Archiv der Kategorie: Demokratie

Pazifismus als ‚Pseudonym‘ für Realitätsverweigerung?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 24.Februar 2023 – 4.März 2023
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

Dieser Text ist eine spontane Reaktion auf die vielen Stimmen, die in unterschiedlichen Tonlagen einen ‚Pazifismus‘ vertreten, dessen eigentliche ‚Natur‘ sich in viel schillernden Vagheiten präsentiert, die bei Nachfragen immer genau das nicht sein sollen, für das man sie halten möchte. Den letzten Kick zur folgenden schriftlichen Reaktion ergab die Lektüre eines Textes von Annete Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland.[1]

‚Ecce Homo‘

Frau Kurschus schleudert dem Leser gleich zu Beginn den Ausdruck ‚Ecce Homo‘ entgegen, einen Ausdruck, den die meisten Menschen heute kaum sogleich verstehen werden, da er aus einer Zeit und Denkwelt kommt, die längst vergangen ist. ‚Ecce Homo‘ ist einer lateinischen Übersetzung des Neuen Testaments entnommen, das ursprünglich in Griechischer Sprache übermittelt worden ist.[2]

Der Kontext des Ausdrucks ist ein Text im Neuen Testament, dessen Überlieferungsgeschichte komplex ist, weder stammt er von Jesus selbst noch vermutlich von einem ‚Jünger‘ Jesu. [3] Die starken textlichen Abweichungen des Johannesevangeliums von den anderen sogenannten ‚Evangelien‘ deuten auf spezielle ‚Deutungsperspektiven‘ hin. Warum also ausgerechnet eine ‚literarische Formulierung‘ von einer möglicherweise ‚literarischen Situation‘ für uns heute in einer gänzlich anderen Situation relevant sein soll, das erschließt sich auf den ersten Blick keineswegs, vielleicht auch nicht auf einen zweiten Blick … was hat letztlich die Situation eines einzelnen Menschen, der machtlos vor dem Vertreter einer Staatsgewalt steht (wohlgemerkt: in einer literarisch fiktiven Situation), in die er sich durch sein eigenes Verhalten hinein manövriert hat, mit der Situation eines ganzen Volkes zu tun, das entgegen allen geltenden Verträgen und entgegen vorausgehenden russischen Beteuerungen plötzlich brutal überfallen wurde. Das tägliche brutale Zerstören und Ermorden seit nunmehr einem Jahr lässt unter normalen Menschen und bei Betrachtung der realen Geschehnisse keine zweite Deutung zu.

Dass eine liturgische Tradition unter Christen sich darin gefällt, den Leidensweg eines einzelnen Menschen zu betrachten (wo es täglich Millionen von Menschen gibt, die ähnlich oder noch furchtbarer leiden), mag ja sein, diese ‚fromme Übung‘ aber mit der brutalen Realität eines Vernichtungskriegs eines ganzen Volkes gleich zu setzen, erscheint mehr als grenzwertig.

Gewissheit der Kirche – Ungewissheit – Kontingenz

Die weitere Wortspielerei mit einer ‚Ungewissheit‘ angesichts der prinzipiellen ‚Kontingenz der Geschichte‘ und einer damit einhergehenden ‚Begrenztheit, weil wir Menschen‘ sind, und nicht Gott, klingt wie intellektueller Hohn angesichts von Menschen, die von anderen Menschen gegen ihren Willen mit brutalen Tötungen und unmenschlichen Gewalttaten überzogen werden, die weder ‚unsicher‘ noch ‚kontingent‘ sind sondern ‚brutal gewiss‘ und ‚brutal zwingend‘.

Dass wir Menschen unsere Welt — aus philosophischer Sicht! — als ‚unsicher‘ erleben können, als ‚kontingent‘, das verweist auf eine ‚Rahmenbedingung‘ unserer menschlichen Existenz, die nunmehr seit Anbeginn des Lebens auf dem Planeten Erde (seit ca. 3.5 Milliarden Jahren) gegeben ist. Diese Ungewissheit gehört zum Leben auf diesem Planeten, und Leben musste sich schon immer darin behaupten, und Herausforderungen, große Krisen, hohe Todesraten, bis hin zu 80 – 90% aller Lebensformen auf dem Planet Erde, gehören zu dieser ‚planetarischen Realität‘.

Wir selbst als Teil dieses planetarischen Lebens, gibt es nur, weil das Leben trotz anhaltender konkreter Bedrohungen sich immer wieder unter Aufbietung aller Fähigkeiten und aller Kraft dagegen gestemmt hat; dies schließt sehr oft mit ein, dass ganze Teile einer Population ihr eigenes Leben einsetzen mussten — und auch heute müssen — , um die Population als ganze für das weitere Leben zu retten![4]

Ja, Kontingenz, Ungewissheit gibt es, es ist eine Grundkonstante des Lebens auf diesem Planeten, diese Ungewissheit aber als ‚Ausrede‘ zu benutzen, um nichts zu tun, weil man ja etwas Falsches tun könnte, widerspricht der Erfahrung des Lebens auf dem Planeten von 3.5 Milliarden Jahren: nur weil das Leben zu allen Zeit massiv ‚ins Risiko gegangen‘ ist gerade weil man nicht wissen konnte, was kommt, gab es zu allen Zeiten eine hinreichend große ‚Risiko-Dividende‘, die ein Weiterleben — auch bei größten Änderungen der Umwelt — ermöglicht hat, zumindest bis heute. Wenn aber mit dem Vorwand eines ‚Pazifismus‘ genau jenes Ringen um Leben im Risiko gleichsam verhöhnt wird, dann stehen die Chancen für ein Weiterleben schlecht. Das grenzt dann an freiwillige ‚Selbstaufgabe‘ nur weil man möglicherweise ‚Angst‘ hat, das Wenige zu verlieren, was man gerade hat, was man aber auf jeden Fall verlieren wird, wenn man sich dem Unheil nicht entgegen stellt. Die egoistische Angst von einzelnen ist kein gutes Überlebensprinzip für das Überleben einer Population.

Die Unlogik der Unvollständigkeit

Es wundert nach all diesen bisherigen Überlegungen nicht, dass Frau Kurschus weitere ‚Tautologien‘ in ihrem Text benutzt.

So benutzt Sie auch eine Aussage, wie die, dass ‚keine Waffe allein den Frieden schaffen wird.‘ Noch etwas frappierender „Auch ein Sieg … schafft noch keinen Frieden.“ Bedenkt man, dass Sie an anderer Stelle die Kontingenz beschwört, die keine klaren Prognosen zulässt, so verwundert die in Worte gefasste Gewissheit, dass ‚Waffen‘ und ‚Siege‘ keinen Frieden bewirken können. Die Geschichte erzählt uns überwiegend das Gegenteil.

In diesen Beispielen deutet sich ein grundsätzliche Haltung von Frau Kurschus im Umgang mit Ungewissheit an: Wie in dem berühmten Beispiel von dem halb vollen Glas, das die einen als ‚eher voll‘, die anderen als ‚eher Leer‘ interpretieren, so nehmen die einen die durchgängige Ungewissheit und Unvollständigkeit als Argument, eher ’nichts‘ zu tun, man könnte ja Fehler machen, die anderen nehmen die durchgängige Ungewissheit und Unvollständigkeit als Argument, darum zu ringen, Ungewissheit und Unvollständigkeit so gut es geht zu ‚minimieren‘: angesichts einer sich ständig wandelnden Welt bedeutet ‚Stillstand‘ der Handelnden automatisch ‚Untergang‘. Ein schlechtes Wissen wird durch Abwarten nicht besser, sondern konstant schlechter. Stattfindendes Unheil muss man direkt bekämpfen, jedes Zögern verschlimmert es. Angst war noch nie ein guter Ratgeber.

In diesem Zusammenhang Worte von Jesus zu zitieren, die aus einem völlig anderen Kontext gerissen werden (der zudem in seinem Überlieferungsstatus — wie alle biblischen Texte — mehr oder weniger unklar ist), ist keine ernst zu nehmende Antwort. Es erscheint eher wie eine ‚Flucht aus der eigenen Verantwortung‘: Ja, man kann sich irren, man kann sogar Fehler machen, aber das Zitieren einer teils historischen, weitgehend literarischen Gestalt, deren Kontext in keiner Weise vergleichbar ist, ist auf jeden Fall Flucht aus der eigenen Verantwortung. Im übrigen ist seit Jahrtausenden klar, dass ‚Lernen‘ — der Erwerb von neuem Wissen für ein besseres Handeln — niemals gelingen kann, wenn nicht bewusst und systematisch Fehler in Kauf genommen werden. Ein aktuelles ‚Nicht-Wissen‘ kann man nur durch mutiges Handeln unter Risiko in ein ‚besseres Wissen‘ verwandeln; das Scheitern und Sterben sind im Erwerb von neuem Wissen inbegriffen. ‚Wahres Neues‘ gibt es niemals zum Nulltarif.

Na dann …

Da ‚Wahrheit‘ kein Gegenstand ist, der sich ‚einfach so aufdrängt‘, sondern nur ’sichtbar‘ werden kann, wenn wir in unsrem Fühlen und Denken jenen Sachverhalten Raum gewähren, die ‚wahre Gegebenheiten konstituieren‘, ist es zunächst einmal jedem freigestellt, zu denken und zu sagen, was er will.

Viele bezweifeln ja heute, dass es überhaupt so etwas wie ‚Freiheit‘ und ‚Wahrheit‘ gibt, aber eine Weise, wie sich die grundlegende Freiheit des Lebens manifestiert, besteht genau darin, dass niemand in seinem Denken ‚gezwungen‘ wird, etwas Bestimmtes zu Denken. Unter Menschen ist es zwar ein beliebter Sport, dass der eine dem anderen versucht, bestimmte Meinungen ‚einzureden‘ oder gar ‚vorzuschreiben‘, aber ‚die Wahrheit selbst‘ zwingt sich nicht auf. Wir müssen sie ‚aktiv suchen‘, wir müssen konkret darum ringen. Die Entstehung der modernen empirischen Wissenschaften ist ein sehr spätes Produkt der Evolution, genauso die Gesellschaftsform der Demokratie. Aber beide ‚Systeme von Verhaltensweisen‘ können jederzeit wieder in sich zusammenfallen, weil ihre ‚innere Dynamik‘ auf Freiheit basiert, und auf ein ‚aktives und tägliches Bemühen um Wahrheit‘. ‚Dummheit‘ treibt alleine vor sich hin, egal was einer tut, und ‚Diktaturen‘ versuchen mit Anwendung von vielerlei Gewaltmittel jenes Denken und Handeln zu erzwingen, was einige wenige meinen, als richtig erkannt zu haben. Dies kann aber niemals wahre Freiheit und darin verborgene Wahrheit ersetzen.

Die Kraft des Lebens zu ‚gelingen‘ ist zwar um Dimensionen größer als sich die einzelnen vorzustellen vermögen, aber ‚partielles Scheitern‘ — auch von ganzen Völkern — ist damit nicht ausgeschlossen. Freiheit ist eine nicht hintergehbare Realität, die bis ins letzte Zipfelchen unsere Energie-Materie Wirklichkeit verankert ist.

ANMERKUNGEN

(Letzte Änderung: 4.März 2023)

wkp-de : = Deutsche Wikipedia

wkp-en: Englische Wikipedia

[1] Siehe FAZ, 24.Februar 2023, S.8., Annette Kurschus, „Keine Pflicht zu radikalem Pazifismus“, Dieser Text ist im Prinzip weitgehend ‚austauschbar‘ mit vielen anderen, die in diesen Monaten in Verbindung mit dem Begriff ‚Pazifismus‘ veröffentlicht werden. Allerdings enthält er das besondere Merkmal eines zusätzlichen Bezugs zum (evangelischen) Christentum.

[2] Siehe ‚ecce homo‘ in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Ecce_homo; etwas ausführlicher ‚ecce homo‘ in der wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Ecce_homo. Anmerkung: Überlieferungsgeschichtlich werden sogar für die Zeit vor der
Verschriftlichung noch andere lokal übliche Sprachformen angenommen

[3] Siehe ‚Das Johannesevangelium‘ in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Evangelium_nach_Johannes

[4] Haben wir schon jetzt vergessen, was notwendig war, um das menschenverachtende Machtstreben und die Tötungsorgien eines Hitler und seiner Unterstützer aufzuhalten? Waren die vielen Millionen Menschen, die ihr Leben geopfert haben, um dem Wahnsinn eines Hitlers Einhalt zu bieten, irregeleitet‘, ‚Friedensstörer‘, letztlich die eigentlichen ‚Kriegstreiber‘ und damit in den Augen von Menschen, die sich Christen nennen, ‚Ungläubige‘? Immerhin gab und gibt es ja zu allen Zeiten — auch heute — genügend viele Menschen, die sich Christen nennen, brutale Kriege richtig finden, und darin sogar einen ‚heiligen Dienst‘ sehen.

Lesetip 1: Das Thema des ‚Paradigmenwechsels‘, das sich im Umgang mit Begriffen wie ‚Pazifismus‘ heute vielfach in der Gesellschaft findet, finde ich in dem Artikel von Daniel Strassberg „Wenn Weltbilder wackeln“ sehr gut in Szene gesetzt: https://www.republik.ch/2023/02/28/strassberg-wenn-weltbilder-wackeln

Lesetip 2: Ein sehr aufschlussreiches Interview in der Frankfurter Rundschau vom 4./5. März 2023, S.32f, mit Jörn Leonhard, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, der zwei Bücher zum Umfeld des ersten Weltkriegs veröffentlicht hat, in denen es genau auch um die Fragen geht ‚Wann ein geeigneter Zeitpunkt gewesen wäre‘, einen Frieden zu schließen und warum der spätere ‚Friedensvertrag‘ mehrfache Keime für die nachfolgenden Konflikte und dann den zweiten Weltkrieg in sich trug. Wenn Putin aufgrund seines sehr speziellen Geschichtsbildes imperialen Zielen folgt und er seine Position gegenüber ’seinem Volk‘ an einen Sieg über jene knüpft, die er als ‚Feinde‘ einstuft‘, dann kann es keinen wirklichen Frieden geben, bevor er, Putin, sein Ziel auf seine Weise nicht eingelöst hat. Die Zahl der Toten spielt für ihn — genauso wenig wie für die Deutsche Generalität im ersten Weltkrieg — keine Rolle, solange noch die geringste Hoffnung besteht, das eigene Ziel zu erreichen.

