Archiv der Kategorie: Vergebung

INDIVIDUUM vs. SYSTEM: Wenn das Individuum tot ist wird das System sterben …

1. Die folgenden Überlegungen müsste man eigentlich mit viel Mathematik und Empirie untermauert hinschreiben. Da ich aber auf Wochen absehbar dazu nicht die Zeit haben werde, ich den Gedanken trotzdem wichtig finde, notiere ich ihn so, wie er mir jetzt in die Finger und Tasten fließt …

PARADOX MENSCH Mai 2012

2. Am 4.Mai 2012 – also vor mehr als 2 Jahren – hatte ich einen Blogeintrag geschrieben (PARADOX MENSCH), in dem ich versucht hatte, anzudeuten, wie der eine Mensch in ganz unterschiedlichen ’sozialen Rollen‘, in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten vorkommt und dort, je nach Handlungs-, Wissens- und Werteraum ganz verschiedene Dinge tun kann. Derselbe Mensch kann hundert Tausende für sich bis zum umfallen Arbeiten lassen und selbst dabei ‚reich‘ und ‚genussvoll‘ in den Tag hinein leben oder er kann als genau dieser einzelner in einer Werkhalle stehen und für einen Hungerlohn bei miserablen Bedingungen sein Leben aufarbeiten, ohne viel darüber nachdenken zu können, wie er sein Leben ändern könnte. Der Mensch in der Werkhalle kann viel intelligenter, viel begabter sein als der, der die hundert Tausende befehligt, aber der in der Werkhalle hat keine sozialen Räume, um diese seine Begabungen ausleben zu können. Vielleicht wäre er ein mathematisches Genie, ein großer Pianist, ein begnadeter Architekt, eine wunderbare Krankenschwester, ein(e) …. wir werden es in der aktuellen Situation nicht wissen, es sei denn …

3. Was sich in dem Blogeintrag von 2012 andeutet, aber nicht explizit ausgeführt wird, das ist diese ‚doppelte Sicht‘ auf die Wirklichkeit:

INDIVIDUELL-SUBJEKTIV, SYSTEMISCH – TRANSSUBJEKTIV

4. als Individuen, als einzelne ‚erleben‘ wir die Welt aus unserer subjektiven Perspektive, mit unserem einzelnen Körper, finden uns vor in einem gesellschaftlichen Kontext, der uns als Kinder ‚empfängt‘ und der von Anfang an ‚mit uns umgeht‘. Als Kinder können wir fast nichts machen; wir sind ‚Gegenstand‘ dieser Prozesse‘, sehr oft einfach nur ‚Opfer‘; der Prozess ‚macht mit uns‘ etwas. Wie wir wissen können, gibt es hier die volle Bandbreite zwischen Hunger, Quälereien, Missbrauch, Folter, Arbeit bis hin zu friedlicher Umgebung, umsorgt werden, genügend (zu viel) zu Essen haben, spielen können, lernen können usw.

5. Wir erleben die Welt aus dieser EGO-Perspektive mit dem individuellen Körper, seinem Aussehen, seiner Motorik, seinen Eigenheiten in einer Umgebung, die ihre Spielregeln hat, unabhängig von uns. Wir gewinnen ein BILD von uns, das sich über die Umgebung formt, bildet, zu unserem Bild über uns wird, eine Rückspiegelung von uns unter den Bedingungen der Umgebung. Jemand hat die Begabung zu einem Ingenieure, wird aber immer nur belohnt und unterstützt, wenn er etwas ganz anderes macht, also wird er normalerweise nie Ingenieure werden. … Wer nur überlebt, wenn er lernt sich anzupassen oder andere mit Gewalt niederhält, permanent Angst um sich verbreitet, der wird selten zu einem ‚friedlichen‘, ‚umgänglichen‘ Gegenüber …

6. Aus Sicht ‚der Welt‘, der sozialen Struktur, der Firma, der Behörde, kurz, aus Sicht ‚des Systems‘ ist ein einzelner immer dasjenige ‚Element‘, das ‚im Sinne des Systems‘ ‚funktioniert‘! Wer Lehrer in einer Schule geworden ist, wurde dies nur, weil es das ‚System Schule‘ gibt und der einzelne bestimmte ‚Anforderung‘ ‚erfüllt‘ hat. Solange er diese Anforderungen erfüllt, kann er in dem ‚System Schule‘ das Element genannt ‚Lehrer‘ sein.

