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KÜNSTLICHE INTELLIGENZ im Spiegel der Menschen. Teil 1

Zeit: 8.Febr 24 – 3.März 24

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Das Thema Mensch und Maschine durchzieht den gesamten Blog von Anfang an. Es liegt daher nahe, diese Thematik auch in Vorträgen zu thematisieren. Allerdings, jede der beiden Komponenten ‚Mensch‘ wie auch ‚Maschine‘ ist in sich sehr komplex; eine Wechselwirkung zwischen beiden umso mehr. Dazu ‚einfach mal so‘ einen Vortrag zu halten erscheint daher fast unmöglich, wie eine ‚Quadratur des Kreises‘. Dennoch lasse ich mich gelegentlich darauf ein.

Überblick

Im Teil 1 wird eine Ausgangslage beschrieben, die in Vorbereitung eines Vortrags angenommen worden ist. Im Rahmen des Vortrags konnte das Thema aber nur ansatzweise behandelt werden. In den nachfolgenden Texten soll die Themenstellung daher nochmals aufgegriffen und ausführlicher behandelt werden.

Ankündigung des Vortrags

Im offiziellen Ankündigungs-Flyer konnte man folgenden Text lesen:

Perspektive Vortragender

Das Eigentümliche von freien Vorträgen ist, dass man die Zusammensetzung des Publikums vorab nicht kennt. Man muss mit einer großen Vielfalt rechnen, was auch am 21.Febr 2024 der Fall war. Ein voller Saal, immerhin fast alle hatten schon mal Kontakt mit chatGPT gehabt, manche sogar sehr viel Kontakt. Wie ein roter Faden liefen aber bei allen Fragen der Art mit, was man denn jetzt von dieser Software halten solle? Ist sie wirklich intelligent? Kann sie eine Gefahr für uns Menschen darstellen? Wie soll man damit umgehen, dass auch immer mehr Kinder und Jugendliche diese SW benutzen ohne wirklich zu verstehen, wie diese SW arbeitet? … und weitere Fragen.

Als Vortragender kann man auf die Vielzahl der einzelnen Fragen kaum angemessen eingehen. Mein Ziel war es, ein Grundverständnis von der Arbeitsweise von chatGPT4 als Beispiel für einen chatbot und für generative KI zu vermitteln, und dieses Grundverständnis dann in Bezug zu setzen, wie wir Menschen mit dem Problem Zukunft umgehen: auf welche Weise kann chatGPT4 uns helfen, Zukunft gemeinsam ein wenig zu verstehen, so dass wir dadurch gemeinsam etwas rationaler und zielgerichteter handeln können.

Ob und wieweit mir dies dann faktisch im Vortrag und bei den Gesprächen gelungen ist, bleibt eine offene Frage. Bei einigen, die aufgrund ihrer individuellen Experimente mit chatGPT sich schon ein bestimmtes Bild von chatGPT gemacht hatten, sicher nicht. Sie waren so begeistert davon, was chatGPT alles kann, dass sie weiterführende Überlegungen eher abwehrten.

Absicht des Vortragenden

Wie schon angedeutet, gab es die Themenkomplexe (i) chatbots/ generative KI/ KI, (ii) Zukunft verstehen und gestalten sowie (iii) Ob und wie kann generative KI uns Menschen dabei helfen.

Chatbots/ Generative KI/ KI

Aufgrund der heute stark ausgefächerten Terminologie mit stark verschwommenen Bedeutungsrändern habe ich eine Skizze des Begriffsfelds in den Raum gestellt, um dann Eliza und chatGPT4 als Beispiel für chatbots/ generative KI/ maschinelles Lernen näher zu betrachten.

Das Programm Eliza [1,2] ist insoweit von historischem Interesse, als es der erste chatbot [3] war, der einige Berühmtheit erlangte. Trotz seiner einfachen Struktur (ohne jede explizite Wissensbasis) übte der chatbot eine starke Wirkung auf die Menschen aus, die mit dem Programm per Tastatur und Bildschirm interagierten. Alle hatten das Gefühl, dass der chatbot sie ‚versteht‘. Dies verweist auf Grundmuster der menschlichen Psychologie, Vertrauen zu schenken, wenn erlebte Interaktionsformen den persönlichen Erwartungen entsprechen.

Verglichen mit Eliza besitzt der chatbot chatGPT4 [4a,b,c] eine unfassbar große Datenbasis von vielen Millionen Dokumenten, sehr breit gestreut. Diese wurden miteinander ‚verrechnet‘ mit Blick auf mögliche Kontexte von Worten samt Häufigkeiten. Zusätzlich werden diese ‚Sekundärdaten‘ in speziellen Trainingsrunden an häufig vorkommende Dialogformen angepasst.

Während Eliza 1966 nur im Format eines Psychotherapeuten im Stil der Schule von Rogers [5] antworten konnte, weil das Programm speziell dafür programmiert war, kann chatGPT4 ab 2023 viele verschiedene Therapie-Formen nachahmen. Überhaupt ist die Bandbreite möglicher Interaktionsformen von chatGPT4 erheblich breiter. So kann man folgenden Formate finden und ausprobieren:

  1. Fragen beantworten …
  2. Texte zusammenfassen …
  3. Texte kommentieren …
  4. Texte entwerfen …
  5. Übersetzen …
  6. Text zu Bild …
  7. Text zu Video
  8. … und weitere …

Bewertung

Eine Software wie chatGBT4 zu benutzen ist das eine. Wie aber kann man solch eine Software bewerten?

Aus dem Alltag wissen wir, dass wir zur Feststellung der Länge eines bestimmten räumlichen Abschnitts ein standardisiertes Längenmaß wie ‚das Meter‘ benutzen oder für das Gewicht eines Objekts das standardisierte Gewichtsmaß ‚das Kilogramm‘.[6]

Wo gibt es eine standardisierte Maßeinheit für chatbots?

Je nachdem, für welche Eigenschaft man sich interessiert, kann man sich viele Maßeinheiten denken.

Im hier zur Debatte stehenden Fall soll es um das Verhalten von Menschen gehen, die gemeinsam mittels Sprache sich auf die Beschreibung eines möglichen Zustands in der Zukunft einigen wollen, so, dass die einzelnen Schritte in Richtung Ziel überprüfbar sind. Zusätzlich kann man sich viele Erweiterungen denken wie z.B. ‚Wie viel Zeit‘ wird die Erreichung des Ziels benötigen?‘, ‚Welche Ressourcen werden benötigt werden zu welchen Kosten?‘, ‚Wie viele Menschen mit welchen Fähigkeiten und in welchem zeitlichem Umfang müssen mitwirken? … und einiges mehr.

Man merkt sofort, dass es hier um einen ziemlich komplexen Prozess geht.

Um diesen Prozess wirklich als ‚Bezugspunkt‘ wählen zu können, der in seinen einzelnen Eigenschaften dann auch ‚entscheidbar‘ ist hinsichtlich der Frage, ob chatGPT4 in diesem Kontext hilfreich sein kann, muss man diesen Prozess offensichtlich so beschreiben, dass ihn jeder nachvollziehen kann. Dass man dies tun kann ist keineswegs selbstverständlich.

Anforderungen für eine gemeinsame Zukunftsbewältigung

BILD : Andeutung der Fragen, die beantwortet werden müssen, um möglicherweise eine Antwort zu bekommen.

ZUKUNFT KEIN NORMALES OBJEKT

Generell gilt, dass das mit dem Wort ‚Zukunft‘ Gemeinte kein normales Objekt ist wie ein Stuhl, ein Auto, oder ein Hund, der gerade über die Straße läuft. Zukunft kommt für uns immer nur in unserem Denken vor als Bild eines möglichen Zustands, das sich nach einer gewissen Zeit möglicherweise ‚bewahrheiten kann‘.

Wollen wir also möglichst viele Menschen in die Zukunft mitnehmen, dann stellt sich die Aufgabe, dass das gemeinsamen Denken möglichst viel von dem, was wir uns für die Zukunft wünschen, ‚voraus sehen‘ können muss, um einen Weg in ein mögliches gedachtes Weiterleben zu sichern.