DER AUTOR

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DATENSOUVERÄNITÄT IM CYBERSPACE: Ein Widerspruch in sich?

Überlegungen aus Sicht der Informatik und Philosophie. Teil 1

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 26.November 2021, 02:24h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

KONTEXT

Der Autor dieses Textes ist Mitglied einer Forschungsgruppe zum Thema ‚Datensouveränität‘ [1], die Experten aus unterschiedlichen Disziplinen umfasst. Die Diskurse in dieser Projektgruppe waren bislang sehr spannend, anregend, zugleich aber auch durchgehend herausfordernd, weil das vielfältige Ringen um die Bedeutung und die Rolle des modernen juristischen Konzepts ‚Datensouveränität‘ mit jedem Antwortversuch zugleich wieder viele Fragen mit sich brachte. Er tat sich bislang schwer, von seiner Position aus einen begrifflichen Zugriff auf das Konzept ‚Datensouveränität‘ zu finden. Erst im Anschluss an eine — wieder sehr anregende — online Sitzung vom 24.November 2021 kamen ihm einige Ideen zum Thema. Er versucht im folgenden Text — dem möglicherweise noch weitere Texte folgen werden — diese Idee zu skizzieren. Es wird sich zeigen, ob aus diesen Reflexionen ein Diskurs entsteht, der auch für andere einen Einstieg in die Thematik ermöglicht.

PROBLEMSTELLUNG

Durch die Einbettung von Computern in Netzwerke und durch die zunehmend Verbreitung dieser Netzwerke als ‚Internet‚ — auch ‚Cyberspace‚ genannt — in die verschiedenen gesellschaftlichen Systeme weltweit, entstand ein hybrides System, in dem die bekannte ‚analoge Welt‚ mit der zugehörigen ‚analogen Welterfahrung‘, über ‚Schnittstellen‚ (‚Interfaces‚) mit dem neuen Cyberspace verbunden ist.

Aus Sicht der analogen Welt hat sich scheinbar kaum etwas verändert. Es gibt ein paar mehr ‚Geräte‚ (‚devices‚), die man im analogen Alltag nutzen kann, aber die Nutzung ähnelt dem Schreiben mit einer Schreibmaschine, oder dem Reden mittels Telefon, oder dem Fernsehen mittels Fernseher, oder — ja, das ist irgendwie neu — der Kombination von Schreibmaschine, Telefon und Fernseher. Und, ja, es gibt noch mehr neue Anwendungen, aber sind sie nicht alle letztlich ‚wie in der analogen Welt‘?

Für die meisten Menschen ohne explizites technisches Wissen erscheint der Cyberspace ‚eingehüllt‘ in Formate, die sich von der alltagsweltlichen Erfahrung möglichst wenig unterscheiden. Tatsächlich werden immer mehr Alltagshandlungen unter Zuhilfenahme der verfügbaren Cyberspace-Endgeräte so ausgeführt ‚als ob‚ man sie im Alltag wie gewohnt ausführt: man kann Geld abheben und überweisen, als ob man selbst bei der Bank war; man kann Texte schreiben und versenden, als ob man die alte Post benutzt; man kann Bücher bestellen und lesen, als ob man direkt im Buchladen oder der Bibliothek war und dann im Buch liest; man kann mit jemandem an einem anderen Ort ‚face-to-face‘ reden, als ob dieser jemand einem gerade gegenüber sitzt. Man kann innerhalb eines Freundeskreises jederzeit reden, als ob diese sich mit einem im gleichen Raum befinden …

War dieses ‚als ob‘ in der Frühzeit der Computer noch so umständlich, dass nur trainierte Experten in der Lage waren, direkt mit Computern und Computernetzwerke zu interagieren, so hat sich die Hardware und die Software von Computern und Netzwerken seit 1945 dermaßen weiter entwickelt, dass es für einen Menschen des Alltags heute kaum noch wahrnehmbar ist, dass er mittels eines Cyberspace-Endgerätes immer mehr ‚alltagsähnliche‘ (analoge) Handlungen vornimmt.

Und hier beginnt das Problem.

Die ‚wunderbare Leichtigkeit des Seins‘ in der Benutzung der modernen Cyberspace Endgeräte — und diese Nutzung wird kontinuierlich immer weiter ‚verbessert‘ — verdeckt eine technische Realität, die ganz anderen Regeln folgt als die bekannte analoge Welt. Jeder Versuch, diese ganz andere technische Realität mit den Bildern und Kategorien der analogen Alltagswelt zu ’sehen‘ und zu ‚interpretieren‘, führt unweigerlich in die Irre.

Ein prominenter und für einen ‚Rechtsstaat‘ substantieller Bereich ist der normativer Bereich, sind die Regeln der Verfassung, die verabschiedeten Gesetze und deren Anwendung und Auslegung im Alltag.

Diese normativen Regelungen entstammen der analogen Alltagswelt, orientieren sich an analogen ‚Alltagsmenschen‘ mit einem analog geprägten ‚Alltagsdenken‘ und ‚Alltagsempfinden‘. Ihre Begrifflichkeiten, ihre Bedeutungskonstrukte sind durch und durch auf ‚analoge Alltagsstrukturen‘ abgestellt.

Heute jedoch ist ein solches durch und durch ‚analoges Alltagsdenken‘ umschlungen von einem Cyberspace, der sich mittels Cyberspace-Endgeräten mit dem alltäglichen Handeln von Menschen verknüpft; im Wahrnehmen, Fühlen und Denken von Alltagsmenschen ist dieser Cyberspace real präsent, und bildet dadurch ein ‚Analogwelt-Cyberspace-Amalgam‚, das an seiner ‚Oberfläche‘ der analogen Alltagswelt ähnelt, in seiner inneren ‚impliziten Logik‘ aber immer mehr Eigenarten des Cyberspace in sich trägt, der nach ganz anderen Gesetzen als die analoge Alltagswelt funktioniert. Hierdurch findet — für die meisten kaum wahrnehmbar — eine reale ‚Mutation‘ des ‚Alltagsbewusstseins‘ statt: der reale analoge Mensch mit seinem realen analogen Gehirn trainiert sein Gehirn über sein hybrides Handeln und seine hybride Wahrnehmung immer mehr nach Gegebenheiten und Regeln des Cyberspace, die nicht die sind, die in der analogen Alltagswelt üblich sind.

Im Licht der Evolutionsbiologie könnte man sagen: ja, das ist eine weitere Stufe in der Evolution des Lebens auf der Erde.

Als Bürger einer demokratischen Gesellschaft muss man sich aber vielleicht fragen, was machen im Bewusstsein mutierte Bürger mit dem Konzept einer Demokratie, das im Kern auf einer gemeinsam geteilten Öffentlichkeit basiert, über die sich alle Bürger, alle politischen Handlungen soweit ‚synchronisieren‚ lassen, dass wir überhaupt von ‚Demokratie‚ sprechen können. Was passiert mit der Demokratie, mit ihrer ’normativen Ordnung‘, wenn die im Bewusstsein mutierten Bürger und ihre faktisch stattfindende Einbindung in eine ‚Cyberwirklichkeit‘ diese fundamentale Synchronisierung über eine demokratische Öffentlichkeit gare nicht mehr leisten können? Macht es dann noch Sinn von ‚Demokratie‘ und — dadurch impliziert — von ‚Datensouveränität‘ zu sprechen?

Fortsetzung ?

ANMERKUNGEN

[1] Siehe die Webseite https://zevedi.de/aktivitaeten/projekte/ und dort den Eintrag Projektgruppe „Datensouveränität“.

DER AUTOR

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BEFREIUNGSTECHNOLOGIE – Warum befreien wir uns nicht?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 14.November 2020
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

ACHTUNG: Ich habe jetzt eine eigene Seite ausschliesslich mit Daten zu SARS-CoV-2/Covit-19 angelegt! Die Daten auf dieser Seite werden daher künftig nicht mehr aktualisiert.

LOCKDOWN BLUES

In vielen Ländern — und auch in Deutschland, bei ‚uns‘ — greifen die Regierungen wieder zur Maßnahme des Lockdown, wie es so schön Neudeutsch heißt. Nach ersten Erfolgen in der Bekämpfung von Corona im März wurde zwar vieles versprochen, was man tun wolle, um einen weiteren Lockdown zu verhindern, aber geschehen ist weitgehend nichts. Da ein Virus ein reales Etwas ist, kein volles Lebewesen aber doch zu Interaktionen mit lebenden Zellen fähig, und dieses Virus mit dem Lockdown im März nun mal nicht vollständig ausgerottet war, kam es, wie es kommen musste: mit der Erhöhung der Kontakte untereinander — und mit einer offensichtlich höheren Sorglosigkeit — konnte das Virus sich wieder stärker verbreiten. Bis die Zahlen so hoch waren, dass es kaum noch zu übersehen war, war es natürlich zu spät. Das Virus war schon wieder im vollen Kontakt-Rausch und tat das, was ein Virus so tut: sich im Wirt austoben.

Da die Regierungen weltweit und auch in Deutschland bislang eher ein Wegsehen praktiziert hatten oder eine Art ‚Stillhalten‘ blieb ihnen beim Wiederanstieg der Zahlen scheinbar nichts anderes übrig, als zu einem erneuten Lockdown zu greifen. Die unfähigen — da nur einseitig denkenden — Berater waren die gleichen und so ein Lockdown bot immerhin Gelegenheit sich als ‚Fürsorglich‘ für die ‚anvertraute Bevölkerung‘ darzustellen. (Viele anstehenden Wahlen bleiben bei einem normalen Politiker sicher nicht unwirksam: wer will sich nicht in Position bringen? Im Prinzip demokratisch gerechtfertigt, aber die Art und Weise des Handelns ist dadurch nicht festgelegt…) Die ansteigenden Zahlen helfen, Angst und Schrecken zu verbreiten und das Einsperren in private Bereiche erscheint so einfach.

Dass dieses ‚Einsperren‘ und ‚Einschränken‘ zu wirtschaftlichen Dramen und psychologisch bedrohlichen Krisen führen kann und führt, wissen mittlerweile alle. Dass das Verhindern von normaler wirtschaftlicher Tätigkeit die Grundlagen unserer Gesellschaft bedrohen, sollten auch alle wissen. Dass das Hinausschleudern von Milliarden Euro ohne Konzept der Refinanzierung für die Zukunft nichts Gutes verheißt, könnten auch alle wissen. Dass man Ausgaben so tätigen sollte, dass sie unsere Ausgangsposition für die Zukunft mindestens halten, wenn nicht verbessern sollten, das verstehen viele Politiker — insbesondere auch viele Minister — nicht besonders gut.

FALSCHE PROGNOSEN?

Natürlich gibt es nicht erst seit heute Ansätze, die Dynamik der Ausbreitung von Krankheitserregern wissenschaftlich zu erfassen und im Computer zu simulieren (siehe z.B. [3]). Solche Simulationen können hilfreich sein, wenn man sie richtig einsetzt. Das Grundproblem aller Simulationen besteht aber darin, dass sie Annahmen darüber machen müssen, was sie als Ausgangslage und als Eigenschaften möglicher Veränderungen ansehen. Solange es sich bei dem Gegenstandsbereich um Faktoren handelt, die weitgehend deterministisch sind, d.h. sich durch Regeln beschreiben lassen, die wenig Abweichungen (Freiheitsgrade) unterstellen, dann kann eine Hochrechnung mögliche zukünftige Situationen berechnen, die so oder ähnlich mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit eintreten könnten. Sobald aber Faktoren in der Ausgangslage und in den möglichen Veränderungen auftreten, die im Laufe der Zeit stark von den ursprünglichen Annahmen abweichen, dann stimmen diese Hochrechnungen nicht mehr.

Wenn also z.B. Menschen zum Gegenstandsbereich gehören die zu Beginn einer Epidemie aufgrund von Unkenntnis der Situation falsche Verhaltensweisen zeigen (im Fall von Corona z.B. kein Abstand, keine Masken, keine Raumlüftung usw.), dann kann sich der Krankheitserreger u.U. exponentiell verbreiten. Dann können mathematische Modelle entsprechende Hochrechnungen liefern. Sobald die Menschen aber lernen, wie der Krankheitserreger funktioniert, und sie zusätzlich aufgrund ihrer Kreativität und ihrer technologischen Kapazität mögliche Schutzmechanismen erfinden können, verändert sich die Ausgangslage, verändert sich die Dynamik. Dann passt das mathematische Modell nicht mehr; die Hochrechnungen werden grob falsch.

Das Lernen zeigt immer deutlicher auf, dass die Quellen für die Ansteckung vornehmlich die Haushalte sind (60 – 70%) und die Freizeit (ca. 20%). Starke Quellen sind außerdem alle Orte, wo Menschen länger auf engem Raum verweilen müssen (Gefängnisse, Wohnheime, Pflegeheime, bestimmte Typen von Unternehmen, Schulen…). (Siehe z.B. [0] – [2]).