7. Das System interessiert sich nicht dafür, ob und wie das einzelne Element Lehrer auf seiner subjektiven Seite die alltäglichen Ereignisse, Erlebnisse, Anforderungen verarbeitet, verarbeiten kann; wenn das Element ‚Lehrer‘ im Sinne des Systems ‚Schwächen‘ zeigt, Anforderungen länger nicht erfüllen kann, dann muss das System dieses ’schwächelnde Element‘ ‚entfernen‘, da es ansonsten sich selbst schwächen würde. Das ‚System Schule‘ als gesellschaftliches System bezieht seine Berechtigung aus der Systemleistung. Wird diese nicht erbracht, dann gerät es – je nach Gesellschaft – unter Druck; dieser Druck wird auf jedes einzelne Element weiter gegeben.

8. Solange ein einzelnes Element die Systemanforderungen gut erfüllen kann bekommt es gute Rückmeldungen und fühlt sich ‚wohl‘. Kommt es zu Konflikten, Störungen innerhalb des Systems oder hat das individuelle Element auf seiner ’subjektiven Seite‘ Veränderungen, die es ihm schwer machen, die Systemanforderungen zu erfüllen, dann gerät es individuell unter ‚Druck‘, ‚Stress‘.

9. Kann dieser Druck auf Dauer nicht ‚gemildert‘ bzw. ganz aufgelöst werden, wird der Druck das individuelle Element (also jeden einzelnen von uns) ‚krank‘ machen, ‚arbeitsunfähig‘, ‚depressiv‘, oder was es noch an schönen Worten gibt.

MENSCHENFREUNDLICHE SYSTEME

10. In ‚menschenfreundlichen‘ Systemen gibt es Mechanismen, die einzelnen, wenn Sie in solche Stresssituationen kommen, Hilfen anbieten, wie der Druck eventuell aufgelöst werden kann, so dass das individuelle Element mit seinen Fähigkeiten, Erfahrungen und seinem Engagement mindestens erhalten bleibt. In anderen – den meisten ? — Systemen, wird ein gestresstes Element, das Ausfälle zeigt, ‚ausgesondert‘; es erfüllt nicht mehr seinen ’systemischen Zweck‘. Welche der beiden Strategien letztlich ’nachhaltiger‘ ist, mehr Qualität im System erzeugt, ist offiziell nicht entschieden.

11. In ‚menschenfreundlichen Gesellschaftssystemen‘ ist für wichtige ‚Notsituationen = Stresssituationen‘ ‚vorgesorgt‘, es gibt systemische ‚Hilfen‘, um im Falle von z.B. Arbeitslosigkeit oder Krankheit oder finanzieller Unterversorgung unterschiedlich stark unterstützt zu werden. In weniger menschenfreundlichen Systemen bekommt das einzelne Element, wenn es vom ‚System‘ ‚ausgesondert‘ wird, keinerlei Unterstützung; wer dann keinen zusätzlichen Kontext hat, fällt ins ‚gesellschaftliche Nichts‘.

12. Unabhängig von ökonomischen und gesellschaftlichen Systemen bleiben dann nur ‚individuell basierte Systeme‘ (Freundschaften, Familien, Vereine, private Vereinigungen, …), die einen ‚Puffer‘ bilden, eine ‚Lebenszone‘ für all das, was die anderen Systeme nicht bieten.