BEISPIEL MIT BRETTSPIEL

Dies klingt kompliziert, aber anhand eines bekannten Brettspiels kann man dies veranschaulichen. Auf Deutsch heißt dies Spiel ‚Mensch ärgere Dich nicht‘ (auf dem Bild sieht man eine Version für die Niederlande).[7]

BILD : Spielbrett des Spiels ‚Mensch ärgere Dich nicht‘

BILD : Strukturelemente einer Spielsituation und die darin angenommenen Beziehungen. Die reale SPIELSITUATION wird im Text der SPIELANLEITUNG vorausgesetzt und beschrieben. Neben den ELEMENTEN der Spielsituation enthalten die SPIELREGELN Beschreibungen möglicher Aktionen, um die Spielsituation zu verändern sowie die Beschreibung einer möglichen Konfiguration von Elementen, die (i) als STARTSITUATION gelten soll wie auch als ZIELZUSTAND (ZIEL). Ferner gibt es eine ANLEITUNG, WER WAS WANN WIE tun darf.

Was man in der Gegenwart sieht, das ist ein Spielbrett mit diversen Symbolen und Spielsteinen. Zusätzlich gibt es noch den Kontext zum Spielbrett bestehend aus vier Spielern und einem Würfel. Alle diese Elemente zusammen bilden eine Ausgangslage oder Startzustand oder den aktuellen IST-Zustand.

Ferner muss man annehmen, dass sich in den Köpfen der Mitspieler ein Wissen befindet, aufgrund dessen die Mitspieler die einzelnen Elemente als Elemente eines Spiels erkennen können, das ‚Mensch ärgere dich nicht‘ heißt.

Um dieses Spiel praktisch spielen zu können, müssen die Spieler auch wissen, wer wann welche Veränderungen wie auf dem Spielbrett vornehmen darf. Diese Veränderungen werden beschrieben durch Spielregeln, zu denen es noch eine geschriebene Spielanleitung gibt, aus der hervorgehen muss, welche Regel wann wie von wem angewendet werden darf.

Wenn die Spieler nach den vorgegebenen Regeln Veränderungen auf dem Spielbrett vornehmen, dann kann das Spiel beliebig lange laufen, es sei denn, es gibt eine klar Beschreibung eines Zielzustands, der als Ziel und gleichzeitig als Ende vereinbart ist. Wenn dieser Zielzustand auf dem Brett eintreten sollte, dann wäre das Spiel beendet und jener Spieler, der den Zielzustand als erster erreicht, wäre dann ein Gewinner im Sinne des Spiels.

Nicht zu vergessen: Genauso wichtig die die Beschreibung eines Zielzustandes ist die Beschreibung eines Startzustands, mit dem das Spiel beginnen soll.

Für die Frage der Zukunft im Kontext Spiel wird sichtbar, dass die Zukunft in Gestalt eines Zielzustands zwar in Form einer textlichen Beschreibung existiert, aber nicht als reale Konfiguration auf dem Spielbrett. Es wird von den beteiligten Spielern aber angenommen, dass die beschrieben Zielkonfiguration durch wiederholte Ausführung von Spielregeln beginnend mit einer Startkonfiguration irgendwann im Verlaufe des Spiels eintreten kann. Im Fall des Eintretens der Zielkonfiguration als reale Konfiguration auf dem Spielbrett wäre dies für alle wahrnehmbar und entscheidbar.

Interessant in diesem Zusammenhang ist der Sachverhalt, dass die Auswahl eines Zielzustands nur möglich ist, weil die Vorgabe einer Startsituation in Kombination mit Spielregeln einen Raum von möglichen Zuständen markiert. Der Zielzustand ist dann immer die Auswahl einer spezifischen Teilmenge aus dieser Menge der möglichen Folgezuständen.

Spiel und Alltag

Wenn man sich den Alltag anschaut, auch dort, wo nicht explizit ein Spiel gespielt wird, dann kann man feststellen, dass sehr viele — letztlich alle ? — Situationen sich als Spiel interpretieren lassen. Ob wir die Vorbereitung eines Essens nehmen, den Tisch decken, Zeitung lesen, Einkaufen, Musik machen, Auto fahren …. alle diese Tätigkeiten folgen dem Schema, dass es eine Ausgangssituation (Startsituation) gibt, ein bestimmtes Ziel, das wir erreichen wollen, und eine Menge von bestimmten Verhaltensweisen, die wir gewohnt sind auszuführen, wenn wir das spezielle Ziel erreichen wollen. Verhalten wir uns richtig, dann erreichen wir — normalerweise — das gewünschte Ziel. Diese Alltagsregeln für Alltagsziele lernt man gewöhnlich nicht in er Schule, sondern durch die Nachahmung anderer oder durch eigenes Ausprobieren. Durch die Vielfalt von Menschen und Alltagssituationen mit unterschiedlichsten Zielen gibt es eine ungeheure Bandbreite an solchen Alltags-Spielen. Letztlich erscheinen diese als die Grundform menschlichen Verhaltens. Es ist die Art und Weise, wie wir als Menschen lernen und miteinander handeln. [8]

Im Unterschied zu expliziten Spielen verlaufen die Alltagsspiele nicht starr innerhalb der von der Spielanleitung beschriebenen Grenzen, sondern die Alltagsspiele finden innerhalb einer offenen Welt statt, sie sind ein kleiner Teil eines größeren dynamischen Gesamtgeschehens, welches dazu führen kann, dass während der Umsetzung eines Alltagsspiels andere Ereignisse die Umsetzung auf unterschiedliche Weise behindern können (Ein Telefonanruf unterbricht, Zutaten beim Kochen fehlen, beim Einkaufen findet man nicht den richtigen Gegenstand, …). Außerdem können Ziele im Alltag auch scheitern und können neben schlechten Gefühlen real auch negative Wirkungen erzeugen. Auch können Alltagsspiele irgendwann unangemessen werden, wenn sich die umgebende dynamische Welt soweit geändert hat, dass ein die Regeln des Alltagsspiels nicht mehr zum erhofften Ziel führen.

Vor diesem Hintergrund kann man vielleicht verstehen, dass explizite Spiele eine besondere Bedeutung haben: sie sind keine Kuriositäten im Leben der Menschen, sondern sie repräsentieren die normalen Strukturen und Prozesse des Alltags in zugespitzten, kondensierten Formaten, die aber von jedem Menschen mehr oder weniger sofort verstanden werden bzw. verstanden werden können.[9] Die Nichterreichung eines Zieles im expliziten Spiel kann zwar auch schlechte Gefühle auslösen, hat aber normalerweise keine weiteren reale negative Auswirkungen. Explizite Spiele ermöglichen es, ein Stück weit reale Welt zu spielen ohne sich dabei aber einem realen Risiko auszusetzen. Diese Eigenschaft kann für Mitbürger eine große Chance auch für den realen Alltag bieten.

Wissen und Bedeutung oder: Der Elefant im Raum

Ist man erst einmal aufmerksam geworden auf die Allgegenwart von Spielstrukturen in unserem Alltag, dann erscheint es fast ’normal‘, dass wir Menschen uns im Format des Spiels scheinbar schwerelos bewegen können. Wo immer man hinkommt, wen man auch immer trifft, das Verhalten im Format eines Spiels ist jedem vertraut. Daher fällt es meistens gar nicht auf, dass hinter dieser Verhaltensoberfläche einige Fähigkeiten des Menschen aktiv sind, die als solche alles andere als selbstverständlich sind.

Überall dort, wo mehr als ein Mensch sich im Format eines Spiels verhält, müssen alle beteiligten Menschen (Mitspieler, Mitbürger,…) in ihrem Kopf über ein Wissen verfügen, in dem alle Aspekte, die zu einem spielerischen Verhalten gehören, vorhanden (repräsentiert) sind. Wenn ein Spieler beim Fußballspiel nicht weiß, wann er im Abseits steht, macht er einen Fehler. Wer nicht weiß, dass man beim Einkaufen am Ende seine Waren bezahlen muss, macht einen Fehler. Wer nicht weiß, wie man bei der Essenszubereitung richtig schneidet/ würzt/ brät/ … verändert dies das erhoffte Ergebnis. Wer nicht weiß, wie er Bargeld aus dem Automat bekommt, hat ein Problem … Jeder lernt im Alltag, dass er wissen muss, um richtig handeln zu können. Was aber hat es genau mit diesem Wissen auf sich?