DEMOKRATIE STATT DIKTATUR

Während Diktaturen Menschen, ganze Stadtteile, Städte oder gar Regionen einfach mal weg sperren können, ist dies in Demokratien eigentlich grundsätzlich nicht möglich. Geschieht es doch (z.B. Deutschland, die meisten Länder in Europa), dann ist dies grenzwertig. Das Motto ‚Sicherheit über Freiheit‘ wurde durch terroristische Vorfälle seit spätestens 9/11 stark strapaziert und eine Abgrenzung zu einem totalitären Regime ist in der Situation kaum wirklich möglich. Selbst in Deutschland kann man beobachten, wie die Parlamente erlahmen in der Eingrenzung der staatlichen Übergrifflichkeit gegenüber der Freiheit der Bürger. Corona gehört auch in diesen Kontext. Wenn das erstmalige — mehr oder weniger überraschende — Auftreten von Corona vielleicht noch das eine oder andere entschuldigt haben mag, so ist die Leichtigkeit, mit der solche Lockdowns wiederholt werden — und gleichzeitig Gesetze zu Gunsten der Verfügungsgewalt der Regierung unbemerkt von der Öffentlichkeit verabschiedet werden (Siehe [5], [6]) — besorgniserregend und sollte uns alle wachrütteln.

INGENIEURE KÖNNEN HELFEN

Wie in der Analyse der Übertragungsbereiche und Übertragungswege deutlich wird (Siehe [2]) machen Maßnahmen eigentlich nur Sinn, wenn es (i) ein möglichst klares Bild über diese Bereiche und Wege gibt und (ii) man sich gezielt überlegt, wie man sich im jeweiligen Abschnitt verhalten sollte. Dann besteht sowohl für den einzelnen Bürger, wie auch für die Gesundheitsbehörden, die Möglichkeit, bewusst und angstfrei mit geringem Aufwand damit umzugehen und die Industrie kann gezielt Vorrichtungen entwickeln, die eine alltagsnahe Anti-Corona Strategie unterstützen.

BEISPIEL

Falls jemand schon Corona Viren in sich trägt und zu Hause ist, wird es kaum Schutzmöglichkeiten geben, solange man sich ‚wie üblich‘ verhält. Wenn jemand aber noch kein Virenträger ist, und er verlässt seine Wohnung, dann kann schon das ungelüftete Treppenhaus eines Mehrparteien Hauses ohne Maske zur Risikozone werden (Aerosole können sich sehr lange in der Luft halten (Siehe z.B. [12]-[14]). Sitzt man in seinem Auto wird es erst interessant, wenn man sein Auto wieder verlässt und Firmenräume betritt oder einen Einkaufsbereich (oder ein Restaurant, einen Kunstraum, …). Die primäre Gefahrenquelle ist hier die Übertragung durch die Luft (Stichwort: Aerosole). Gute Masken können hier begrenzt schützen, Lüftung durch das Öffnen von Fenster sind erwiesenermaßen auf Dauer nicht ausreichend; wirkliche Hilfe gibt es erst durch neuere Luftaustauscher, die eine völlige Umwälzung garantieren können.(Siehe [11]). Nach dem Verlassen der Räume empfiehlt es sich, die Hände zu reinigen. Da kaum ein Geschäft oder Büroraum eine zuverlässige Handdesinfektion anbietet, sollte man in seinem Auto über Desinfektionsmittel, auch Tücher, verfügen (im Kofferraum?), um vor dem Weiterfahren Hände und Autoschlüssel zu desinfizieren. Wieder zu Hause sollte man nach dem Betreten als erstes wieder die Hände desinfizieren (Haustür, Treppengeländer, Wohnungstür, …). Alle mitgebrachten Gegenstände zu desinfizieren (speziell bei Lebensmitteln) ist praktisch kaum möglich, oder doch?(Siehe [15])

DIE REGIERUNG SOLL IHREN JOB MACHEN … und wir natürlich auch

Statt also unspezifisch in den Bürgern Ängste zu schüren und flächendeckende Maßnahmen ohne Klärung der Details anzuordnen, sollte die Regierung ihren Job machen und alltagsnah mögliche Übertragungswege identifizieren und die Bürger mit praktischen Ratschlägen und eventuell mit geeigneten Hilfsmitteln unterstützen. Die Beibehaltung des Alltagsbetriebs und zielgerichtete Maßnahmen sind vermutlich effektiver als das aktuelle blinde um sich schlagen.

ALSO

Aktuell kann der Eindruck entstehen, die Regierung macht aus den Bürgern unmündige Kinder, die man nur über Angst und durch stark einschränkende Kontrollmaßnahmen zu ihrem Glück zwingen kann. Sie selbst aber unterlässt viele notwendige Maßnahmen, die aufklären und helfen könnten. Bei geeigneter Aufklärung könnten die Bürger sich leicht selbst helfen, könnten sie darin ihre Würde und ihre Sicherheit als demokratische Bürger zurück finden. Letztlich wird sich die Krise nur lösen lassen, wenn alle mitmachen. Dies erfordert aber einen modernen demokratischen Führungsstil, den die aktuelle Politikergeneration — so der Eindruck — irgendwie nicht zu kennen scheint. Die Demokratie stirbt in der Dunkelheit … ein Leitspruch der Washinton Post aus den letzten vier Jahren …

QUELLEN

(Achtung diese Quellenangaben sind eine kleine Auswahl aus ganz vielen Artikeln, die hier einschlägig sind; ich bin kein Experte für Corona!!!)

[0] orf.at, Die drei Haupttreiber der Pandemie, 22.10.2020 20.00, URL: https://science.orf.at/stories/3202478/

[1] AGES – Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH, URL: https://www.ages.at/themen/krankheitserreger/coronavirus/epidemiologische-abklaerung-covid-19/

[2] The engines of SARS-CoV-2 spread, Elizabeth C. Lee, Nikolas I. Wada, M. Kate Grabowski, Emily S. Gurley and Justin Lessler, Science 370 (6515), 406-407, published: 23.Oct 2020, DOI: 10.1126/science.abd8755

[3] NIH Public Access, Innov J. 2011 ; 16(1): Information Integration to Support Model-Based Policy Informatics, Christopher L. Barrett, Stephen Eubank, Achla Marathe, Madhav V. Marathe, Zhengzheng Pan, and Samarth Swarup, Network Dynamics and Simulation Science Laboratory, Virginia Bioinformatics Institute, Virginia
Tech, Blacksburg, Virginia 24061

[4] Jorda, Oscar, Sanjay R. Singh, and Alan M. Taylor. 2020. „Longer-Run Economic Consequences of Pandemics,“ Federal Reserve Bank of San Francisco Working Paper 2020-09. Available at https://doi.org/10.24148/wp2020-09

[5] URL: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw45-de-terrorismusbekaempfung-802464

[6] zeit-online, Überwachung. Das Wasser kocht schon. Der Bundestag hat mal wieder neue Überwachungsgesetze beschlossen – warum interessiert das niemanden mehr?
Ein Kommentar von Kai Biermann, 6.November 2020

[7] Wissenschaft.de, https://www.wissenschaft.de/umwelt-natur/mit-blaulicht-gegen-bakterien-2/, 29.Januar 2013

[8] MEDILIGHT Press Release : Blue light for chronic wound healingBerlin, May 2017 –Being in its third year, theMEDILIGHT project,whichaims to develop a medical device for professional wound care,already brought about interesting research resultsin itsbiological part. URL: https://www.csem.ch/pdf/46428

[9] scinexx, 3.April 2019, Daniela Albat, Mit blauem Licht gegen Superkeime? Bestrahlung könnte MRSA-Erreger anfälliger für antibakterielle Mittel machen, URL: https://www.scinexx.de/news/medizin/mit-blauem-licht-gegen-superkeime

[10] Advanced science, Adv. Sci. 2019, 6, 1900030, Photolysis of Staphyloxanthin in Methicillin-Resistant Staphylococcus aureus Potentiates Killing by Reactive Oxygen Species,
Pu-Ting Dong, Haroon Mohammad, Jie Hui, Leon G. Leanse, Junjie Li, Lijia Liang, Tianhong Dai, Mohamed N. Seleem, and Ji-Xin Cheng, URL: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/advs.201900030 (Viele weiterführende Literatur, die diesen Artikel zitiert).

[11] Spiegel, 30.10.2020, Jens Radü, Mobile Raumluftfilter – die Winter-Wunderwaffe? Geschlossene Räume sind ein Treiber der Corona-Pandemie. Christian Kähler erforscht, wie sich Aerosole ausbreiten – und erklärt, ob kleine Raumluftfilter zu Hause gegen Viren helfen.

[12] medRxiv preprint doi: https://doi.org/10.1101/2020.08.03.20167395 ; this version posted August 4, 2020: Viable SARS-CoV-2 in the air of a hospital room with COVID-19 patients John A. Lednicky, PhD, Michael Lauzardo, MD, Z. Hugh Fan, PhD, Antarpreet Jutla, PhD, Trevor B. Tilly, PhD, Mayank Gangwar, Moiz Usmani, Sripriya Nannu Shankar, Karim Mohamed, Arantza Eiguren-Fernandez, PhD, Caroline J. Stephenson, Md. Mahbubul Alam, Maha A. Elbadry, PhD, Julia C. Loeb, Kuttinchantran Subramaniam, PhD, Thomas B. Waltzek, PhD, Kartikeya Cherabuddi, MD , J. Glenn Morris, Jr., MD, and Chang-Yu Wu, PhD

[13] medRxiv preprint doi: https://doi.org/10.1101/2020.08.03.20167395 ; this version posted August 4, 2020: Viable SARS-CoV-2 in the air of a hospital room with COVID-19 patients, John A. Lednicky, PhD, Michael Lauzardo, MD, Z. Hugh Fan, Ph, Antarpreet Jutla, PhD,Trevor B. Tilly, PhD, Mayank Gangwar, Moiz Usmani, Sripriya Nannu Shankar, Karim Mohamed Arantza Eiguren-Fernandez, PhD, Caroline J. Stephenson, Md. Mahbubul Alam, Maha A. Elbadry, PhD, Julia C. Loeb, Kuttinchantran Subramaniam, PhD, Thomas B. Waltzek, PhD, Kartikeya Cherabuddi, MD, J. Glenn Morris, Jr., MD, and Chang-Yu Wu, PhD

[14] Eine Schätzmodell für die Verteilung von Aerosolen und ihren Wirkungen auf die Menschen in den Räumen: https://docs.google.com/spreadsheets/d/16K1OQkLD4BjgBdO8ePj6ytf-RpPMlJ6aXFg3PrIQBbQ/edit#gid=519189277 (In diesem Spreadsheet ganz viele Fachliteratur über Links)

[15] Heraeus, UV-Lampen zur Entkeimung. Standard-Niederdrucklampen von Heraeus: URL: https://www.heraeus.com/media/media/hng/doc_hng/products_and_solutions_1/uv_lamps_and_systems_1/uv_niederdruckstrahler.pdf

[16] nature, 10.Nov.2020: This is an unedited manuscript that has been accepted for publication. Nature Research are providing this early version of the manuscript as a service to our authors and readers. The manuscript will undergo copyediting, typesetting and a proof review before it is published in its final form. Please note that during the production process errors may be discovered which could affect the content, and all legal disclaimers apply: Mobility network models of COVID-19 explain inequities and inform reopening, Serina Chang, Emma Pierson, Pang Wei Koh, Jaline Gerardin, Beth Redbird, David Grusky, Jure Leskovec. URL: https://www.nature.com/articles/s41586-020-2923-3

[17] SEIR-Modell, Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/SEIR-Modell

[18] RKI, 20.3.2020, Modellierung von Beispielszenarien der SARS-CoV-2-Epidemie 2020 in Deutschland, an der Heiden, Matthias und Buchholz, Udo, URL: https://edoc.rki.de/handle/176904/6547.2

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VERANTWORTUNGSBEWUSSTE DIGITALISIERUNG: Fortsezung 1

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

So 16.Februar 2020

KONTEXT DEMOKRATIE

In einem vorausgehenden Beitrag hatte ich am Beispiel der Demokratie aufgezeigt, welche zentrale Rolle eine gemeinsame funktionierende Öffentlichkeit spielt. Ohne eine solche ist Demokratie nicht möglich. Entspechend der Komplexität einer Gesellschaft muss die große Mehrheit der Bürger daher über ein hinreichendes Wissen verfügen, um sich qualifiziert am Diskurs beteiligen und auf dieser Basis am Geschehen verantwortungsvoll partizipieren zu können. Eine solche Öffentlichkeit samt notwendigem Bildungsstand scheint in den noch existierenden Demokratien stark gefährdet zu sein. Nicht ausdrücklich erwähnt wurde in diesem Beitrag die Notwendigkeit von solchen Emotionen und Motivationen, die für das Erkennen, Kommunizieren und Handeln gebraucht werden; ohne diese nützt das beste Wissen nichts.

KONTEXT DIGITALISIERUNG

In einem Folgebeitrag hatte ich das Phänomen der Digitalisierung aus der Sicht des Benutzers skizziert, wie eine neue Technologie immer mehr eine Symbiose mit dem Leben der Gesellschaft eingeht, einer Symbiose, der man sich kaum oder gar nicht mehr entziehen kann. Wo wird dies hinführen? Löst sich unsere demokratische Gesellschaft als Demokratie schleichend auf? Haben wir überhaupt noch eine funktionierende Demokratie?

PARTIZIPATION OHNE DEMOKRATIE?