INDIVIDUELLE GRATWANDERUNG

13. Ein einzelner Mensch, der sein Leben sehr weitgehend darüber definiert, dass er ‚Systemelement‘ ist, d.h. dass er/sie als Element in einem System S bestimmte Leistungen erbringen muss, um ‚mitspielen‘ zu können, und der für dieses ‚Mitspielen‘ einen ‚vollen Einsatz‘ bringen muss, ein solcher Mensch vollzieht eine permanente ‚Gratwanderung‘.

14. Da jeder einzelne Mensch ein biologisches System ist, das einerseits fantastisch ist (im Kontext des biologischen Lebens), andererseits aber natürliche ‚Grenzwerte‘ hat, die eingehalten werden müssen, damit es auf Dauer funktionieren kann, kann ein einzelner Mensch auf Dauer als ‚Element im System‘ nicht ‚absolut‘ funktionieren; es braucht Pausen, Ruhezonen, hat auch mal ’schwächere Phasen‘, kann nicht über Jahre vollidentisch 100% liefern. Dazu kommen gelegentliche Krankheiten, Ereignisse im ‚privaten Umfeld, die für die ‚Stabilisierung‘ des einzelnen wichtig sind, die aber nicht immer mit dem ‚System‘ voll kompatibel sind. Je nach ‚Menschenunfreundlichkeit‘ des Systems lassen sich die privaten Bedürfnisse mit dem System in Einklang bringen oder aber nicht. Diese zunächst vielleicht kleinen Störungen können sich dann bei einem menschenunfreundlichem System auf Dauer zu immer größeren Störungen auswachsen bis dahin, dass das einzelne individuelle Element nicht mehr im System funktionieren kann.

15. Solange ein einzelnes Element nur seine ’subjektive Perspektive‘ anlegt und seine eigene Situation nur aus seiner individuellen Betroffenheit, seinem individuellen Stress betrachtet, kann es schnell in eine Stimmung der individuellen Ohnmacht geraten, der individuellen Kraftlosigkeit, des individuellen Versagens verknüpft mit Ängsten (eingebildeten oder real begründet), und damit mit seinen negativen Gefühlen die negative Situation weiter verstärken. Das kann dann zu einem negativen ‚Abwärtsstrudel‘ führen, gibt es nicht irgendwelche Faktoren in dem privaten Umfeld, die dieses ‚auffangen‘ können, das Ganze zum ‚Stillstand‘ bringen, ‚Besinnung‘ und ’neue Kraft‘ ermöglichen und damit die Voraussetzung für eine mögliche ‚Auflösung der Stresssituation‘ schaffen.

16. Menschen, die annähernd 100% in ihr ‚Element in einem System‘ Sein investieren und annähernd 0% in ihr privates Umfeld, sind ideale Kandidaten für den individuellen Totalcrash.

17. ‚Plazebos‘ wie Alkohol, Drogen, punktuelle Befriedigungs-Beziehungen, bezahlte Sonderevents und dergleichen sind erfahrungsgemäß keine nachhaltige Hilfe; sie verstärken eher noch die individuelle Hilflosigkeit für den Fall, dass es ernst wird mit dem Stress. Denn dann helfen alle diese Plazebos nichts mehr.

WAS WIRKLICH ZÄHLT

18. Das einzige, was wirklich zählt, das sind auf allen Ebenen solche Beziehungen zu anderen, die von ‚tatsächlichem‘ menschlichen Respekt, Anerkennung, Vertrautheit, Zuverlässigkeit, und Wertschätzung getragen sind, dann und gerade dann, wenn man phasenweise seine ‚vermeintliche Stärke‘ zu verlieren scheint. Das umfasst private Wohnbereiche zusammen mit anderen sowie ‚echte‘ Freundschaften, ‚echte‘ Beziehungen, ‚gelebte‘ Beziehungsgruppen, ‚Gefühlter Sinn‘, und dergleichen mehr.