Und, um die Geschichte vollständig zu erzählen: Im Alltag operieren wir ständig mit Alltagssprache: wir produzieren Laute, die andere hören können und umgekehrt. Das Besondere an diesen Lauten ist, dass alle Teilnehmer des Alltags die eine gleiche Alltagssprache gelernt haben, diese Laute spontan in ihrem Kopf mit Teilen des Wissens verknüpfen, über das sie verfügen. Die gesprochenen und gehörten Laute sind daher nur ein Mittel zum Zweck. Als solche haben die Laute keine Bedeutung (was man sofort merken kann, wenn jemand die benutzte Alltagssprache nicht kennt). Aber für die, die die gleiche Alltagssprache im Alltag gelernt haben, stimulieren diese Laute in ihrem Kopf bestimmte Wissenselemente, falls wir über sie verfügen. Solche Wissenselemente, die sich durch die Laute einer gelernten Alltagssprache in einem Mitbürger stimulieren lassen, nennt man gewöhnlich sprachliche Bedeutung, wobei hier nicht nur die gehörten Laute alleine eine Rolle spielen, sondern normalerweise sind viele Kontexteigenschaften zusätzlich wichtig: Wie jemand etwas sagt, unter welchen Begleitumständen, in welcher Rolle usw. Meist muss man in der Situation des Sprechens anwesend sein, um all diese Kontextfaktoren erfassen zu können.

Hat man verstanden, dass jede geteilte Alltagssituation im Spielformat zentral zum notwendigen Alltagswissen auch eine Alltagssprache voraussetzt, dann wird auch klar, dass jedes explizite Spiel im Format einer Spielanleitung genau jenes Spielwissen bereit zu stellen versucht, welches man kennen muss, um das explizite Spiel spielen zu können. Im Alltag entsteht das notwendige Wissen durch Lernprozesse: durch Nachahmung und Ausprobieren baut jeder in seinem Kopf jenes Wissen auf, das er für ein bestimmtes Alltagshandeln benötigt. Für sich alleine braucht man nicht unbedingt einen Text, der das eigene Alltagshandeln beschreibt. Will man aber andere Mitbürger in sein Alltagsverhalten einbeziehen — gerade auch wenn es viele sein sollen, die nicht unbedingt am gleichen Ort sind –, dann muss man sein Alltagsverhalten mittels Alltagssprache ausdrücken.

Wissenschaftliches Denken und Kommunizieren

Für alle die, die nicht direkt mit wissenschaftlicher Arbeit zu tun haben, bildet Wissenschaft eine Zusammenballung von vielen unverständlichen Begriffen, Sprachen und Methoden. Dies führt in der Gegenwart leider vielfach zu einer Art Entfremdung der normalen Bürger von der Wissenschaft. Was nicht nur schade ist, sondern für eine Demokratie sogar gefährlich werden kann.[10,11]

Diese Entfremdung müsste aber nicht stattfinden. Die Alltagsspiele wie auch die expliziten Spiele, welche unsere natürlichen Wissens- und Verhaltensformen im Alltag darstellen, haben bei näherer Betrachtung die gleiche Struktur wie wissenschaftliche Theorien. Begreift man, dass Alltagsspiele strukturgleich mit wissenschaftlichen Theorien sind, dann kann man sogar entdecken, dass Alltagtheorien sogar noch umfassender sind als normale wissenschaftliche Theorien. Während eine empirisch Theorie (ET) erklären kann, was mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in einer möglichen nachfolgenden Situation passieren kann, falls gewisse Voraussetzungen in einer Situation gegeben sind, gehen Alltagstheorien über diese Beschreibungskraft in der Regel hinaus: In einer Alltagstheorie wird nicht nur gesagt, was passieren wird, wenn man in einer bestimmten Situation eine bestimmte Änderung vornimmt, sondern im Alltag wählt man normalerweise auch ein bestimmtes Ziel aus, das man mit Anwendung des Veränderungswissens erreichen möchte.

Im Unterschied zu einer normalen empirischen Theorie, die sich auf erklärende Zusammenhänge beschränkt, besteht im Alltagsprozess die beständige Herausforderung, den Lebensprozess des einzelnen wie jenen von unterschiedlichen Gruppen von Menschen bestmöglichst am Laufen zu halten. Dies aber geht nicht ohne explizite Ziele, deren Einlösung als Beitrag zur Erhaltung des alltäglichen Lebensprozesses angenommen wird.

Die normale Wissenschaft hat diesen Aspekt der Einbeziehung von Zielen in eine Theoriebildung noch nicht in ihre normale Arbeit integriert. Die Verknüpfung von Erklärungswissen in Form einer empirischen Theorie (ET) mit irgendwelchen Zielen überlässt die Wissenschaft bislang der Gesellschaft und ihren unterschiedlichen Gruppierungen und Institutionen. Dies kann gut sein, weil dadurch eine maximale Bandbreite an möglichen Ideen zur Sprache kommen kann; es kann aber auch schlecht sein, wenn mangels Verständnis von Wissenschaft und überhaupt aufgrund von mangelndem Wissen keine guten Ziel-Vorschläge zustande kommen.

Alltagstheorie (AT) und Empirische Theorie (ET)

Mancher wird sich an dieser Stelle vielleicht fragen, wie man sich jetzt genau die Struktur-Gleichheit von Alltagstheorien (AT) und Nachhaltigen Empirischen Theorien (NET) vorstellen kann. Hier ein kurze Beschreibung.

BILD : Skizze der Struktur einer empirischen Theorie ohne Ziele. Eine empirische Theorie (ET) mit Zielen wäre eine ’nachhaltige empirische Theorie (NET)‘. Siehe Text weiter unten.

Diese Skizze zeigt menschliche Akteure hier nicht als die Anwender einer Theorie — wie im Beispiel eines Brettspiels — sondern als Autoren einer Theorie, also jene Menschen, die Theorien in Interaktion mit dem realen Alltag entwickeln.

Hier wird davon ausgegangen, dass Theorie-Autoren im Normalfall irgendwelche Bürger sind, die ein Interesse eint, bestimmte Vorgänge in ihrem Alltag besser zu verstehen.

Zum Start müssen sie sich darauf einigen, welchen Ausschnitt aus ihrem Alltag sie als Startsituation (S) benutzen wollen. Diese Startsituation muss in einem Text beschrieben werden, der sich von allen Beteiligten als im Alltag zutreffend (wahr) erweist.

Aufgrund des verfügbaren Wissens über die bisherige Vergangenheit müssen die Theorie-Autoren sich darauf einigen, welche Arten von Veränderungen (V) sie für ihre Theorie benutzen wollen.

Schließlich müssen sie sich auch darüber einigen, auf welche Weise die ausgewählten Veränderungsbeschreibungen (V) auf eine gegebene Situation (S) so angewendet werden können, dass sich dadurch die Beschreibung jener Situation S1 ergibt, die durch die angewendeten Veränderungen entsteht. Abkürzend geschrieben: V(S)=S1.

Da sich in den meisten Fällen die angenommenen Veränderungsregeln V auch auf die neue nachfolgende Situation S1 wieder anwenden lässt — also V(S1)=S2 usw. –, reichen diese drei Elemente <S, V, Anwendung> aus, um aus einer Gegenwart S heraus mit Hilfe von Veränderungswissen bestimmte Zustände als möglich in einer Zukunft zu prognostizieren.

Dies beschreibt die Struktur und den Inhalt einer gewöhnlichen empirischen Theorie (ET).

Nachhaltige Empirische Theorie (NET) = ET + Ziele

Der Übergang von einer normalen empirischen Theorie (ET) zu einer nachhaltigen empirischen Theorie (NET) ist vergleichsweise einfach: man muss nur das empirische Wissen mit solchen Zielen (Z) verknüpfen, die aus der Gesellschaft heraus als interessante Kandidaten für eine mögliche gute Zukunft erwachsen.

