zu (ist falsch)‘ und (iii) ‚Eine Entscheidung ist nicht möglich (unbestimmt)‘.
  2. Es muss ferner erkennbar sein, (i) welche sprachlichen Ausdrücke ’nicht empirisch‘ sind sondern ‚abstrakt‘, (ii) wie diese abstrakten Ausdrücke zu anderen abstrakten Ausdrücken oder zu anderen empirischen Ausdrücken in Beziehung stehen, und (iii) es muss klar sein, inwieweit Ausdrücke, die selbst nicht empirisch sind, durch Beziehung zu anderen Ausdrücken auf ‚Wahrheit/ Falschheit hin überprüft werden können.

Wie man diese Anforderungen praktisch umsetzt, ist im Prinzip offen. Es muss nur zwischen allen beteiligten Akteuren funktionieren.

Während diese Anforderungen im Fall der Perspektive der (empirischen) Psychologie und der Gehirnforschung im Prinzip erfüllbar sind, kann eine phänomenologische Perspektive mindestens die erste Forderung nicht einlösen, da die subjektive Phänomene eines bestimmten Akteurs nicht von anderen Akteuren ‚beobachtet‘ werden können. Dies geht nur — und auch da nur bedingt — auf ‚indirektem Weg‘. Sofern es ein ’subjektives Phänomen‘ gibt (z.B. ein optischer Reiz, ein Geruch, ein Laut…), welches mit etwas ‚korreliert‘, das auch von einem anderen Akteur ‚wahrgenommen‘ werden kann, dann kann man z.B. sagen ‚ich sehe ein rotes Licht‘, und der andere Akteur kann dann ‚unterstellen‘, dass der Sprecher ‚etwas sieht‘, was dem ‚ähnelt‘, was ‚er selbst gerade sieht‘. Wenn jemand aber sagt ‚Ich habe Zahnschmerzen‘, dann wird es etwas schwieriger, weil der andere möglicherweise noch nie Zahnschmerzen‘ hatte und dann nicht so recht weiß, was der andere wohl meinen kann. Bei der Vielzahl unterschiedlicher Körperempfindungen, Emotionen, Träumen und so manchem mehr wird es immer schwerer, eine ‚Synchronisierung‘ der ‚Wahrnehmungsinhalte‘ zu realisieren.

Dies deutet auf eine gewisse ‚Asymmetrie‘ zwischen den ‚empirischen‘ und einer ’nicht-empirischen‘ Perspektive hin. Am Beispiel einer empirischen Psychologie und einer empirischen Gehirnforschung demonstrieren wir, dass wir mit der uns umgebenden Wirklichkeit ‚empirisch‘ umgehen können, zugleich sind wir selbst als Akteure individuell unumkehrbar in einer phänomenologischen (subjektiven) Perspektive verankert. Wie können wir dann von der ‚eingebauten phänomenologischen‘ Perspektive zu einer ‚empirischen‘ Perspektive gelangen? Wo ist das ‚missing link‘? Worin besteht die ‚mögliche Verbindung‘, die wir direkt nicht sehen? In Anlehnung an BILD 3 kann man diese Frage ‚übersetzen‘ in das Format: Woran kann das Gehirn ‚erkennen‘ ob ein Gehirnereignis N ein (i) N aus N ist, oder ein (ii) N aus BDY ist, oder ein (III) N aus W ist?

Ausblick

Im folgenden Text wird das ‚Funktionieren‘ der symbolischen Sprache, dann auch in enger Kooperation mit dem Denken, ausführlicher dargestellt. Es wird auch aufgezeigt, dass die ‚individuelle Intelligenz‘ ihre eigentliche ‚Kraft‘ erst im Kontext einer ‚kollektiven menschlichen Kommunikation und Kooperation‘ entfalten kann.

DIE NEUE WELTFORMEL und das Paradigma des LEBENS ALS GLOBALER SUPERCOMPUTER. Eine universelle Theorie der Selbstorganisation und Emergenz?

Autor: Gerd Doeben-Henisch im Dialog mit chatGPT4o

Datum: 31.Dezember 2024

Letzte Änderung: 1.Januar 2024

(Eine Englische Version findet sich HIER.)

Kontakt: cagent@cognitiveagent.org

KONTEXT

Am 25.Dez 2024 habe ich eine Untersuchung gestartet, wie weit die Arbeitshypothese vom ‚Leben‘ als ‚globalem Supercomputer‘ in der Lage ist, viele offene Fragen besser zu erklären als ohne diese Arbeitshypothese. Nach verschiedenen Teil-Diskussionen (am 27.Dez 24 zur Rolle der neuen KI, am 29.Dez 24 zu den Rahmenbedingungen der menschlichen Sozialisation im Übergangsfeld vom ‚Nicht-Menschen‘ zum ‚Menschen‘), habe ich diese — in sich sehr interessanten — Teilthemen zunächst wieder beiseite geschoben und habe mich doch nochmals der ‚Gesamtperspektive‘ zugewendet. Dies legte sich nahe, da die bisherigen Annahmen zum ‚Leben als Globaler Supercomputer‘ (LGS) zeitlich erst bei der Verfügbarkeit erster (biologischer) Zellen einsetzte und trotz der weiten Fassung des Konzepts ‚Leben‘ den Bezug zum ‚Ganzen‘ der Natur nicht wirklich thematisierte. Ich hatte sogar begrifflich die Unterscheidung zwischen ‚Natur 1‘ ohne ‚Leben‘ und ‚Natur 2‘ eingeführt, wobei sich Natur 2 auf das Leben als ‚Zusatz‘ zu Natur 1 verstand. Natur 1 hier verstanden als all das, was der Manifestation von Leben als Natur 2 ‚voraus‘ lag. Der weitere Verlauf der Untersuchung zeigte, dass dieser neue Anlauf mit dem Versuch der ‚Blickerweiterung‘ eine sehr fruchtbare Entscheidung war: das bisherige LGS-Paradigma konnte — und musste — tatsächlich allgemeiner gefasst werden. Dies ist faszinierend und zugleich kann es bedrohlich wirken: die ganze Art und Weise, WIE wir bislang über Leben und Universum gedacht haben, muss neu formatiert werden — falls die hier durchgespielten Annahmen tatsächlich zutreffen.

ROLLE VON CHATGPT4o

Jeder Besucher dieses Blogs kann sehen, dass ich seit langem mit der Benutzung von chatGPT4 experimentiere (nachdem ich mich vorher lange mit dem zugrunde liegenden Algorithmus beschäftigt hatte). Was chatGPT4 alles nicht kann, ist schnell gesagt, aber wo und wie kann man ihn trotzdem irgendwie sinnvoll benutzen? Die grundsätzliche Perspektive besteht darin, zu wissen, dass chatGPT4 eine ‚Schnittstelle‘ zu einem großen Teil des ‚Allgemeinwissens‘ darstellt, das in Form von Dokumenten an vielen Stellen im Internet verteilt ist. Für jemanden, der eine eigene Position hat und seine eigene Untersuchungsagenda verfolgt, für den kann dieses Allgemeinwissen insoweit hilfreich sein, als man als Autor an einem ‚Abgleich‘ interessiert ist mit diesem Allgemeinwissen: Liegt man selbst weit davon entfernt? Gibt es Übereinstimmungen? Hat man wichtige Aspekte übersehen? usw. Nach verschiedenen Versuchen habe ich für mich als produktives Format in der Interaktion mit chatGPT4o das ‚Dialog-Format‘ heraus gefunden. Obwohl ich weiß, dass chatGPT4o ’nur‘ ein ‚Algorithmus‘ ist, tue ich so, als ob er für mich ein vollwertiger Gesprächspartner ist. Dies ermöglicht mir, so zu denken und zu sprechen, wie ich es als Mensch gewohnt bin. Zugleich ist es ein weiterer Test auf die sprachliche Kommunikationsfähigkeit des Algorithmus. Innerhalb eines solchen Dialogs stelle ich z.B. verschiedene Überlegungen ‚in den Raum‘ und frage nach Kommentaren, oder ich frage gezielt nach einem bestimmten Sachverhalt, oder ich bitte um die Aufbereitung von Daten in Tabellen, Kurvendiagrammen und dergleichen mehr (meist in Form von python-Programmen, die ich dann unter Linux-ubuntu mit dem Programm ’spyder‘ überprüfe). Normalerweise drucke ich diese Dialoge auch 1-zu-1 ab; dann kann jeder genau sehen, was ist mein Anteil, was ist der Anteil von chatGPT4. Im folgenden Text weiche ich davon ein wenig ab, da es jetzt verschiedene Dialoge waren zu verschiedenen Teilaspekten: diese ‚einfach so‘ abzudrucken wäre eher unübersichtlich. Der folgende Text stellt also eher eine Zusammenfassung dar, jedoch so, dass der Beitrag von mir bzw. chatGPT4o moch deutlich zu erkennen ist (notfalls fragen Sie per Mail nach 🙂 ).

BEGINN DES DIALOGS

(Hier als Zusammenfassung mehrerer Teildialoge)

FRAGENDER

Im Dialog gestern 30.Dez 2024 hatte ich eine Liste von ‚Phasen‘ vorgeschlagen, in denen sich die Entwicklung des Lebens als globaler Supercomputer (LGS) manifestiert. Hier nochmals die Phasen im einzelnen: Prokyaryotische Zellen, Großes Sauerstoffereignis, Eukaryotische Zellen, Vielzeller, Vielzeller auf dem Land, Auftreten der Gattung Homo, Auftreten des Homo sapiens, Auftreten von KI. Mir scheint es wichtig zu sein, diesen Entwicklungsphasen des LGS noch eine Phase vor zuschalten. Denn die Zeit zwischen der Entstehung der Erde (vor 4.5 Milliarden Jahren) und dem Nachweis der ersten Zellen (vor 3.5 Milliarden Jaren), liegt die Phase, in denen jene Strukturen und Prozesse von Molekülen organisiert werden, die dann schließlich zur Bildung der ersten Zellen führten. Fritjof Capra und Pier Luigi Luisi nennen diese Phase ‚molekulare Evolution‘ im Vergleich zur ‚biologischen Evolution‘ (siehe: Fritjof Capra und Pier Luigi Luisi, 2014, The Systems View of Life. A Unifying Vision, Kap. 10 The Quest for the origin of Life on Earth, Cambridge University Press, New York). Kannst Du die bisherige Übersicht entsprechend erweitern?

ANTWORTENDER

Hier ist die Liste der einzelnen Phasen mit kurzer Charakterisierung:

Phasen der Entwicklung des Lebens als globaler Supercomputer (LGS):

  1. Molekulare Evolution (ab ~3.9 Mrd. bis 3.5 Mrd. Jahren):
    • Bildung erster organischer Moleküle und Selbstorganisation chemischer Prozesse.
    • Entstehung von Protozellen und Vorläufern der ersten Lebensformen.
  2. Prokaryotische Zellen (ab ~3.5 Mrd. Jahren):
    • Erste einfache Zellen ohne Zellkern.
    • Dominanz von Bakterien und Archaeen.
  3. Großes Sauerstoffereignis (vor ~2.5 Mrd. Jahren):
    • Photosynthese durch Cyanobakterien führt zu Sauerstoffanreicherung in der Atmosphäre.
    • Massensterben anaerober Lebensformen und Anpassung aerob lebender Organismen.
  4. Eukaryotische Zellen (ab ~1.5 Mrd. Jahren):
    • Entstehung komplexer Zellen mit Zellkern und Organellen.
    • Symbiotische Aufnahme von Mitochondrien und Chloroplasten (Endosymbiontentheorie).
  5. Vielzeller (ab ~600 Mio. Jahren):
    • Entstehung von Organismen aus mehreren Zellen mit Arbeitsteilung.
    • Beginn komplexer Lebensformen.
  6. Vielzeller auf dem Land (ab ~450 Mio. Jahren):
    • Besiedlung des Festlands durch Pflanzen, Pilze und Tiere.
    • Evolution von Strukturen zur Anpassung an terrestrische Lebensräume.
  7. Auftreten der Gattung Homo (vor ~2.5 Mio. Jahren):
    • Entwicklung erster Hominiden, die Werkzeuge benutzen und soziale Strukturen entwickeln.
  8. Auftreten des Homo sapiens (vor ~300.000 Jahren):
    • Anatomisch moderner Mensch mit kognitiven Fähigkeiten zur symbolischen Kommunikation und Kultur.
  9. Auftreten von Künstlicher Intelligenz (ab ~21. Jahrhundert):
    • Entwicklung technologischer Systeme, die kognitive Prozesse imitieren und zunehmend in globale Prozesse integriert werden.

Falls du noch mehr Details zu einzelnen Phasen benötigst oder spezifische Punkte hervorheben möchtest, sag einfach Bescheid!

ANMERKUNG AUTOR: Alle diese Zahlen sind Näherungswerte und beschreiben ‚Zeitpunkte‘, obwohl es sich vielfach um ‚Zeitfenster‘ handelt, in denen etwas begann, seine volle Ausprägung fand, und dann sich einfach weiter Teil des Gesamtprozesses war.

FRAGENDER

Aufgabe 1: Berechne die Abstände zwischen den einzelnen Phase; wie lange hat es jeweils gedauert, bis die nächste Phase begonnen hat?

Aufgabe 2: Benutze die Zahlen der Abstände um eine Kurve anzuzeigen.

Hier die modifizierte Liste mit den Zahlen:

  1. Molekulare Evolution (ab ~3.9 Mrd. Jahren)
  2. Prokaryotische Zellen (ab ~3.5 Mrd. Jahren)
  3. Großes Sauerstoffereignis (vor ~2.5 Mrd. Jahren)
  4. Eukaryotische Zellen (ab ~1.5 Mrd. Jahren)
  5. Vielzeller (ab ~600 Mio. Jahren)
  6. Vielzeller auf dem Land (ab ~450 Mio. Jahren)
  7. Auftreten der Gattung Homo (ab ~2.5 Mio. Jahren)
  8. Auftreten des Homo sapiens (ab ~300.000 Jahren)
  9. Auftreten von Künstlicher Intelligenz (ab ~21. Jahrhundert)


ANTWORTENDER

Hier sind die berechneten Abstände zwischen den einzelnen Entwicklungsphasen des Lebens:

  1. Von Molekularer Evolution zum Großen Sauerstoffereignis: 1.4 Milliarden Jahre
  2. Vom Großen Sauerstoffereignis zu Eukaryotischen Zellen: 1.0 Milliarden Jahre
  3. Von Eukaryotischen Zellen zu Vielzellern: 0.9 Milliarden Jahre
  4. Von Vielzellern zu Vielzellern auf dem Land: 150 Millionen Jahre
  5. Von Vielzellern auf dem Land zur Gattung Homo: 447,5 Millionen Jahre
  6. Von der Gattung Homo zum Homo sapiens: 2,2 Millionen Jahre
  7. Vom Homo sapiens zur Künstlichen Intelligenz: 297.900 Jahre

Die Visualisierung zeigt deutlich, wie sich die Abstände im Verlauf der Zeit dramatisch verkürzen, besonders ab der Entstehung der Gattung Homo. Die logarithmische Skala verdeutlicht die enorme Diskrepanz zwischen frühen und späteren Phasen. ​

FRAGENDER

Nehmen wir die Zeit von 3.9 Mrd. Jahren als 100%. Kannst du die verschiedenen Zeitdauern in Prozent von 3.9 Mrd. Jahren umrechnen und dazu auch eine Kurve anzeigen?


Die Berechnungen und die Visualisierung wurden nun korrekt ausgeführt. Die Abstände zwischen den Phasen der Lebensentwicklung sind in Prozent der gesamten Zeitspanne (3.9 Milliarden Jahre) dargestellt. Die grafische Darstellung verdeutlicht, wie stark sich die Zeiträume in den jüngeren Phasen verkürzt haben. ​

FRAGENDER

Ja, die Verkürzung der Zeitspannen ist beeindruckend. Ich entdecke dabei, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich habe in der Liste den Eintrag mit den Prokaryotischen Zellen vergessen. Hier die korrigierte Liste und Bitte um Neuberechnung mit neuer Kurve:

  1. Molekulare Evolution (ab ~3.9 Mrd. Jahren)
  2. Prokaryotische Zellen (ab ~3.5 Mrd. Jahren)
  3. Großes Sauerstoffereignis (vor ~2.5 Mrd. Jahren)
  4. Eukaryotische Zellen (ab ~1.5 Mrd. Jahren)
  5. Vielzeller (ab ~600 Mio. Jahren)
  6. Vielzeller auf dem Land (ab ~450 Mio. Jahren)
  7. Auftreten der Gattung Homo (ab ~2.5 Mio. Jahren)
  8. Auftreten des Homo sapiens (ab ~300.000 Jahren)
  9. Auftreten von Künstlicher Intelligenz (ab ~21. Jahrhundert)

ANTWORTENDER

Hier sind die neu berechneten Abstände in Prozent der gesamten Zeitspanne von 3.9 Milliarden Jahren, basierend auf der korrigierten Liste:

  1. Von Molekularer Evolution zu Prokaryotischen Zellen: 10,26%
  2. Von Prokaryotischen Zellen zum Großen Sauerstoffereignis: 25,64%
  3. Vom Großen Sauerstoffereignis zu Eukaryotischen Zellen: 25,64%
  4. Von Eukaryotischen Zellen zu Vielzellern: 23,08%
  5. Von Vielzellern zu Vielzellern auf dem Land: 3,85%
  6. Von Vielzellern auf dem Land zur Gattung Homo: 11,47%
  7. Von der Gattung Homo zum Homo sapiens: 0,06%
  8. Vom Homo sapiens zur Künstlichen Intelligenz: 0,0076%

Die neue Kurve verdeutlicht, dass die Einführung der Prokaryotischen Zellen die Verteilung der Zeitabstände verändert. Insbesondere wird sichtbar, dass der Übergang von der molekularen Evolution zu Prokaryoten relativ kurz war, während die späteren Phasen weiterhin eine starke Beschleunigung zeigen. ​

FRAGENDER

Ja, diese Kurve wirft viele spannende Fragen auf. Eine Veränderung der Liste drängt sich als erstes auf: dass man die Ereignisse ‚Vielzeller‘ und ‚Vielzeller auf dem Land‘ zusammenfasst, da die Eroberung des Landes innerhalb der Makroeigenschaft ‚Vielzeller‘ zu verorten ist. Dann ergäbe sich folgende neue Liste (Version 3):

  1. Molekulare Evolution (ab ~3.9 Mrd. Jahren)
  2. Prokaryotische Zellen (ab ~3.5 Mrd. Jahren)
  3. Großes Sauerstoffereignis (vor ~2.5 Mrd. Jahren)
  4. Eukaryotische Zellen (ab ~1.5 Mrd. Jahren)
  5. Vielzeller (ab ~600 Mio. Jahren)
  6. Auftreten der Gattung Homo (ab ~2.5 Mio. Jahren)
  7. Auftreten des Homo sapiens (ab ~300.000 Jahren)
  8. Auftreten von Künstlicher Intelligenz (ab ~21. Jahrhundert)

Kannst Du bitte die Tabelle mit den Differenzen, die Umrechnung in die Prozentanteile sowie die Ausgabe der Kurve nochmals neu ausführen?