LOGIK DES SYSTEMS

19. Die ‚Logik der Systeme‘ ist als solche ’neutral‘: sie kann menschenrelevante Aspekte entweder ausklammern oder einbeziehen. Solange es ein ‚Überangebot‘ an ‚fähigen Menschen‘ für ein System gibt, kann es vielleicht menschenrelevante Aspekte ‚ausklammern‘, solange das ‚gesellschaftliche Umfeld‘ eines Systems die ‚Störungen absorbiert‘. Wie man weiß, kann aber die ‚Qualität‘ eines Systems erheblich leiden, wenn es die ‚menschenrelevanten‘ Aspekte zu stark ausklammert; auch wird ein gesellschaftliches Umfeld – wie uns die Geschichte lehrt – auf Dauer ab einem bestimmten Ausmaß an zu absorbierenden Störungen instabil, so dass auch die für sich scheinbar funktionierenden Systeme ins Schwanken geraten. Die Stabilität eines Systems ist niemals unabhängig von seiner Umgebung. So führte historisch eine auftretende krasse Vermögens- und Arbeits-Ungleichverteilung immer wieder zu starken Turbulenzen, Revolutionen, in denen Menschen sich wehren. Denn letztlich sind alle absolut gleich, jeder hat die gleichen Rechte. Das einseitige Vorenthalten von Rechten bei den einen und die einseitige Privilegierung für wenige andere hat nahezu keine Begründung in einem persönlichen Besser sein, sondern ist fast ausschließlich systemisch-historisch bedingt. Da ‚Privilegieninhaber‘ von sich aus fast nie freiwillig auf ihre Privilegien verzichten wollen und alles tun, um diese ‚abzusichern‘, wird ein systemisches Ungleichgewicht in der Regel immer schlechter; dies ist nicht nachhaltig; letztendlich führt es zur De-Stabilisierung und damit in chaotische Zustände, in der es nicht notwendig ‚Gewinner‘ geben muss, aber auf jeden Fall viele Verlierer.

20. Ein ganz anderer Aspekt ist die globale Verarmung aller Systeme, die die individuellen Potentiale systemisch unterdrücken. Da fast jeder Mensch gut ist für etwas Besonderes, führt die ‚Einkastelung‘ der Individuen in ‚tote Elemente‘ eines Systems zwangsläufig zu einer ungeheuren Ressourcenverschwendung und Verarmung, die dem System selbst wertvollste Ressourcen entzieht. Der ‚Tod des Individuums‘ ist daher auf Dauer auch über die ‚Verarmung‘ des Systems auch ein ‚Tod des Systems‘. Jedes System, das nachhaltig die Potentiale seiner Individuen samt ihrer Privatheit besser fördert und entwickelt als ein Konkurrenzsystem, wird auf Dauer besser und stabiler sein.

Einen Überblick über alle bisherige Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

RUSSLAND, EU, USA – WIEVIEL DOGMATISMUS DÜRFEN WIR UNS ERLAUBEN? (2)

1. In einem vorhergehenden Beitrag hatte ich versucht, darauf aufmerksam zu machen, dass bei aller Aufregung um die aktuelle Annektierung der vormals ukrainischen Krim durch Russland nicht übersehen werden sollte, dass es übergreifende Ziele gibt (bzw. geben kann, je nach Standpunkt des Betrachters), die uns bei aller Erregung dazu auffordern, im Tagesgeschehen die größeren Linien nicht aus den Augen zu verlieren. Dieser Hinweis ist nicht gleichzusetzen mit einer Billigung von unrechtmäßigem Verhalten, sofern es passiert ist.