BILD : Ergänzend zur normalen empirischen Theorie (ET) kann die Gesellschaft, die den Kontext zu einer empirischen Theorie bildet, Ziele (Z) generieren, von denen sie glaubt, dass sie für möglichst viele eine möglichst gute Zukunft unterstützen. Formulierte Ziele können zugleich als Benchmark benutzt werden, um aktuelle Zustände S daraufhin zu evaluieren, welche große Übereinstimmung (in %) sie mit dem gewählten Ziel Z aufweisen.

Während empirisches Wissen als solches wertneutral ist, d.h. keine bestimmte Richtung in eine mögliche Zukunft favorisiert, können aber die Wertvorstellungen, die die Auswahl von realen Fragestellungen leiten, indirekt dazu führen, dass wichtiges Wissen aufgrund von der Wissenschaft vorgelagerten Entscheidungen nicht generiert wird. 12]

Fortsetzung: Teil 2

Kann Maschinelles Lernen im Format einer generativen KI einen Beitrag zur Bildung von nachhaltigen empirischen Theorien (NET) leisten?

QUELLEN

[1] Eliza Computer Programm in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/ELIZA, ELIZA is an early natural language processing computer program developed from 1964 to 1967[1] at MIT by Joseph Weizenbaum.[2][3] Created to explore communication between humans and machines, ELIZA simulated conversation by using a pattern matching and substitution methodology that gave users an illusion of understanding on the part of the program, but had no representation that could be considered really understanding what was being said by either party.[4][5][6]

[2] Joseph Weizenbaum, ELIZA A Computer Program For the Study of Natural Language Communication Between Man And Machine, Communications of the ACM Volume 9 / Number 1, January 1966, pp: 36-45

[3] chatbot in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Chatbot, „Ein Chatterbot, Chatbot oder kurz Bot ist ein textbasiertes Dialogsystem, das Chatten mit einem technischen System erlaubt. Er hat je einen Bereich zur Textein- und -ausgabe, über die sich in natürlicher Sprache mit dem System kommunizieren lässt. Chatbots können, müssen aber nicht in Verbindung mit einem Avatar benutzt werden. Technisch sind Chatbots näher mit einer Volltextsuchmaschine verwandt als mit künstlicher oder gar natürlicher Intelligenz. Mit der steigenden Computerleistung können Chatbot-Systeme allerdings immer schneller auf immer umfangreichere Datenbestände zugreifen und daher auch intelligente Dialoge für den Nutzer bieten, wie zum Beispiel das bei OpenAI entwickelte ChatGPT oder das von Google LLC vorgestellte Language Model for Dialogue Applications (LaMDA). Solche Systeme werden auch als virtuelle persönliche Assistenten bezeichnet. Es gibt auch Chatbots, die gar nicht erst versuchen, wie ein menschlicher Chatter zu wirken (daher keine Chatterbots), sondern ähnlich wie IRC-Dienste nur auf spezielle Befehle reagieren. Sie können als Schnittstelle zu Diensten außerhalb des Chats dienen, oder auch Funktionen nur innerhalb ihres Chatraums anbieten, z. B. neu hinzugekommene Chatter mit dem Witz des Tages begrüßen. Heute wird meistens durch digitale Assistenten wie Google Assistant und Amazon Alexa, über Messenger-Apps wie Facebook Messenger oder WhatsApp oder aber über Organisationstools und Webseiten auf Chatbots zugegriffen[1][2].“

[4] Generative KI als ‚Generativer Vortrainierter Transformer‘ (Generative pre-trained transformers GPT) in wkp-de, https://de.wikipedia.org/wiki/Generativer_vortrainierter_Transformer, „Generative vortrainierte Transformer (englisch Generative pre-trained transformers, GPT) sind eine Art großes Sprachmodell[1][2][3] und ein bedeutendes Framework für generative künstliche Intelligenz.[4][5] Der erste GPT wurde 2018 vom amerikanischen Unternehmen für künstliche Intelligenz (KI) OpenAI vorgestellt.[6] GPT-Modelle sind künstliche neuronale Netzwerke, die auf der TransformerArchitektur basieren, auf großen Datensätzen unbeschrifteten Textes vorab trainiert werden und in der Lage sind, neuartige, menschenähnliche Inhalte zu generieren.[2] Bis 2023 haben die meisten LLMs diese Eigenschaften[7] und werden manchmal allgemein als GPTs bezeichnet.[8] OpenAI hat sehr einflussreiche GPT-Grundmodelle veröffentlicht, die fortlaufend nummeriert wurden und die „GPT-n“-Serie bilden. Jedes dieser Modelle war signifikant leistungsfähiger als das vorherige, aufgrund zunehmender Größe (Anzahl der trainierbaren Parameter) und des Trainings. Das jüngste dieser Modelle, GPT-4, wurde im März 2023 veröffentlicht. Solche Modelle bilden die Grundlage für ihre spezifischeren GPT-Systeme, einschließlich Modellen, die für die Anweisungsbefolgung optimiert wurden und wiederum den ChatGPTChatbot-Service antreiben.[1] Der Begriff „GPT“ wird auch in den Namen und Beschreibungen von Modellen verwendet, die von anderen entwickelt wurden. Zum Beispiel umfasst eine Reihe von Modellen, die von EleutherAI erstellt wurden, weitere GPT-Grundmodelle. Kürzlich wurden auch sieben Modelle von Cerebras erstellt. Auch Unternehmen in verschiedenen Branchen haben auf ihren jeweiligen Gebieten aufgabenorientierte GPTs entwickelt, wie z. B. „EinsteinGPT“ von Salesforce (für CRM)[9] und „BloombergGPT“ von Bloomberg (für Finanzen).[10]

[4a] Die Firma openAI: https://openai.com/

[4b] Kurze Beschreibung: https://en.wikipedia.org/wiki/ChatGPT

[4c] Tutorial zu chatGPT: https://blogkurs.de/chatgpt-prompts/

[5] Person-Centered Therapy in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Person-centered_therapy

[6] Messung in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Messung

[7] Mensch ärgere Dich nicht in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Mensch_%C3%A4rgere_Dich_nicht

[8] Elain Rich, 1983, Artificial Intelligence. McGraw-Hill Book Company. Anmerkung: In der Informatik der 1970iger und 1980iger Jahre hatte man gemerkt, dass die Beschränkung auf die Logik als Beschreibung von Realität zu einfach und zu umständlich ist. Konfrontiert mit dem Alltag wurden Begriffe aktiviert wie ‚Schema‘, ‚Frame (Rahmen)‘, ‚Script‘, ‚Stereotype‘, ‚Rule Model (Rollenmodell)‘. Doch wurden diese Konzepte letztlich noch sehr starr verstanden und benutzt. Siehe Kap.7ff bei Rich.

[9] Natürlich gibt es auch Spiele, die einen Umfang haben, der von den Spielern eine sehr intensive Beschäftigung verlangt, um sie wirklich voll zu verstehen. Ermöglichen solche komplexe Spiele aber zugleich wertvolle ‚Emotionen/ Gefühle‘ in den Spielern, dann wirkt die Komplexität nicht abschreckend, sondern kann zu einer lang anhaltenden Quelle von Spiellust werden, die in Spielsucht übergehen kann (und vielfach auch tatsächlich in Spielsucht übergeht).

[10] Warren Weaver, Science and the Citizens, Bulletion of the Atomic Scientists, 1957, Vol 13, pp. 361-365.

[11] Philipp Westermeier, 23.Nov. 2022, Besprechung Science and the Citizen von Warren Weaver, URL: https://www.oksimo.org/2022/11/23/besprechung-science-and-the-citizen-von-warren-weaver/

[12] Indirekt kann empirisches Wissen einen gewissen Einfluss auf eine mögliche Zukunft ausüben, indem bei der Auswahl einer zu erstellenden empirische Theorie (ET) gerade solche Aspekte nicht ausgewählt werden, die vielleicht für eine bestimmte Zielerreichung wichtig wären, jetzt aber eben nicht verfügbar sind. Dies kann sich vielfach manifestieren, z.B. durch eine Forschungspolitik, die von vornherein viele Themenfelder ausblendet, weil sie im Lichte aktueller Trends als nicht vorteilhaft eingestuft werden.