Mitten in den Diskussionen zu diesen Fragen erreichte mich das neue Buch von Manfred Faßler Partizipation ohne Demokratie (2020), Fink Verlag, Paderborn (DE). Bislang konnte ich Kap.1 lesen. In großer Intensität, mit einem in Jahrzehnten erarbeiteten Verständnis des Phänomens Digitalisierung und Demokratie, entwirft Manfred Faßler in diesem Kapitel eine packende Analyse der Auswirkungen des Phänomens Digitalisierung auf die Gesellschaft, speziell auch auf eine demokratische Gesellschaft. Als Grundidee entnehme ich diesem Kapitel, dass der Benutzer (User) in Interaktion mit den neuen digitalen Räumen subjektiv zwar viele Aspekte seiner realweltlichen sozialen Interaktionen wiederfindet, aber tatsächlich ist dies eine gefährliche Illusion: während jeder User im realweltlichen Leben als Bürger in einer realen demokratischen Gesellschaft lebt, wo es der Intention der Verfassung nach klare Rechte gibt, Verantwortlichkeiten, Transparenz, Kontrolle von Macht, ist der Bürger in den aktuellen digitalen Räumen kein Bürger, sondern ein User, der nahezu keine Rechte hat. Als User glaubt man zwar, dass man weiter ein Bürger ist, aber die individuellen Interaktionen mit dem digitalen Raum bewegen sich in einem weitgehend rechtlosen und demokratiefreiem Raum. Die allgemeinen Geschäftsbedingungen kaschieren diesen Zustand durch unendliche lange Texte, die kaum einer versteht; sprechen dem User nahezu alle Rechte ab, und lassen sich kaum bis gar nicht einklagen, jedenfalls nicht in einem Format, das der User praktisch einlösen könnte. Dazu kommt, dass der digitale Raum des Users ein geliehener Raum ist; die realen Maschinen und Verfügungsgewalten liegen bei Eignern, die jenseits der gewohnten politischen Strukturen angesiedelt sind, die sich eher keiner demokratischen Ordnung verpflichtet fühlen, und die diese Verfügungsgewalt — so zeigt es die jüngste Geschichte — skrupellos an jeden verkaufen, der dafür Geld bezahlt, egal, was er damit macht.

Das bisherige politische System scheint die Urgewalt dieser Prozesse noch kaum realisiert zu haben. Es denkt noch immer in den klassischen Kategorien von Gesellschaft und Demokratie und merkt nicht, wie Grundpfeiler der Demokratie täglich immer mehr erodieren. Kapitel 1 von Faßlers Buch ist hier schonungslos konkret und klar.

LAGEPLAN DEMOKRATISCHE DIGITALISIERUNG

Möglicher Lageplan zur Auseinandersetzung zwischen nicht-demokratischer und demokratischer Digitalisierung

Erschreckend ist, wie einfach die Strategie funktioniert, den einzelnen bei seinen individuellen privaten Bedürfnissen abzuholen, ihm vorzugaukeln, er lebe in den aktuellen digitalen Räumen so wie er auch sonst als Bürger lebe, nur schneller, leichter, sogar freier von üblichen analogen Zwängen, obwohl er im Netz vieler wichtiger realer Recht beraubt wird, bis hin zu Sachverhalten und Aktionen, die nicht nur nicht demokratisch sind, sondern sogar in ihrer Wirkung eine reale Demokratie auflösen können; alles ohne Kanonendonner.

Es mag daher hilfreich sein, sich mindestens die folgenden Sachverhalte zu vergegenwärtigen:

  • Verankerung in der realen Welt
  • Zukunft gibt es nicht einfach so
  • Gesellschaft als emergentes Phänomen
  • Freie Kommunikation als Lebensader

REALE KÖRPERWELT

Fasziniert von den neuen digitalen Räumen kann man schnell vergessen, dass diese digitalen Räume als physikalische Zustände von realen Maschinen existieren, die reale Energie verbrauchen, reale Ressourcen, und die darin nicht nur unseren realen Lebensraum beschneiden, sondern auch verändern.

Diese physikalische Dimension interagiert nicht nur mit der übrigen Natur sehr real, sie unterliegt auch den bisherigen alten politischen Strukturen mit den jeweiligen nationalen und internationalen Gesetzen. Wenn die physikalischen Eigentümer nach alter Gesetzgebung in realen Ländern lokalisiert sind, die sich von den Nutzern in demokratischen Gesellschaften unterscheiden, und diese Eigentümer nicht-demokratische Ziele verfolgen, dann sind die neuen digitalen Räume nicht einfach nur neutral, nein sie sind hochpolitisch. Diese Sachverhalte scheinen in der europäischen Politik bislang kaum ernsthaft beachtet zu werden; eher erwecken viele Indizien den Eindruck, dass viele politische Akteure so handeln, als ob sie Angestellte jener Eigner sind, die sich keiner Demokratie verpflichtet fühlen (Ein Beispiel von vielen: die neue Datenschutz-Verordnung DSGVO versucht erste zaghafte Schritte zu unternehmen, um der Rechtlosigkeit der Bürger als User entgegen zu wirken, gleichzeitig wird diese DSGVO von einem Bundesministerium beständig schlecht geredet …).

ZUKUNFT IST KEIN GEGENSTAND

Wie ich in diesem Blog schon mehrfach diskutiert habe, ist Zukunft kein übliches Objekt. Weil wir über ein Gedächtnis verfügen, können wir Aspekte der jeweiligen Gegenwart speichern, wieder erinnern, unsere Wahrnehmung interpretieren, und durch unsere Denkfähigkeit Muster, Regelhaftigkeiten identifizieren, denken, und neue mögliche Kombinationen ausmalen. Diese neuen Möglichkeiten sind aber nicht die Zukunft, sondern Zustände unseres Gehirns, die auf der Basis der Vergangenheit Spekulationen über eine mögliche Zukunft bilden. Die Physik und die Biologie samt den vielen Begleitdisziplinen haben eindrucksvoll gezeigt, was ein systematischer Blick zurück zu den Anfängen des Universums (BigBang) und den Anfängen des Lebens (Entstehung von Zellen aus Molekülen) an Erkenntnissen hervor bringen kann. Sie zeigen aber auch, dass die Erde selbst wie das gesamt biologische Leben ein hochkomplexes System ist, das sich nur sehr begrenzt voraus sagen lässt. Spekulationen über mögliche zukünftige Zustände sind daher nur sehr begrenzt möglich.

Ferner ist zu berücksichtigen, dass das Denken selbst kein Automatismus ist. Neben den vielen gesellschaftlichen Faktoren und Umweltfaktoren, die auf unser Denken einwirken, hängt unser Denken in seiner Ausrichtung entscheidend auch von unseren Bedürfnissen, Emotionen, Motiven und Zielvorstellungen ab. Wirkliche Innovationen, wirkliche Durchbrüche sind keine Automatismen. Sie brauchen Menschen, die resistent sind gegen jeweilige ‚Mainstreams‘, die mutig sind, sich mit Unbekanntem und Riskantem auseinander zu setzen, und vieles mehr. Solche Menschen sind keine ‚Massenware’…

GESELLSCHAFT ALS EMERGENTES PHÄNOMEN

Das Wort ‚Emergenz‘ hat vielfach eine unscharfe Bedeutung. In einer Diskussion des Buches von Miller und Page (2007) Complex Adaptive Systems. An Introduction to Computational Models of Social Life habe ich für meinen Theoriezusammenhang eine Definition vorgeschlagen, die die Position von Miller und Page berücksichtigt, aber auch die Position von Warren Weaver (1958), A quarter century in then natural sciences. Rockefeller Foundation. Annual Report,1958, pages 7–15, der von Miller und Page zitiert wird.

Die Grundidee ist die, dass ein System, das wiederum aus vielen einzelnen Systemen besteht, dann als ein organisiertes System verstanden wird, wenn das Wegnehmen eines einzelnen Systems das Gesamtverhalten des Systems verändert. Andererseits soll man aber durch die Analyse eines einzelnen Mitgliedssystems auch nicht in der Lage sein, auf das Gesamtverhalten schließen zu können. Unter diesen Voraussetzungen soll das Gesamtverhalten als emergent bezeichnet werden: es existiert nur, wenn alle einzelnen Mitgliedssysteme zusammenwirken und es ist nicht aus dem Verhalten einzelner Systeme alleine ableitbar. Wenn einige der Mitgliedssysteme zudem zufällige oder lernfähige Systeme sind, dann ist das Gesamtverhalten zusätzlich begründbar nicht voraussagbar.

Das Verhalten sozialer Systeme ist nach dieser Definition grundsätzlich emergent und wird noch dadurch verschärft, dass seine Mitgliedssysteme — individuelle Personen wie alle möglichen Arten von Vereinigungen von Personen — grundsätzlich lernende Systeme sind (was nicht impliziert, dass sie ihre Lernfähigkeit ’sinnvoll‘ nutzen). Jeder Versuch, die Zukunft sozialer Systeme voraus zu sagen, ist von daher grundsätzlich unmöglich (auch wenn wir uns alle gerne der Illusion hingeben, wir könnten es). Die einzige Möglichkeit, in einer freien Gesellschaft, Zukunft ansatzweise zu erarbeiten, wären Systeme einer umfassenden Partizipation und Rückkopplung aller Akteure. Diese Systeme gibt es bislang nicht, wären aber mit den neuen digitalen Technologien eher möglich.

FREIE KOMMUNIKATION UND BILDUNG

Die kulturellen Errungenschaften der Menschheit — ich zähle Technologie, Bildungssysteme, Wirtschaft usw. dazu — waren in der Vergangenheit möglich, weil die Menschen gelernt hatten, ihre kognitiven Fähigkeiten zusammen mit ihrer Sprache immer mehr so zu nutzen, dass sie zu Kooperationen zusammen gefunden haben: Die Verbindung von vielen Fähigkeiten und Ressourcen, auch über längere Zeiträume. Alle diese Kooperationen waren entweder möglich durch schiere Gewalt (autoritäre Gesellschaften) oder durch Einsicht in die Sachverhalte, durch Vertrauen, dass man das Ziel zusammen schon irgendwie erreichen würde, und durch konkrete Vorteile für das eigene Leben oder für das Leben der anderen, in der Gegenwart oder in der möglichen Zukunft.

Bei aller Dringlichkeit dieser Prozesse hingen sie zentral von der möglichen Kommunikation ab, vom Austausch von Gedanken und Zielen. Ohne diesen Austausch würde nichts passieren, wäre nichts möglich. Nicht umsonst diagnostizieren viele Historiker und Sozialwissenschaftler den Übergang von der alten zur neuen empirischen Wissenschaft in der Veränderung der Kommunikation, erst Recht im Übergang von vor-demokratischen Gesellschaften zu demokratischen Gesellschaften.

Was aber oft zu kurz kommt, das ist die mangelnde Einsicht in den engen Zusammenhang zwischen einer verantwortlichen Kommunikation in einer funktionierenden Demokratie und dem dazu notwendigen Wissen! Wenn ich eine freie Kommunikation in einer noch funktionierenden Demokratie haben würde, und innerhalb dieser Diskussion würden nur schwachsinnige Inhalte transportiert, dann nützt solch eine Kommunikation natürlich nichts. Eine funktionierende freie Kommunikation ist eine notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie, aber die Verfügbarkeit von angemessenen Weltbildern, qualitativ hochwertigem Wissen bei der Mehrheit der Bürger (nicht nur bei gesellschaftlichen Teilgruppen, die sich selbst als ‚Eliten‘ verstehen) ist genauso wichtig. Beides gehört zusammen. Bei der aktuellen Zersplitterung aller Wissenschaften, der ungeheuren Menge an neuem Wissen, bei den immer schneller werdenden Innovationszyklen und bei der zunehmenden ‚Fragmementierung der Öffentlichkeit‘ verbunden mit einem wachsenden Misstrauen untereinander, ist das bisherige Wissenssystem mehr und mehr nicht nur im Stress, sondern möglicherweise kurz vor einem Kollaps. Ob es mit den neuen digitalen Technologien hierfür eine spürbare Unterstützung geben könnte, ist aktuell völlig unklar, da das Problem als solches — so scheint mir — noch nicht genügend gesellschaftlich erkannt ist und diskutiert wird. Außerdem, ein Problem erkennen ist eines, eine brauchbare Lösung zu finden etwas anderes. In der Regel sind die eingefahrenen Institutionen wenig geeignet, radikal neue Ansätzen zu denken und umzusetzen. Alte Denkgewohnheiten und das berühmte ‚Besitzstanddenken‘ sind wirkungsvolle Faktoren der Verhinderung.

AUSBLICK

Die vorangehenden Gedanken mögen auf manche Leser vielleicht negativ wirken, beunruhigend, oder gar deprimierend. Bis zum gewissen Grad wäre dies eine natürliche Reaktion und vielleicht ist dies auch notwendig, damit wir alle zusammen uns wechselseitig mehr helfen, diese Herausforderungen in den Blick zu nehmen. Der Verfasser dieses Textes ist trotz all dieser Schwierigkeiten, die sich andeuten, grundlegend optimistisch, dass es Lösungen geben kann, und dass es auch — wie immer in der bisherigen Geschichte des Lebens auf der Erde — genügend Menschen geben wird, die die richtigen Ideen haben werden, und es Menschen gibt, die sie umsetzen. Diese Fähigkeit zum Finden von neuen Lösungen ist eine grundlegende Eigenschaft des biologischen Lebens. Dennoch haben Kulturen immer die starke Tendenzen, Ängste und Kontrollen auszubilden statt Vertrauen und Experimentierfreude zu kultivieren.

Wer sich das Geschehen nüchtern betrachtet, der kann auf Anhieb eine Vielzahl von interessanten Optionen erkennen, sich eine Vielzahl von möglichen Prozessen vorstellen, die uns weiter führen könnten. Vielleicht kann dies Gegenstand von weiteren Beiträgen sein.

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Verantwortungsbewusste Digitalisierung. Ein erster Versuch

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
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Do 25.Januar 2020

KONTEXT

Am 3.Dezember 2019 fand die Gründungssitzung des hessischen Zentrums für ‚Verantwortungsbewusste Digitalisierung‘ [HZVD] statt. Natürlich stellen sich in diesem Zusammenhang viele Fragen. Der Autor dieses Textes fragt sich z.B., wie er selber die Frage beantworten würde, was denn der Ausdruck ‚Verantwortungsbewusste Digitalisierung‘ meinen könnte bzw. sollte. Im folgenden einige erste Gedanken. Es ist sicher kein Zufall, dass der vorausgehende Beitrag ‚Philosopie der Demokratie‚ (und natürlich viele andere Beiträge aus diesem Blog) mit diesen Gedanken mehrfache Bezüge aufweisen.