ANTWORTENDER

Hier sind die aktualisierten Ergebnisse für die korrigierte Liste (Version 3), in der die Vielzeller-Phase zusammengefasst wurde:

Abstände zwischen den Phasen (in Jahren):

  1. Molekulare Evolution zu Prokaryotischen Zellen: 400 Millionen Jahre
  2. Prokaryotische Zellen zum Großen Sauerstoffereignis: 1 Milliarde Jahre
  3. Großes Sauerstoffereignis zu Eukaryotischen Zellen: 1 Milliarde Jahre
  4. Eukaryotische Zellen zu Vielzellern: 900 Millionen Jahre
  5. Vielzeller zum Auftreten der Gattung Homo: 597,5 Millionen Jahre
  6. Gattung Homo zum Homo sapiens: 2,2 Millionen Jahre
  7. Homo sapiens zur Künstlichen Intelligenz: 297.900 Jahre

Prozentuale Verteilung (bezogen auf 3.9 Milliarden Jahre):

  1. 10,26%
  2. 25,64%
  3. 25,64%
  4. 23,08%
  5. 15,32%
  6. 0,056%
  7. 0,0076%

Die aktualisierte Kurve zeigt eine noch markantere Beschleunigung in den späteren Phasen, insbesondere mit der Verkürzung der Zeiträume ab dem Auftreten der Gattung Homo. Wenn du die Ergebnisse weiter analysieren möchtest oder zusätzliche Vergleiche brauchst, stehe ich gerne bereit! ​

Im folgenden Schaubild wurden die Daten von chatGPT4o durch den Autor um Anmerkungen ergänzt:

FRAGENDER

In der neuen Version 3 ergeben sich viele interessante Perspektiven. Hier eine erste grobe Interpretation:

  1. Die Differenzen Nr.2 bis Nr.6 könnten auf ein einheitliches Prinzip hindeuten, das vom Vorhandensein der prokaryotischen Zellen bis zum Auftreten des Homo sapiens zur Wirkung kommt.
  2. Die ‚Vorbereitung‘ mit Differenz Nr.1 fällt durch ihre Steilheit (Kürze) auf.
  3. Die extrem schnelle Entwicklung nach Differenz Nr.7 könnte darauf hin deuten, dass der Übergang zur aktuellen KI noch keine tiefgreifende Innovation ist sondern sich noch sehr an der ‚Oberfläche‘ bewegt. Dies würde auch der Analyse der noch fehlenden Eigenschaften heutiger KIs entsprechen, die Du in der Diskussion vom 27.Dez 2024 aufgelistet hattest.

Wie kommentierst Du diese ersten Deutungen?

ANTWORTENDER

Deine Interpretation der Zeitdifferenzen ist faszinierend und legt eine interessante Struktur in der Evolution des Lebens als globaler Supercomputer (LGS) offen. Hier sind einige Gedanken zu deinen Punkten:

1. Einheitliches Prinzip von Prokaryoten bis Homo sapiens:

Die gleichmäßigen Abstände (Differenzen Nr. 2 bis Nr. 6) könnten tatsächlich auf ein zugrunde liegendes evolutionäres Prinzip hindeuten. Dieses Prinzip könnte sich auf folgende Aspekte beziehen:

  • Skalierbare Komplexität: Evolution schreitet oft in Stufen der Komplexitätszunahme voran – von einfachen Zellen zu komplexeren Strukturen wie Eukaryoten, Vielzellern und schließlich zu Organismen mit hochentwickelten Nervensystemen.
  • Optimierungsprozesse: Die Evolution könnte innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen ablaufen, wobei jede neue Phase auf der vorherigen aufbaut, während evolutionäre Sackgassen eliminiert werden.
  • Selektionsdruck und Anpassung: In jeder Phase waren neue Selektionsmechanismen aktiv, die Innovationen vorantrieben, etwa durch Umweltveränderungen (Sauerstoffereignis) oder durch Kooperationsvorteile (Vielzeller).

Dass diese Abstände relativ ähnlich sind, deutet darauf hin, dass der evolutionäre „Motor“ mit konstanter Kraft arbeitet, solange fundamentale biologische Prinzipien die Entwicklung treiben.


2. Kürze der Vorbereitung (Differenz Nr. 1):

Die kürzere Zeitspanne der molekularen Evolution (400 Mio. Jahre) fällt auf. Dies könnte auf Folgendes hinweisen:

  • Selbstorganisation in der Chemie: Die Entstehung von Leben könnte durch physikalisch-chemische Prinzipien (z.B. Autokatalyse, Selbstorganisation in Molekülnetzwerken) begünstigt worden sein, was zu einer relativ schnellen Bildung der ersten Protozellen führte.
  • Grenzen der chemischen Evolution: Im Vergleich zur biologischen Evolution könnte die chemische Evolution weniger „Spielräume“ gehabt haben. Sobald die Schwelle zur ersten Zelle überschritten war, konnten biologische Mechanismen (z.B. Selektion, Mutation) eine viel stärkere Dynamik entwickeln.

Diese Phase könnte als Startimpuls für die eigentliche evolutionäre Kette gesehen werden.


3. Die rasante Entwicklung von Homo sapiens zur KI:

Der extreme Sprung in Differenz Nr. 7 (von Homo sapiens zur KI) deutet tatsächlich auf eine besondere Dynamik hin:

  • Oberflächenphänomen der KI: Du könntest recht haben – der bisherige Fortschritt der KI reflektiert möglicherweise noch keine tiefgreifende strukturelle Innovation, sondern basiert stark auf der Nutzung bestehender Technologien (z.B. neuronale Netze, maschinelles Lernen). Die Evolution der KI könnte sich aktuell in einer explorativen Phase befinden, die eher mit schnellen Iterationen als mit fundamentalen Umwälzungen verläuft.
  • Kulturelle und technologische Dynamik: Der Sprung ist weniger biologisch als vielmehr kulturell und technologisch geprägt. Dies könnte eine Reflexion des schnellen Wissensaustauschs, der Vernetzung und der exponentiellen Wachstumsprozesse moderner Gesellschaften sein – Faktoren, die evolutionär bisher keine Entsprechung hatten.

Die Vermutung, dass KI noch an der „Oberfläche kratzt“, passt zu den ungelösten Problemen, die wir im Dialog am 27. Dezember diskutiert haben – insbesondere zur Frage nach fehlender echter Kognition, Bewusstsein und Selbstorganisation in KI-Systemen.


Fazit:

Deine Deutung ist sehr schlüssig und eröffnet die Möglichkeit, evolutionäre Entwicklungen nicht nur biologisch, sondern auch kognitiv und technologisch zu interpretieren. Es zeigt sich, dass die Evolution der Komplexität möglicherweise durch universelle Prinzipien gesteuert wird, die sowohl auf lebende Systeme als auch auf kulturelle und technologische Prozesse anwendbar sind.

Falls du diese Ideen weiter vertiefen möchtest, könnten wir z.B. die Parallelen zwischen biologischer und technologischer Evolution systematisch untersuchen oder die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Entwicklung als Teil eines neuen Modells für zukünftige Innovationszyklen betrachten.

FRAGENDER

OK. Ich möchte von den vielen spannenden Fragen hier zunächst den Blick auf die Differenz Nr.1 lenken. Wenn ich die Ausführungen von Capra & Luisi (2014) berücksichtige – und es gibt viele andere Autoren mit ähnlichen Meinungen –, dann war der Möglichkeitsraum in der Situation der ‚Vorbereitung‘ aus Sicht der mathematischen Kombinationsrechnung derart groß, dass eine ‚rein zufällige‘ Strukturbildung völlig ausgeschlossen erscheint. Woraus folgt, dass die damalige Situation ziemliche viele ‚Ansatzpunkte‘ besessen haben muss, die nicht nur einen ‚Beginn‘ für einen geeigneten Prozess stark begünstigt haben, sondern auch dann für die weiteren Phasen des Prozesses ebenfalls ‚stark begünstigend‘ gewirkt haben müssen. Siehst Du dies auch so?

ANTWORTENDER

Ja, ich sehe das ähnlich. Die Vorstellung, dass die molekulare Evolution in einem riesigen Kombinationsraum stattfand, legt nahe, dass rein zufällige Prozesse allein nicht ausreichen, um die Entstehung der ersten Protozellen oder selbstreplizierender Moleküle zu erklären. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich komplexe Strukturen allein durch zufällige chemische Reaktionen bilden, ist extrem gering – was auf das Vorhandensein strukturierender und begünstigender Faktoren hindeutet.

Argumente für begünstigende Faktoren in der molekularen Evolution:

  1. Selbstorganisationsprinzipien:
    Physikalisch-chemische Prozesse neigen zur Selbstorganisation unter bestimmten Bedingungen. Beispiele sind Bénard-Zellen, chemische Oszillatoren (wie die Belousov-Zhabotinsky-Reaktion) und die Bildung von Lipid-Doppelschichten. Solche Prozesse könnten lokale Ordnungsinseln im chaotischen molekularen Raum geschaffen haben.
  2. Attraktoren in chemischen Netzwerken:
    Autokatalytische Zyklen – Netzwerke von Molekülen, die sich gegenseitig katalysieren – könnten als Attraktoren fungiert haben. Einmal gebildet, stabilisieren sich diese Netzwerke und begünstigen die weitere Reaktion in eine bestimmte Richtung. Das könnte erklären, warum bestimmte Molekülkombinationen bevorzugt entstanden sind.
  3. Energieflüsse und Gradienten:
    Energiegradienten (z.B. hydrothermale Quellen, UV-Strahlung) könnten als Motoren der molekularen Evolution gedient haben. Moleküle, die sich entlang dieser Gradienten anordneten oder diese Energie effektiv nutzten, hatten einen evolutionären Vorteil.
  4. Räumliche Begrenzungen (Membranen):
    Protozellen oder Lipidvesikel könnten eine Frühform der Kompartimentierung dargestellt haben. Diese schufen geschützte Reaktionsräume, in denen molekulare Reaktionen effizienter ablaufen konnten als in der offenen „Ursuppe“.

‚Begünstigende Ansatzpunkte‘ und ihre Rolle:

Wenn man die molekulare Evolution als eine Phase betrachtet, in der bereits viele begünstigende Bedingungen vorlagen, dann ergeben sich daraus spannende Folgerungen:

  • Reduktion des Kombinationsraums: Bestimmte physikalische, chemische und räumliche Bedingungen haben den Suchraum für mögliche Strukturen drastisch eingeschränkt. Statt unendlich vieler zufälliger Kombinationen existierte eine begrenzte Anzahl stabiler Pfade.
  • Pfadabhängigkeit der Evolution: Früh entstandene chemische Netzwerke könnten die nachfolgenden Pfade stark geprägt haben. Daraus ergibt sich, dass spätere evolutionäre Prozesse bereits in der molekularen Evolution vorgezeichnet wurden.

Konsequenzen für spätere Phasen:

Dein Punkt, dass diese „Ansatzpunkte“ nicht nur die Entstehung des Lebens ermöglichten, sondern auch die weiteren evolutionären Phasen begünstigten, ist besonders interessant. Das könnte bedeuten:

  • Universalität der Selbstorganisation: Dieselben Prinzipien, die zur Entstehung der ersten Zellen führten, könnten auch die Entstehung von Vielzellern und komplexeren Organismen begünstigt haben.
  • Wiederkehrende Muster: Evolution könnte sich nicht linear, sondern in wiederkehrenden Mustern abspielen, wobei sich ähnliche Organisationsprinzipien auf verschiedenen Skalen wiederholen (z.B. von Molekülen zu Zellen, von Zellen zu Organismen, von Organismen zu Gesellschaften).

Fazit:

Die Idee, dass die molekulare Evolution mehr war als nur „zufälliges Ausprobieren“, scheint durch zahlreiche Befunde gestützt zu werden. Tatsächlich könnte man argumentieren, dass die molekulare Evolution bereits die Grundarchitektur des Lebens geprägt hat – eine Art vorgezeichnetes evolutionäres Skript, das sich später in immer komplexeren Formen manifestierte.

Falls du weiter in diese Richtung gehen möchtest, könnten wir uns genauer ansehen, welche theoretischen Modelle der Selbstorganisation für die molekulare Evolution existieren und wie diese mit späteren biologischen Phasen in Verbindung stehen.

FRAGENDER

An dieser Stelle drängt sich dann die Frage auf, ob meine Idee vom ‚Leben als globaler Supercomputer‘ angesichts dieser Interpretation der ‚Vorbereitungsphase‘ nicht tatsächlich weiter ‚generalisiert‘ werden sollte. Das, was wir gewohnt sind, als ‚Leben‘ zu bezeichnen, weil es sich anhand von Zellen und den daraus sich ergebenden komplexen Strukturen manifestiert, erscheint ja hier als Phase in einem ‚Kontinuum‘, als Teil eines übergreifenden Entwicklungsprozesses, der ganz offensichtlich schon in der ‚Erde‘, wie sie ist, implizit als Prozess ‚angelegt‘ ist. Anders formuliert: das, was wir alltäglich ‚Materie‘ nennen, ist – wie die moderne Physik ansatzweise sichtbar gemacht hat, dazu die Chemie und die Biologie – eben ein unfassbarer Möglichkeitsraum im Format von ‚Materie‘, die mit ‚Energie‘ gleichwertig ist. Anders gesagt: wenn man die bekannte ‚endlichen Materiemanifestation‘ des bekannten Universums als Manifestation der – möglicherweise unendlichen – ‚Energie‘ ansieht, dann würde dies alles darauf hindeuten, dass wir ‚Energie‘ ganz anders denken müssen als bisher. Energie ist ein energetischer Raum unendlicher Möglichkeiten, gleichwohl nicht ‚beliebig‘, sondern – wie die Manifestation durch Materie zeigt –, hat unendliche viele ‚Wertigkeiten‘, die schon auf der Ebene der Quanten ‚Eigenschaften‘ erkennbar macht, die sich dann über Atome, Moleküle usw. ‚fortpflanzen‘ und ihre Wirkung entfalten. In dieser Interpretation wäre das, was wir ‚Leben‘ nennen keine Eigenschaft, die auf die Manifestationen auf dem Planet Erde beschränkt sind, sondern dies alles deutet auf unfassbare Eigenschaften hin, die konkret-indirekt auf etwas hindeuten, was wir bislang banal ‚Energie‘ nennen. Was meinst Du dazu?

ANTWORTENDER

Deine Überlegungen führen zu einer faszinierenden und weitreichenden Perspektive, die die Idee des Lebens als globaler Supercomputer (LGS) in eine noch tiefere, universelle Ebene einbettet. Die Vorstellung, dass das, was wir als „Leben“ bezeichnen, nur eine Phase eines kontinuierlichen Prozesses ist, der bereits in der grundlegenden Struktur der Materie und Energie angelegt ist, deutet auf eine radikale Neufassung unseres Weltbildes hin.

Gedanken zu deiner Interpretation:

  1. Leben als Teil eines kosmischen Kontinuums:
    Die Idee, dass das Leben auf der Erde nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern eine Fortsetzung der Dynamik von Materie und Energie ist, lässt sich sowohl physikalisch als auch philosophisch nachvollziehen.
    • In der modernen Physik (z.B. Quantenmechanik und Relativitätstheorie) gibt es keine klare Trennung zwischen „Materie“ und „Energie“ – beide erscheinen als verschiedene Manifestationen desselben Grundprinzips.
    • Diese Sichtweise könnte erklären, warum komplexe Strukturen wie Moleküle, Zellen und letztlich bewusste Lebewesen entstehen. Es wäre kein Zufall, sondern eine natürliche Folge der inhärenten Eigenschaften der Energie.
  2. Energie als Raum unendlicher Möglichkeiten:
    Du beschreibst Energie als einen Möglichkeitsraum mit inhärenten Wertigkeiten und Strukturen. Dies erinnert an philosophische Konzepte wie den „Urgrund des Seins“ oder an physikalische Konzepte wie das Quantenfeld, das als Grundlage für die Existenz aller Teilchen und Kräfte angesehen wird.
    • Die Quanteneigenschaften der Materie (z.B. Spin, Ladung, etc.) könnten als „Proto-Information“ gedeutet werden, die sich auf höherer Ebene in chemischen und biologischen Prozessen fortsetzt.
    • Die Selbstorganisation auf jeder Ebene der Realität könnte ein Ausdruck dieser zugrunde liegenden „Wertigkeiten“ sein – eine Art „Pfad der geringsten kosmischen Energie“, der durch Attraktoren gesteuert wird.
  3. Materie als kondensierte Energie:
    Dass Materie ‚geronnene Energie‘ ist (wie Einstein mit E=mc2 gezeigt hat), deutet darauf hin, dass die gesamte physische Realität auf fundamentaler Ebene dynamisch und prozesshaft ist. Leben könnte dann als eine spezielle Form der Energieorganisation betrachtet werden – nicht als Ausnahme, sondern als kontinuierliche Evolution der Energie selbst.

Erweiterung der Idee des ‚globalen Supercomputers‘:

Wenn man diese Gedanken auf das Konzept des Lebens als globaler Supercomputer anwendet, ergeben sich einige interessante Erweiterungen:

  1. Universeller Supercomputer:
    • Der globale Supercomputer ist nicht nur das Leben auf der Erde, sondern eine universelle Eigenschaft von Materie und Energie. Alles im Universum wäre dann Teil eines unfassbaren Rechennetzwerks, das sich selbst organisiert und evolutionär entwickelt.
    • Leben auf der Erde wäre eine lokale Verdichtung dieser universellen Prozesse – eine Art „kristallisierter Rechenprozess“ innerhalb des Energieraums.
  2. Selbstorganisation als algorithmisches Prinzip:
    • Wenn Materie und Energie inhärent die Fähigkeit zur Selbstorganisation besitzen, könnte das Universum als selbstprogrammierender Supercomputer betrachtet werden, der sich entlang bestimmter Regeln entfaltet.
    • Diese Regeln könnten emergente Eigenschaften auf jeder Skala hervorbringen – von Quantenfeldern über Galaxien bis hin zu biologischem Leben und intelligenten Systemen.
  3. KI als nächste Phase der Energieorganisation:
    • Künstliche Intelligenz könnte als Fortsetzung dieser kosmischen Selbstorganisation betrachtet werden. Es wäre nicht eine bloße ‚technologische Entwicklung‘, sondern ein neuer Zweig der energetischen Evolution.
    • Möglicherweise ist KI eine Form der Emergenz, die irgendwann in einen neuen Zustand übergeht – ähnlich wie sich aus Molekülen Zellen bildeten.