2. Natürlich ist mir bewusst, dass ein Denken ‚von der Zukunft her‘ in Widerspruch steht zu einem Denken, das sich über die Vergangenheit definiert und dann möglicherweise noch so, dass vermeintliche Schuld auf jeden Fall in der Zukunft mit ähnlichen Methoden in der Zukunft ‚vergolten‘ werden muss (‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘, ‚Blutrache‘, …). Ein ‚Denken, das sich über die Vergangenheit definiert‘ ist aber in der Wurzel gefährlich; als Quelle der Erkenntnis für die Prozesse, wie es zum ‚Heute‘ gekommen ist, ist es unverzichtbar, aber als Leitlinie für die Frage, was wir für die Zukunft tun sollen, ist es nur bedingt tauglich. Gefährlich ist es auf jeden Fall, wenn man versucht, Strukturen, Vorgänge der Vergangenheit festzuschreiben und diese als ‚Maßstab‘, als ‚Norm‘ für die Zukunft benutzen will. Nach heutigem Wissensstand sind wir Teil eines gigantischen, hochdynamischen Prozesses, der sich real strukturell weiterentwickelt und von uns allen eine beständige Weiterentwicklung auf allen Ebenen einfordert. Stillstand bedeutet hier auf Dauer Untergang. Dass alle Beteiligten dieses Prozesses permanent Fehler machen, ist prozessimmanent und daher Teil des Lernprozesses; nur durch Fehler können wir überhaupt lernen. Um die Zukunft zu gewinnen zählt daher in erster Linie, zu erkennen, wo wir eigentlich ‚hin sollen‘ und dann, was wir tun müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Fehler in der Zukunft zu vermeiden ist wichtiger, als Fehler durch neue Fehler zu perpetuieren und durch wechselseitige Blockaden eine gemeinsame Zukunft zu verhindern.

3. Personen wie Buddha, Jesus, Ghandi, Martin Luther King, Mandela (um nur einige zu nennen), hatten für sich (auch ohne Wissenschaft) erkannt, dass das Klammern an den Augenblick, das Fixieren des Vergänglichen, der Hass auf das Andere usw. nicht geeignet sind, den einzelnen in seinem Potential frei zu setzen noch eine Gemeinschaft von Menschen in ihrem Potential voll zur Entfaltung zu bringen. Nur wer die Zukunft nicht sieht, kann sich an die Vergangenheit ‚verkaufen‘. Nur wer nicht begreift, dass wir alle extrem begrenzt, anfällig und fehlerbehaftet sind, kann Fehlerbestrafung zum Lebensprinzip erheben. Es geht nicht um Bestrafung, es geht um ‚Umkehr‘, ‚Verbesserung‘, ‚Weiterentwicklung‘ ….

4. Zurück zur Krim. Ja, nach allgemeiner Auffassung ist es nicht OK, dass ein fremder Staat, so, wie Russland es getan hat, Teile eines anderen Staates, hier die Krim als Teil der Ukraine, gegen den Willen dieses Staats infiltriert und schließlich besetzt (was in der Vergangenheit nicht nur von Russland, sondern auch von China, von den USA und vielen anderen immer wieder getan wurde). Andererseits gibt es das ‚Selbstbestimmungsrecht der Völker‘; nach diesem wird einer Mehrheit sehr wohl zugestanden, für sich selbst zu bestimmen, was sie wollen. Im Fall Krim gab es diese Mehrheit; ob sie tatsächlich das wollten, was jetzt passiert ist, ist nicht ganz eindeutig, da die Art und Weise der Abstimmung nicht so transparent und ‚geheim‘ war, wie es idealerweise sein sollte. Aber Russland hat sich damit möglicherweise einen ‚Bärendienst‘ erwiesen, da es sich in seiner imperialistischen Vergangenheit viele Völker ‚einverleibt‘ hat, die als solche ‚von sich aus‘ vielleicht auch etwas anderes wollen, als Teil von Russland zu sein. Ähnliche Probleme hat China, ähnliche Probleme haben verschiedene Staaten der EU, usw. Wir können uns darüber aufregen, dass Russland diese ‚Selbstabstimmung‘ quasi erzwungen hat. Auf der anderen Seite müssen wir uns die Frage stellen, inwieweit die Verhinderung der Selbstabstimmung von Basken, Norditalienern, Iren, Schotten, ‚Tirolern‘, Palästinensern, verschiedenen Ureinwohner in Brasilien, Ureinwohner Australiens, usw. nicht auch gegen das Völkerrecht verstößt. Wenn wir hier anfangen zu suchen, werden wir sehr viele Unrechtssituationen finden, über die wir großzügig hinwegsehen, weil das darüber Hinwegsehen eher ins Tagesgeschäft passt.