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

PRAKTISCHE KOLLEKTIVE MENSCH-MASCHINE INTELLIGENZ by design. MMI Analyse. Teil 1

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 16.Februar 2021
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Letzte Änerung: 26.2.2021 (Anmerkung zum Begriff ‚Alltagssprache‘ ergänzt)

KONTEXT

In diesem Beitrag soll das Konzept einer praktischen kollektiven Mensch-Maschine Intelligenz by design weiter entwickelt werden. Im unmittelbar vorher gehenden Beitrag wurde die grundlegende Problemstellung sowie die gewählte (Zukunfts-)Vision in einer ersten Annäherung umrissen. In diesem Text geht es jetzt darum, etwas konkreter zu skizzieren, wie diese (Zukunfts-)Vision aussehen könnte bzw. sollte.

Bisher zum Thema veröffentlicht:

MMI ANALYSE – AUSGANGSPUNKT

Der Ausgangspunkt der MMI-Analyse ist gegeben durch die ersten Angaben zur Zukunfts-Vision (Siehe Schlussabschnitt in [1]). Diese Vision umschreibt mit wenigen Worten, welcher Zustand in der Zukunft angezielt wird. Die Vision selbst sagt nichts zur Begründung, nichts zu den Motiven; diese werden vorausgesetzt. Die Vision beschreibt nur, was sein soll.

Beliebige Menschen spielen Zukunft

Zentraler Gedanke ist, dass eine beliebige Gruppe von Menschen auf eine eher spielerische Weise dabei unterstützt werden soll, für eine selbst gewählte Problemstellung und ein selbst gewähltes Ziel schrittweise einen Lösungsweg zu konstruieren.

Ein Drehbuch schreiben

Diese Konstruktion eines Lösungsweges ist vergleichbar mit dem Schreiben eines Drehbuchs in einer Alltagssprache, die alle Beteiligten hinreichend beherrschen.[2] Dies setzt voraus, dass der Prozess der Wirklichkeit — vereinfachend — gedacht wird als eine Folge von Situationen (oder auch Zuständen), in der eine Nachfolgesituation S‘ aus einer vorausgehenden Situation S durch das Stattfinden von mindestens einer beobachtbaren Veränderung hervorgegangen ist. Im Grenzfall ist es nur die Veränderung einer Uhr, deren Zeitanzeigen in der Nachfolgesituation S‘ ‚größer‘ sind als in der Situation S.[3] Im Kontext einer Folge von beschreibbaren Situationen kann man die Veränderungen in der Form von Veränderungs-Regeln fassen: Man sagt: wenn die Bedingung C in einer aktuellen Situation S erfüllt ist, dann sollen mit der Wahrscheinlichkeit π die Aussagen Eplus der Situation S hinzugefügt werden, um die Nachfolgesituation S‘ zu generieren, und die Aussagen Eminus sollen von S weggenommen werden, um die Nachfolgesituation S‘ zu generieren.

Bezug zu einer Situation

Diese Redeweise setzt voraus, dass davon ausgegangen wird, dass der Text des Drehbuchs sich auf eine reale Situation S bezieht, und die einzelnen Ausdrücke des Textes Eigenschaften der realen Situation beschreiben. Die Menge der Ausdrücke in einem Drehbuch, die sich auf eine bestimmte Situation S beziehen, bilden also Repräsentanten von realen Eigenschaften der vorausgesetzten realen Situation. Verändert sich die vorausgesetzte Situation in ihren beobachtbaren Eigenschaften, dann drückt sich dies darin aus, dass sich auch die Ausdrücke im Drehbuch verändern müssen: kommen neue Eigenschaften hinzu, müssen neue Ausdrücke hinzu kommen. Verschwinden Eigenschaften, dann müssen die entsprechenden Ausdrücke verschwinden. Wechselt also z.B. die Verkehrsampel von Rot auf Orange, dann muss z.B. der Ausdruck ‚Die Ampel ist rot‘ ersetzt werden durch die Aussage ‚Die Ampel ist orange‘. Dann wäre die Menge Eminus = {Die Ampel ist rot}, und die Menge Eplus = {Die Ampel ist orange}.

Das Drehbuch hat zwei Teile …

Das Drehbuch für die gemeinsame spielerische Planung einer gewünschten Zukunft besteht also mindestens aus zwei Teilen:

  1. Einer Ausgangssituation S, von der aus man starten will, und
  2. einer Menge von Veränderungsregeln X, die sagen, wann man eine gegebene Situation in welcher Weise abändern darf.

Vergleich mit einem Spiel

Diese Konstellation kann man ohne weiteres mit einem Spiel vergleichen:

  1. Es gibt die Startsituation (z.B. ein bestimmtes Spielbrett oder eine Spielfeld mit Spielobjekten und Spielern)
  2. Es gibt vereinbarte Spielregeln, anhand deren man in einer gegebenen Situation etwas tun darf.

Regeln jederzeit abändern

In dem hier angenommenen Szenario eines Drehbuchs für die gemeinsame spielerische Planung einer gewünschten Zukunft gibt es allerdings zwei Besonderheiten: Die eine besteht darin, dass die Ausgangslage und die Spielregeln von den Spielern selbst aufgestellt werden und jederzeit nach Absprache geändert werden können.

Leitbild Zukunft als Maßstab

Die andere Besonderheit resultiert aus der Tatsache, dass die Teilnehmer hier zu Beginn auch explizit ein Leitbild für die Zukunft formulieren. Dieses kann zwar auch jederzeit nach Absprache wieder abgeändert werden, so lange es aber gilt, dient dieses Leitbild als Maßstab für die Beurteilung, ob und in welchem Umfang der Prozess der fortschreitenden Veränderung ( = der Spielprozess!) das zuvor vereinbarte Leitbild erreicht hat.

In gewisser Weise entspricht die Bewertung einer Situation anhand eines vereinbarten Leitbildes dem Konzept des ‚Gewinnens‘ in normalen Spielen: beim Gewinnen wird in einem Spiel ein Zustand erreicht, der sich anhand zuvor vereinbarter Kriterien als ‚Gewinnsituation‚ für mindestens einen beteiligten Spieler klassifizieren lässt. Man sagt dann, dass dieser Spieler ‚gewonnen‘ hat.

Bei der Verwendung des Konzepts einer Zukunftsvision als Leitbild kann man das Leitbild dazu benutzen, um eine beliebige Situation dahingehend zu klassifizieren, ob und wenn ja in welchem Umfang diese Situation dem Leitbild ‚entspricht‘. Explizite Zukunftsbilder ermöglichen also die ‚Bewertung‘ einer Situation. Ohne solch eine Möglichkeit wäre jede Situation gleichwertig mit jeder anderen Situation. Es wäre dann nicht möglich, eine ‚Richtung‘ für einen Prozess zu definieren.

ALLTAGSSPRACHE

Diejenige Sprache, die jeder Mensch von Kindheit an lernt und benutzt, das ist die Alltagssprache, also die Sprache, die jeder in seinem Alltag spricht und die — normalerweise — auch von den Mitmenschen benutzt wird. [5a] Durch das Voranschreiten einer Globalisierung und der damit einhergehenden Vermischung von Alltagswelten, vermengen sich verschiedene Sprachen, was bei einzelnen zur Mehrsprachigkeit führt, auf der anderen Seite zur Zunahme von Übersetzungen. Übersetzungen durch Menschen können vergleichsweise ‚gut‘ sein (wer kann dies eigentlich überprüfen?), die heute zunehmenden Angebote von computerbasierten Übersetzungen sind aber dennoch auf dem Vormarsch, weil man ihren Einsatz sehr leicht ’skalieren‘ kann: ein Programm kann viele Millionen Menschen gleichzeitig ‚bedienen‘, dazu eher ‚einheitlich‘, und solch ein maschinelles Übersetzungsprogramm kann — wie salopp gesagt wird — ‚lernen‘.[4] Die Gesamtheit dieser maschinellen Verfahren hat aber dennoch keinen Zugang zu den eigentlichen Bedeutungsfunktionen von Alltagssprache, die in den Gehirnen der Sprecher-Hörer verortet sind. [5]

Aufgrund dieser Sachlage soll das neue Verfahren die Vorteile und Nachteile der verschiedenen Möglichkeiten auf neue Weise optimal verknüpfen. Primär soll der Anwender seine Alltagssprache — und zwar jede — voll benutzen können.