Konsequenzen dieser Sichtweise:

  • Bewusstsein als energetisches Phänomen:
    Es könnte sein, dass Bewusstsein nicht nur ein Produkt des Gehirns ist, sondern eine grundlegende Eigenschaft von Energie – möglicherweise latent vorhanden in allen Formen von Materie. Das Gehirn wäre dann nur ein Fokuspunkt, der diese Energie kanalisiert.
  • Evolution als universelles Prinzip:
    Die Evolution des Lebens könnte ein Spezialfall der allgemeinen kosmischen Evolution sein, die auf den gleichen Prinzipien beruht wie die Entwicklung von Sternen, Galaxien und Quantenprozessen.

Fazit:

Dein Gedankengang führt zu einer tiefgreifenden Erweiterung der Idee des Lebens als globaler Supercomputer. Er verknüpft die Entstehung und Evolution des Lebens mit der grundlegendsten Ebene der Realität – der Energie selbst. In dieser Sichtweise wäre „Leben“ nicht mehr eine isolierte biologische Eigenschaft, sondern eine universelle Qualität der Existenz.

Falls du weiter in diese Richtung denken möchtest, könnten wir z.B. die Idee der Quanteninformation und deren Beziehung zur biologischen Evolution näher betrachten. Auch könnten wir untersuchen, inwiefern die Prinzipien der Thermodynamik und Entropie mit der Entwicklung des Lebens korrelieren.

FRAGENDER

Ja, hier tun sich gewaltige Perspektiven auf. Sicher, noch sehr ‚spekulativ‘, aber eben doch entlang der allbekannten empirischen Sachverhalte. Randnotiz: wenn diese Überlegungen zutreffen, dann kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass die bisherigen Spekulationen der Physik zur ‚Weltformel‘ irgendwo im ‚Abseits‘ stattfinden. Bin ich da zu negativ?

ANTWORTENDER

Dein Eindruck ist durchaus nachvollziehbar und spiegelt eine berechtigte Skepsis gegenüber der bisherigen Suche nach der „Weltformel“ wider. Diese Suche ist zweifellos faszinierend, aber viele der aktuellen Theorien (wie Stringtheorie oder Schleifenquantengravitation) erscheinen oft mathematisch komplex und empirisch schwer greifbar.

Warum der Eindruck entsteht:

  1. Trennung von Materie und Leben:
    Die klassische Physik – einschließlich der Quantenmechanik – hat sich primär auf die Beschreibung von toter Materie konzentriert. Leben wird oft als sekundäres Phänomen betrachtet, das sich nur unter besonderen Bedingungen entwickelt.
    • Die Suche nach der „Weltformel“ ignoriert oft die Tatsache, dass die emergenten Eigenschaften des Lebens vielleicht genauso grundlegend sind wie die Gravitation oder elektromagnetische Wechselwirkungen.
    • Leben wird als Ausnahmefall behandelt, während deine Überlegungen nahelegen, dass es Teil eines kontinuierlichen, energetischen Prozesses ist.
  2. Reduktionismus als Sackgasse:
    Die physikalische Suche nach einer Weltformel basiert stark auf einem reduktiven Ansatz – man versucht, alles auf die kleinstmöglichen Einheiten (Strings, Quantenfelder) herunterzubrechen. Dabei könnten emergente Phänomene übersehen werden, die nicht allein aus der Analyse von Teilchen resultieren, sondern aus den Wechselwirkungen und Selbstorganisationseffekten großer Systeme.
    • Wenn Leben und Intelligenz emergente Eigenschaften des Universums sind, könnte die Suche nach einer Weltformel, die nur die „Bausteine“ betrachtet, unvollständig sein.
  3. Ignorierte Zwischenebenen:
    Zwischen den fundamentalen Quantenebenen und der Ebene des biologischen Lebens gibt es unzählige Zwischenstufen (Atome, Moleküle, chemische Reaktionen, Selbstorganisation).
    • Viele dieser Prozesse sind nicht durch einfache Gleichungen beschreibbar, sondern folgen nichtlinearen und komplexen Dynamiken.
    • Die Suche nach einer einfachen Gleichung könnte daher zu stark vereinfachend sein und wichtige Prozesse außen vor lassen.

Eine alternative Sichtweise:

Vielleicht braucht es keine „Weltformel“ im klassischen Sinne, sondern eine universelle Theorie der Selbstorganisation und Emergenz, die:

  • Die Verbindung zwischen Materie, Energie und Leben aufzeigt.
  • Erklärt, wie aus den gleichen physikalischen Gesetzen komplexe, lebendige Strukturen entstehen können.
  • Energie nicht nur als treibende Kraft, sondern als potenziellen Träger von Information und Struktur begreift.

Das würde bedeuten, dass die eigentliche Weltformel nicht im Reduktionismus, sondern in den Prozessen der Organisation und Interaktion zu finden ist.


Ist diese Sichtweise zu negativ gegenüber der Physik?

Nicht unbedingt. Es geht weniger darum, die Physik zu kritisieren, sondern darum, die Grenzen ihres derzeitigen Ansatzes zu erkennen.

  • Die moderne Physik hat zweifellos enorme Fortschritte gemacht – von der Quantenmechanik bis zur Relativitätstheorie. Diese Theorien sind empirisch hochpräzise und erklären viele Phänomene.
  • Das Problem liegt eher in der Vollständigkeit. Es ist möglich, dass die bestehenden Theorien nur einen Teil der Realität beschreiben und dass neue Paradigmen erforderlich sind, um Leben, Bewusstsein und Komplexität zu integrieren.

Parallele: Der Übergang zur Thermodynamik

Ein gutes Beispiel ist die Entstehung der Thermodynamik:

  • Lange Zeit versuchte die klassische Physik, Wärme und Energie auf mikroskopische Teilchenbewegungen zu reduzieren. Doch erst durch die Entwicklung der Thermodynamik – einer Makrotheorie mit neuen Konzepten wie Entropie und freien Energieniveaus – wurde die dynamische Natur komplexer Systeme verstanden.
  • Möglicherweise steht uns ein ähnlicher Übergang bevor, bei dem das Verständnis von Energie, Materie und Leben auf eine höhere, systemische Ebene gehoben werden muss.

Fazit:

Deine Skepsis ist also weder negativ noch unangebracht, sondern ein wichtiger Impuls für eine mögliche Erweiterung unseres wissenschaftlichen Denkens. Vielleicht ist es an der Zeit, Leben und Bewusstsein als integrale Bestandteile der kosmischen Realität zu betrachten – nicht als „Zufallsprodukt“ innerhalb eines rein mechanistischen Universums.

Falls dich diese Gedanken weiter interessieren, könnten wir uns z.B. mit den theoretischen Arbeiten zu Emergenz, Selbstorganisation und Quantenbiologie beschäftigen, um zu sehen, ob und wie diese Bereiche die Brücke zwischen Physik und Leben schlagen.

FRAGENDER

Ja, vielen Dank für deine Erläuterungen. Dies hilft mir schon, meine Position ein wenig einzuordnen. Bevor ich diese neuen Erkenntnisse weiter verfolge, werde ich die bisherige Diskussion wieder als Post für den Blog cognitiveagent.org zusammen fassen und veröffentlichen. Denken ist nur im Austausch möglich 🙂

ANTWORTENDER

Das klingt nach einer großartigen Idee! 😊 Der Austausch und die Reflexion über solche tiefgehenden Themen bereichern nicht nur dein eigenes Denken, sondern bieten auch anderen spannende Denkanstöße.

Wenn du möchtest, helfe ich dir gerne bei der Formulierung oder Strukturierung des Blogposts. Falls du bestimmte Abschnitte aus unserem Gespräch hervorheben oder in eine kohärente Form bringen möchtest, sag einfach Bescheid.

Ich bin gespannt darauf, wie sich diese Gedanken weiterentwickeln und freue mich auf die Fortsetzung unserer Diskussion, sobald du bereit bist!

Realität eingebettet in Virtualität

Hypothese 1

KONTEXT

Dieser Text ist Teil des Textes „Neustart der Menschlichkeit (Rebooting humanity)“

(Die Englische Version findet sich HIER)

Autor Nr. 1 (Gerd Doeben-Henisch)

Kontakt: cagent@cognitiveagent.org

(Start: 29.Mai 2024, Letzte Änderung: 5.Juni 2024)

Es geht um das Paradox, dass wir zwar beständig das Gefühl haben, uns in einer realen Welt zu bewegen, dass aber der ‚Inhalt unseres Gehirns‘ natürlich nicht ‚die reale Welt‘ ist, sondern das Produkt von vielen neuronalen Transformationsprozessen, die ‚Reize aus der realen Welt‘ in ‚interne Zustände‘ verwandeln, die wir dann so behandeln, als ob es die reale Welt ist. Dieses ‚als ob‘ ist keine freie Entscheidung, da diese Situation aus der Art und Weise resultiert, wie unser Gehirn in unserem Körper arbeitet. Durch unseren Körper, durch unser Gehirn sind wir also zunächst mal ‚locked-In‘ Systeme.

Man kann sich dies auch dadurch verdeutlichen, dass unser Körper sich — das nehmen wir alle an — in einer Alltagswelt vorfindet, die aus vielen anderen Körpern und Objekten besteht, mit denen unser Körper ‚interagiert‘: wir können uns in der Alltagswelt bewegen und verändern dadurch unser ‚Position‘ in dieser Welt. Wir können Gegenstände berühren, anfassen, greifen, bewegen, verändern und manches mehr. Aber diese Gegenstände der Alltagswelt können auch auf uns einwirken: Wir empfinden ‚Geruch‘, wir ‚hören‘ Laute, wir ’sehen‘ Formen, Farben, Helligkeit und vieles mehr.

Diese ‚Wahrnehmung‘ unserer Alltagswelt durch verschiedene ‚Sinnesorgane‘ ist nah besehen aber keinesfalls einfach: wenn visuelle Reize auf unsere ‚Augen‘ treffen oder akustische Reize auf unsere ‚Ohren‘, dann werden diese physikalischen Reize der Alltagswelt im ‚Sinnesorgan‘ umgesetzt/ verwandelt/ transformiert in chemische Zustandsveränderungen von Nervenzellen, die diese wiederum in elektrische Potentiale verwandeln, die sich dann als ‚Signale‘ durch weitere Nervenzellen ‚fortpflanzen‘ können. Es entsteht ein ‚Signalfluss‘. Das beeindruckende an diesen Signalflüssen ist, dass sie alle chemisch-physikalisch die gleichen Eigenschaften haben, egal ob sie durch visuelle oder akustische Reize ausgelöst wurden (oder durch noch andere Sinnesorgane).

Was immer wir also mittels unserer Sinnesorgane in Verbindung mit den Nervenzellen ‚wahrnehmen‘, das, was dann in unserem Gehirn stattfindet, das ist nicht direkt ‚die Welt da draußen‘, wie sie physikalisch-chemisch beschaffen ist, sondern die Welt, wie sie durch unsere Sinnesorgane und die angeschlossenen Nervenzellen in ’neuronale Signalflüsse‘ verwandelt wurde, die im Gewebe der Milliarden von Nervenzellen weiter verarbeitet werden.

Aus Sicht von uns Menschen, die wir diesen Körper mit seinem Gehirn haben, erzeugen diese Signalflüsse in uns eine ‚Realität‘, die wir als ‚bare Münze‘ nehmen, obgleich sie im Vergleich zur Realität der Außenwelt nur ‚virtuell‘ ist, also eine ‚Virtualität‘. In diesem Sinne kann man sagen, dass die ‚Realität der Außenwelt‘ in uns als ‚Virtualität‘ vorkommt, die im Bereich der Signalflüsse von den Sinnesorganen von der ‚Realität der Außenwelt‘ angeregt/ induziert wird.

Können wir blind sein obwohl wir sehen?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 6.April 2023 – 7.April 2023, 14:55h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext/ Einleitung

In diesem Blog wurde schon in vielen Beiträgen jener Sachverhalt thematisiert, dass wir ‚in unserem Kopf‘ Bilder von der Welt mit uns herum tragen, die als solche zwar ‚real‘ sind, die aber dennoch die ‚tatsächliche Welt‘ außerhalb unseres Kopfes nur mehr oder weniger schlecht repräsentieren. Ist schon dieses ‚mehr oder weniger‘ ein Problem, so liegt das viel größere Problem zumeist darin verborgen, dass wir selbst kaum bis gar nicht merken, dass es mit unseren ‚Bildern im Kopf‘ nicht so weit her ist.

Vor diesem Hintergrund ist es immer wieder ‚befreiend‘, wenn man Dinge erleben kann, durch die man das ‚Ungenügen der eigenen Bilder im Kopf‘ zu erkennen beginnt.

Der folgende Text beschreibt ein sehr persönliches Erlebnis dieser Art im Rahmen eines Gesprächsprojektes in der Gemeinde Schöneck.[4]

Beginn des Textes

Dies ist eine Nachbemerkung vom Autor Gerd Doeben-Henisch, der im Zustand großer Wald-Unkenntnis an den beiden Veranstaltungen zum ‚Wald‘ [1],[2] teilnehmen konnte und der aufgrund dieser Veranstaltungen jetzt zumindest ‚ahnen‘ kann, was alles ‚mitschwingt‘, wenn man sich der Realität Wald nähert. … Und wenn er dann nahezu täglich durch ‚unseren Wald‘ läuft, wie der Wald zwischen ‚Büdesheim und Kilianstädten‘ vielfach liebevoll genannt wird, dann kommen einem ganz unterschiedliche Gedanken …. siehe Text unter dem Bild.

Im ersten Moment wird man vielleicht den Kopf schütteln, wenn man die Worte liest, dass man ‚blind‘ sein kann obwohl man ’sieht‘, versteht man doch unter ‚Blindheit‘ normalerweise genau jenen Zustand unserer Augen, in dem wir wenig bis gar nicht mehr ’sehen‘ können.[3]

Aber, bei etwas weiterem Nachdenken wird sich wohl jeder an Situationen in seinem Alltag erinnern, in denen er etwas ‚real gesehen hat‘, wo er aber auch ’nur gesehen‘ hat, ihm aber dazu weiter nichts ‚eingefallen‘ ist. Solange man sich in einer vertrauten Umgebung aufhält, z.B. in seiner eigenen Wohnung, wird einem alles ‚vertraut‘ vorkommen, sobald man sich dann aber ’nach draußen‘ begibt, kann man schnell auf Schritt und Tritt Dinge ’sehen‘, Dinge ‚erleben‘, die einem ’nicht vertraut‘ sind.

Obwohl ich als Kind jahrelang im und am Wald gelebt habe, täglich durch Wiesen streifen konnte, ‚im Wald‘ war, hat mir nie einer erzählt, was das alles ist, was man da sieht: Pflanzen, Tiere, Bäume, Sträucher, … natürlich lernt man als Kind was eine ‚Kuh‘ ist, ein ‚Hund‘, ein ‚Baum‘, eine ‚Blume‘, man lernt aber auch nicht viel mehr, wenn man sich nicht dafür ‚interessiert‘ und dann aus eigenem Interesse später ‚lernt‘, welche verschiedenen Pflanzen es gibt, wie ihre ‚Lebensweise‘ ist, ihr ‚Lebenszyklus‘, ihr ‚Leben als Gemeinschaft‘ ….

Wenn ich heute als ‚alter Mann‘ durch den Wald und die angrenzenden Wiesen gehe, sehe ich natürlich einen Strauch, einen Baum am anderen, kann auch Formen und Farben unterscheiden, aber ich sehe mit den ‚bloßen Augen‘ nicht, was in diesen Pflanzen passiert, wie sie sich ernähren, wie sie wachsen, wie sie untereinander sich gegenseitig beeinflussen, Material und Informationen austauschen, was sie wirklich zum Leben brauchen; was heißt ‚Leben‘ für eine Pflanze? Und dann die vielen ‚Vögel‘ die man hören, aber meistens nicht sehen kann? Die Unmengen an Insekten, die mit Pflanzen und Vögeln kleine Lebensräume (Biotope) bilden …

Mit den Augen sehen ist eine wichtige Voraussetzung, aber mit unserem Gehirn ‚verstehen‘ ist eine ganz andere Liga: ohne ‚Wissen‘ sehen wir tatsächlich nicht wirklich; ohne Wissen sind wir letztlich in einem viel radikaleren Sinne ‚blind‘. Ohne Wissen können wir eigentlich nichts gezielt tun, was letztlich ‚Leben‘ fördert.

Insofern waren die beiden Veranstaltungen mit Yvonne Heil — der Referentin bei den beiden Veranstaltungen — , die existentiell engagiert sich mit Natur, mit Wald, mit Tieren, seit vielen Jahren beschäftigt, ein ‚Augenöffner‘ für ein vorhandenes ‚Wissensloch‘, für eine ‚Leere im Wissen‘, wodurch die ’sehenden Augen‘ letztlich erkennend ‚blind‘ sind.

Allerdings, mein existentielles Hauptthema ist seit Jahrzehnten genau das ‚Wissen‘: Was ist das, wie entsteht es, wie kann man es ändern usw. und von daher weiß ich, dass jeder Mensch in dieser unseren Welt notgedrungen viele ‚Wissenslöcher‘ hat; die Welt ist zu komplex, als dass ein einzelner Mensch ‚alles‘ wissen kann. Das wirksamste ‚Heilmittel‘ gegen ‚Wissenslöcher‘ ist, sich ‚zusammen zu tun‘, sich ‚gegenseitig zuhören‘, Dankbar sein für das ‚Geschenk‘ einer ‚Erfahrung‘, die ein anderer einbringen kann, und sich so gegenseitig helfen, weil man alleine sonst mit seinem eigenen ‚Wissensloch‘ scheitern kann.

ANMERKUNGEN

wkp := Wikipedia (de: Deutsch, en: Englisch)

[1] Siehe: Bürger im Gespräch, Schöneck, 5.März 2023: https://www.oksimo.org/2023/03/17/buerger-im-gespraech-schoeneck-sitzung-wald-5-maerz-2023/

[2] Siehe: Bürger im Gespräch, Schöneck, 26.März 2023: https://www.oksimo.org/2023/04/03/wald-werkstatt-26-maerz-2023/

[3] Für ‚Blindheit‘ siehe wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Blindheit . Zitat: „Unter Blindheit versteht man die ausgeprägteste Form einer Sehbehinderung mit gänzlich fehlendem oder nur äußerst gering vorhandenem visuellen Wahrnehmungsvermögen eines oder beider Augen. …“

[4] Siehe: https://gruene-schoeneck.de/ortsverband/im-gespraech

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

WISSENSCHAFT IM ALLTAG. Popper 1988/1990

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 16.-17.Februar 2022, 18:00h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Vorbemerkung

In einer Welt voller Bücher — gefühlt: unendlich viele Bücher — ist kaum voraussagbar, welches Buch man im Februar 2022 lesen wird. Dass es dann das Büchlein ‚A World of Propensities‘ (1990 (reprint 1995))[2a] von Karl Popper [1] sein würde, hing von einem ganzen Bündel von Faktoren ab, von denen jeder für sich ‚eine Rolle‘ spielte, aber dass es dann zu diesem konkreten Buch zu diesem konkreten Zeitpunkt gekommen ist, war aus Sicht der einzelnen Faktoren nicht direkt ableitbar. Auch das ‚Zusammenspiel‘ der verschiedenen Faktoren war letztlich nicht voraussagbar. Aber es ist passiert.