KEINER IST DRAUSSEN

Wenn irgendjemand anfängt, über Digitalisierung zu reden, dann ist er heute damit nicht alleine, weil es sich hier um ein wirklich globales Phänomen handelt, das in allen Ländern dieses Planeten auftritt. In einigen mehr, in anderen weniger, aber es ist da, überall: diese Technologie hat sich buchstäblich ‚hineingefressen‘ in alle Bereiche der Gesellschaft. Früher habe ich noch versucht, an dieser Stelle aufzuzählen, wo überall in der Gesellschaft sich Digitalisierung zeigt. Mittlerweile wäre es eher interessant, zu fragen wo eigentlich noch nicht? Wenn selbst schon kleinste Kinder mit digitalisierten Geräten umgehen, als ob es ein eigenes Körperteil ist. Wenn natürliche Verhaltensweisen, Bewegungsmuster, die noch vor ca. 30 Jahren ’normal‘ erschienen, heute schon garnicht mehr bekannt sind, dann ist dies ein sehr tiefgreifendes Anzeichen — und sogar nur eines unter vielen — für Veränderung, die den einzenen erreicht haben, aber in der Summe dann natürlich uns alle betreffen.

JENSEITS VON TECHNOLOGIE

Dieses einfache Beispiel als Indikator für Prozesse, die uns alle betreffen, kann verdeutlichen, dass die sogenannte Digitalisierung auf eine Technologie verweist, die wie keine andere eben nicht einfach nur eine Technologie ist, wie wir sie von ‚früher‘ kennen (vor 70 Jahren von heute rückwärts war die Welt noch ‚in Ordnung‘). Diese Technologie ist anders, sie ist radikal anders. Sie geht mit Menschen, mit ganzen gesellschaftlichen Systemen eine Symbiose ein, durch die sich diese Gesellschaft grundlegend ändert. Digitale Technologien können sich an die Schnittstellen des Menschen anschmiegen, können alle Äußerungen eines Menschen quasi aufsaugen, sie sich einverleiben, und dann irgendwo und irgendwann wieder ausspucken in einer Weise, die mit dem Ursprung nichts mehr zu tun haben muss. Lebensäußerungen eines Menschen können durch die Symbiose mit der digitalen Technologie beliebig verwandelt werden, und kommen dann als etwas Verwandeltes wieder zurück, zu anderen, die von dieser Verwandlung garnichts merken müssen, oder sogar zum Absender, der es vielleicht auch garnicht merkt, weil es so stark verwandelt hat.

Ich drücke Tasten auf einem Keyboard, und im Kopfhörer höre ich die Klänge eines Orchesters. Ich male ein paar Striche auf einem leeren Bildschirm, und es entstehen wie von Zauberhand Figuren, Landschaften, dreidimensional, sehr natürlich. Ich spreche in ein Mikrofon und ich höre eine Stimme, die die eines anderen sein könnte. Ich setze eine Brille auf und sehe nicht einfach die normale Strasse, sondern zusätzlich Namen von Gegenständen, Namen von Menschen, die an mir vorbei laufen, Namen, die vielleicht falsch sind, Bezeichnungen, die in die Irre führen können. Ich schreibe eine Nachricht an eine Bekannte, und diese Nachricht wird von vielen anderen mitgelesen, während sie als Datenstrom ihren Weg durch das unsichtbare Datennetzwerk nimmt bis hin zum Empfänger. Mein Smartphone liegt auf dem Tisch, ich unterhalte mich mit anderen, und die Mikrophone des Smartphones sind eingeschaltet, nicht von mir, und alles was wir erzählen, geht irgendwohin, von dem wir nichts wissen. Die Sekretärin im Büro schreibt einen Brief, und während sie schreibt wird der gesamte Text mehrfach — unbemerkt — ins Internet verschickt… Kleine Beispiele aus einem Alltag, der uns schon alle ‚hat‘. Die Organisatoren dieses Alltags sind nicht unsere Freunde, sondern Menschen die irgendwo auf diesem Planeten sitzen, und sich beständig überlegen, was sie jetzt am gewinnbringendsten mit diesen Daten machen. Zwischen lupenreiner Diktatur und radikalem Kommerz gibt es hier alles, was wir uns denken können.

TREIBENDE KRÄFTE

Als Bürger eines — noch — demokratischen Staates sind wir gewohnt in Kategorien der Kontrolle von Macht, von Transparenz zu denken, von Grundwerten, von einer sozialen Gesellschaft, in der versucht wird, zwischen den verschiedenen Kräften einen Ausgleich dergestalt herzustellen, dass nicht einzelne Interessengruppen alle anderen dominieren und in undemokratischer Weise beherrschen.

Mit dem Auftreten einer umfassenden Digitalisierung sind diese Spielregeln mittlerweile immer mehr außer Kraft gesetzt; man kann sich mittlerweile fast schon vorstellen, dass diese Spielregeln bei einer weiteren politisch unkontrollierten Digitalisierung ganz außer Kraft gesetzt werden. Dazu muss man nicht einmal eine klassische Revolution durchführen. Es reicht einfach, die Gehirne aller Menschen, die über die Symbiose im Alltag mit der großen universalen digitalen Maschine verknüpft sind, von allen Inhalten und Kommunikationen fern zu halten, die notwendig sind, um sich gemeinsam ein realistisches Bild der gemeinsamen Gesellschaft zu machen. Wenn die berühmte demokratische Öffentlichkeit nicht mehr stattfindet, wenn alle Gehirne unsichtbar voneinander getrennt wurden, weil sie an Datenräume gekoppelt sind, die von demokratiefernen Gruppierungen betrieben und manipuliert werden, dann gibt es keine demokratische Gesellschaft mehr; dann sind die Politiker digital isoliert, hängen selber in digitalen Subräumen, die voneinander nichts mehr wissen, die selber hochgradig manipuliert sein können. Wer kann denn heute noch unterscheiden, ob er mit einem Menschen oder einer Software redet? Nicht nur die Stimme, nein, sogar das gesamte Äußere lässt sich täuschend echt simulieren.

In vielen Ländern Europas, in vielen gesellschaftlichen Gruppen, ist das, was ich hier schreibe, keine Fiktion mehr. Die Menschen sind real über ihr digitale Symbiose von manipulativen digitalen Subräumen so eingenommen, dass für sie eine realitätsgerechte Meinungsbildung nicht mehr möglich ist … was sich politisch konkret auswirkt.

IN DER DIGITALEN SCHLEIFE

Was früher reine Science Fiction Geschichten waren, das erleben wir mittlerweile als weitreichende Realität. Durch die permanente Ankopplung unserer Gehirne an die große digitale Maschine hängen wir schon jetzt in einer Weise von diesem digitalen Pseudo-Raum ab, dass ein Arbeiten ohne ihn faktisch nur noch für Fast-Einsiedler möglich ist. Immer mehr alltägliche Abläufe sind ohne Benutzung eines Smartphones entweder gar nicht oder nur sehr beschwerlich möglich. Unsere Städte, unsere Firmen brechen sofort zusammen, wenn die große digitale Maschine zu stottern anfängt oder wegen Energiemangel still steht. Den immer umfangreicheren Datenmissbrauch (‚Cybercrime‘) übergehen wir mal großzügig. Den gibt es offiziell ja nicht eigentlich, obwohl er ein Ausmaß annimmt, das die digitale Maschine und damit das Leben, das symbiotisch an ihr hängt, immer stärker bedroht.

GROSSE HILFLOSIGKEIT

Bislang ist es noch wenig üblich, einzuräumen, dass die wunderschöne neue Welt des Digitalen vielleicht nicht nur schön ist, dass hinter alltäglicher Bürosoftware, die in ganz Europa in allen Büros benutzt wird, vielleicht ein gigantischer Datenmissbrauch stattfindet, täglich, stündlich, minütlich … solche Gedanken sind verpönt, weil dann ja plötzlich alle Opfer wären…

So muss man feststellen, dass die gesamte Gesellschaft bislang eher den Eindruck einer ‚Hilflosigkeit‘ erweckt, dass sie mehr ‚getrieben‘ wirkt als tatsäch bewusst, verantwortungsvoll handelnd. Flächendeckend ist kein Bürger auf diese rasante Entwicklung wirklich vorbereitet. Ob Schule, Kommune, Gesundheitssystem, Arbeitswelt, … es finden sich kaum hinreichende Kompetenzen, um auf diese Situation qualifiziert, interdisziplinär, im Verbund, nachhaltig zu reagieren. Auch wenn man es nicht wahrhaben will, diese ‚Opferrolle‘ erzeugt unterschwellig viele Ängste, Belastungen, Unwägbarkeiten. Die Chancen einer umfassenden Manipulation von Menschen waren nie größer als heute.

WAS KANN MAN TUN?

Wenn jemand Durst hat und weiß, wo er/ sie etwas zu trinken bekommt — und er/ sie auch über die Mittel vefügt, das Wissen umzusetzen! –, dann holt er sich einfach etwas zu trinken und trinkt.

Wenn wir symbiotisch mit der großen digitalen Maschine leben und wir wollen nicht, dass wir zu einem reinen Spielball digitaler Prozesse werden, die von uns unbekannten Fremden beliebig manipuliert werden können, dann ist die Antwort ganz klar; (i) wir benötigen so viel Wissen als notwendig, damit wir verstehen, was passiert und was wir selbst real tun können, um unser eigenes Ding machen zu können, und (ii) wir benötigen die Kontrolle über alle Ressourcen, die man benötigt, um die große digitale Maschine nach den eigenen Regeln zu nutzen. Ja, und wir brauchen auch (iii) einen für alle bekannten und genutzen gemeinsamen digitalen Raum, den wir als demokratische Bürger eines digitalen Staates nutzen, um uns gemeinsam eine Meinung darüber bilden zu können, was wir gemeinsam wollen. Gibt es diesen gemeinsamen Raum nicht, nützt uns unser individuelles Wissen nicht viel. Gibt es die Kontrolle über die Ressourcen nicht, bleiben wir ohne Wirkung; wir können uns nicht einmal artikulieren. Fehlt uns das Wissen, wissen wir erst garnicht, was wir tun können oder sollten.

ENDE OFFEN

Ob wir als demokratische Gesellschaft es schaffen, uns gemeinsam ein Bild der Lage zu verschaffen, was angemessen ist, was wir miteinander teilen, ob wir in der Lage sind, genügend Kräfte zu mobilisieren, die Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen, ob wir genügend gute Ideen haben werden, zukünftige Prozesse nachhaltig zu gestalten, das entscheidet sich im Alltag, an dem jeder auf seine Weise mitwirkt. Glücklicherweise ist die Realität in Europa und Deutschland noch nicht ganz so schwarz, wie ich es im vorausgehenden Text gezeichnet habe. Aber die aktuellen Tendenzen lassen alle Optionen real erscheinen: wir können gemeinsam in einen digitalen Nihilismus abdriften, der von wenigen anonymen Kräften genutzt wird, oder wir können alles in einen digitalen Konstruktivismus verwandeln, in dem wir die große digitale Maschine bewusst und kraftvoll für unsere gemeinsam geteilte Zukunftsvision nutzen. Aber die brauchen wir dann auch, eine gemeinsam geteilte Zukunftsvision. Mit Wegschauen, übergroßer Korrektheit, reinem Sicherheitsdenken, und Kontrollwahn wird es keine lebbare Zukunft geben. Den homo sapiens –also uns — gibt es nur, weil das biologische Leben in 3.5 Mrd. Jahren immer auch ein Minimum an Unangepasstheit und Verrücktheit vorgelebt hat, und dadurch ein frühes Aussterben verhindert hat. … für die ewigen Pessimisten ein permanenter Stein des Anstoßes… ein Pessimist empfindet die bloße Tatsache des Lebens als Zumutung: verantwortungsvoll handeln, selbst handeln, mit all den Risiken: Igitt es könnte ja schief gehen …. Ja, es kann schiefgehen, das genau charakterisiert biologisches Leben, das aus Freiheit erwächst… Leben ist niemals fertig, sondern muss sich permanent weiter finden, er-finden! Das ist nichts für Angsthasen oder für die ewigen Weltverschwörer…

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PHILOSOPHIE DER DEMOKRATIE. Blitzkurs

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Do 23.Januar 2020

PROBLEMSTELLUNG

In der aktuellen Gegenwart treffen zwei große Strömungen zusammen: (i) Das Gefühl der meisten Menschen, der scheinbaren Komplexität des Alltags nicht mehr gewachsen zu sein, nicht mehr durchzublicken; ein Gefühl der Ohnmacht und Hilfslosigkeit. (ii) Zugleich der Eindruck, dass unser politisches System dieser Aufgabe auch nicht mehr gewachsen zu sein scheint. Fehler häufen sich, ein Ausmaß an intransparentem Lobbyismus, der beunruhigt. Dazu eine zunehmende Verweigerung von Politikern, sich der allgemeinen Presse, den öffentlichen Medien zu stellen.

EINE BRILLE AUFSETZEN

Arbeitshypothese zur Struktur der Demokratie, V1

Verallgemeinert man den Allgemeinplatz, dass der Pessimist das halb volle Glas als halb leer ansieht und der Optimist als halbvoll, dann hängt das Bild, das wir von der Wirklichkeit haben, schon im Ansatz davon ab, wie wir mit unserem bisherigen Wissen und mit unserer Grundeinstellung die Welt sehen wollen bzw. sehen können.