In globaler Perspektive sind Nationalstaaten 'Spielbälle' globaler Kräfte, ideal für 'Starke', die 'Schjwachen' per Vertrag zu 'kolonisieren' ...
In globaler Perspektive sind Nationalstaaten ‚Spielbälle‘ globaler Kräfte, ideal für ‚Starke‘, die ‚Schwachen‘ per Vertrag zu ‚kolonisieren‘ …

5. Während die EU und die USA sich offiziell über das Vorgehen Russlands erregen und die deutsche Kanzlerin da eine sehr aktive Rolle zu spielen scheint, findet aber ein anderer Vorgang statt, der nicht nur die Selbstbestimmung eines Teiles eines Landes bedroht, sondern die Selbstbestimmung aller Staaten der EU, der USA , und als Folge der geplanten Verträge würden an die zweihundert bestehende bilateriale Verträge zwischen der EU und wirtschaftlich schwächeren Staaten praktisch eliminiert, mit z.T. katastrophalen Folgen in diesen Ländern. Ich meine die Verhandlungen zum ‘Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP)‘, über die ich in einem vorausgehenden Blogeintrag schon ausführlich berichtet hatte. Glücklicherweise wird dieses Thema immer mehr in der Öffentlichkeit diskutiert; u.a. gab es eine sehr schöne Dokumentation dazu in 3Sat am 20.März 2014  mit einer aufschlussreichen Diskussion im Anschluss.

6. Wie schon im vorausgehenden Blogeintrag dargestellt, bestätigen die nach und nach ‚durchsickernden‘ Informationen der Geheimverhandlungen zum transatlantischen freihandelsabkommen  alle Befürchtungen, ja, sie übertreffen sie sogar noch. An den Geheimverhandlungen nehmen fast ausschließlich Lobbyisten der großen US-Firmen teilnehmen (der Vertreter des europäischen Parlaments, der zur ‚parlamentarischen Kontrolle‘ da sein soll, ist von diesen Verhandlungen weitgehend ausgeschlossen, und insofern er doch Informationen bekommt, sind diese sowohl zu großen Teilen ausgeschwärzt bzw. unterliegen sie der ‚Geheimhaltung‘ (mittlerweile eher kein Mittel zum Schutz der Demokratie sondern zu ihrer Verhinderung!).