Zur Alltagssprache gehören mehrere ‚Mechanismen‘ [6], die es zulassen, dass man sie beliebig erweitern kann, und auch, dass man in der Alltagssprache über die Alltagssprache sprechen kann.[7] Diese Eigenschaften machen die Alltagssprache zu den stärksten Ausdruckssystemen, die wir kennen.[8]

Zu den möglichen — und vorgesehenen — Erweiterungen der Alltagssprache gehören z.B. beliebige Parametermengen mit zugehörigen Operationen auf diesen Parametern. Ein ‚Parameter‘ wird hier verstanden als ein Name, dem irgendein Wert (z.B. ein numerischer Wert) zugeordnet sein kann (z.B. eine Einwohnerzahl, ein finanzieller Betrag, ein Temperaturwert …). Parameter mit numerischen Werten kann man z.B. Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren usw.

Zum Sprechen über andere Ausdrücke gehört die Möglichkeit, dass man beliebige Abstraktionen bilden kann. Schon wenn wir über sogenannte normale Gegenstände sprechen wie ‚Stuhl‘, ‚Tasse‘, ‚Tisch‘, ‚Hund‘ usw. benutzen wir sprachliche Ausdrücke, die nicht für ein einzelnes Objekt stehen, sondern für ganze Mengen von konkreten Dingen, die wir alle gelernt haben, als ‚Stuhl‘, ‚Tasse‘, ‚Tisch‘, ‚Hund‘ usw. zu bezeichnen. Auf einem Tisch können bei mehreren Personen beim Frühstück ganz viele Gegenstände stehen, die wir alle als ‚Tasse‘ bezeichnen würden, obwohl sie sich u.a. durch Form, Farbe und Material unterscheiden.[9]

SIMULATION

Normale Formen von Drehbüchern bestimmen das Geschehen auf der Bühne oder in einem Film. Auf der Bühne beginnt man mit einer Eingangsszene, in der unterschiedliche Akteure in einer bestimmten Umgebung (Situation) anfangen, zu handeln, und durch das Handeln werden Veränderungen bewirkt: in den Akteuren (meist nicht so fort direkt sichtbar, aber dann in den Reaktionen), in der räumlichen Anordnung der Dinge, in der Beleuchtung, in Begleitgeräuschen, … Im Film ist es die Abfolge der Bilder und deren Füllungen.

Im Fall von Brettspielen fangen die beteiligten Spieler an, mit Blick auf erlaubte Regeln, den aktuellen Spielstand und die möglichen Gewinnsituationen in der Zukunft zu handeln. Dieses Handeln bewirkt eine schrittweise Änderung der jeweils aktuellen Spielsituation.

In abgewandelter Form passiert in einem Krimi oder in einem Roman nichts anderes: literarisch begabte Menschen benutzen das Mittel der Alltagssprache um Situationen zu beschreiben, die sich schrittweise durch Ereignisse oder das Verhalten von Menschen ändern. Noch eine Variante stellt die Gattung Hörspiel dar: statt eine Geschichte zu lesen hört man beim Hörspiel zu und lässt sich mit hinein nehmen in ein Geschehen, das sich von Situation zu Situation fortbewegt und den Hörer — wenn er sich angesprochen fühlt — geradezu mitreißen kann.

In der vorliegenden Anwendung gibt es alle Zutaten — Gegenwart, Zukunft, mögliche Maßnahmen –, aber wie kommt es hier zu einer Abfolge von Situationen?

Im einfachsten Fall setzten sich die Autoren der Texte zusammen und prüfen durch eigene Lektüre der Texte und Regeln, welche der Regeln aktuell angewendet werden könnten und sie wenden die Regeln an. Auch so würde eine Folge von Texten entstehen, wobei jeder Text eine Situation beschreibt. Erst die Start-Situation, dann die Anwendung von passenden Regeln, die zu einer Veränderung des Textes führt und damit zu einer neuen Situation.

Wir wissen von uns Menschen, dass wir dies im Alltag können (z.B. jeder Heimwerker — oder auch Hobby-Bastler — benutzt eine Bauanleitung, um aus den Einzelteilen des Bausatzes schrittweise ein komplexes Gebilde zusammen zu bauen). Wenn die Texte umfangreicher werden und wenn die Zahl der Regeln deutlich zunimmt, dann kommt man mit dieser händischen (manuellen) Methode bald an praktische Grenzen. In diesem Moment wäre es sehr schön, man könnte sich helfen lassen.

Viele Menschen benutzen heutzutage zum Schreiben von Texten, zum Rechnen, zum Malen, zum Komponieren, den Computer, obwohl es ja eigentlich auch ohne den Computer gehen würde. Aber mit einem Rechenblatt viele Rechnungen miteinander zu verknüpfen und dann ausrechnen zu lassen ist einfach bequemer und — in den komplexen Fällen — sogar die einzige Möglichkeit, die Arbeit überhaupt zu verrichten. Computer müssen nichts verstehen, um Zeichenketten bearbeiten zu können.

Diese formale Fähigkeit eines Computers soll für diese Anwendung genutzt werden: wenn ich die Text-Version einer Situation habe wie z.B. S1 = {Das Feuer ist fast erloschen.} und ich habe eine Veränderungsregel der Art: X1 = {Wenn C1 zutrifft dann füge Eplus1 dazu und nehme Eminus1 weg}, konkret C1 = {Das Feuer ist fast erloschen.}, Eplus1 = {Lege Holz nach.}, Eminus1 = {Leer}, dann ist es für einen Computer ein leichtes festzustellen, dass die Bedingung C1 in der aktuellen Situation S1 erfüllt ist und dass daher die Aussage Lege Holz nach. hinzugefügt werden soll zu S1, was zur neuen Situation S2 führt: S2 = {Das Feuer ist fast erloschen. Lege Holz nach.} Wenn es jetzt noch die Regel geben würde X2 mit C2 = {Lege Holz nach.}, Eplus2 ={Das Feuer brennt.}, Eminus2={Das Feuer ist fast erloschen.}, dann könnte der Computer ‚ohne Nachzudenken‘ die nächste Situation S3 erzeugen mit S3 = {Das Feuer brennt.}

Dieses einfache Beispiel demonstriert das Prinzip einer Simulation: man hat eine Ausgangssituation S0, man hat eine Menge von Veränderungsregeln im oben angedeuteten Format X= Wenn C in S erfüllt ist, dann füge Epluszu S dazu und nimm Eminus von S weg, und man hat einen Akteur, der die Veränderungsregeln auf eine gegebene Situation anwenden kann. Und diese Anwendung von Regeln erfolgt so oft, bis entweder keine Regeln mehr anwendbar sind oder irgendein Stopp-Kriterium erfüllt wird.

Schreibt man für den Ausdruck Die Menge der Veränderungsregeln X wird auf eine Situation S angewendet, was zur Nachfolgesituation S‘ führt verkürzend als: X(S)=S‘, ergibt die wiederholte Anwendung von X eine Serie der Art: X(S)= S‘, X(S‘)= S“, …, X(Sn-1)= Sn. Dies bedeutet, dass die Folge der Text-Zustände <S‘, S“, …, Sn> einen Simulationsverlauf repräsentieren. Man kann dann sehr gut erkennen, was passiert, wenn man bestimmte Regeln immer wieder anwendet.

In der vorliegenden Anwendung sollen solche durch Computer unterstützte Simulationen möglich sein, tatsächlich sogar noch mit einigen weiteren Feinheiten, die später näher beschrieben werden.

SIMULATION MIT BEWERTUNG

Wie zuvor schon im Text beschrieben wurde, kann man eine gegebene Situation S immer dann klassifizieren als erfüllt Eigenschaft K, wenn man über geeignete Kriterien K verfügt. In der vorliegenden Anwendung kann der Anwender eine Vision formulieren, eine Beschreibung, welcher Zustand in der Zukunft eintreten sollte.