Im Fall unserer Gesellschaft, die sich als Demokratie versteht, hinterlegt im Grundgesetz, ist natürlich nicht ganz unwichtig, wie wir auf das Gebilde drauf schauen. Speziell dann nicht, wenn Menschen an allem zu zweifeln beginnen und einige sich die Frage stellen, was können bzw. was müssen wir tun, um unsere Demokratie zukunftsfähig zu machen.

Im obigen Schaubild sind einige Kernelemente hervorgehoben, die nach Ansicht des Autors fundamental sind. Ohne die ist Demokratie prinzipiell unmöglich.

DEMOKRATIE IST ANSPRUCHSVOLL

Schon auf den ersten Blick erscheint die Gesellschaftsform der Demokratie als sehr anspruchsvoll ist. Und es ist von daher vielleicht kein Zufall, dass es seit den Griechen — je nach Zeiteinteilung — an die 2000 Jahre gedauert hat, bis es moderne Gesellschaften gab, die das ansatzweise hinbekommen haben (wobei wir die ca. 600.000 Jahre Vorgeschichte des homo sapiens mal großzügig ausklammern).

KOGNITIVER FAKTOR

Und da wir uns hier im Kontext eines Philosophie-Wissenschaftsblogs befinden, sollte es auch nicht wundern, dass wir uns hier auf die kognitiven Aspekte der Demokratie konzentrieren und Faktoren wie materielle Prozesse, Macht, Besitz usw. ausklammern (aber nicht vergessen).

Die Betonung der sogenannten kognitiven Faktoren hängt damit zusammen, dass der Mensch als Lebensform homo sapiens über die Besonderheit verfügt, dass er die umgebende reale Körperwelt über seine Sinnesorgane im Innern seines Körpers durch das Gehirn in einer Weise verarbeiten kann, dass er erlebte Gegenwart nicht nur partiell abspeichern und auf vielfache Weise — weitgehend unbewusst, vollautomatisch — verarbeiten kann, sondern er kann zudem auf der Basis seiner inneren Zustände über mögliche alternative Zustände nachdenken und sein Handeln daran versuchsweise ausrichten. Dank der Sprache kann ein einzelnes Gehirn mit anderen Gehirnen Kontakt aufnehmen und sich im beschränkten Umfang über seine inneren Zustände austauschen und sich mit anderen koordinieren.

Was immer also ein Mensch tun will, er hängt von diesen seinen inneren Bildern ab.

Jetzt wird natürlich jeder sofort einwerfen, dass der Mensch doch ein soziales Wesen sei und sich untereinander austauscht und dadurch mehr weiß als er nur für sich alleine wissen könnte.

Dies ist nicht ganz falsch. Aufgrund seiner Fähigkeit zur Wahrnehmung der Umwelt — und auch seiner inneren Umwelt wie seine inneren Körperzustände (Hunger, Durst, Müdigkeit, sexuelle Erregung, Angst, …) — kann er natürlich auf seine Umgebung reagieren. Und es ist ja gerade die Umwelt, die ihre Spuren im Innern hinterlässt. Aber dennoch sind es dann die individuellen inneren Zustände zu einem bestimmten Zeitpunkt, die darüber entscheiden, wie man Dinge wahrnimmt und was man für möglich hält. Und wie jeder aus seiner eigenen Alltagserfahrung verifizieren kann, Menschen tendieren mit wachsendem Alter dazu, bestimmte Bilder in sich zu verfestigen und die Bereitschaft, etwas von außen, von anderen aufzunehmen, nimmt ab. Dieses sich kontinuierlich verfestigende Wissen im einzelnen ist notgedrungen unvollständig und wird im Laufe der Zeit nicht wirklich besser, eher schlechter. Die Übereinstimmung mit der realen Umgebung wird dadurch immer schwieriger. Die Momente der Irritation und Fremdheit nehmen zu. In der darin aufkommenden Unsicherheit fühlt man sich wohl, wenn es auch andere gibt, die die eigenen Bilder von der Welt — mögen sie auch noch so unpassend (‚falsch‘) sein — teilen.

ÖFFENTLICHKEIT

Eine der Möglichkeiten, gegen eine innere kognitiven Vergreisung vorzubeugen, ist die aktive Teilnahme an einer funktionierenden Öffentlichkeit, in der eine Vielzahl von Journalisten und Experten in Zusammenarbeit mit allen Bürgern versuchen, die aktuell wichtigen Faktoren und Prozesse der aktuellen Gesellschaft vorzustellen und zu erläutern. Sofern es eine solche Öffentlichkeit gibt, die von einer hinreichend großen Zahl von Bürgern aktiv wahrgenommen wird, besteht zumindest im Ansatz die Chance, dass eine hinreichende Mehrheit von Bürgern kontinuierlich qualitativ mit einem aktuellen Weltbild ausgestattet sein könnte.

Es gibt allerdings viele Anzeichen dafür, dass genau diese Öffentlichkeit in Deutschland immer weniger existiert (übrigens nicht nur nicht in Deutschland; Deutschland ist aber trotz aller Schwächen möglicherweise noch eines der Länder mit der besten funktionierenden Öffentlichkeit). Die Beschreibung dieser Schwachstellen würde ein eigenes Buch benötigen. Hier soll nur darauf aufmerksam gemacht werden, dass eine funktionierende Öffentlichkeit für eine Demokratie lebensnotwendig ist und das im Falle von schwächelnden Momenten alles getan werden müsste, dem abzuhelfen. Ohne eine funktionierende Öffentlichkeit ist eine Demokratie tot bevor sie dann tatsächlich abstirbt.

WISSEN DURCH BILDUNG

Historisch ist klar belegt, dass komplexere Gesellschaften erst dann entstehen konnten, als die Ausbildung der jungen Generation besser wurde, vorbereitet und begleitet durch die Entwicklung von Wissen in immer anspruchsvolleren Wissensprozessen (Hochschulen, Forschung, begleitende Technologien, ..).

Und jeder kann in seinem eigenen Leben direkt nachvollziehen, dass er letztlich nur das sinnvoll tun kann, was er einigermaßen gelernt hat (alle Handwerksberufe, alle Technikerberufe, Landwirtschaft, Straßenbau, Kanalisation, Energieversorgung, …). Die rasant steigende Differenzierung in der heutigen Gesellschaft, das hohe Tempo an Innovationen, die Verlagerung von Knowhow aus dem lokal-regionalen zu überregional-globalen Zentren, dies sind nur einige Faktoren, die das klassische Bildungssystem immer mehr überfordern (und da reden wir noch nicht von der immer größeren Bandbreite der Voraussetzungen bei den Schulkindern, die aus unterschiedlichsten Milieus kommen, die von notgedrungen überforderten Lehrern unterrichtet werden sollen, die von den Kultusbürokratien buchstäblich allein gelassen werden).

Dazu kommt dass die Wissenschaft als quasi Leitsystem in dieser Funktion immer mehr versagt. Die Wissenschaft erstickt an sich selbst, um ein Bild zu gebrauchen. Ein Schnelltest mit einer randomisierten Gruppe von Wissenschaftlern würde zeigen, dass es zur Zeit gar keinen Konsens mehr gibt, was Wissenschaft überhaupt ist. Folgende Faktoren sind besonders auffällig: (i) die immer größere Zahl an spezialisierten Feldern und Subfeldern zusammen mit einer ansteigende Flut an Publikationen macht es mehr oder weniger unmöglich, ernsthaft zu bewerten, ob ein Beitrag wirklich ‚gut‘ ist. Wo sollen die Gutachter herkommen, die den größeren Überblick haben? (ii) Dem Ruf nach Interdisziplinarität steht entgegen, dass es keine fach-übergreifende, allgemein akzeptierte Methodik gibt, wie man Teilfragmente zu einer größeren, höher integrierten Theorie zusammen setzt; es fehlt schon schlicht an einer geeigneten Sprache dafür. (iii) Überall nehmen nicht-wissenschaftliche Kräfte (speziell auch die Politik) Einfluss auf die Wissenschaft, was zur Folge hat, dass immer weniger das geforscht wird, was man eigentlich erforschen müsste, sondern immer mehr nur das, was der Politik in ihrem kurzfristigen Tagesgeschäft passt. (iv) Ein negativer Begleiteffekt ist, dass Wissenschaftler gezwungen werden, sich immer mehr als Konkurrenten zu betrachten anstatt als jene Gruppe in der Gesellschaft, die versucht vorbildhaft gemeinsam die großen Probleme anzugehen, die man schlicht nicht alleine oder als kleine Gruppe lösen kann.

Im Kontext einer Demokratie ist dieses wissenschaftsinterne Problem letztlich eine Bedrohung für die Demokratie, weil die Wissenschaft eine der wichtigsten Quellen für eine Weltorientierung darstellt (wenn sie denn funktioniert), die über alle Bildungssysteme und über die Öffentlichkeit dem Bürger helfen soll, sein eigenes Weltbild aktuell zu halten, um den Anforderungen der Welt — und der nahenden Zukunft — zu genügen. Wissenschaft ist nichts für den elitären Elfenbeinturm, sondern ist der Wissensgrundstoff, den eine Demokratie in den Köpfen aller Bürger notwendig braucht! Dass es heute fast zum alltäglichen Ritual politischer Gremien zu gehören scheint, wissenschaftliche Gutachten großzügig beiseite zu schieben, wenn es den eigenen (woher inspirierten) Interessen zuwider läuft, ist ein wichtiger Faktor für den Verfall von Demokratie.

ALLTAG

Im Idealfall funktionieren unsere Bildungsprozesse, die Öffentlichkeit ergänzt dieses täglich, und die Bürger sind hinreichend im Bilde. In diesem Fall wären die politischen Entscheidungen ‚auf der Höhe der Zeit‘, wären in ihrer Begründung transparent, und jeder wüsste, warum was geschehen soll. Die Möglichkeit, dann Schwachstellen zu erkennen, Unzulänglichkeiten oder gar schwerwiegendere Probleme, wäre relativ hoch. In einer konsequent wissensbasierten Demokratie könnte der Bürger jederzeit auch die verantwortlichen Akteure und die wichtigen Informationen abfragen, rund um die Uhr. Und wenn dies nicht reicht, dann gäbe es kompetente und bürgerfreundliche Informationsstellen, und wenn das nicht reicht, dann gibt es direkten Zugang zu den politisch Handelnden.

KOMPLEXITÄT NEU DENKEN

Es sei hier angemerkt, dass es für eine wissensbasierte Demokratie allerdings nicht ausreichen wird, alles smart zu machen in dem Sinne, dass man Prozesse, die bislang analog waren, nun digitalisiert. Das genau wird nicht reichen. Man wird real neue, leistungsfähigere Wissenstechniken benötigen, die nicht nur eine Datenflut liefern, sondern dem Bürger helfen, sich selbst in seinem Wissen qualitativ zu verbessern. Einen Tipp, wie das geht, findet sich in einem vorausgehenden Blogeintrag.(Anmerkung: dazu gibt es eine ziemlich komplexe Theorie im Hintergrund und ein größeres Anwendungs-Forschungsprojekt des Autors an anderer Stelle).

Der folgende Beitrag beleuchtet die Rolle der Digitalisierung für einen Demokratie kritisch, aber nicht einfach nur ablehnend.

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WEIHNACHTEN – ALS MANTRA – PACKEN WIR ES NEU AN?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Sa 25.Dezember 2019

Audioversion des Textes. Gesprochen von AH, ‚radically unplugged, direkt gesprochen.

KONTEXT

Na ja, wir haben wieder einmal ‚Weihnachten‘: Feiertage, Erinnerungen, Liturgien, Kauf- und Geschenkorgien, viel Essen, viel Süßes, viel Alkohol, Weihnachtsmusik, Weihnachtslieder, Weihnachtsandachten, Weihnachtsmärkte, Weihnachtsdekorationen, so etwas wie einen Weihnachtslook, Weihnachtsbäume mit entsprechendem Schmuck, Weihnachtsessen — mit einem erhöhten Todesfallaufkommen für bestimmte Tierarten –, Weihnachtsfilme mit besonderem Inhalten (Menschen ändern sich, Wunder werden wahr, …) … Dies, und noch viel mehr geschieht, findet statt, ereignet sich, wenn wir von ‚Weihnachten‘ reden.

MANTRA

Seitdem auch Europa immer mehr weiß von asiatischen — speziell buddhistischen — Traditionen und immer weniger von den jüdisch-christlichen Traditionen, die Europa 2500 Jahre tief geprägt haben, wissen viele irgendwie, was ein Mantra ist: ein Bild, ein Wort, ein kurzer Text, eine Art meditativer Gesang, das alles geeignet sein soll, sich selbst als Mensch eine Art Ruhepunkt zu verschaffen, dem man sich zuwenden kann, um das viele andere, das um einen herum und in einem ‚anklopft‘, ‚um Aufmerksamkeit heischt‘, abzuschwächen, um damit besser zur Ruhe zu kommen. Einige sehen in einem Mantra auch noch mehr: den Lauf der Gedanken quasi zu ‚lähmen‘, indem man das Mandra als gedanklichen Widerspruch konzipiert, oder anders, wenn man das Mantra mit einer Art ‚Bedeutungs-Aura‘ versieht, die auf Gedanken, Bilder, Motive, Erfahrungen hinweist, die uns innerlich ‚positiv beeinflussen‘ sollen.