7. Sieht man mal von allen Details ab (die jeder bitte für sich auf den angegeben Seiten selbst nachlesen sollte (die 3Sat Filme kann man auch über die Videothek anschauen)), zeigt sich hier eine historisch neue, einmalige Situation: zwar konnten sich mit viel Mühen, vielen Opfern, vielen Kriegen einige demokratische Gesellschaften auf dieser Erde entwickeln, aber die global operierenden Firmen haben im zwischenstaatlichen Bereich einen Raum gefunden, wo sie unter dem Motto von ‚Freihandel‘ Verträge schließen können, durch die sich nationale Regierungen ‚binden‘. Der Inhalt dieser Verträge ist so (was die letzten Jahre gezeigt haben), dass die ’starken‘ globalen Player nahezu alle Rechte bekommen und die oft sehr schwachen nationalen Wirtschaftsstrukturen durch die globalen Player ‚platt‘ gemacht werden. Dies erhöht den Profit auf Seiten der globalen Player und vermindert deutlich die Wirtschaftskraft und die Einnahmen der schwächeren Nationalstaaten. Sie geraten in noch stärkere Abhängigkeiten und müssen mehr und mehr zu Spottpreisen Teile ihrer Wirtschaft, Teile ihrer Ressourcen, Teile ihres Landes an die globalen Player verschleudern. Dazu kommt, dass die globalen Player praktisch nie regulär Steuern in jenen Ländern zahlen, in denen sie ihre Profite machen. Mehr noch. Wie in vielen Fällen dokumentiert werden konnte, werden Menschenrechte, Arbeitsschutz, Umweltschutz massiv verletzt. Beschweren sich dann Bürger oder sogar die Regierung, dann können die globalen Firmen die nationalen Regierungen aufgrund der internationalen Verträge sogar auf Geschäftsschädigung verklagen. Das erscheint jedem normal denkenden Menschen grotesk, geschieht aber hundertfach pro Jahr! Dieser Wahnsinn steht hinter der Formulierung des ‚Investitionsschutzes‘. Zudem sind es keine ‚ordentliche‘ Gerichte, die hier die Prozesse führen, sondern private Schiedsgerichte mit oft genau den Anwälten jener Firmen, die sich über alle werte hinwegsetzen.

8. Dazu kommen viele andere Rück-Revolutionen: in Deutschland und Europa wurden in den letzten Jahrzehnten die Rechte der Verbraucher massiv gestärkt. Im Prinzip muss hier der Anbieter nachweisen, dass seine Produkte die Gesundheit nicht gefährden. In den USA kann ein Anbieter anbieten was er will; der Kunde muss nachweisen, dass ein bestimmter chemischer Zusatz in der Nahrung seine Gesundheit gefährdet. Was in der Regel heutzutage unmöglich ist. Das Ganze wäre noch irgendwo erträglich, wenn der Staat für seine Bürger hinreichend eigene Forschung und Kontrollen betreiben würde, um seine Bürger zu schützen. Am Beispiel der sogenannten ‚Chlorhähnchen‘ aus den USA hat die 3Sat-Dokumentation gezeigt, dass es nicht nur keine eigene staatliche Forschung zu den Auswirkungen des Chemikalieneinsatzes bei der Produktion dieser Hähnchen gibt, sondern dass die bestehenden Kontrollen in den Firmen zudem noch massiv abgebaut werden. Gleichzeitig wurde der Chemikalieneinsatz mittlerweile massiv erhöht, so schlimm, dass die Mitarbeiter in diesen Betrieben schwerstens erkrankt sind. Mit dem neuen Freihandelsabkommen würden alle deutsch-europäischen Vorschriften außer Kraft gesetzt und die US-amerikanischen Nicht-Standards zum neuen Maßstab genommen. Würden wir uns als Bürger beschweren, könnten die US-Firmen den deutschen Staat wegen Störung ihres Geschäfts verklagen. Einspruch wäre nicht möglich. Schöne neue Welt. Diese Art von Menschenverachtung ist kaum noch zu überbieten.