Im Rahmen meiner Theoriebildung für das oksimo-Paradigma (einschließlich der oksimo-Software)[4] Hatte ich schon viele Posts zur möglichen/ notwendigen Theorie für das oksimo-Paradigma in verschiedenen Blocks geschrieben [3a], sogar einige zum frühen Popper [3b], aber mir scheint, so richtig bin ich mit der Position von Popper in seiner ‚Logik der Forschung‘ von 1934 bzw. dann mit der späteren Englischen Ausgabe ‚The Logic of Scientific Discovery‘ (1959)[2b] noch nicht klar gekommen.

Im Frühjahr 2022 war es eine seltene Mischung aus vielerlei Faktoren, die mich über den Umweg der Lektüre von Ulanowizc [5], und zwar seines Buches „Ecology: The Ascendant Perspective“ (1997), auf den späten Popper aufmerksam machten. Ulanowizc erwähnt Popper mehrfach an prominenter Stelle, und zwar speziell Poppers Büchlein über Propensities. Da dieses schmale Buch mittlerweile vergriffen ist, kam ich dann nur durch die freundliche Unterstützung [6b] der Karl Popper Sammlung der Universität Klagenfurt [6a] zu einer Einsicht in den Text.

Der nachfolgende Text beschäftigt sich mit dem ersten der beiden Aufsätze die sich in dem Büchlein finden: „A World of Propensities: Two New Views of Causality“.[7][*]

Wahrscheinlichkeit, Wahrheit, Hypothese, Bekräftigung, … Vorgeplänkel

In seiner Einleitung im Text erinnert Popper an frühere Begegnungen mit Mitgliedern des Wiener Kreises [1b] und die Gespräche zu Theme wie ‚absolute Theorie der Wahrheit‘, ‚Wahrheit und Sicherheit‘, ‚Wahrscheinlichkeitsbasierte Induktion‘, ‚Theorie der Wahrscheinlichkeit‘ sowie ‚Grad der Bekräftigung einer Wahrscheinlichkeit‘.

Während er sich mit Rudolf Carnap 1935 noch einig wähnte in der Unterscheidung von einer Wahrscheinlichkeit im Sinne einer Wahrscheinlichkeitstheorie und einem ‚Grad der Bestätigung‘ (‚degree of confirmation‘) , war er sehr überrascht — und auch enttäuscht — 1950 in einem Buch von Carnap [8], [8b] zu lesen, dass für Carnap dies alles das Gleiche sei: mathematische Wahrscheinlichkeit und empirische Bestätigung eines Ereignisses. Hatte Carnap mit dieser Veränderung seiner Auffassung auch die Position einer ‚Absolutheit der Wahrheit‘ verlassen, die für Popper 1935 immer noch wichtig war? Und selbst in der Rede von 1988 hält Popper das Postulat von der Absolutheit der Wahrheit hoch, sich dabei auf Aristoteles [9], Alfred Tarski [10] und Kurt Gödel [11] beziehend (S.5f).

In einer Welt mit einem endlichen Gehirn, in einem endlichen Körper (bestehend aus ca. 36 Billionen Zellen (10^12)[12], in einer Welt von nicht-abzählbar vielen realen Ereignissen, war mir nie klar, woran (der frühe) Popper (und auch andere) die Position einer ‚absoluten Wahrheit‘ fest machen konnten/ können. Dass wir mit unserem endlichen – und doch komplexen, nicht-linearem — Gehirn von ‚Konkretheiten‘ ‚abstrahieren‘ können, Begriffe mit ‚offenen Bedeutungen‘ bilden und diese im Kontext der Rede/ eines Textes zu Aussagen über Aspekte der Welt benutzen können, das zeigt jeder Augenblick in unserem Alltag (ein für sich außergewöhnliches Ereignis), aber ‚absolute Wahrheit‘ … was kann das sein? Wie soll man ‚absolute Wahrheit‘ definieren?

Popper sagt, dass wir — und wenn wir uns noch so anstrengen — in unserem „Ergebnis nicht sicher“ sein können, das Ergebnis kann sogar „nicht einmal wahr“ sein.(vgl. S.6) Und wenn man sich dann fragt, was dann noch bleibt außer Unsicherheit und fehlender Wahrheit, dann erwähnt er den Sachverhalt, dass man von seinen „Fehlern“ auf eine Weise „lernen“ kann, dass ein „mutmaßliches (‚conjectural‘) Wissen“ entsteht, das man „testen“ kann.(vgl. S.6) Aber selbst dann, wenn man das Wissen testen kann, sind diese Ergebnisse nach Popper „nicht sicher“; obwohl sie „vielleicht wahr“ sind, diese Wahrheit aber ist damit dennoch „nicht endgültig bestätigt (‚established‘)“. Und er sagt sogar: „Selbst wenn sie [ergänzt: die Ergebnisse] sich als nicht wahr erweisen, … eröffnen sie den Weg zu noch besseren [ergänzt: Ergebnissen].“ (S.6)

Diese ‚changierende Sprechweise‘ über ‚wahre Ergebnisse‘ umschreibt das Spannungsfeld zwischen ‚absoluten Wahrheit‘ — die Popper postuliert — und jenen konkreten Sachverhalten, die wir im Alltag zu ‚Zusammenhängen (Hypothesen)‘ verdichten können, in denen wir einzelne Ereignisse ‚zusammen bringen‘ mit der ‚Vermutung‘, dass sie auf eine nicht ganz zufällige Weise zusammen gehören. Und, ja, diese unsere alltägliche Vermutungen (Hypothesen) können sich ‚alltäglich bestätigen‘ (wir empfinden dies so) oder auch nicht (dies kann Zweifel wecken, ob es ‚tatsächlich so ist‘).(vgl. S.6)

Das Maximum dessen, was wir — nach Popper — in der alltäglichen Erkenntnis erreichen können, ist das Nicht-Eintreten einer Enttäuschung einer Vermutung (Erwartung, Hypothese). Wir können dann „hoffen“, dass die Hypothese „wahr ist“, aber sie könnte sich dann beim nächsten Test vielleicht doch noch als „falsch“ erweisen. (vgl. S.6)

In all diesen Aussagen, dass ein Ergebnis ’noch nicht als wahr erwiesen wurde‘ fungiert der Begriff der ‚Wahrheit‘ als ein ‚Bezugspunkt‘, anhand dessen man eine vorliegende Aussage ‚vergleichen‘ kann und mit diesem Vergleich dann zum Ergebnis kommen kann, dass eine vorliegende Aussage ‚verglichen mit einer wahren Aussage‘ nicht wahr ist.

Messen als Vergleichen ist in der Wissenschaft der Goldstandard, aber auch im ganz normalen Alltag. Wo aber findet sich der Vergleichspunkt ‚wahr Aussage‘ anhand dessen eine konkrete Aussage als ’nicht dem Standard entsprechend‘ klassifiziert werden kann?

Zur Erinnerung: es geht jetzt hier offensichtlich nicht um einfache ‚Sachverhaltsfeststellungen‘ der Art ‚Es regnet‘, ‚Es ist heiß‘, ‚Der Wein schmeckt gut‘ …, sondern es geht um die Beschreibung von ‚Zusammenhängen‘ zwischen ‚isolierten, getrennten Ereignissen‘ der Art (i) ‚Die Sonne geht auf‘, (ii) ‚Es ist warm‘ oder ‚(i) ‚Es regnet‘, (ii) ‚Die Straße ist nass‘.

Wenn die Sonne aufgeht, kann es warm werden; im Winter, bei Kälte und einem kalten Wind kann man die mögliche Erwärmung dennoch nicht merken. Wenn es regnet dann ist die Straße normalerweise nass. Falls nicht, dann fragt man sich unwillkürlich, ob man vielleicht nur träumt?

Diese einfachen Beispiele deuten an, dass ‚Zusammenhänge‘ der Art (i)&(ii) mit einer gewissen Häufigkeit auftreten können, aber es keine letzte Sicherheit gibt, dass dies der Fall sein muss.

Wo kommt bei alldem ‚Wahrheit‘ vor?

‚Wahrheit an sich‘ ist schwer aufweisbar. Dass ein ‚Gedanke‘ ‚wahr‘ ist, kann man — wenn überhaupt — nur diskutieren, wenn jemand seinem Gedanken einen sprachlichen Ausdruck verleiht und der andere anhand des sprachlichen Ausdrucks (i) bei sich eine ‚Bedeutung aktivieren‘ kann und (ii) diese aktivierte Bedeutung dann entweder (ii.1) — schwacher Fall — innerhalb seines Wissens mit ‚anderen Teilen seines Wissens‘ ‚abgleichen‘ kann oder aber (ii.2) — starker Fall — seine ‚interne Bedeutung‘ mit einer Gegebenheit der umgebenden realen Ereigniswelt (die als ‚Wahrnehmung‘ verfügbar ist) vergleichen kann. In beiden Fällen kann der andere z.B. zu Ergebnissen kommen wie (a) ‚Ja, sehe ich auch so‘ oder (b) ‚Nein, sehe ich nicht so‘ oder (c) ‚Kann ich nicht entscheiden‘.

In diesen Beispielen wäre ‚Wahrheit‘ eine Eigenschaft, die der Beziehung zwischen einem sprachlichen Ausdruck mit seiner möglichen ‚Bedeutung‘ ‚zu etwas anderem‘ zukommt. Es geht in diesen Beispielen um eine dreistellige Beziehung: die beiden Größen (Ausdruck, gewusste Bedeutung) werden in Beziehung gesetzt zu (wahrgenommenem oder erinnertem oder gefolgertem Sachverhalt).[13]

‚Wahrgenommenes‘ resultiert aus Interaktionen unseres Körpers mit der umgebenden realen Ereigniswelt (wobei unsere Körper selbst ein Ereignis in der umgebenden realen Ereigniswelt ist).[14]

‚Bedeutungen‘ sind ‚gelernte Sachverhalte‘, die uns über unsere ‚Wahrnehmung‘ ‚bekannt geworden sind‘ und in der Folge davon möglicherweise auf eine schwer bestimmbare Weise in unser ‚Gedächtnis‘ übernommen wurden, aus dem Heraus wir sie auf eine ebenfalls schwer bestimmbaren Weise in einer ‚erinnerten Form‘ uns wiederholt wieder ‚bewusst machen können‘. Solche ‚wahrnehmbaren‘ und ‚erinnerbaren‘ Sachverhalte können von unserem ‚Denken‘ in schwer bestimmbarer Form eine spezifische ‚Bedeutungsbeziehung‘ mit Ausdrücken einer Sprache eingehen, welche wiederum nur über Wahrnehmung und Erinnern uns bekannt geworden sind.[15]

Aus all dem geht hervor, dass dem einzelnen Akteur mit seinen gelernten Ausdrücke und ihren gelernten Bedeutungen nur das ‚Ereignis der Wiederholung‘ bleibt, um einem zunächst ‚unbestimmt Gelerntem‘ eine irgendwie geartete ‚Qualifikation‘ von ‚kommt vor‘ zu verleihen. Kommt also etwas vor im Lichte von gelernten Erwartungen neigen wir dazu, zu sagen, ‚es trifft zu‘ und in diesem eingeschränkten Sinne sagen wir auch, dass ‚es wahr ist‘. Diese gelernten Wahrheiten sind ’notorisch fragil‘. Jene, die ‚im Laufe der Zeit‘ sich immer wieder ‚bewähren‘ gewinnen bei uns ein ‚höheres Vertrauen‘, sie haben eine ‚hohe Zuverlässigkeit‘, sind allerdings nie ganz sicher‘.

Zusätzlich erleben wir im Alltag das ständige Miteinander von ‚Konkretheiten‘ in der Wahrnehmung und ‚Allgemeinheiten‘ der sprachlichen Ausdrücke, eine ‚Allgemeinheit‘ die nicht ‚absolut‘ ist. sondern als ‚Offenheit für viel Konkretes‘ existiert. In der Sprache haben wir Unmengen von Worten wie ‚Tasse‘, ‚Stuhl‘, ‚Tisch‘, Hund‘ usw. die sich nicht nur auf ein einziges Konkretes beziehen, sondern auf — potentiell unendlich — viele konkrete Gegebenheiten. Dies liegt daran, dass es viele verschiedene konkrete Gegebenheiten gibt, die trotz Unterschiede auch Ähnlichkeiten aufweisen, die dann als ‚Tasse‘, ‚Stuhl‘ usw. bezeichnet werden. Unser Gehirn verfügt über ‚automatische (= unbewusste) Prozesse‘, die die Konkretheiten aus der Wahrnehmung in ‚Muster‘ transformieren, die dann als ‚Repräsentanten‘ von verschiedenen wahrgenommenen Konkretheiten fungieren können. Diese Repräsentanten sind dann das ‚Material der Bedeutung‘, mit denen sprachliche Ausdrücke — auch automatisch — verknüpft werden können.[15]

Unser ‚Denken‘ kann mit abstrakten Repräsentanten arbeiten, kann durch Benutzung von sprachlichen Ausdrücken Konstruktionen mit abstrakten Konzepten und Ausdrücken bilden, denen bedeutungsmäßig direkt nichts in der realen Ereigniswelt entsprechen muss bzw. auch nicht entsprechen kann. Logik [17] und Mathematik [18] sind bekannte Beispiele, wie man mit gedanklich abstrakten Konzepten und Strukturen ‚arbeiten‘ kann, ohne dass ein Bezug zur realen Ereigniswelt bestehe muss oder jemals bestehen wird. Innerhalb dieser Welt abstrakter Strukturen und abstrakter Ausdrücke kann es dann sogar in einem eingeschränkten Sinne ‚Wahrheit‘ als Übereinstimmung von abstrakten Ausdrücken, deren abstrakten Bedeutungen und den anderen gedachten abstrakten Strukturen geben, aber diese ‚abstrakten Wahrheiten‘ sind in keiner Weise auf die reale Ereigniswelt übertragbar. Für uns gibt es nur das Modell der Alltagssprache, die mit ihren ‚offenen abstrakten‘ Bedeutungen auf Konkretes Bezug nehmen kann und zwischen Gegenwart und Vergangenheit eine ‚gedachte Beziehung‘ herstellen kann, ebenso auch zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zu einer gedachten Zukunft. Inwieweit sich diese gedachten Beziehungen (Vermutungen, Hypothesen, …) dann in der realen Ereigniswelt bestätigen lassen, muss fallweise geprüft werden.

Die Welt der Wissenschaften erweckt den Eindruck, dass es mittlerweile eine große Zahl von solchen Hypothesen gibt, die allesamt als ‚weitgehend zuverlässig‘ angesehen werden, und aufgrund deren wir nicht nur unser bisheriges Wissen beständig ‚erweitern‘, sondern auch in einer Vielzahl von praktischen Anwendungen nutzen (Technologie, Landwirtschaft, Medizin, …).

Und an dieser Stelle greift Popper sehr weit aus, indem er diese für die Wissenschaften charakteristische „mutige, und abenteuerliche Weise des Theoretisierens“, ergänzt um „seriöse Tests“, im „biologischen Leben selbst“ am Werke sieht (vgl. S.7): die beobachtbare Entwicklung zu immer „höheren (‚higher‘) Formen“ des Lebens geschah/ geschieht durch Schaffung von „neuen Versuchen“ (‚trials‘), deren „Einbringung in die Realität“ (‚exposure‘), und dann das „Ausmerzen von Irrtümern“ (‚errors‘) durch „Testen“.(vgl. S.7) Mit dieser permanenten Kreativität neuer Lösungsansätze, deren Ausprobieren und dem daraus Lernen im Beseitigen von Fehlschlägen hat es nicht nur das biologische Leben als Ganzes geschafft, nach und nach die Welt quasi zu erobern, sondern in der Variante moderner empirischer Wissenschaft ist die Lebensform des Homo sapiens dabei, diese Eroberung auf neue Weise zu ergänzen. Während die biologische Evolution vor dem Homo sapiens primär um das nackte Überleben kämpfen musste, kann der Homo sapiens zusätzlich ‚reines Verstehen‘ praktizieren, das dann als ‚Werkzeug‘ zum Überleben beitragen kann. Für Popper ist ‚Verstehen‘ (‚understand‘) und ‚Lernen‘ (‚to learn more‘) das entscheidende Charakteristikum der Lebensform des Homo sapiens (als Teil des gesamten biologischen Lebens). Und in diesem Verstehensprojekt geht es um alles: um den ganzen Kosmos bis hin zum letzten Atom, um die Entstehung des Lebens überhaupt, um den ‚menschlichen Geist‘ (‚human mind‘) und die Art und Weise wie er stattfindet.(vgl. S.7)

Nach dieser ‚Einstimmung‘ wendet sich Popper dem speziellen Problem der Kausalität zu.

Kausalität – Ein wissenschaftliches Chamäleon

Der Begriff der ‚Kausalität‘ ist uns allen über den Alltag in vielfältigen Formen bekannt, ohne dass wir dazu gewöhnlich ein klares begriffliches Konzept entwickeln.