Im Rahmen der Simulation soll es daher möglich sein, dass nach jeder Anwendung von Veränderungsregeln X mitgeteilt wird, in welchem Ausmaß die vorgegebene Vision V im aktuellen Zustand S eines Simulationsverlaufs schon enthalten ist. Die Aussagekraft einer solchen Klassifikation, die eine Form von Bewertung darstellt, hängt direkt von der Differenziertheit der Vision ab: je umfangreicher und detaillierter der Text der Vision ist, um so konkreter und spezifischer kann die Bewertung vorgenommen werden.

LERNFÄHIGE ALGORITHMEN (KI)

So, wie im Fall der Simulation der Computer dem Menschen bei ausufernden manuellen Tätigkeiten helfen kann, diese zu übernehmen, so ergibt sich auch für die Frage der Auswertung eines Simulationsverlaufs sehr schnell die Frage: könnte man auch ganz andere Simulationsverläufe bekommen, und welche von den vielen anderen sind eigentlich im Sinne eines vorgegebenen Zielkriteriums besser?

Tatsächlich haben wir es mit dem Ensemble einer Anfangssituation, einer Zukunftsvision und einer Menge von Veränderungsregeln mit einem Problemraum zu tun, der sehr schnell sehr umfangreich sein kann. Eine einzelne Simulation liefert immer nur einen einzigen Simulationsverlauf. Tatsächlich lässt der Problemraum aber viele verschiedene Simulationsverläufe zu. In den meisten Fällen ist eine Erkundung des Problemraumes und das Auffinden von interessanten Simulationsverläufen von großem Interesse. Der Übergang von einem Suchprozess zu einem lernenden Prozess ist fließend.

In der vorliegenden Anwendung soll von der Möglichkeit einer computergestützten lernende Suche Gebrauch gemacht werden.

QUELLENANGABEN und ANMERKUNGEN

[1] Siehe dazu den Schluss des Textes von Gerd Doeben-Henisch, 15.2.2021, PRAKTISCHE KOLLEKTIVE MENSCH-MASCHINE INTELLIGENZ by design. Problem und Vision, https://www.cognitiveagent.org/2021/02/15/praktische-kollektive-mensch-maschine-intelligenz-by-design-problem-und-vision/https://www.cognitiveagent.org/2021/02/15/praktische-kollektive-mensch-maschine-intelligenz-by-design-problem-und-vision/

[2] Denkbar ist natürlich, dass partiell mit Übersetzungen gearbeitet werden muss.

[3] Dieses Modell der Zerlegung der Wirklichkeit in Zeitscheiben entspricht der Arbeitsweise, wie das menschliche Gehirn die jeweils aktuellen sensorischen Signale für ein bestimmtes Zeitintervall ‚zwischen-puffert‘, um die Gesamtheit der Signale aus diesem Zeitintervall dann nach bestimmten Kriterien als eine Form von Gegenwart abzuspeichern und daraus dann Vergangenheit zu machen.

[4] Damit dies möglich ist, landen alle Texte auf einem zentralen Server, der mit statistischen Methoden ganze Texte nach Methoden des sogenannten ‚maschinellen Lernens‘ analysiert, statistische Verwendungskontexte von Ausdrücken erstellt, angereichert durch diverse sekundäre Zusatzinformationen.

[5] Was diese bedingt lernfähigen Algorithmen an Übersetzungsleistungen ermöglichen, ist sehr wohl erstaunlich, aber es ist prinzipiell begrenzt. Eine vertiefte Analyse dieser prinzipiellen Begrenzungen führt in die Entstehungszeit der modernen formalen Logik, der modernen Mathematik sowie in die theoretischen Grundlagen der Informatik, die letztlich ein Abfallprodukt der Meta-logischen Diskussion in der Zeit von ca. 1900 bis 1940 ist. Wenn also die angezielte Anwendung die volle Breite der Alltagssprache nutzen können soll, dann reicht es nicht, die prinzipiell Bedeutungsfernen Verfahren der Informatik wie bisher einzusetzen.

[5a] Das Phänomen ‚Alltagssprache‘ ist bei näherer Betrachtung äußerst komplex. In einem anderen Beitrag habe ich einige der grundlegenden Aspekte versucht, deutlich zu machen: Gerd Doeben-Henisch, 29.Januar 2021, SPRACHSPIEL und SPRACHLOGIK – Skizze. Teil 1, https://www.cognitiveagent.org/2021/01/29/sprachspiel-und-sprachlogik-skizze-teil-1/

[6] … von denen die formale Logik nicht einmal träumen kann.

[7] In der formalen Logik sind Spracherweiterungen im vollen Sinne nicht möglich, da jede echte Erweiterung das System ändern würde. Möglich sind nur definitorische Erweiterungen, die letztlich Abkürzungen für schon Vorhandenes darstellen. Das Sprechen in einer gegebenen Sprache L über Elemente der Sprache L — also meta-sprachliches Sprechen –, ist nicht erlaubt. Aufgrund dieser Einschränkung konnte Goedel seinen berühmten Beweis von der Unmöglichkeit führen, dass ein formales System sowohl Vollständig als auch Widerspruchsfrei ist. Dies ist der Preis, den formale Systeme dafür zahlen, dass ’nichts falsch machen können‘ (abgesehen davon, dass sie von sich aus sowieso über keine Bedeutungsdimension verfügen)).

[8] Während formale Systeme — und Computer, die nach diesen Prinzipien arbeiten — durch diese Elemente inkonsistent und un-berechenbar werden, kann das menschliche Gehirn damit fast mühelos umgehen!

[9] Unser Gehirn arbeitet schon immer mit beliebigen Abstraktionen auf beliebigen Ebenen.

FORTSETZUNG

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

DER AUTOR

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HABEN WIR EIN PROBLEM? – Zur Problematik des kognitiven WIR-Modells

ALLTÄGLICHE PROBLEME

1. Wenn man sich die täglichen Nachrichtenmeldungen anschaut, die über die diversen Medien zugänglich sind — trotz ihrer großen Zahl sicher nur eine kleine Auswahl dessen, was tatsächlich alles passiert –, dann könnte man dazu neigen, zu sagen, dass die Frage aus der Überschrift dumm und lächerlich ist: natürlich haben wir Probleme, viel zu viele.
2. Doch sind diese ‚täglichen Probleme‘ nicht das, was ich meine. Dass einzelne Personen gestresst sind, krank werden, leiden, sterben, überall auf der Welt, in jedem Land (wenn auch mit unterschiedlichen Randbedingungen), das gehört quasi zum konkreten Leben dazu. Dafür kann man ‚Randbedingungen‘ verantwortlich machen: Gesetze, wirtschaftliche Bedingungen, korrupte Verhaltensweisen von Institutionen, schlechte Organisationen von Institutionen, spezielle agrarische oder klimatische Konstellationen, usw. Mit diesen kann (und muss!) man sich auseinandersetzen.
3. Man kann das Ganze auch noch eine Nummer größer betrachten: den Einfluss ganzer Nationen oder gar der ganzen Menschheit auf die Natur: Auslutschen vorhandener nicht erneuerbarer Ressourcen, Umweltzerstörungen als Einengung der verfügbaren Lebensbasis, Zerstörung der Ökologie der Meere bis hin zur Ausrottung von immer mehr Lebensformen im Meer, Vernichtung von Lebensformen auf dem Land, Verlust der Kontrolle wichtiger Wachstumsprozesse, usw. Auch mit diesen müssen wir uns auseinandersetzen, wollen wir überleben. Wobei man sich hier fragen ob wir überhaupt ‚überleben wollen‘? Und wer sind ‚wir‘? Gibt es dieses ‚wir‘ überhaupt, das sich über alle Kulturen und Nationen hinweg als ‚innere Einheit‘ in der Vielfalt zeigt, die aus Vielfalt kein ‚Chaos‘ macht, sondern ’nachhaltige Ordnung‘?