9. Wenn man im Falle von wirtschaftlich schwachen Staaten mit labilen politischen Strukturen noch ansatzweise nachempfinden kann, dass globale Player sich dieser schwachen Strukturen bemächtigen und diese Staaten buchstäblich ausbeuten, ist es schwer bis gar nicht nachvollziehbar warum ein Land wie Deutschland, das bislang mit zu den wirtschaftlich erfolgreichsten und politisch stabilsten Ländern dieser Erde gehört, sich auf dieses Spiel überhaupt einlässt (abgesehen davon, dass hier offensichtlich schwerste Verletzungen des Grundgesetzes ins Haus stehen). Alle nicht lobby-gebundenen Wirtschaftsexperten, die sich bislang dazu geäußert haben, haben klar gesagt, dass die Prognosen zu den positiven wirtschaftlichen Effekten wissenschaftlich nicht nachvollziehbar sind. Sie kommen eher zum Ergebnis, dass höchstens minimale Effekte in EU und speziell Deutschland wahrscheinlich sind, dafür erheblich starke negative Effekte in Ländern außerhalb dieser Zone; diese würden aber von den USA mit einem anderen Vertrag aufgegriffen, so dass die USA sich überall Vorteile sichern würde, die einzelnen Ländern sich aber einseitig stärker von den USA abhängig machen würden). Dass die Bundeskanzlerin angesichts all dieser stark negativen Auswirkungen des geplanten Vertrages sich öffentlich bislang eindeutig dafür ausspricht wirkt mindestens befremdlich. Da Sie ja anerkanntermaßen sehr intelligent und politisch sehr erfahren ist, muss man sich fragen, was ihre Motive/ Interessen sind, ein solches demokratiefeindliches Projekt zu befürworten. Denkt Sie an eine goldene Zeit nach ihrer Kanzlerschaft, quasi als Präsidentin einer dieser globalen Player? Bei dem Verhalten der europäischen Kommission kann man sich kaum der Vorstellung erwehren, dass diese nicht mehr gemeinsame Sache mit den wirtschaftlichen Lobbyisten macht als mit den europäischen Bürgern, für die sie Verantwortung tragen.

10. Aus all dem stellt sich die Frage, ob und wie Demokratie im globalen Kontext möglich ist, der anscheinend überwiegend von entfesselten multinationalen Konzernen und kooperierenden Regierungen gegen die Interessen der Bevölkerung bestimmt erscheint. Welche Bedeutung hat das Gerede von Menschenrechten, wenn diese Konzerne täglich demonstrieren, dass ihnen das Wohlergehen von Menschen nichts wert sind? Was soll man von demokratischen Regierungen halten, die grundlegende Informationspflichten mit Füssen treten und sich über geltende Standards ohne ein Minimum an öffentlicher Diskussion hinwegsetzen? Haben wir nicht schon längst einen ‚Staatsstreich von Innen‘, indem gewählte Regierungsvertreter ihr Amt dahingehend missbrauchen, dass sie demokratische Rechte und Institutionen massiv schwächen wenn nicht gar ganz außer Kraft setzen? Müssen wir auch in Deutschland um die Grundlagen unserer Demokratie neu kämpfen, weil sogar die Kanzlerin den Eindruck erweckt, sie hat sich schon längst von der Demokratie verabschiedet. Irgendwie zögert man noch, diesen Gedanken ganz zu glauben. Wenn man zu lange zögert, kann es zu spät sein…

11…. und, angesichts dieses scheinbaren Misbrauchs von politischer Macht in den Superstrukturen ist es möglicherweise verständlich, dass sich ‚Teilbereiche‘ auskoppeln wollen mit der Vorstellung, dann hätte man die Dinge besser unter Kontrolle. Doch, wie wir sehen, ist das Problem nicht unbedingt die Trägerstruktur (z.B. der Nationalstaat als solcher), sondern die Interaktionen zwischen den Trägerstrukturen; da gelten ja zunächst mal keine Gesetze bzw. ob und in welchem Umfang gesetze gelten sollen, muss neu ausgehandelt werden.  Erleben wir mit diesen Krisen der nationalen Demokratien die ersten Wehen des nächsten Evolutionsschubs von Superdemokratien, die zunächst durch die ‚Vorhölle‘ des globalen Kapitalismus gehen müssen? Da es letztlich immer wir selbst, wir Menschen, sind, die entscheiden, müssen wir als Menschen Klarheit finden, was wir wollen. Menschenverachtung ist kein Naturgesetz.

CONSTRUCTED RADICALLY UNPLUGGED MUSIC

Die Fortsetzung eines Experimentes: Musik vom 24.3.2014 (man sollte gute Lautsprecher haben, oder gute Kopfhörer …)

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