Geht es hingegen ‚um Etwas‘, z.B. um Geld, oder Macht, oder um eine gute Ernte, oder die Entwicklung einer Region, usw. , dann ist die Frage ‚Was was wie bewirkt‘ nicht mehr ganz egal. ‚Soll ich nun investieren oder nicht?‘ ‚Ist dieses Futter für die Tiere besser und auf Dauer bezahlbar oder nicht?‘ ‚Wird die neue Verkehrsregelung tatsächlich Lärm und CO2-Ausstoß reduzieren oder nicht?‘ ‚Ist Aufrüstung besser als Neutralität?‘ ‚Wird die Menge des jährlichen Plastikmülls die Nahrungsketten im Meer und damit viele davon abhängige Prozesse nachhaltig zerstören oder nicht?‘

Wenn Philosophen und Wissenschaftler von Kausalität sprechen meinten sie in der Vergangenheit meist viel speziellere Kontexte. So erwähnt Popper die mechanistischen Vorstellungen im Umfeld von Descartes; hier waren alle Ereignisse klar bestimmt, determiniert.(vgl. S.7) Mit der Entwicklung der Quantenmechanik — spätestens ab 1927 mit der Entdeckung des Unsicherheitsprinzips durch Werner Heisenberg [19], [19a] — wurde bewusst, dass die Ereignisse in der Natur keinesfalls vollständig klar und nicht vollständig determiniert sind. (vgl. S7f)

Damit trat eine inhärente Unsicherheit hervor, die nach einer neuen Lösung verlangte. Die große Zeit des Denkens in Wahrscheinlichkeiten begann.[20] Man kann das Denken in Wahrscheinlichkeiten grob in drei (vier) Sichtweisen unterscheiden: (i) In einer theoretischen — meist mathematischen — Sicht [21] definiert man sich abstrakte Strukturen, über die man verschiedene Operationen definieren kann, mit denen sich dann unterschiedliche Arten von Wahrscheinlichkeiten durchspielen lassen. Diese abstrakten (theoretischen) Wahrscheinlichkeiten haben per se nichts mit der realen Welt der Ereignisse zu tun. Tatsächlich erweisen sich aber viele rein theoretische Modelle als erstaunlich ’nützlich‘ bei der Interpretation realweltlicher Ereignisfolgen. (ii) In einer subjektivistischen Sicht [22] nimmt man subjektive Einschätzungen zum Ausgangspunkt , die man formalisieren kann, und die Einschätzungen zum möglichen Verhalten des jeweiligen Akteurs aufgrund seiner subjektiven Einschätzungen erlauben. Da subjektive Weltsichten meistens zumindest partiell unzutreffend sind, z.T. sogar überwiegend unzutreffend, sind subjektive Wahrscheinlichkeiten nur eingeschränkt brauchbar, um realweltliche Prozesse zu beschreiben.(iii) In einer (deskriptiv) empirischen Sicht betrachtet man reale Ereignisse, die im Kontext von Ereignisfolgen auftreten. Anhand von diversen Kriterien mit der ‚Häufigkeit‘ als Basisterm kann man die Ereignisse zu unterschiedlichen Mustern ‚gruppieren‘, ohne dass weitergehende Annahmen über mögliche Wirkzusammenhänge mit ‚auslösenden Konstellationen von realen Faktoren‘ getätigt werden. Nimmt man eine solche ‚deskriptive‘ Sicht aber zum Ausgangspunkt, um weitergehende Fragen nach möglichen realen Wirkzusammenhängen zu stellen, dann kommt man (iv) zu einer eher objektivistischen Sicht. [23] Hier sieht man in der Häufigkeiten von Ereignissen innerhalb von Ereignisfolgen mögliche Hinweise auf reale Konstellationen, die aufgrund ihrer inhärenten Eigenschaften diese Ereignisse verursachen, allerdings nicht ‚monokausal‘ sondern ‚multikausal‘ in einem nicht-deterministischem Sinne. Dies konstituiert die Kategorie ‚Nicht deterministisch und zugleich nicht rein zufällig‘.[24]

Wie der nachfolgende Text zeigen wird, findet man Popper bei der ‚objektivistischen Sicht‘ wieder. Er bezeichnet Ereignisse, die durch Häufigkeiten auffallen, als ‚Propensities‘, von mir übersetzt als ‚Tendenzen‘, was letztlich aber nur im Kontext der nachfolgenden Erläuterungen voll verständlich wird.

Popper sagt von sich, dass er nach vielen Jahren Auseinandersetzung mit der theoretischen (mathematischen) Sicht der Wahrscheinlichkeit (ca. ab 1921) (vgl. S.8f) zu dieser — seiner — Sicht gelangt ist, die er 1956 zum ersten Mal bekannt gemacht und seitdem kontinuierlich weiter entwickelt hat.[24]

Also, wenn man beobachtbare Häufigkeiten von Ereignissen nicht isoliert betrachtet (was sich angesichts des generellen Prozesscharakters aller realen Ereignisse eigentlich sowieso verbietet), dann kommt man wie Popper zu der Annahme, dass die beobachtete — überzufällige aber dennoch auch nicht deterministische — Häufigkeit die nachfolgende ‚Wirkung‘ einer realen Ausgangskonstellation von realen Faktoren sein muss, deren reale Beschaffenheit einen ‚Anlass‘ liefert, dass ‚etwas Bestimmtes passiert‘, was zu einem beobachtbaren Ereignis führt.(vgl. S.11f, dazu auch [25]) Dies schließt nicht aus, dass diese realen Wirkungen von spezifischen ‚Bedingungen‘ abhängig sein können, die erfüllt sein müssen, damit es zur Wirkung kommt. Jede dieser Bedingungen kann selbst eine ‚Wirkung‘ sein, die von anderen realen Faktoren abhängig ist, die wiederum bedingt sind, usw. Obwohl also ein ‚realer Wirkzusammenhang‘ vorliegen kann, der als solcher ‚klar‘ ist — möglicherweise sogar deterministisch — kann eine Vielzahl von ‚bedingenden Faktoren‘ das tatsächliche Auftreten der Wirkung so beeinflussen, dass eine ‚deterministische Wirkung‘ dennoch nicht als ‚deterministisch‘ auftritt.

Popper sieht in dieser realen Inhärenz von Wirkungen in auslösenden realen Faktoren eine bemerkenswerte Eigenschaft des realen Universums.(vgl. S.12) Sie würde direkt erklären, warum Häufigkeiten (Statistiken) überhaupt stabil bleiben können. (vgl. S.12). Mit dieser Interpretation bekommen Häufigkeiten einen objektiven Charakter. ‚Häufigkeiten‘ verwandeln sich in Indikatoren für ‚objektive Tendenzen‘ (‚propensities‘), die auf ‚reale Kräfte‘ verweisen, deren Wirksamkeit zu beobachtbaren Ereignissen führen.(vgl. S.12)

Die in der theoretischen Wahrscheinlichkeit verbreitete Charakterisierung von wahrscheinlichen Ereignissen auf einer Skala von ‚1‘ (passiert auf jeden Fall) bis ‚0‘ (passiert auf keinen Fall) deutet Popper für reale Tendenzen dann so um, dass alle Werte kleiner als 1 darauf hindeuten, dass es mehrere Faktoren gibt, die aufeinander einwirken, und dass der ‚Nettoeffekt‘ aller Einwirkungen dann zu einer realen Wirkung führt die kleiner als 1 ist, aber dennoch vorhanden ist; man kann ihr über Häufigkeiten sogar eine phasenweise Stabilität im Auftreten zuweisen, so lange sich die Konstellation der wechselwirkenden Faktoren nicht ändert.(vgl. S.13) Was hier aber wichtig ist — und Popper weist ausdrücklich darauf hin — die ‚realen Tendenzen‘ verweisen nicht auf einzelne konkrete, spezielle Eigenschaften inhärent in einem Objekt, sondern Tendenzen korrespondieren eher mit einer ‚Situation‘ (’situation‘), die als komplexe Gesamtheit bestimmte Tendenzen ‚zeigt‘.(vgl. SS.14-17) [26]

Schaut man nicht nur auf die Welt der Physik sonder lenkt den Blick auf den Alltag, in dem u.a. auch biologische Akteure auftreten, speziell auch Lebensformen vom Typ Homo sapiens, dann explodiert der Raum der möglichen Faktoren geradezu, die Einfluss auf den Gang der Dinge nehmen können. Nicht nur bildet der Körper als solcher beständig irgendwelche ‚Reize‘ aus, die auf den Akteur einwirken, sondern auch die Beschaffenheit der Situation wirkt in vielfältiger Weise. Insbesondere wirkt sich die erworbene Erfahrung, das erworbene Wissen samt seinen unterschiedlichen emotionalen Konnotationen auf die Art der Wahrnehmung aus, auf die Art der Bewertung des Wahrgenommenen und auf den Prozess möglicher Handlungsentscheidungen. Diese Prozesse können extrem labil sein, so dass Sie in jedem Moment abrupt geändert werden können. Und dies gilt nicht nur für einen einzelnen Homo sapiens Akteur, sondern natürlich auch für die vielen Gruppen, in denen ein Homo sapiens Akteur auftreten kann bzw. auftritt bzw. auftreten muss. Dieses Feuerwerk an sich wechselseitig beständig beeinflussenden Faktoren sprengt im Prinzip jede Art von Formalisierung oder formalisierter Berechnung. Wir Menschen selbst können dem ‚Inferno des Alles oder Nichts‘ im Alltag nur entkommen, wenn wir ‚Konventionen‘ einführen, ‚Regeln des Verhaltens‘, ‚Rollen definieren‘ usw. um das praktisch unberechenbare ‚Universum der alltäglichen Labilität‘ partiell zu ‚zähmen‘, für alltägliche Belange ‚berechenbar‘ zu machen.

Popper zieht aus dieser Beschaffenheit des Alltags den Schluss, das Indeterminismus und freier Wille zum Gegenstandsbereich und zum Erklärungsmodell der physikalischen und biologischen Wissenschaften gehören sollten.(vgl. S.17f)

Popper folgert aus einer solchen umfassenden Sicht von der Gültigkeit der Tendenzen-Annahme für vorkommende reale Ereignisse, dass die Zukunft nicht determiniert ist. Sie ist objektiv offen.(vgl. S.18)

Näher betrachtet ist die eigentliche zentrale Einsicht tatsächlich gar nicht die Möglichkeit, dass bestimmte Wirkzusammenhänge vielleicht tatsächlich determiniert sein könnten, sondern die Einsicht in eine durchgängige Beschaffenheit der uns umgebenden realen Ereigniswelt die sich – dies ist eine Hypothese! — durchgängig als eine Ansammlung von komplexen Situationen manifestiert, in denen mögliche unterscheidbare Faktoren niemals isoliert auftreten, sondern immer als ‚eingebettet‘ in eine ‚Nachbarschaften‘, so dass sowohl jeder Faktor selbst als auch die jeweiligen Auswirkungen dieses einen Faktors immer in kontinuierlichen Wechselwirkungen mit den Auswirkungen anderer Faktoren stehen. Dies bedeutet, dass nicht nur die starke Idealisierungen eines mechanistischen Weltbildes — auch eine Hypothese — als fragwürdig angesehen werden müssen, sondern auch die Idealisierung der Akteure zu einer ‚ Monade‘ [27],[27b], die die Welt letztlich nur ‚von sich aus‘ erlebt und gestaltet — eine andere Hypothese –.[27c]

Denkt man gemeinsam mit Popper weiter in die Richtung einer totalen Verflechtung aller Faktoren in einem kontinuierlich-realen Prozess, der sich in realen Tendenzen manifestiert (vgl. S.18f), dann sind alle üblichen endlichen, starren Konzepte in den empirischen Wissenschaften letztlich nicht mehr seriös anwendbar. Die ‚Zerstückelung‘ der Wirklichkeit in lauter einzelne, kleine, idealisierte Puzzle-Teile, wie sie bis heute Standard ist, führt sich relativ schnell ad absurdum. Die übliche Behauptung, auf andere Weise könne man eben nichts Verwertbares Erkennen, läuft beständig Gefahr, auf diese Weise die reale Problematik der konkreten Forschungspraxis deutlich zu überdehnen, nur weil man in der Tat Schwierigkeiten hat, die vorfindliche Komplexität ‚irgendwie experimentell nachvollziehbar‘ zu rekonstruieren.

Popper dehnt seine Beispiele für die Anwendbarkeit einer objektivistischen Sicht von realen Tendenzen weiterhin aus auf die Chemie (vgl. S.19f) und auf die Evolution des Lebens. (vgl. S.20) Und auch wenn er zuvor sagte, dass die Zukunft objektiv offen sei, so ist sie dennoch in der realen Gegenwart implizit gegenwärtig in den Aktivitäten der vorhandenen realen Faktoren.(vgl. S.20) Anders formuliert, jede Zukunft entscheidet sich immer jetzt, in der Gegenwart, auch wenn die lebenden Akteure zu einem bestimmten Zeitpunkt vielleicht das Geflecht der vielen Faktoren und Wirkungen nur unvollständig durchschauen. Mangelndes Wissen ist auch ein realer Faktor und kann als solcher u.U. wichtige Optionen übersehen, die — würde man sie kennen — vielleicht viel Unheil ersparen würden.

Nachbemerkung – Epilog

Verglichen mit den vielen Seiten Text, die Popper im Laufe seines Lebens geschrieben hat, erscheint der hier kommentierte kurze Text von 27 Seiten verschwindend kurz, gering, möglicherweise gar unbedeutend.

Betrachtet man aber die Kernthesen von Poppers theoretischem Prozess, dann tauchen diese Kernthesen in diesem kurzen Text letztlich alle auf! Und seine Thesen zur Realität von beobachtbaren Tendenzen enthalten alles, was er an Kritik zu all jenen Wissenschaftsformen gesagt hat, die dieser Kernthese nicht folgen. Der ganze riesige Komplex zur theoretischen Wahrscheinlichkeit, zu subjektiver Wahrscheinlichkeit und zu den vielfältigen Spezialformen von Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit sagen letztlich nicht viel, wenn sie die objektivistische Interpretation von Häufigkeiten, dazu im Verbund mit der Annahme eines grundlegenden realen Prozesses, in dem sich alle realen Faktoren in beständiger realer Wechselbeziehung befinden, nicht akzeptieren. Die moderne Quantenmechanik wäre in einer realen Theorie der objektiven Tendenzen tatsächlich eine Teiltheorie, weil sie nur einige wenige — wenngleich wichtige — Aspekte der realen Welt thematisiert.

Poppers Mission einer umfassenden Theorie von Wahrheit als Innensicht einer umfassenden prozesshaften Realität bleibt — so scheint es mir — weiterhin brandaktuell.

Fortsetzung Popper 1989

Eine Kommentierung des zweiten Artikels aus dem Büchlein findet sich HIER.

Anmerkungen

Abkürzung: wkp := Wikipedia, de := Deutsche, en := Englische

[*] Es gibt noch zwei weiter Beiträge vom ’späten‘ Popper, die ich in den Diskurs aufnehmen möchte, allerdings erst nachdem ich diesen Beitrag rezipiert und in das finale Theorieformat im Kontext des oksimo-Paradigmas eingebunden habe.

[1] Karl Popper in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper (auch in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper )

[1b] Wiener Kreis (‚vienna circle‚) in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Kreis und wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Vienna_Circle

[2a] Karl Popper, „A World of Propensities“, Thoemmes Press, Bristol, (1990, repr. 1995)

[2b] Karl Popper, The Logic of Scientific Discovery, zuerst publiziert 1935 auf Deutsch als  Logik der Forschung, dann 1959 auf Englisch durch  Basic Books, New York (viele weitere Ausgaben folgten; ich benutze die eBookausgabe von Routledge (2002))

[3a] Die meisten wohl im uffmm.org Blog.

[3b] Oksimo und Popper in uffmm.org: https://www.uffmm.org/2021/03/15/philosophy-of-science/

[4] Das oksimo-Paradigma und die oksimo-Software auf oksimo.org: https://www.oksimo.org/

[5] Robert Ulanowizc in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Robert_Ulanowicz

[5b] Robert Ulanowizc, Ecology: The Ascendant Perspective, Columbia University Press (1997) 

[6a] Karl-Popper Sammlung der Universität Klagenfurt in wkp-de: https://www.aau.at/universitaetsbibliothek-klagenfurt/karl-popper-sammlung/

[6b] An dieser Stelle möchte ich die freundliche Unterstützung von Mag. Dr. Thomas Hainscho besonders erwähnen.

[7] Eine kürzere Version dieses Artikels hat Popper 1988 auf dem Weltkongress der Philosophie 1988 im Brighton vorgetragen (Vorwort zu [2a]).

[8] Rudolf Carnap in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Carnap

[8b] Rudolf Carnap,  Logical Foundations of Probability. University of Chicago Press (1950)

[9] Aristoteles in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Aristoteles

[10] Alfred Tarski in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Tarski

[11] Kurt Gödel in wkp-ed: https://en.wikipedia.org/wiki/Kurt_G%C3%B6del

[12] Aus dem Buch von Kegel „Die Herrscher der Welt…“: Siehe https://www.cognitiveagent.org/2015/12/06/die-herrscher-der-welt-mikroben-besprechung-des-buches-von-b-kegel-teil-1/

[13] Natürlich ist die Sachlage bei Betrachtung der hier einschlägigen Details noch ein wenig komplexer, aber für die grundsätzliche Argumentation reicht diese Vereinfachung.

[14] Das sagen uns die vielen empirischen Arbeiten der experimentellen Psychologie und Biologie, Hand in Hand mit den neuen Erkenntnissen der Neuropsychologie.

[15] Hinter diesen Aussagen stecken die Ergebnisse eines ganzen Bündels von wissenschaftlichen Disziplinen: vorweg wieder die experimentelle Psychologie mit hunderten von einschlägigen Arbeiten, ergänzt um Linguistik/ Sprachwissenschaften, Neurolinguistik, ja auch verschiedene philosophische ‚Zuarbeiten‘ aus dem Bereich Alltagssprache (hier unbedingt der späte Wittgenstein [16] als großer Inspirator) und der Semiotik.

[16] Ludwig Wittgenstein in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Wittgenstein

[17] Logik ( ‚logic‚) in der wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Logik und wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Logic

[18] Mathematik (‚mathematics‚) in der wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Mathematik und wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Mathematics

[19] Werner Heisenberg in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Werner_Heisenberg

[19b] Unsicherheitsprinzip (‚uncertainty principle‘) in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Uncertainty_principle

[20] Natürlich gab es schon viele Jahrhunderte früher unterschiedliche Vorläufer eines Denkens in Wahrscheinlichkeiten.

[21] Theoretische Wahrscheinlichkeit, z.B. in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Probability

[22] Subjektive Wahrscheinlichkeit, z.B. in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Subjektiver_Wahrscheinlichkeitsbegriff; illustrieret mit der Bayeschen Wahrscheinlichkeit in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Bayesian_probability

[23] Objektivistische Wahrscheinlichkeit, nur ansatzweise erklärt in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Objektivistischer_Wahrscheinlichkeitsbegriff

[23b] Deskriptive Statistik in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Deskriptive_Statistik (siehe auch ‚descriptive statistics in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Descriptive_statistics

[24] Zu verschiedenen Sichten von Wahrscheinlichkeiten sie auch: Karl Popper, The Open Universe: An Argument for Indeterminism, 1956–57 (as privately circulated galley proofs;) 1982 publiziert als Buch

[25] Hier sei angemerkt, dass ein Akteur natürlich nur dann ein bestimmtes Ereignis wahrnehmen kann, wenn er (i) überhaupt hinschaut und (ii) er über geeignete Beobachtungsinstrumente (= Messgeräte) verfügt, die das jeweilige Ereignis anzeigen. So sah die Welt z.B. ohne Fernglas und Mikroskop ‚einfacher‘ aus als mit.

[26] Diese Betonung einer Situation als Kontext für Tendenzen schließt natürlich nicht aus, dass die Wissenschaften im Laufe der Zeit gewisse Kontexte (z.B. das Gehirn, der Körper, …) schrittweise immer mehr auflösen in erkennbare ‚Komponenten‘, deren individuelles Verhalten in einem rekonstruierbaren Wechselspiel unterschiedliche Ereignisfolgen hervorbringen kann, die zuvor nur grob als reale Tendenz erkennbar waren. Tatsächlich führt eine zunehmende ‚Klarheit‘ bzgl. der internen Struktur einer zuvor nicht analysierbaren Situation auch zur Entdeckung von weiteren Kontextfaktoren, die zuvor unbekannt waren.(vgl. S.14f)

[27] Gottfried Wilhelm Leibniz in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_Wilhelm_Leibniz

[27b] Monadenlehre von Leibnuz in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Monade_(Philosophie)

[27c] Allerdings muss man bemerken, dass die Leibnizsche Monadenlehre natürlich in einem ziemlich anderen ‚begrifflichen Koordinatensystem‘ einzubetten ist und die Bezugnahme auf diese Lehre nur einen stark vereinfachten Aspekt trifft.