TREND DER EVOLUTION

4. Hier nähern wir uns dem, was ich mit ‚Problem‘ meine. Wenn alle bisherigen Überlegungen im Blog zutreffen, dann manifestiert sich die Besonderheit des Phänomens Lebens in dem unübersehbaren ‚Trend‘ zu immer mehr Komplexität in mindestens den folgenden Richtungen: (i) individuelle biologische Systeme werden immer komplexer; (ii) dadurch werden immer komplexere Interaktionen und damit Koordinierungen möglich; (iii) es entstehen biologisch inspirierte nicht-biologische Systeme als artifizielle (= technologische) Systeme, die in das biologische Gesamtphänomen integriert werden; (iv) sowohl das Individuum als auch die Gesamtheit der Individuen unterstützt von der Technologie wirken immer intensiver und nachhaltiger auf ’sich selbst‘ und auf das Gesamtsystem zurück; (v) aufgrund der entstandenen kulturellen Vernetzungsmuster (schließt politische Subsysteme mit ein) können einzelne Individuen eine ‚Verfügungsgewalt‘ bekommen, die es ihnen erlaubt, als individuelle Systeme (trotz extrem limitierten Verstehen) große Teile des Gesamtsystems konkret zu verändern (positiv wie negativ); (vi) die schiere Zahl der Beteiligten und die anschwellende Produktion von Daten (auch als Publikationen) hat schon lange die Verarbeitungskapazität einzelner Individuen überschritten. Damit verlieren kognitive Repräsentationen im einzelnen mehr und mehr ihren Zusammenhang. Die Vielfalt mutiert zu einem ‚kognitiven Rauschen‘, durch das eine ‚geordnete‘ kognitive Verarbeitung praktisch unmöglich wird.

VERANTWORTUNG, KOORDINIERUNG, WIR

5. Die Frage nach der ‚Verantwortung‘ ist alt und wurde zu allen Zeiten unterschiedlich beantwortet. Sie hat eine ‚pragmatische‘ Komponente (Notwendigkeiten des konkreten Überlebens) und eine ‚ideologische‘ (wenige versuchen viele für ihre persönlichen Machtinteressen zu instrumentalisieren). Der ‚Raum‘ der ‚Vermittlung von Verantwortung‘ war und ist immer der Raum der ‚Interaktion und Koordination‘: dort, wo wir versuchen, uns zu verständigen und uns zu koordinieren, dort stehen wir vor der Notwendigkeit, uns wechselseitig Dinge zu ‚repräsentieren‘, damit evtl. zu ‚erklären‘, und dadurch vielleicht zu ‚motivieren‘. Ein mögliches ‚WIR‘ kann nur in diesem Wechselspiel entstehen. Das ‚WIR‘ setzt die Dinge zueinander in Relation, gibt dem einzelnen seine ‚individuelle Rolle‘. Nennen wir das ‚Repräsentieren von Gemeinsamkeiten‘ und die damit evtl. mögliche ‚Erklärung von Gegebenheiten‘ mal das ‚kognitive WIR-Modell‘.

6. Es kann sehr viele kognitive WIR-Modelle geben: zwischen zwei Personen, zwischen Freunden, in einer Institution, in einer Firma, in einem Eisenbahnabteil, …. sie alle bilden ein ‚Netzwerk‘ von kognitiven WIR-Modellen; manche kurzfristig, flüchtig, andere länger andauernd, nachhaltiger, sehr verpflichtend. Kognitive WIR-Modelle sind die ‚unsichtbaren Bindeglieder‘ zwischen allen einzelnen.

KOGNITIVE WIR-MODELLE IM STRESS

7. Jeder weiß aus seiner eigenen Erfahrung, wie schwer es sein kann, schon alleine zwischen zwei Personen ein kognitives WIR-Modell aufzubauen, das die wichtigsten individuellen ‚Interessen‘ ‚befriedigend‘ ‚integriert/erklärt‘. Um so schwieriger wird es, wenn die Zahl der Beteiligten zunimmt bzw. die Komplexität der Aufgabe (= wir sprechen heute oft und gerne von ‚Projekten‘) ansteigt. Der Bedarf an Repräsentationen und vermittelnder Erklärung steigt rapide. Die verfügbare Zeit nimmt in der Regel aber nicht entsprechend zu. Damit steigt der Druck auf alle Beteiligten und die Gefahr von Fehlern nimmt überproportional zu.
8. Man kann von daher den Eindruck gewinnen, dass das Problem der biologischen Evolution in der aktuellen Phase immer mehr zu einem Problem der ‚angemessenen kognitiven Repräsentation‘ wird, gekoppelt an entsprechende ‚koordinierende Prozesse‘. Moderne Technologien (speziell hier Computer und Computernetzwerke) haben zwar einerseits das Repräsentieren und die ‚Gemeinsamkeit‘ des Repräsentierten dramatisch erhöht, aber die kognitiven Prozesse in den individuellen biologischen Systemen hat nicht in gleicher Weise zugenommen. Sogenannte soziale Netze haben zwar gewisse ‚Synchronisationseffekte‘ (d.h. immer mehr Gehirne werden auf diese Weise ‚kognitive gleichgeschaltet), was den Aufbau eines ‚kognitiven WIRs‘ begünstigt, aber durch den limitierenden Faktor der beteiligten individuellen Gehirne kann die Komplexität der Verarbeitung in solchen sozialen Netzen nie sehr hoch werden. Es bilden sich ‚kognitive WIR-Modell Attraktoren‘ auf niedrigem Niveau heraus, die die beteiligten als ‚kognitiv angenehm‘ empfinden können, die aber die tatsächlichen Herausforderungen ausklammern.

OPTIMIERUNG VON KOGNITIVEN WIR-MODELLEN

9. An dieser Stelle wäre auch die Rolle der offiziellen Bildungsinstitutionen (Kindergarten, Schule, Betrieb, Hochschule…), zu reflektieren. In welchem Sinne sind sie bereit und fähig, zu einer Verbesserung der kognitiven WIR-Modelle beizutragen?
10. Das Problem der ‚Optimierung‘ der kognitiven Selbstmodelle verschärft sich dadurch, dass man allgemein einen Sachverhalt X nur dann optimieren kann, wenn man einen Rahmen Y kennt, in den man X so einordnen kann, dass man weiß, wie man unter Voraussetzung des Rahmens Y einen Sachverhalt X zu einem Sachverhalt X+ optimieren kann. Der ‚Rahmen‘ ist quasi ein ‚kognitives Meta-Modell‘, das einen erst in die Lage versetzt, ein konkretes Objekt-Modell zu erarbeiten. Im Alltag sind diese ‚Rahmen‘ bzw. ‚Meta-Modelle‘ die ‚Spielregeln‘, nach denen wir vorgehen. In jeder Gesellschaft ist grundlegend (oft implizit, ’stillschweigend‘) geregelt, wann und wie eine Person A mit einer Person B reden kann. Nicht jeder darf mit jedem zu jedem Zeitpunkt über alles reden. Es gibt feste Rituale; verletzt man diese, kann dies weitreichende Folgen haben, bis hin zum Ausschluss aus allen sozialen Netzen.
11. Sollen also die kognitiven WIR-Modelle im großen Stil optimiert werden, brauchen wir geeignete Meta-Modelle (Spielregeln), wie wir dies gemeinsam tun können. Einfache Lösungen dürfte in diesem komplexen Umfeld kaum geben; zu viele Beteiligten und zu viele unterschiedliche Interessen sind hier zu koordinieren, dazu ist die Sache selbst maximal komplex: es gibt — nach heutigem Wissensstand — kein komplexeres Objekt im ganzen Universum wie das menschliche Gehirn. Das Gehirn ist so komplex, dass es sich prinzipiell nicht selbst verstehen kann (mathematischer Sachverhalt), selbst wenn es alle seine eigenen Zustände kennen würde (was aber nicht der Fall ist und auch niemals der Fall sein kann). Die Koordinierung von Gehirnen durch Gehirne ist von daher eigentlich eine mathematisch unlösbare Aufgabe. Dass es dennoch bis jetzt überhaupt soweit funktioniert hat, erscheint nur möglich, weil es möglicherweise ‚hinter‘ den beobachtbaren Phänomenen Gesetzmäßigkeiten gibt, die ‚begünstigen‘, diese unfassbare Komplexität partiell, lokal ‚einzuschränken‘.

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