LITURGIE-RITUALE

In der jüdisch-christlichen Tradition gab — und gibt — es solche Mantra-Praktiken auch. Alle Gottesdienste sind geprägt von bestimmten Formen und Symbolen, die in ihrer regelmäßigen Wiederkehr Haltepunkte für das Erleben schaffen sollten, symbolische Fixpunkte setzen, die Gedanken sammeln, Inhalte anregen, assoziieren, Inhalte, die ‚positiv einstimmen‘ sollen. Gebetsketten — wie im späteren Islam! — waren absoluter Standard, Andachtsbilder, Andachtstexte (Gebete, Psalmen, …), Andachtssymbole, spirituelle Lieder, Chorgesänge, liturgische Kleidung, Ruhezeiten, Einkehrtage, Geistliche Übungen,…. wenn man mit den Augen der vergleichenden Religionswissenschaft schaut, gibt es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen allen großen Religionen, weil der Mensch in allen Religionen der gleiche ist. Statt aber diese Gemeinsamkeit zu sehen, heraus zu arbeiten, daran gemeinsam zu arbeiten, gefallen sich die bekannen Religionen eher darin, die Unterschiede zu betonen, das Besondere …Was zu einem Stillstand führt, zur Erstarrung, zur Unbeweglichekit, zu Denkverboten …

WEIHNACHTEN ALS MANTRA

Das Weihnachtsfest als wiederkehrendes Ereignis hat sich von seinen religiösen Wurzeln stark abgelöst: es findet mittlerweile auch dort statt, wo die ‚angeborene Kultur‘ eigentlich nichts mit Weihnachtern zu tun hatte; es findet in ursprünlich jüdisch-christlichen Kulturräumen statt mit immer weniger Bezug zum eigentlich religiösen Thema. Auch wenn man vielleicht nicht mehr ‚offiziell religiös‘ ist, offiziell keiner Kirche mehr angehört, oder doch formal angehört aber nicht mehr wirklich ‚praktiziert‘: kirchliche Weihnachtsfeiern ‚kommen an‘, rühren an das Gemüt. Während man das Krippenspiel den Kindern überlässt, widmen sich die Erwachsenen dem Thema ‚Menschlichkeit‘ in einem meist sterilen Weltkontext, man hört die Musik gerne, man genießt die Gemeinschaft, die für einen Moment entsteht; ein Hauch von ‚etwas anderem‘, nach dem man sich vielleicht sehnt, von dem man aber nicht so recht weiß, wie man es nennen, wie man es praktizieren soll.

BLICKPUNKTE – WIE MAN SCHAUT

Von der Philosophie und den modernen Wissenschaften können wir lernen, dass ein ‚Phänomen‘ — also etwas, was sich uns darbietet — in seiner ‚Bedeutung für uns‘ entscheidend davon abhängig ist, in welche ‚Beziehung‘, in welchen ‚Kontext‘ wir es einordnen. Ein Phänomen als solches hat keinen Kontext ‚aus sich heraus‘; Kontexte entstehen immer nur in unserer Wahrnehmung, in unserem Denken, aufgrund unserer bisherigen Erfahrung. Jemand, der immer nur in einer Wüste gelebt hat, wird in einem Dschungel lange Zeit ein Problem haben, ebenso auf dem Meer, in der Tundra, im ewigen Eis, und umgekehrt. Ein geborener Landmensch wird mit einer Stadtumgebung zunächst nicht klar kommen, wie umgekehrt ein geborener Städter auf dem Land Probleme haben wird. Ein Deutscher kann an der chinesischen Sprache verzweifeln, ein Chinese am Englischen, Ein US-Amerikaner am Russischen, ein Russe am Arabischen , … Beziehungen, Kontexte, Bedeutungswelten müssen mühsam gelernt werden, und das, was man gelernt hat, das ‚hat man‘, wie so schön gesagt wird; aber — das wird nicht so oft gesagt –, das Gelernte ‚hat auch uns‘! Was immer wir sehen, hören, schmecken …. spontan schlägt das bisher Gelernte zu und bevor wir irgend einen neuen Gedanken fassen können, sagt uns die Erfahrung, wie sie das sieht, was wir gerade sehen. Unsere Erfahrung ‚Legt uns die Biler und Wort in den Mund‘, wie wir etwas sehen sollten. Vielfach ist dies wunderbar, weil wir sonst Handlungsunfähig würden. Manchmal ist dies aber ganz und gar ungut, da wir Abweichungen, Neues aufgrund dieser Automatismen nicht wahrnehmen und — noch schlimmer — zu falschen Einschätzungen kommen können, die uns zu falschem Verhalten anstiften können — was wir aber nicht merken. Wir glauben sogar — meistens — das Richtige zu tun, ganz toll zu sein.

GEWOHNHEITEN ÜBERWINDEN

Wir Menschen haben gelernt — vielleicht noch nicht alle, was sich ändern kann –, dass man einen ‚Blinden Fleck‘ in seiner eigenen Weltsicht am schnellsten erkennen kann, wenn man sich der Meinung anderer Menschen aussetzt, möglichst solchen, die ‚verschieden‘ sind von einem selbst. Dazu reichen bisweilen Besuche bei anderen, Reisen in anderer Gegenden, oder — sehr intensiv — das Arbeiten in einem interdisziplinären Team! Interdisziplinäre Teams bringen Menschen mit garantiert unterschiedlichen Ausbildungen, Erfahrungen, und Vorgehensweisen zusammen. Und da Teams in der Regel ein gemeinsames Problem lösen sollen, können sich die Mitglieder nicht einfach voreinander verstecken, sondern sie müssen ‚ihre Karten auf den Tisch legen‘. Und wenn sich hier Unterschiede zeigen — was normal ist –, dann müssen sie sich mit diesen Unterschieden auseinander setzen. Dies kann schwierig sein, schmerzhaft werden, Unruhe bringen, Emotionen auslösen … das aber ist genau der Stoff, aus dem neue Erkenntnisse erwachsen können, vorausgesetzt, man hat gelernt, dass man sein eigenes Weltbild aufgrund von nachvollziehbaren Gründen, verändern kann (die Tatsache, dass viele Projekte scheitern, weil genau diese Verständigung nicht funktioniert, kann ein Indikator dafür sein, dass wir Menschen genau hierin eine Schwachstelle haben).

JÜDISCH-CHRISTLICHE GEWOHNHEITEN ÜBERWINDEN?

Wissenschaftliche Überzeugungen, kulturelle Muster, religiöse Überzeugungen … sie haben alle gemeinsam, dass man sich ein Geflecht von Verhaltensweisen und Blickweisen angeeignet hat, die einem in seinem Tun leiten.

Während es im Bereich Wissenschaft zumindest grundsätzlich Mechanismen gibt, die dafür sorgen sollen, dass man seine wissenschaftlichen Überzeugungen immer wieder qualifiziert überprüfen lässt und selbst überprüft (auch wenn die Geschichte zeigt, dass die Wissenschaft nicht immun ist gegen falsche Hypothesen und Manipulationen aus nicht-wissenschaftkichen Motiven heraus), ist dies bei kulturellen oder gar religiösen Überzeugungen schwer bis unmöglich. Ein sehr krasser Fall sind sogenannte Offenbarungsreligionen, speziell die christlchen Kirchen, und hier die katholische und orthodoxe Kirche(n).

Obwohl man einerseits einen sehr hohen, ja geradezu absoluten, Wahrheitsanspruch hat, sind alle typischen Mechanismen der Überprüng ausgespart worden. Im Fall der katholischen Kirche hat man den ‚Offenbarungsprozess‘, der an die historische Person Jesu geknüpft war, mit seinem Tod als für ‚beendet‘ erklärt, und dann die ‚Verwaltung dieser Wahrheiten‘ im Laufe der Jahrhunderte ausschliesslich an einen einzelnen Menschen gebunden, und zwar an jenen, der die ‚Rolle des Papstes‘ innehat. Dieser Vorgang widerspricht allen Erkenntnissen, die die Menschheit bislang über Prozesse der Erfahrung, des Wissens usw. sammeln konnte, und die Geschichte der Institution Kaholische Kirche ist eine schier unfassbare Geschichte von Verbrechen, Missbrauch, Ausbeutung, Unterdrückung, und falschen Weltbildern. Und in den letzten Jahrzehnten, in denen die Katholische Kirche auch in sogenannten demokratischen Gesellschaften existiert, und neben der massiven Benachteiligung von Frauen mit zahlreiche Missbrauchsfälle mit vielen tausend vor allem jungen Menschen in vielen Ländern aufgefallen ist (von anderen Ländern sind durch persönliche Berichte ähnliche Missbrauchsfälle in großem Maßstab bekannt; sie werden aber bislang ‚unter der Decke‘ gehalten), hat sich gezeigt, dass dieses absurde Machtmonopol beim Papst und seiner Verwaltungsorganisation, der Kurie in Rom, bisher alles getan hat, um die Dinge zu vertuschen, klein zu halten, statt aufzuklären, zu heilen. Diese Unfähigkeit zur ‚Selbstheilung‘ erstreckt sich auch auf die eigentliche Glaubenslehre. Obwohl seit gut 150 Jahren eine große Zahl von exzellenten Historikern und Bibelwissenschaftlern die Entstehung der Texte des alten und neuen Testaments (volkstümlich: der Bibel) sowohl kulturgeschichtlich, archäologisch, literaturwissenschaftlich und vieles mehr untersucht und die Linien der tatsächlich Entstehung immer mehr heraus gearbeitet haben, ist von all diesen Erkenntnissen kaum etwas in die offizielle Lehre der Kirche eingeflossen.

Klar ist, dass die so bekannte und beliebte Weihnachtsgeschichte eine spätere theologische Deutung der Vergangenheit des historischen Jesus ist, über deren realen Verlauf man tatsächlich so gut wie nichts weiß. Das Gleiche gilt für die Leidensgeschichte Jesu, insbesondere die Teile, die mit der Auferstehung zu tun haben und der Kirchenbildung. Das sind keine Fakten, sondern das ist pure Spekulation. Während man die Geschichte der Offenbarung mit dem Tode Jesu für beendet erklärt hat (im Nachhinein), wird aber die wunderbare Bekehrung des ungläubigen Saulus zum missionierenden Paulus (aufgrund eines persönlichen Erweckungserlebnisses) als offizielles Ereignis in die kirchliche Lehre übernommen. Viele weitere wichtige Fakten — wie z.B. die wichtige Rollen von Frauen in der frühen Gemeindebildung — , werden großzügig ausgeklammert. Die Frage der Interpretation Jesu — wahrer Mensch, und doch auch irgendwie Gott? — hat mehrere Jahrhunderte die Gemüter bewegt, war mit viel realer Gewalt verknüpft, und war tief geprägt von damaligen philosophischen und auch weniger philosophischen Weltbildern, die von heute aus gesehen, kaum noch haltbar sind. Diese geistigen und militärischen Auseinanersetzungen produzierten das offizielle theologische Mantra: Jesus war ganz und gar Mensch und zugleich Sohn Gottes. Wie man sich dies genau vorzustellen hat, konnte man weder damals noch kann man dies bis heute in irgendeinem Sinne rational aufhellen. Daher musste der Glaube herhalten, eingefordert von einer Institution, die sich gegen jegliche Kritik immunisert hatte, dem Papsttum.

Während also sehr viele Argumente gegen diese monopolisierte autoritäre Machtstruktur sprechen, beruft sich dasjenige Argument, das — ich nenne es mal das ‚Mantra der Macht‘ — immer wieder zur Rechtfertigung dieser unsinnigen Struktur bemüht wird, darauf, dass es gerade diese monopolartige Machtstruktur war, die die Kirche über all die Zeiten hin ‚bewahrt‘ hat; und nicht nur das — und das grenzt für mich an Blasphemie — man sieht in dieser Existenz durch alle Zeiten hindurch einen Hinweis auf den ‚göttlichen Charakter‘ dieser Institution.

Es ist eine Aufgabe der wissenschaftlichen Historiker, das Geflecht an Faktoren zu analysieren, die letztlich die bisherige institutionelle Existenz der katholischen Kirche ermöglicht haben (und es gibt nicht wenige Historiker, auch christliche und gar katholische Historiker, die den Gang der Dinge sehr kritisch sehen). Vor allem, sieht man einmal von der reinen Macht ab, widerspricht der theologische Gehalt der offiziellen katholischen Lehre krass ihren eigenen Quellen, widerspricht allen modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen, und sowohl die Lehre, wie auch die Institution verhindert täglich massiv, dass sich neue Erkenntnisse und menschenfreundliche Praktiken ausbilden können.

Natürlich kann man Teile der Kritik, die ich hier ansatzweise äußere, auch auf andere Religionen anwenden, aber hier geht es mir darum, die Pseudowahrheit des katholischen Monolithen zumindest anzusprechen, denn, die Nicht-Katholiken kümmern sich nicht darum; ihnen ist das egal, und diejenigen, die sich noch Katholiken nennen, haben eine antrainierte Beißhemmung, weil das Mantra der Macht jedem Gläubigen (wie auch in anderen Religionen!) so tief eingeprägt wurde, dass niemand sich traut, wirklich etwas zu sagen oder zu tun, weil man dann glaubt, man würde gegen ‚Gott‘ handeln. Mit ‚Gott‘ hat aber die Institution katholische Kirche nun wirklich nichts zu tun. Für mich verkörpert diese Institution eine Form von praktischem Atheismus. Die einzelnen Gläubigen mögen vielleicht tatsächlich an Gott glauben (darüber zu urteilen steht niemand anderem zu, mir auch nicht), aber die Institution, so wie sie sich offiziell definiert und so, wie sie offiziell agiert, das hat mit Gott nach meinem Verständnis nichts zu tun; diese Institution verhindert eher einen Zugang zu Gott.