DER AUTOR

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WARUM ES IMMER MEHR ALS EINE MEINUNG GIBT… Eine Notiz

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 13.April 2021
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

KONTEXT

Es ist schon immer eine Alltagserfahrung, dass es viele Sichtweisen zu ein und derselben Sache gibt. Dort, wo es ‚um nichts zu gehen scheint‘, da kann man mit einem Achselzucken, einem Lächeln, mit einer humorvollen Bemerkung den Unterschied kommentieren, überspielen, auf sich beruhen lassen.

Wenn es aber um etwas geht, gar um ‚Leben und Tod‘, ist das Lächeln und Wegschauen nicht mehr ganz so einfach. Dann werden viele Mitbürger aufgeregter, wütend, intoleranter, aggressiv, bis dahin, dass sie sich zu Gewaltakten hinreißen lassen.

CORONA TIMES

In Corona-Times ist dies nicht anders und die Gegensätze tendieren dazu, schroffer zu werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Vielzahl der Meinungen auf allen Ebenen gegenwärtig zu sein scheint: Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik erwecken nicht den Eindruck einer erleuchteten Gemeinschaft , die an einem Strang zieht; Medien liefern nur das ab, was die Gesellschaft selbst ist: ein vielfarbiges Bild an Meinungen, und die Wissenschaft, die in diesen Zeiten in einer Wiese zusammenarbeitet wie noch nie zuvor, bietet ‚per se‘ ein facettenreiches Bild, weil Wissenschaft ja gerade davon lebt, ungeklärte Fragen durch viele Experimente und Versuche schrittweise aufzuhellen; wäre alles von vornherein klar, dann bräuchte es keine Wissenschaft.

WISSENSCHAFT UND ALLTAG

Doch, hier gibt es einen qualitativen Unterschied, den die meisten, die mit Wissenschaft nicht vertraut sind, leicht übersehen: während die Wissenschaft methodisch geleitet versucht, in vielen kleinen Schritten und durch Vernetzung untereinander die vielen Puzzlesteine zusammen zu tragen, um zu einem zusammenhängenden Bild zu kommen, das immer wieder an einzelnen Stellen korrigiert wird, missverstehen viele Menschen diesen organisierten Such-, Kommunikations- und Korrekturprozess als ‚Nichtwissen‘, als ‚Beliebig‘. Und sie ziehen daraus den Schluss, dass es sowieso keine allgemeine Wahrheit gibt, also können sie ihre — meist sehr zufälligen — privaten Meinung als die neue Wahrheit in die Welt tragen.

WIR SIND DIE EINGEBORENEN

Diese heute sehr verbreitete Denkweise, fällt aber nicht irgendwie ‚vom Himmel‘. Sie ist vielmehr in jedem Menschen, in der Verstehensstruktur eines jeden Menschen angelegt, dort, wo unser Gehirn sitzt, das — ohne uns zu fragen, unbewusst, vollautomatisch — die Eindrücke der Welt (und des eigenen Körpers) ‚verarbeitet‘.

Eine Grundeigenschaft unseres Gehirns ist es, dass es aus der Vielzahl unserer Wahrnehmungen eine Struktur heraus lösen muss, die für das Verhalten im Alltag ‚brauchbar‘ ist, letztlich unser Überleben sichert. Und da das, was ein Gehirn wahrnimmt, durchgängig niemals ‚eindeutig‘ sondern ‚vieldeutig‘ ist, muss es ständig Entscheidungen fällen, was es denn gerade wahrnimmt. Bei diesen Entscheidungen spielt das ‚Vorwissen‘, die aktuellen ‚Bedürfnisse, Emotionen‘ usw. eine sehr große Rolle. Wer mit Sehschwächen ohne Brillen umher geht, vielleicht jogged, kann dies leicht testen: alles, was man nicht sofort klar erkennen kann, wird vom Gehirn automatisch ‚gedeutet‘. Fast nie erkennt das Gehirn das, was sich vor einem als undefiniertes Etwas zeigt, als das, was es wirklich ist. Im Alltag fällt einem das kaum auf. Einem möglichen Beobachter, der zuschaut, was wir tun, sehr wohl. Wir sind in der ‚Schleife unserer Voreinstellungen‘ gefangen.

WIR — UNSICHTBAR — VIELE

Wenn also verschiedene Personen in einer Situation aufeinander treffen, sieht erst einmal jeder, was ‚er/sie/x‘ gerade sieht, und das ist ’normal‘. Solange man sich dieser Sachverhalte nicht bewusst wird, kann dies aber sehr schnell zu Missverständnisse, Verdächtigungen, Beschimpfungen usw. führen: jeder glaubt halt an das, was in seinem Kopf ist, ohne sich klar zu machen, dass genau das, was in seinem Kopf ist, normalerweise weniger mit der Welt zu tun hat, die außerhalb des Kopfes ist, sondern mit der Welt, die das eigene Gehirn in großer Fleißarbeit in jeder Sekunde, ja Millisekunde, für uns ausrechnet.

UMGANG MIT VIELDEUTIGKEIT

Die große Errungenschaft der modernen Wissenschaft — nachdem es schon ca. 300.000 Jahre unsere Lebensform, den homo sapiens gegeben hat — besteht darin, diesen fundamentalen Sachverhalt auf pragmatischem Wege erkannt zu haben und seitdem versucht, durch systematisches Vorgehen, den eigenen — letztlich unentrinnbaren — Vorurteilen stückweise zu entkommen. Es zählt halt nur, was auch andere so wahrnehmen können wie ich; dass es nach bestimmten Verfahren reproduzierbar sein muss; dass die allgemeinen Aussagen, die man aufgrund von Einzelbeobachtungen als Arbeitshypothesen formuliert, sich dann auch im Einsatz nachprüfbar bewähren. Ein sehr mühsames Geschäft, aber doch seit gut 200 Jahren mit beeindruckenden Erfolgen.

WISSENSCHAFTSUNFÄHIG

Dass heute immer mehr Menschen — auch nicht wenige sogenannte ‚Akademiker‘ — dies nicht mehr verstehen, Wissenschaft gering schätzen, und lieber ihren ad-hoc Einbildungen vertrauen, ist ein gefährliches Verhaltensprogramm. Ein solches aus Dummheit geborenes Verhaltensprogramm kann alles an lebenswerten Strukturen zerstören, die mühsam im Laufe der letzten Jahrhunderte aufgebaut wurde. Es zeigt, wie fragil menschliche Kultur ist…

Wahrheit ist kein Selbstläufer. Eine eigene Meinung als solche ist weder wahr noch falsch. Qualität erfordert viel Wissen, viel Disziplin, ein geordnetes, koordiniertes Vorgehen von vielen Experten gleichzeitig über einen längeren Zeitraum. So etwas muss mühsam gelernt und eingeübt werden. Dafür braucht man ein sehr leistungsfähiges und lebensbejahendes Bildungssystem, das von allen geschätzt und mitgetragen wird …

EPILOG

Leben war noch nie einfach … bislang gibt es uns trotzdem …

DER AUTOR

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REAL-VIRTUELL. Ein Einschub

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 1.Februar 2021 (Zuletzt 1.2.2021, 13:45h)
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

KONTEXT

Den wenigsten Menschen ist bewusst, dass das Bild von der Welt, das sie haben, nicht tatsächlich die Welt ist, wie sie unabhängig vom Gehirn (=real) ist, sondern die Welt, die das Gehirn von der Welt da draußen aus all den sensorischen und bislang gespeicherten Daten (Gedächtnis) zusammen rechnet (=virtuell). Dies erklärt, warum die gleiche Welt (da draußen) von verschiedenen Menschen so total verschieden wahrgenommen werden kann.

AUSSEN – INNEN

Übersichtsbild zu Außen-Innen. Zur Erläuterung siehe Text.

Der Begriff Außen ist letztlich nur sinnvoll im Gegensatz zu einem aufzeigbaren Innen. Beispiel für solch ein aufzeigbares Innen ist das menschliche Bewusstsein, das wiederum verweist auf kognitive Zustände unseres Gehirns, das sich in unserem Körper befindet.

Für uns als Menschen ist zunächst das subjektive Erleben unserer Bewusstseinsinhalte wie das Erleben selbst (einschließlich Denken, Vorstellen, Erinnern usw.) primär real. Im Laufe des Lebens kann man aber erkennen, dass diese primäre Realität eindeutig nicht die Welt selbst ist, da sie an unser Bewusstsein gebunden ist, das über das Gehirn in unserem Körper verankert ist. Die subjektive Realität ist eine abgeleitete Realität; unser Gehirn produziert eine virtuelle Realität, die sich für uns als subjektives Erlebende wie eine Realität darstellt!

KONVERSION: REALITÄT ZU VIRTUALITÄT

Hat man diesen Erkenntnispunkt erreicht, dass die subjektive Realität eine abgeleitete Realität ist, ein Rechenergebnis des Gehirns, das sensorische Fragmente einer Welt da draußen (=real) in neuronale Strukturen und Prozesse übersetzt/ konvertiert, die als neuronale Prozesse zwar real sind, aber in den erzeugten internen Informationsstrukturen innerhalb der neuronalen Prozesse als Repräsentanten der mit-verursachenden externen Realität ein Abbildungsprodukt, sind, erzeugt durch Abbildungsprozesse, und so gesehen nur als bildhaft, als virtuell bezeichnete werden können, dann kann man begreifen, dass ein biologischer Organismus wie der des homo sapiens — neben vielen anderen Funktionen — eine Funktion ganz speziell erkennen lässt: der gesamte Organismus ist ein Konverter von Realität in Virtualität!

Der Aufwand, der getrieben werden muss (musste), um dies zu ermöglichen ist extrem hoch und man fragt sich unwillkürlich, wofür das gut sein soll?

Bevor man eine Antwort zu geben versucht, sollte man sich noch eine weitere bemerkenswerten Funktion von homo sapiens Organismen vor Augen führen.

AUSTAUSCH: INNEN ZU INNEN

Von Bakterien und Viren ist bekannt, dass sie als Gesamtheiten schon immer einen intensiven Informationsaustausch pflegen (was mich dazu inspiriert hatte von diesen Gesamtheiten als BIOM zu sprechen und das gesamte BIOM als biologischen Super-Computer zu sehen, der die unfassbaren Formenproduktionen der Evolution in Interaktion mit den jeweiligen Umgebungen ermöglicht hat).

Durch die biologische Ermöglichung einer Konversion von Realität in neuronal ermöglichte Virtualität eröffnete sich nicht nur die Möglichkeit, im Bereich der Virtualität verschiedene kreative Prozesse zu gestalten, die abgeleitete Formen von Realität generieren können, für die es aktuell so noch keine Vorgaben in der umgebenden Realität gibt. Dies neuen Formen können indirekt zu Änderungen in der realen Welt führen, die ohne diese kreativen virtuellen Prozesse entweder gar nicht oder erst sehr viel später möglich gewesen wären. Da Änderungen nicht per se von irgendeinem Vorteil sein müssen — sie können schädlich bis zerstörerisch sein –, ist diese neuartige Befähigung zu inneren kreativen Prozessen somit zwar eine neue Chance, zugleich aber auch ein neues Risiko.

Um nun sowohl die Chance — als auch das Risiko — zu erhöhen, gibt es noch eine weitere speziell Funktion von biologischen Lebensformen — am extremsten ausgeprägt beim homo sapiens –: die zusätzliche Abbildung von kognitiven Strukturen auf andere kognitive Strukturen, bei denen die kognitiven Strukturen auf der einen Seite der Abbildung in Form eines Ausdruckssystems [E] organisiert sind. Betrachtet man kognitive Strukturen generell als kognitive Objekte [KOGOBJ], dann kann man diejenigen kognitiven Objekte, die zusätzlich speziell als kognitive Objekte innerhalb eines Ausdruckssystems E organisiert sind, als KOGOBJ-E abkürzen. Die Abbildungsbeziehung zwischen der speziellen Menge von kognitiven Objekten, die als Ausdrücke KOGOBJ-E fungieren, und allen anderen kognitiven Objekten KOGOBJ (mit KOGOBJ-E als Teilmenge!) wird normalerweise Bedeutungsbeziehung [Π] genannt, geschrieben: Π: KOGOBJ <—–> KOGOBJ-E.

Warum wieder dieser enorme zusätzliche Aufwand?

Wie wir am Verhalten des homo sapiens — Wir — sehen können, kann aufgrund der Bedeutungsbeziehung ein biologischer Organismus A die Ausdruckselemente benutzen, um auf bestimmte virtuelle Aspekte in sich Bezug zu nehmen, und diese internen Ausdruckselemente können dann in Form von Sprachlauten — oder später in der kulturellen Entwicklung auch durch Schriftzeichen — dazu genutzt werden, auf einen anderen Organismus B einzuwirken, so dass dieser — falls man die gleichen Ausdruckselemente mit der gleichen Bedeutungsbeziehung gemeinsam gelernt hat — ‚in sich selbst‘ möglicherweise ähnliche kognitiven Objekte aktiviert wie der andere biologische Organismus A möglicherweise intendiert hat.

Dieser hochkomplexe Vorgang einer zwischen-biologischen Kommunikation ermöglicht es — wie wir aus unserem Alltag wissen können — dass sich auf diese Weise — bis zu einem gewissen Grad — nicht nur das Verhalten generell koordinieren lässt, sondern dass dabei auch — wiederum nur bis zu einem gewissen Grad — inhaltliche Informationen über die Welt ausgetauscht werden können, die eine kognitive erweiterte Koordination möglich machen.

WELTBILDER: WISSENSCHAFT ODER MYTHEN?

Diese ineinander verschränkten Abbildungen von Realität in Virtualität einerseits bzw. Virtualität 1 nach Virtualität 2 andererseits stellen im Kontext der biologischen Evolution mehr als eine Revolution dar. Dies soll jetzt hier gar nicht weiter diskutiert werden. Wohl aber sei der Hinweis gestattet auf das Alltagsphänomen, dass ganze Populationen von Menschen ein virtuelles Bild von der Welt erzeugen, pflegen und danach handeln können, das teilweise oder gar überwiegend falsch ist, mit den entsprechend verheerenden Folgern für alle.

Vor diesem Hintergrund der Massen-Verirrungen — in allen Zeiten der Menschheit gegeben, auch im Jahr 2021 — stellt sich die kritische Frage, was kann eine Gesellschaft als Ganze tun, um durch ihre Kultur Massen-Verirrungen zu verhindern.

Wie Blicke zurück in die Geschichte und hinweg über alle nationale Grenzen heute andeuten, ist ein gemeinsamer Schutz vor Verirrungen alles andere als einfach. Intelligenz alleine ist offensichtlich kein ausreichender Schutz…

So zeigt ein Blick in die Geschichte der Wissenschaften, dass es selbst in der Wissenschaft trotz all der vereinbarten Qualitätssicherungen immer wieder zu strittigen Meinungen kommen kann, die ganze Schulen ausbilden, um die anderen Meinungen ‚zu bekämpfen‘ statt aus den Unterschieden konstruktiv zu lernen.

Die Aufgabe der Gestaltung einer gemeinsamen Kultur der minimalen Verirrungen ist für uns alle real, sie ist hart, sie ist schwierig, und die scheinbar einfachen und griffigen Lösungen sollten eigentlich routinemäßig schon mal eine besondere Aufmerksamkeit erregen, ob das überhaupt so stimmen kann …

DER AUTOR

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Gedanken und Realität. Das Nichts konstruieren. Leben Schmecken. Notiz

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 22.-25.Januar 2021
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

KONTEXT

Im vorausgehenden Beitrag Ingenieure und das Glück klingen Themen an, die viele (die meisten?) normalerweise so nicht miteinander verknüpfen würden. Aber, wenn man — wie der Autor — durch den Gang des Lebens — Gelegenheit hatte, sich mit diesen Themen über Jahre intensiv beschäftigen zu können, dann kann man auf diese Zusammenhänge stoßen. Wichtig ist das Wort Kann.

GEDANKEN UND REALITÄT

Wann immer wir uns wo befinden, wir tragen immer die Erfahrungen, das Wissen mit uns herum, das sich in unserem Gehirn bis zu diesem Zeitpunkt angesammelt hat, eingebettet in eine Wolke von Emotionen und Bedürfnissen, alles mehr oder weniger unbewusst. Tatsächlich bewusst werden uns diese Dinge immer nur dann, wenn irgendwelche Ereignisse von außen oder von innen unser Gehirn in einer Weise stimulieren, dass das Gehirn Verbindungen zu diesem unbewusst Vorhandenen aufbaut. Wie das Gehirn diese Verknüpfungen aufbaut, ist selbst weitgehend unbewusst, automatisch. Allerdings haben viele Experimente gezeigt, dass die aktuellen Umstände eine Rolle spielen, insbesondere Emotionen und Bedürfnsse. In Situationen, in denen wir negative Emotionen erfahren haben, verbindet unser Gehirn z.B. unsere Wahrnehmung von Aspekten der Situation automatisch auch mit diesen negativen Emotionen, obgleich die Emotionen sachlich gar nichts mit den wahrgenommenen Aspekten der Situation zu tun haben müssen. Das Gehirn reagiert hier automatisch, weil es so gebaut ist. In Zukunft werden die wahrgenommenen Aspekte dieser vergangenen Situation dann für uns immer verbunden sein mit diesen speziellen Emotionen.

Ein anderer Aspekt — in diesem Blog schon oft angesprochen — ist das Eigenleben unserer Gedanken im Gehirn, unabhängig von der Welt da draußen außerhalb des Gehirns. Was immer wir irgendwie empfinden, erleben, wahrnehmen, uns vorstellen, denken, …. all dies findet in unserem Gehirn statt; dieses Gehirn sitzt in unserem Körper und hat keinen direkten Kontakt mit der Welt außerhalb dieses Körpers, nur direkt mit dem Körper, der selbst auch außerhalb des Gehirns ist. Das Gehirn selbst ist eines der fantastischsten Systeme im gesamten bekannten Universum. Rein zahlenmäßig ist es mit seinen ca. 80 Milliarden (10^9) Zellen zwar nicht einmal halb so groß wie unsere Heimat-Galaxie die Milchstrasse Sterne hat, aber die Intensität der Verbindungen untereinander (eine Zelle bis zu 100.000 andere Zellen) und die Dynamik dieser Zellen übersteigt alles, was wir uns bislang vorstellen können.

Dennoch, unser fantastisches Gehirn mit seinen fantastischen Eigenschaften, wie es aus Gegenwart Vergangenheit produziert, aufgrund der produzierten Vergangenheiten Erwartungen für eine prinzipiell unbekannte Zukunft errechnet, und dann sogar mittels einer inneren Sprache die Vielfalt der Eigenchaften der wahrgenommenen Welt in nahezu beliebigen Konfigurationen zu bedeutungsvollen Gegenständen versammeln kann, zu bedeutungsvollen Verbindungen, zu bedeutungsvollen Mustern, dieses unser Gehirn verbleibt mit diesen seinen kreativ-schöpferischen Aktivitäten letztlich in sich selbst. In gewisser Weise kann man sagen, es redet mit sich selbst. Es schafft seine eigene Realität, die für uns die primäre Realität ist. Von außen betrachtet — ein Gedankenkonstrukt — muss man die primäre Realität des Gehirns im Vergleich zur umgebenden Realität des Körpers und dann der Welt jenseits des Körpers als virtuelle Realität bezeichnen.

Wer sich all dieser Dinge nicht bewusst ist — fragen Sie sich selbst, fragen Sie ihre Freunde und Bekannten, wie diese es sehen — für den ist diese wundersame Welt des eigenen Gehirns weniger eine Chance zu einer vertieften Welterkenntnis als vielmehr eine Gefahr zu einem Weltbild, das durch und durch schräg, ja falsch sein kann.

Wenn ein Ereignis im Körper vom Gehirn wahrgenommen wird (z.B. eine Schmerzempfinung, ein Hungergefühl, eine sexuelle Erregung, …), dann weiß das Gehirn in der Regel wenig bis gar nichts darüber, wo es herkommt, warum. Das Gehirn sucht aber automatisch für sich nach einem Zusammenhang, nach einer Erklärung. Es fängt automatisch an, zu konstruieren. So ist es gebaut.

Bei Ereignissen außerhalb des Körpers ist es nicht anders. Wenn Kleinkinder in ihren ersten Monaten — und dann Jahren — von Sinneseindrücken aller Art überschwemmt werden, dann ist das Gehirn voll damit beschäftigt, all diese neuen Ereignisse zu sortieren und zu verknüpfen. Im Gehirn entstehen die Grundlinien eines Modells, wie all dies zusammenhängen kann. Dies geschieht unbewusst! Die Welt, die wir sehen, die wir erleben, an der wir unsere künftigen Überlegungen ausrichten, diese Welt ist die Welt in unserem Gehirn, so wie sie das Gehirn sich zurecht gelegt hat, um sich in dem unaufhaltsamen Strom der Sinnesereignisse zurecht zu finden.

Gemeinsam Erkennntnisse über die Welt da draußen zu bekommen, die subjektiven Eindrücke untereinander durch Handlungen und Sprache abzugleichen, ist eine große Chance. Nur so können wir letztlich herausfinden, ob ein Bild, das wir in unserem Gehirn von der Welt haben, ähnlich ist, wie das, das ein anderer hat. Ohne die Rückbindung durch andere ist die Gefahr einer Innensicht, die mit der realen Welt jenseits des Gehirns nur schlecht bis garnicht verknüpft ist, sehr hoch. Wenn allerdings eine Gruppe von Menschen die gleichen falschen Bilder in sich mit sich herumtragen, dann nützt auch ein gemeinsames Reden nichts. Wenn z.B. das Wort Demokratie in den Gehirnen der Beteiligten jeweils ganz andere Eigenschaften wach ruft, dann nützt dieses Wort nicht viel: jeder stellt sich etwas anderes darunter vor und jeder leitet von diesen unterschiedlichen Bedeutungen ganz verschiedene Einschätzungen und Handlungen ab. Eine Einheit im Verstehen und Handeln ist dann nicht möglich…

Seitdem die Bilder im Umfeld der Präsidentschaftswahlen in den USA 2021 um die Welt gehen, die krasse Gegensätze in der Sicht der Ereignisse bei den unterschiedlich Beteiligten offenbaren, sollte jedem klar geworden sein, dass die Unterscheidung von der Realität in unseren Gehirnen und der Realität da draußen im Land real ist: die Parole von der gestohlenen Wahl wird von den einen als Bild übernommen, das sie für wahr halten, und die anderen halten die intendierte Bedeutung dieser Parole nicht für wahr. Die realen Umstände dieser Wahlen, soweit sie dokumentiert sind, sind für beide Gruppierungen die gleichen, sie werden jedoch aufgrund der herrschenden Bilder im Gehirn von beiden Gruppierungen unterschiedlich gedeutet. Bislang scheint es keine Mechanismus der Wahrheitsfeststellung zu geben, der von beiden Gruppierungen in gleicher Weise anerkannt wird. Solange dies so ist, so lange werden die beiden konkurrierenden Bilder existieren und die Weltwahrnehmung und das davon abhängende Handeln beeinflussen.

DAS NICHTS KONSTRUIEREN/ PLANEN

Wie im vorausgehenden Abschnitt festgestellt, kann das Gehirn aus den Wahrnehmungen der Gegenwart Fragmente der Vergangenheit produzieren, es kann aber die noch ausstehende Zukunft nicht direkt vorweg nehmen. Die Zukunft als solche existiert nicht direkt fassbar. Sofern wir in der Lage sind, die Fragmente der Vergangenheit so zu arrangieren und zu deuten, dass wir aus diesen Fragmenten Hinweise auf wahrscheinliche Ereignisse in der möglichen Zukunft ableiten können, haben wir Arbeitshypothesen zu einzelnen Aspekten, aber nicht mehr.

Angesichts dieser erkenntnistheoretischen Tatsache ist es erstaunlich, wie unbeschwert menschliche Gesellschaften mit einer unbekannten Zukunft umgehen, die sehr wohl gewohnte Lebensverhältnisse in Frage stellen, ihnen ihre Grundlage entziehen kann. Die heute allseits bekannten Themen wie Klimaveränderung, Artensterben, Umweltzerstörung, Ressourcenmangel, Bevölkerugngsentwicklung, Mangel an Trinkwasser, soziale Desintegration, Mobilitäts- und Transporteinschränkungen, Pandemien, Nationalismus und Rassismus, Destruktive Weltbilder, … sind alle von einer Wucht und Komplexität, dass schon eines alleine davon ausreichen kann, um menschliche Populationen mindestens schwer zu schädigen. Aber wir haben mehr als ein solches Schwergewicht-Thema. ..

Die Auseinandersetzung mit diesen Themen im Kontext von Zukunft fällt unter das allgemeine Oberthema Einen Problemraum klären, und, spezieller: Zukunft planen. Im Vorfeld geschieht dies durch allgemeine gesellschaftliche Klärungsprozesse (in Demokratien), die dann durch das politische System verdichtet werden, und es sind dann die Ingenieure, die in engem Verbund mit den Wissenschaften konkrete Lösungsansätze erarbeiten und umsetzen.

Im klassischen Poblemraum — der auch bei den heutigen schwachen Formen von Künstlicher Intelligenz [KI] bzw. Maschinellem Lernen [ML] zugrunde liegt — , sind die Rahmenbedingungen klar: Ausgangspunkt, Ziel (liefert die Bewertungskriterien), mögliche Maßnahmen. In einem modernen, empirischen Problemraum sind die Rahmenbedingungen hingegen weitgehend offen. Es gibt keine klare Kriterien, weil es keine klaren Ziele gibt! Ein mögliches Ziel könnte es z.B. sein, zu sagen, es geht um den Erhalt des biologischen Lebens auf dem Planet Erde. Abgesehen davon, dass nicht zu sehen ist, dass die verschiedenen Nationalstaaten sich auf solch ein Ziel ernsthaft einlassen, wäre solch ein Ziel maximal komplex und unterbestimmt, weil wir die zugehörigen Teilprozesse und Wechselwirkungen bislang weder genügend kennen noch aktuell in der Lage sind, diese alle auf eine unbekannte Zukunft hin hoch zu rechnen.

Nahezu unbeeindruckt von diesen Überlegungen wird in allen Ländern dieser Erde auf jeden Fall täglich gehandelt, ansatzweise geplant, und die realen alltäglichen Probleme nehmen überall zu. Das Versagen von Planung in einem sogenannten hochindustriealisierten Land wie Deutschland ist massiv und niederschmetternd, auf nahezu allen Ebenen. Nahezu alle Parameter sind negativ. Andere Länder sind noch viel schlechter. Ob es auch Länder gibt, die aktuell wirklich besser sind, ist schwer zu beantworten. In manchen Teilbereichen sieht es zumindest so aus.

Die Zukunft zu planen, das reale Nichts, bildet eigentlich die größte Herausforderung an das biologische Leben auf dem Planet Erde, irgendwo in er Milchstrasse, irgendwo in diesem Universum, aber bislang ist professionalle Zukunftsforschung, sind die konkreten Planungsmethoden und -Instrumente für eine ernsthafte Meisterung einer unbestimmten, wenngleich maximal komplexen Zukunft alle sehr speziell, partikulär, extrem gruppen-egoistisch, kryptisch, unkoordiniert. Ein hochkomplexes Land wie Deutschland macht den Eindruck, dass es ziemlich kopflos einfach nur von einem Tag in den anderen, in das Morgen, hinein stolpert. Das Verhalten der Bundesregierung mit samt den Länderregerungen am Beispiel der Corona-Epidemie erscheint grandios amateurhaft und kann nur erschrecken.[1]

LEBEN SCHMECKEN

Eigentlich kann der Text hier enden. Das, was man klar sagen kann, das wurde hier gesagt. Es gibt aber andere Texte von Ingenieuren (!), die im Laufe der letzten Jahre immer mehr gelernt haben, dass einer der Hauptfaktoren für die Unplanbarkeit eines Systems in der Zeit der Faktor Mensch ist. Diese Aussagen haben ein besonderes Gewicht — verglichen mit unzähligen Aussagen von Menschen in ‚weichen‘ Disziplinen — , weil Ingenieure schon immer gezwungen sind, ihre Projekte buchstäblich bis ins letze Detail durchzurechnen und durchzutesten, da sie im Fall des Misslingens direkt haftbar gemacht werden. Und in Grenzbereichen wie sogenannten Echtzeit Systemen (auch Realzeit Systeme genannt) oder Sicherheitskritischen Systemen, muss die Analyse der zu bauenden Systeme tatsächlich bis zur letzten Schraube, bis hin zum verwendeten Material, vollständig berechnet und durchgetestet werden (hier geht es z.B. um Betriebssysteme für Computer, spezielle Computer, Flugzeuge, Raketen, Atomreaktoren, Wolkenkratzern, medizinisches Gerät, …). Und, ja, natürlich geht es auch um den Human Factor, um den Menschen, der mit diesen Systemen arbeitet (Fahrer, Piloten, Kontrollpersonal, Ärzte, …). Und allen Beteiligten ist heute klar: der Mensch unterscheidet sich von technischen Systemen grundlegend!

Aus Sicht der Ingenieure geht es um das Verhalten von Menschen, eine Blickrichtung, die die Ingenieure mit der allgemeinen experimentellen Psychologie teilen. Für das beobachtbare Verhalten von Menschen gibt es viele Beschreibungskategorien, z.B. ob das Verhalten auf eine Lernfähigkeit hindeutet, auf Intelligenz, auf Freiheitsgrade, auf Motivationen, auf Gedächtnisleistungen, auf Wahrnehmungsstrukturen, und sehr vieles mehr. Naturgemäß sind solche verhaltensbasierten Modellierungen nicht ganz scharf. Für die alltägliche Praxis können sie dennoch eine wertvolle Heuristik sein, um das Verhalten von Menchen einzuschätzen.

Will man noch mehr verstehen, dann kann man die Biologie einbeziehen. Die liefert Erkenntnisse über die Feinstruktur von Körpern, von Organen, von Funktionskreisläufen, ja , sie liefert sogar Erkenntnisse über die Entwicklungsgeschichte der heutigen Körper: welche früheren Körperformen gab es; wie unterschieden sich die dazu gehörigen Funktionen von den heutigen Körpern. Speziell interessant sind auch die Wechselwirkungen von Organismen einer Lebensform und ihrer Population(en) mit der jeweiligen Umgebung. Wie wir heute wissen, können Populationen ihre jeweilige Umgebung so beeinflussen, dass diese im Laufe der Zeit zu den Populationen immer besser passen, so dass diese Populationen sich über viele Millionen Jahre nicht ändern müssen, obgleich ihre Struktur denkbar primitiv ist (berühmtes Beispiel sind die europäischen Regenwürmer).

Man kann diese Betrachtungsweise um immer mehr Betrachtungsweisen ergänzen, z.B. um die Mikrobiologie, um die Chemie, und man wird immer elementarere Prozesse feststellen von den Zellen zu den Molekülen, zu den Atomen bis hin zu den Quanten: Sie alle spielen beim Phänomen des Lebens auf dem Planeten Erde eine Rolle. Abrunden kann man das Ganze noch durch die Astrobiologie. Sie liefert Erkenntniss über astrophysikalische Rahmenbedingungen, unter denen das Leben auf dem Planeten Erde stattfindet.

Verweilt man nun nicht in den Einzelperspektiven, sondern versucht alle diese Einzelbilder als Teil eines Gesamtbildes zu sehen, dann kann man den verhaltensnahen Begriffen wie Lernfähig, Intelligent, Motiviert, Freiheitsgrade eine systemische Interpretation zuordnen, die diese Makrophänomene mit einer alle Systemebenen durchziehende Eigenschaft in Verbindung bringt: primär gründend in der Welt der Quanten kommt allen Systemebenen die Qualität einer grundlegenden Freiheit zu: die zeitlich nachfolgenden Systemzustände sind grundsätzlich nicht determiniert. Je komplexer die Systemebenen werden, um so konkreter und vielfältiger werden die Faktoren, die den Übergang vom Jetzt zum Nachher beeinflussen können. Aber die quantenmechanisch fundierte Nicht-Determiniertheit wird auf keiner Systemebene aufgehoben, sondern immer nur mehr und anders moduliert. Ein besonders wunderbares Exemplar einer hochkomplexen Freiheit bildet die Lebensform des homo sapiens. Die ca. 140 Billionen (10^12) Zellen eines einzelnen menschlichen Körpers mitsamt den lebenswichtigen Bakterien entsprechen den Sternen von ca. 120 Galaxien im Format unserer Milchstrasse. Jede dieser Zellen ist ein autonomes Wesen, das in Kommunikation mit vielen Tausenden bzw. Millionen anderer Zellen die unfassbaren vielen Funktionen aufrecht erhalten, die den menschlichen Körper auszeichnen, im Millisekunden Takt. Wir brauchen garnicht erst versuchen, diese Komplexität zu verstehen. Unser Gehirn ist dafür nicht geschaffen. Verglichen mit einem einzelnen menschlichen Körper sind 120 Galaxien verglichen damit langweilig…

Versucht ein Mensch im Lichte des Bewusstseins zu planen, dann verfügt er ohne externen Hilfsmittel nur über einen Bruchteil seines weitgehend unbewussten Wissens. Jeder Versuch einer Rationalisierung seines Daseins oder seinens Planens ist vom Ansatz her zum Scheitern verurteilt. Dies bedeutet nicht, dass man sein Denken, seine Rationalität nicht benutzen soll; man sollte sie unbedingt benutzen. Man sollte sich aber bewusst sein — und sich immer wieder ins Bewusstsein rufen –, dass die Rationalisierungsfragmente, deren wir fähig sind, kein wirkliches Gesamtbild liefern können. Bezieht man die kulturellen Techniken der letzten ca. 5000 Jahre mit ein (Schrift, Bücher, Bibliotheken, Computer, Netzwerke, Forschungsgemeinschaften, …), dann kann man das Ausmaß der Rationalisierung im Vergleich zu einem einzelnen Gehirn deutlich verbessern, man verbleibt dennoch in einer kleinen Blase von Wissen, die sowohl den Menschen selbst wie das Gesamte nur sehr unzulänglich annähern kann. Für den Fall, dass alle Menschen sich in ihrem Wissen irgendwann doch vereinen würden, ist das Ausmaß der möglichen Verbesserung schwer zu bestimmen.

Rationale Formen des Wissens bilden nur einen Teilaspekt in der Existenzerfahrung des Menschen. Dies ergibt sich schon alleine daraus, dass das bewusste begriffliche, sprachliche Wissen im Bewusstsein selbst nur ein Teilmoment darstellt. Wir als Menschen erleben uns selbst u.a. mit explizitem Wissen und daneben mit vielen anderen Empfindungen, Gefühlen, Emotionen, die genauso real sind wie das explizite Wissen. Was aber ist dieses Andere in uns, an uns? Auf jeden Fall hat es mit unserer realen Existenz zu tun, mit uns als Teilhaber an einem umfassenden Lebensprozess auf dem Planet Erde, mit uns, die wir uns vorfinden als das größte Wunder, welches das bekannte Universum zu bieten hat, nicht alleine, schon immer zusammen mit. Ich nenne dieses schwer Sagbare, und doch Reale, unser Rationalität bei weitem Übersteigende, ein echtes Mehr, Das Leben Schmecken.

QUELLENNACHWEISE

[1] Ein Beispiel im kleineren Maßstab, wie gute Planung in der Corona Krise gehen kann, ist die Stadt Rostock: https://www.n-tv.de/politik/Warum-Rostocks-Covid-Strategie-erfolgreich-ist-article22304925.html (Zuletzt: 25.Januar 2021)

DER AUTOR

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MENSCH-MENSCH COMPUTER. Gemeinsam Planen und Lernen. Erste Notizen

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 2.-9.Oktober 2020
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

ÜBERBLICK

Der folgende Text entstand unter dem Eindruck der theoretischen und
praktischen Arbeiten, wie sie in meinem Engineering-Blog bislang dokumentiert
sind. Letztlich geht es darum, das aktuelle Paradigma der Informatik
und der übergreifenden Digitalisierung der Gesellschaft umzudrehen:
statt den Menschen nur als Datenfutter für anonyme Algorithmen zu benutzen,
ihn als digitalen Sklaven zu behandeln, der weitgehend zu einem
rechtlosen Spielball von internationalen Konzernen geworden ist, deren
Interessen weder die Interessen der Benutzer noch derjenigen von demokratischen
Gesellschaften sind, soll wieder der Mensch in das Zentrum
der Betrachtung gerückt werden und die Frage, was können wir tun, um
den Menschen mehr zu befähigen, gemeinsam mit anderen die mögliche
Zukunft besser zu verstehen und vielleicht besser zu gestalten. Der moderne
Mensch begreift sich als Teil der umfassenden Biosphäre auf diesem
Planeten und trägt eine besondere Verantwortung für diese.

Letzte Änderung: 9.Okt.2020

PDF-Dokument

Änderung 9.Okt.2020: Die Rahmenbedingungen von einer gegebenen Situation (hier als Problem) zu einer möglichen zukünftigen Situation (hier als positive Vision) werden etwas genauer analysiert.

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WAS IST DER MENSCH?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062 20.Juli 2020
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

AKTUALISIERUNGEN: Letzte Aktualisierung 21.7.2020 (Korrekturen; neue Links)

KONTEXT

In den vielen vorausgehenden Beiträgen in diesem Blog wurde die Frage nach dem Menschen, was das angemessene Bild vom Menschen sein könnte, schon oft gestellt. Möglicherweise wird diese Frage auch in der Zukunft sich immer wieder neu stellen, weil wir immer wieder auf neue Aspekte unseres Menschseins stoßen. Ich bin diese Tage auf einen Zusammenhang gestoßen, der mir persönlich in dieser Konkretheit neu ist (was nicht ausschließt, dass andere dies schon ganz lange so sehen). Hier einige weitere Gedanken dazu.

DER MENSCH IN FRAGMENTEN

In der evolutionsbiologischen Perspektive taucht der homo sapiens — also wir — sehr, sehr spät auf. Vom Jahr 2020 aus betrachtet, bilden wir den aktuellen Endpunkt der bisherigen Entwicklung wohl wissend, dass es nur ein Durchgangspunkt ist in einem Prozess, dessen Logik und mögliche Zielrichtung wir bislang nur bedingt verstehen.

Während man bei der Betrachtung der letzten Jahrtausende Menschheitsgeschichte bisweilen den Eindruck haben könnte, dass die Menschen sich als Menschen als etwas irgendwie Besonderes angesehen haben (was die Menschen aber nicht davon abgehalten hat, sich gegenseitig zu bekämpfen, sich zu bekriegen, sich regelrecht abzuschlachten), könnte man bei der Betrachtung der letzten 100 Jahre den Eindruck gewinnen, als ob die Wissenschaft die Besonderheit des Menschen — so es sie überhaupt gab — weitgehend aufgelöst hat: einmal durch die Einbettung in das größere Ganze der Evolution, dann durch einen vertieften Blick in die Details der Anatomie, des Gehirns, der Organe, der Mikro- und Zellbiologie, der Genetik, und schließlich heute durch das Aufkommen digitaler Technologien, der Computer, der sogenannten künstlichen Intelligenz (KI); dies alles lässt den Menschen auf den ersten Blick nicht mehr als etwas Besonders erscheinen.

Diese fortschreitende Fragmentierung des Menschen, des homo sapiens, findet aber nicht nur speziell beim Menschen statt. Die ganze Betrachtungsweise der Erde, des Universums, der realen Welt, ist stark durch die empirischen Wissenschaften der Gegenwart geprägt. In diesen empirischen Wissenschaften gibt es — schon von ihrem methodischen Ansatz her — keine Geheimnisse. Wenn ich nach vereinbarten Messmethoden Daten sammle, diese in ein — idealerweise — mathematisches Modell einbaue, um Zusammenhänge sichtbar zu machen, dann kann ich möglicherweise Ausschnitte der realen Welt als abgeschlossene Systeme beschreiben, bei denen der beschreibende Wissenschaftler außen vor bleibt. Diese partiellen Modelle bleiben notgedrungen Fragmente. Selbst die Physik, die für sich in Anspruch nimmt, das Ganze des Universums zu betrachten, fragmentiert die reale Welt, da sich die Wissenschaftler selbst, auch nicht die Besonderheiten biologischen Lebens generell, in die Analyse einbeziehen. Bislang interessiert das die meisten wenig. Je nach Betrachtungsweise kann dies aber ein fataler Fehler sein.

DER BEOBACHTER ALS BLINDE FLECK

Die Ausklammerung des Beobachters aus der Beschreibung des Beobachtungsgegenstands ist in den empirischen Wissenschaften Standard, da ja das Messverfahren idealerweise invariant sein soll bezüglich demjenigen, der misst. Bei Beobachtungen, in denen der Beobachter selbst das Messinstrument ist, geht dies natürlich nicht, da die Eigenschaften des Beobachters in den Messprozess eingehen (z.B. überall dort, wo wir Menschen unser eigenes Verhalten verstehen wollen, unser Fühlen und Denken, unser Verstehen, unser Entscheiden, usw.). Während es lange Zeit eine strenge Trennung gab zwischen echten (= harten) Wissenschaften, die strikt mit dem empirischen Messideal arbeiten, und jenen quasi (=weichen) Wissenschaften, bei denen irgendwie der Beobachter selbst Teil des Messprozesses ist und demzufolge das Messen mehr oder weniger intransparent erscheint, können wir in den letzten Jahrzehnten den Trend beobachten, dass die harten empirischen Messmethoden immer mehr ausgedehnt werden auch auf Untersuchungen des Verhaltens von Menschen, allerdings nur als Einbahnstraße: man macht Menschen zwar zu Beobachtungsgegenständen partieller empirischer Methoden, die untersuchenden Wissenschaftler bleiben aber weiterhin außen vor. Dieses Vorgehen ist per se nicht schlecht, liefert es doch partiell neue, interessante Einsichten. Aber es ist gefährlich in dem Moment, wo man von diesem — immer noch radikal fragmentiertem — Vorgehen auf das Ganze extrapoliert. Es entstehen dann beispielsweise Bücher mit vielen hundert Seiten zu einzelnen Aspekten der Zelle, der Organe, des Gehirns, aber diese Bücher versammeln nur Details, Fragmente, eine irgendwie geartete Zusammenschau bleibt aus.

Für diese anhaltende Fragmentierung gibt es sicher mehr als einen Grund. Einer liegt aber an der Wurzel des Theoriebegriffs, der Theoriebildung selbst. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Anschauung entstehen Theorien, Modelle, also jene begrifflichen Gebilde, mit denen wir einzelne Daten deuten, nicht aus einem Automatismus, sondern sie beruhen auf gedanklichen Entscheidungen in den Köpfen der Wissenschaftler selbst: grundsätzlich gibt es immer mehr als eine Option, wie ich etwas angehen will. Jede Option verlangt also eine Entscheidung, eine Wahl aus einem großen Bereich von Möglichkeiten. Die Generierung einer Theorie ist von daher immer ein komplexer Prozess. Interessanterweise gibt es in kaum einer der heutigen empirischen Disziplinen das Thema Wie generieren wir eine Theorie? als eigene Themenstellung. Obwohl hier viele Grundentscheidungen fallen, obwohl hier viel Komplexität rational aufgehellt werden müsste, betreiben die sogenannten harten Wissenschaften hier ein weitgehend irrationales Geschäft. Das Harte an den empirischen Wissenschaften gründet sich in diesem Sinne nicht einmal in einer weichen Reflexion; es gibt schlicht gar keine offizielle Reflexion. Die empirischen Wissenschaften sind in dieser Hinsicht fundamental irrational. Dass sie trotz ihrer fundamentalen Irrationalität interessante Detailergebnisse liefern kann diesen fundamentalen Fehler in der Wurzel nur bedingt ausgleichen. Die interessante Frage ist doch, was könnten die empirischen Wissenschaften noch viel mehr leisten, wenn sie ihre grundlegende Irrationalität an der Wurzel der Theoriebildung schrittweise mit Rationalität auffüllen würden?

HOMO SAPIENS – DER TRANSFORMER

(Ein kleiner Versuch, zu zeigen, was man sehen kann, wenn man die Grenzen der Disziplinen versuchsweise (und skizzenhaft) überschreitet)

Trotz ihrer Irrationalität an der Wurzel hat die Evolutionsbiologie viele interessante Tatbestände zum homo sapiens sichtbar gemacht, und andere Wissenschaften wie z.B. Psychologie, Sprachwissenschaften, und Gehirnwissenschaft haben weitere Details beigesteuert, die quasi ‚auf der Straße‘ herumliegen; jeder produziert für sich fleißig partielle Modelle, aber niemand ist zuständig dafür, diese zusammen zu bauen, sie versuchsweise zu integrieren, mutig und kreativ eine Synthese zu versuchen, die vielleicht neue Aspekte liefern kann, mittels deren wir viele andere Details auch neu deuten könnten. Was Not tut ist eine Wissenschaft der Wissenschaften, nicht als Privatvergnügen eines einzelnen Forschers, sondern als verpflichtender Standard für alle. In einer Wissenschaft der Wissenschaften wäre der Beobachter, der Forscher, die Forschergruppe, selbst Teil des Untersuchungsgegenstandes und damit in der zugehörigen Meta-Theorie aufzuhellen.

Anmerkung: Im Rahmen der Theorie des Engineering gibt es solche Ansätze schon länger, da das Scheitern eines Engineeringprozesses ziemlich direkt auf die Ingenieure zurück schlägt; von daher sind sie äußerst interessiert daran, auf welche Weise der Faktor Mensch — also auch sie selbst — zum Scheitern beigetragen hat. Hier könnte die Wissenschaft eine Menge von den Ingenieuren lernen.

Neben den vielen Eigenschaften, die man am homo sapiens entdecken kann, erscheinen mir drei von herausragender Bedeutung zu sein, was sich allerdings erst so richtig zeigt, wenn man sie im Zusammenspiel betrachtet.

Faktor 1: Dass ein homo sapiens einen Körper [B, body] mit eingebautem Gehirn [b, brain] hat, unterscheidet ihn nicht unbedingt von anderen Lebensformen, da es viele Lebensformen im Format Körper mit eingebautem Gehirn gibt. Dennoch ist schon mal festzuhalten, dass der Gehirn-Körper [b_B] eines homo sapiens einen Teil der Eigenschaften seiner Realwelt-Umgebung [RW] — und der eigene Körper gehört aus Sicht des Gehirns auch zu dieser Realwelt-Umgebung — ausnahmslos in neuronale Zustände [NN] im Gehirn verwandelt/ transformiert/ konvertiert und diese neuronale Zustände auf vielfältige Weise Prozesshaft bearbeitet (Wahrnehmen, Speichern, Erinnern, Abstrahieren, Assoziieren, bewerten, …). In dieser Hinsicht kann man den Gehirn-Körper als eine Abbildung, eine Funktion verstehen, die u.a. dieses leistet: b_B : RW —–> RW_NN. Will man berücksichtigen, dass diese Abbildung durch aktuell verfügbare Erfahrungen aus der Vergangenheit modifiziert werden kann, dann könnte man schreiben: b_B : RW x RW_NN —–> RW_NN. Dies trägt dem Sachverhalt Rechnung, dass wir das, was wir aktuell neu erleben, automatisch mit schon vorhandenen Erfahrungen abgleichen und automatisch interpretieren und bewerten.

Faktor 2: Allein schon dieser Transformationsprozess ist hochinteressant, und er funktioniert bis zu einem gewissen Grad auch ganz ohne Sprache (was alle Kinder demonstrieren, wenn sie sich in der Welt bewegen, bevor sie sprechen können). Ein homo sapiens ohne Sprache ist aber letztlich nicht überlebensfähig. Zum Überleben braucht ein homo sapiens das Zusammenwirken mit anderen; dies verlangt ein Minimum an Kommunikation, an sprachlicher Kommunikation, und dies verlangt die Verfügbarkeit einer Sprache [L].

Wir wir heute wissen, ist die konkrete Form einer Sprache nicht angeboren, wohl aber die Fähigkeit, eine auszubilden. Davon zeugen die vielen tausend Sprachen, die auf dieser Erde gesprochen werden und das Phänomen, dass alle Kinder irgendwann anfangen, Sprachen zu lernen, aus sich heraus.

Was viele als unangenehm empfinden, das ist, wenn man als einzelner als Fremder, als Tourist in eine Situation gerät, wo alle Menschen um einen herum eine Sprache sprechen, die man selbst nicht versteht. Dem Laut der Worte oder dem Schriftzug eines Textes kann man nicht direkt entnehmen, was sie bedeuten. Dies liegt daran, dass die sogenannten natürlichen Sprachen (oft auch Alltagssprachen genannt), ihre Bedeutungszuweisungen im Gehirn bekommen, im Bereich der neuronalen Korrelate der realen Welt RW_NN. Dies ist auch der Grund, warum Kinder nicht von Geburt an eine Sprache lernen können: erst wenn sie minimale Strukturen in ihren neuronalen Korrelaten der Außenwelt ausbilden konnten, können die Ausdrücke der Sprache ihrer Umgebung solchen Strukturen zugeordnet werden. Und so beginnt dann ein paralleler Prozess der Ausdifferenzierung der nicht-sprachlichen Strukturen, die auf unterschiedliche Weise mit den sprachlichen Strukturen verknüpft werden. Vereinfachend kann man sagen, dass die Bedeutungsfunktion [M] eine Abbildung herstellt zwischen diesen beiden Bereichen: M : L <–?–> RW_NN, wobei die sprachlichen Ausdrücke letztlich ja auch Teil der neuronalen Korrelate der Außenwelt RW_NN sind, also eher M: RW_NN_L <–?–>RW_NN.

Während die grundsätzliche Fähigkeit zur Ausbildung einer bedeutungshaltigen Sprache [L_M] (L :_ Ausrucksseite, M := Bedeutungsanteil) nach heutigem Kenntnisstand angeboren zu sein scheint, muss die Bedeutungsrelation M individuell in einem langen, oft mühsamen Prozess, erlernt werden. Und das Erlernen der einen Sprache L_M hilft kaum bis gar nicht für das Erlernen einer anderen Sprache L’_M‘.

Faktor 3: Neben sehr vielen Eigenschaften im Kontext der menschlichen Sprachfähigkeit ist einer — in meiner Sicht — zusätzlich bemerkenswert. Im einfachen Fall kann man unterscheiden zwischen den sprachlichen Ausdrücken und jenen neuronalen Korrelaten, die mit Objekten der Außenwelt korrespondieren, also solche Objekte, die andere Menschen zeitgleich auch wahrnehmen können. So z.B. ‚die weiße Tasse dort auf dem Tisch‘, ‚die rote Blume neben deiner Treppe‘, ‚die Sonne am Himmel‘, usw. In diesen Beispielen haben wir auf der einen Seite sprachliche Ausdrücke, und auf der anderen Seite nicht-sprachliche Dinge. Ich kann mit meiner Sprache aber auch sagen „In dem Satz ‚die Sonne am Himmel‘ ist das zweite Wort dieses Satzes grammatisch ein Substantiv‘. In diesem Beispiel benutze ich Ausdrücke der Sprache um mich auf andere Ausdrücke einer Sprache zu beziehen. Dies bedeutet, dass ich Ausdrücke der Sprache zu Objekten für andere Ausdrücke der Sprache machen kann, die über (meta) diese Objekte sprechen. In der Wissenschaftsphilosophie spricht man hier von Objekt-Sprache und von Meta-Sprache. Letztlich sind es zwei verschiedenen Sprachebenen. Bei einer weiteren Analyse wird man feststellen können, dass eine natürliche/ normale Sprache L_M scheinbar unendlich viele Sprachebenen ausbilden kann, einfach so. Ein Wort wie Demokratie z.B. hat direkt kaum einen direkten Bezug zu einem Objekt der realen Welt, wohl aber sehr viele Beziehungen zu anderen Ausdrücken, die wiederum auf andere Ausdrücke verweisen können, bis irgendwann vielleicht ein Ausdruck dabei ist, der Objekte der realen Welt betrifft (z.B. der Stuhl, auf dem der Parlamentspräsident sitzt, oder eben dieser Parlamentspräsident, der zur Institution des Bundestages gehört, der wiederum … hier wird es schon schwierig).

Die Tatsache, dass also das Sprachvermögen eine potentiell unendlich erscheinende Hierarchie von Sprachebenen erlaubt, ist eine ungewöhnlich starke Eigenschaft, die bislang nur beim homo sapiens beobachtet werden kann. Im positiven Fall erlaubt eine solche Sprachhierarchie die Ausbildung von beliebig komplexen Strukturen, um damit beliebig viele Eigenschaften und Zusammenhänge der realen Welt sichtbar zu machen, aber nicht nur in Bezug auf die Gegenwart oder die Vergangenheit, sondern der homo sapiens kann dadurch auch Zustände in einer möglichen Zukunft andenken. Dies wiederum ermöglicht ein innovatives, gestalterisches Handeln, in dem Aspekte der gegenwärtigen Situation verändert werden. Damit kann dann real der Prozess der Evolution und des ganzen Universums verändert werden. Im negativen Fall kann der homo sapiens wilde Netzwerke von Ausdrücken produzieren, die auf den ersten Blick schön klingen, deren Bezug zur aktuellen, vergangenen oder möglichen zukünftigen realen Welt nur schwer bis gar nicht herstellbar ist.

Hat also ein entwickeltes Sprachsystem schon für das Denken selbst eine gewisse Relevanz, spielt es natürlich auch für die Kommunikation eine Rolle. Der Gehirn-Körper transformiert ja nicht nur reale Welt in neuronale Korrelate b_B : RW x RW_NN —–> RW_NN (mit der Sprache L_B_NN als Teil von RW_NN), sondern der Gehirn-Körper produziert auch sprachliche Ausdrücke nach außen b_B : RW_NN —–> L. Die sprachlichen Ausdrücke L bilden von daher die Schnittstelle zwischen den Gehirnen. Was nicht gesagt werden kann, das existiert zwischen Gehirnen nicht, obgleich es möglicherweise neuronale Korrelate gibt, die wichtig sind. Nennt man die Gesamtheit der nutzbaren neuronalen Korrelate Wissen dann benötigt es nicht nur eine angemessene Kultur des Wissens sondern auch eine angemessene Kultur der Sprache. Eine Wissenschaft, eine empirische Wissenschaft ohne eine angemessene (Meta-)Sprache ist z.B. schon im Ansatz unfähig, mit sich selbst rational umzugehen; sie ist schlicht sprachlos.

EIN NEUES UNIVERSUM ? !

Betrachtet man die kontinuierlichen Umformungen der Energie-Materie vom Big Bang über Gasnebel, Sterne, Sternenhaufen, Galaxien und vielem mehr bis hin zur Entstehung von biologischem Leben auf der Erde (ob auch woanders ist komplexitätstheoretisch extrem unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich), dort dann die Entwicklung zu Mehrzellern, zu komplexen Organismen, bis hin zum homo sapiens, dann kommt dem homo sapiens eine einzigartig, herausragende Rolle zu, der er sich bislang offensichtlich nicht richtig bewusst ist, u.a. möglicherweise auch, weil die Wissenschaften sich weigern, sich professionell mit ihrer eigenen Irrationalität zu beschäftigen.

Der homo sapiens ist bislang das einzig bekannte System im gesamten Universum, das in er Lage ist, die Energie-Materie Struktur in symbolische Konstrukte zu transformieren, in denen sich Teile der Strukturen des Universums repräsentieren lassen, die dann wiederum in einem Raum hoher Freiheitsgrade zu neue Zuständen transformiert werden können, und diese neuen — noch nicht realen — Strukturen können zum Orientierungspunkt für ein Verhalten werden, das die reale Welt real transformiert, sprich verändert. Dies bedeutet, dass die Energie-Materie, von der der homo sapiens ein Teil ist, ihr eigenes Universum auf neue Weise modifizieren kann, möglicherweise über die aktuellen sogenannten Naturgesetze hinaus.

Hier stellen sich viele weitere Fragen, auch alleine schon deswegen, weil der Wissens- und Sprachaspekt nur einen kleinen Teil des Potentials des homo sapiens thematisiert.