AUFKLÄRUNG UND DEMOKRATIE

Die Entstehung der Aufklärung und der Demokratie verlief lange in erbittertem Widerstand zur katholischen Kirche, da die Kircher als gesellschaftsmächtige Institution nicht nur den innerkirchlichen Glauben zu kontrollieren versuchte, sondern alles, auch die weltliche Gesellschaft. Im Gegensatz zum weitverbreiteten Klischee vom christlichen Abendland, das mit Bildung identifiziert wird, war die historische Realität eine deutlich andere: Heilkunst und Medizin waren durch die Kirche geächtet, Bildung gab es nur für Kleriker und nur mit stark selektierten kirchennahen Themen, Wissenschaft war obsolet. Parallel zeigte die damalige islamische Kultur (nicht zu vergleichen mit dem heutigen Islam!) eine massive breite Unterstützung von Schulen für alle, Krankenhäuser für alle, Bejahung von Medizin(kunst), hatte große Bibliotheken mit hundert Tausenden von Büchern zu allen Themen, die es gab (es war eine Ehre, für einen Muslim, Übersetzungen fremden Wissens zu fördern). Nur durch die breite Übersetzung der griechischen Philosophie und Wissenschaft ins Arabische kamen diese Texte später über den Umweg über (das damalige islamische) Spanien wieder nach Europa, wo sie ins Lateinische übersetzt wurden, und dadurch bei den Theologen eine Art Denkrevolution ausgelöst hat.

Aus der Aufklärung entwickelte sich gegen die damaligen autoritären und menschenverachtenden Strukturen (die katholische Kirche gehörte zu diesen autoritären und menschenverachtenden Strukturen!) neue Konzepte von Macht und Menschenrechten. Durch verschiedene Metamorphosen (Frankreich, Nordamerika, Europa, … Vereinte Nationen nach zwei verheerenden Weltkriegen) entstand die Deutsche Demokratie, in der die neuen Grundwerte die Frucht dieser Kämpfe aus vielen Jahrhunderten waren. Dass eine moderne Demokratie den alten menschenverachtenden autoritären religösen Traditionen Religionsfreiheit gewährt, ist nicht unbedingt selbstverständlich, um so weniger, als diese religiösen Institutionen ihr völlig inakzeptables Wahrheits- und Machtverständnis im Schutze der Demoktatie dazu benutzen dürfen, die Grundlagen von Wissenschaft und Demokratie dadurch in Frage zu stellen, dass ein Weltbild vermittelt wird, das verhindert, dass die ‚Offenbarung des Lebens‘ als solche überhaupt zur Kenntnis genommen werden kann.

Religionsfreiheit ist eine großartige Errungenschaft moderner demokratischer Gesellschaften; sie stellt ein sehr hohes Rechtsgut dar. Es wäre aber fatal, aufgrund der Religionsfreiheit den grundlegenden Wahrheitsanspruch einer menschlichen Gesellschaft abzuschwächen oder gar durch Tabuisierungen in Frage zu stellen. Damit würde sich eine Demokratie über die Hintertreppe selbst entsorgen!

Fragt sich nur, wie die Anforderung der Wahrheit unter Wahrung von Religionsfreiheit praktiziert werden kann bzw. muss?

Folgende Erfahrung hat mich vor einigen Jahren geschockt: ausnahmsweise fuhr ich zu einer bundesweiten Veranstaltung einer bekannten politischen Partei in Deutschland (sie fand statt in einem Landtagsgebäude). Es ging um die Frage der Religionsfreiheit. In der Veranstaltung stellte ich fest, dass alle offiziellen Redner irgendwelchen religiösen Vereinigungen angehörten, während die ’nicht-religiösen‘ Vertreter — die sogenannten Säkularen — keine offiziellen Rederechte hatten! Gefragt, warum dies so sei, kam die prompte Antwort von den religiösen Vertretern, die Säkularen hätten sich halt nicht organisiert…. Demokratie geht eigentlich ein bisschen anders … und, wie weit ist unsere säkularisierte Demokratie, wenn die Überwindung des engen religiösen Denkens ‚unmodern‘ ist, sich rechtfertigen muss, während die religiösen Institutionen (obwohl statistisch mittlerweile Minderheiten) mit dem Geld der Bürger ihre privaten Anschauungen finanzieren?

PACKEN WIR ES NEU AN?

Begründete Kritik zu üben ist zwar nicht ganz einfach, aber da viele, sehr viele Menschen ihre grundlegende Hoffnung auf das Leben, in Richtung eines umfassenden, tieferen Sinns noch immer mit diesen gewordenen Strukturen verknüpfen, kann die eben geäußerte Kritik für manche wie ein Angriff auf ihre persönlichen Sinnhorizonte wirken. Das aber ist nicht Sinn dieser Kritik. Im Gegenteil, gerade unter Bejahung der menschlichen Sinnsuche erweist sich die Notwendigkeit einer kritischen Betrachtungsweise, um dem angeborenen Sinnbedürfnis den Raum, und die Gegenstände zugänglich zu machen, die für ein umfassendes Verständnis des Lebens im bekannten Universum notwendig sind. Leider ist das Bild vom Leben im Universum selbst von den Wissenschaften bislang sehr ungenügend entwickelt. Das alte Bild des Menschen wurde zwar wissenschaftlich weitgehend pulverisiert, aber eine neue Synthese lässt noch auf sich warten … in Ermangelung eines solchen Bildes alte, unangemessene Bilder hoch zuhalten, nur weil ein ‚Vakuum‘ so unbeliebt ist, kann und darf nicht die letzte Antwort sein. Bislang hat Verweigerung von Wahrheit in der Geschichte immer zum Scheitern geführt. 2000, 3000 Jahre spielen da keine Rolle. … nun ja, vielleicht ist eine sich wiederholende Kritik die berühmte Glut in der Asche, die jederzeit zu einem neuen Feuer aufflammen kann.

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SEITENSPRUNG: Demographie und Philosophie?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 7.-9.April 2019
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

In den letzten Beiträgen dieses Blogs ging es oft um das Thema Freiheit und die Werte = Präferenzen, die man benötigt, um mit seiner Freiheit eine Richtung einzuschlagen, die dann — vielleicht — Zustände ermöglicht/ erreicht, die im Sinne der Präferenzen gut sind. Zugleich ging es auch um Rahmenbedingungen, die eine Umsetzung der Freiheit ermöglichen oder behindern. Dies mag auf den ersten Blick abstrakt klingen. Hier eines von vielen Beispielen, wie diese Überlegungen sehr schnell sehr konkret werden können. In den letzten Tagen hatte ich zu Übungszwecken (ganz anderer Zusammenhang) ein kleines Computerprogramm geschrieben, das sich auf den ersten Blick mit etwas völlig Unbedeutendem beschäftigt, was sich mit nur drei Zahlen beschreiben lässt. Während ich das tat, merkte ich, dass diese drei Zahlen alles andere als unbedeutend sind, ja, dass sie sogar geradezu eine ‚philosophische Aura‘ besitzen, die viele der Grundfragen, die in diesem Blog schon diskutiert wurden, in einem anderen Licht erscheinen lassen. Diese Eindrücke führten zu diesem Blogeintrag.

PYTHON – Nur Python

Die Programmiersprache des kleinen Computerprogramms war python und das Übungsproblem war die Bevölkerungsentwicklung, allerdings fokussiert auf den minimalen Kern, der nur drei Größen (letztlich Zahlen) berücksichtigte: die aktuelle Bevölkerungsanzahl (p), die jährliche Geburtenrate (br, birthrate) umgelegt auf die Gesamtbevölkerung, und die jährliche Sterberate (dr, deathrate). Diese drei Größen wurden verbunden durch den einfachen Zusammenhang p’=p+(p*br)-(p*dr). (Für die Beschreibung des Programms sowie den Quellkode des Programms selbst siehe die Seite hier mit den ersten fünf Einträgen).(Anmerkung: es geht natürlich noch einfacher, nur die aktuelle Bevölkerungszahl p sowie die gemittelte Wachstumszahl g).

WELTBEZUG?

Was in der Computersprache nur drei verschiedene Zeichenketten sind {‚p‘, ‚br‘, ‚dr‘}, die als Namen für Speicherbereiche dienen, in die man irgendwelche Werte hineinschreiben kann, kann man in Beziehung setzen zur Ausschnitten der realen Welt (RW). Durch diese In-Beziehung-Setzung gibt man den neutralen Zeichenketten eine Interpretation. Im vorliegenden Fall wurde die Zeichenkette ‚p‘ betrachtet als Ausdruck, der die Anzahl der aktuell auf der Welt lebenden Menschen repräsentieren soll. Entsprechend die Zeichenkette ‚br‘ die jährliche Geburtenrate und die Zeichenkette ‚dr‘ die jährliche Sterberate.

Wenn man die entsprechenden Zahlen hat, ist einen Rechnen damit einfach. Wenn man im Computerprogramm — ein ganz normaler Text — den Zusammenhang p’=p+(p*br)-(p*dr) notiert hat, dann kann der Computer mit diesen Zeichenketten ganz einfach rechnen. Sei P=1000, br=1.9 und dr=0.77, dann liefert der Zusammenhang p‘ = 1000 + (1000 * 0.019) – (1000 * 0.0077) = 1000 + 19 – 7.7 = 1011.3, und da es keine Drittel-Menschen gibt wird man abrunden auf 1011. Dies bedeutet, im nachfolgenden Jahr wächst die Bevölkerungszahl um 11 Mitglieder von 1000 auf 1011.

DATENGEWINNUNG

Eine Institution, die seit 1948 begonnen hat, systematisch die demographischen Daten der Weltbevölkerung zu erheben, sind die Vereinigten Nationen (UN). Eine wichtige Seite zur Bevölkerungsentwicklung findet sich hier: http://data.un.org/Default.aspx Für jedes Jahr gibt es dann eine Aktualisierung mit einer Vielzahl von Tabellen, die sehr viele wichtige Parameter beleuchten: https://population.un.org/wpp/Download/Standard/Population/

Beschränkt man sich auf die drei Größen {p, br, dr}, dann kann man anhand dieser Tabellen z.B. folgenden Ausgangsgrößen für die absoluten Bevölkerungszahlen p der Welt von 2010 bis 2015 bekommen:

201020112012201320142015
6 958 169 7 043 009 7 128 177 7 213 426 7 298 4537.383.009

Dazu gibt es als allgemeine Geburtsrate (BR) und Sterberate (DR) für die Zeit 2010 – 2015: BR = 1.9% und BR = 0.77%.

Vertieft man sich in diese Tabellen und die vielen Anmerkungen und Kommentare, wird sehr schnell klar, dass es bis heute ein großes Problem ist, überhaupt verlässliche Zahlen zu bekommen und dass das endgültige Zahlenmaterial daher mit Unwägbarkeiten behaftet ist und nicht ohne diverse Schätzungen auskommt.

DATEN HOCH RECHNEN

Tut man aber für einen Moment mal so, als ob diese Zahlen die Weltwirklichkeit einigermaßen widerspiegeln, dann würde unser kleines Computerprogramm (Version: pop0e.py) folgende Zahlenreihen durch schlichtes Rechnen generieren:

  • Population number ? 6958169

  • Birthrate in % ? 1.9

  • Deathrate in % ? 0.77

  • How many cycles ? 15

  • What is your Base Year ? 2010

  • Year 2010 = Citizens. 6958169

  • Year 2011 = Citizens. 7036796

  • Year 2012 = Citizens. 7116312

  • Year 2013 = Citizens. 7196726

  • Year 2014 = Citizens. 7278049

  • Year 2015 = Citizens. 7360291

  • Year 2016 = Citizens. 7443462

  • Year 2017 = Citizens. 7527573

  • Year 2018 = Citizens. 7612635

  • Year 2019 = Citizens. 7698658

  • Year 2020 = Citizens. 7785653

  • Year 2021 = Citizens. 7873630

  • Year 2022 = Citizens. 7962602

  • Year 2023 = Citizens. 8052580

  • Year 2024 = Citizens. 8143574

  • Year 2025 = Citizens. 8235596

Bild 1: Einfacher Plot der Bevölkerungszahlen von Jahr 1 = 2010 bis Jahr 16 = 2025 (man könnte natürlich die Beschriftung der Achsen erheblich verbessern; zur Übung empfohlen :-))

MÖGLICHE FRAGEN

An dieser Stelle sind viele Fragen denkbar. Mit Blick auf das Freiheitsthema bietet es sich an, den Begriff der Geburtenrate näher zu betrachten.

Geburtenrate und Frauen

Die Geburtenrate hängt (aktuell) von jenen Frauen ab, die Kinder gebären können und dies — unter den unterschiedlichsten Umständen — auch tun. Wie aber die Zahlen aus der Vergangenheit zeigen und wie man aufgrund seiner eigenen Lebenserfahrung weiß, schwanken die Zahlen der Geburten von Gegend zu Gegend, innerhalb des Zeitverlaufs. Es gibt vielfältige Faktoren, die die Anzahl der Geburten beeinflussen.

Dynamik der Evolution

Der grundlegende Faktor ist sicher, dass die biologische Evolution im Laufe von 3.8 Mrd. Jahren bis vor kurzem noch keine andere Lösung für die menschliche Fortpflanzung gefunden hatte als eben die heute bekannte: Befruchtung der Frau und Austragen des befruchteten Eis durch eben die Frau.

Biologisch induzierte gesellschaftliche Rollen

In der Vergangenheit bedeutete dies, dass die weiblichen Exemplare des Homo sapiens generell eine besondere gesellschaftliche Funktion innehatten, da ihre Gebärfähigkeit unabdingbar für das Überleben der jeweiligen Population war. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass diese überlebenswichtige Funktion gesellschaftlich mit einer Fülle von gesellschaftlichen Normen und Verhaltensmustern abgesichert wurde. Letztlich waren die Frauen dadurch Gefangene der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse und der hohe Anteil an frauenunterdrückenden Elementen in allen Kulturen dieser Welt ist von daher kein Zufall. Dass die Religionen in allen Zeiten und in allen Kulturen dazu instrumentalisiert wurden, die gesellschaftliche Reglementierung der Frauen zu unterstützen, spricht nicht für diese sogenannten Religionen.

Evolutionäres Befreiungspotential

Seit den letzten Jahrzehnten hat die Evolution einen Punkt erreicht, an dem partiell neue Techniken existieren bzw. sich immer mehr als mögliche neue Techniken andeuten, durch die die Fortpflanzung von den Frauen immer mehr losgelöst werden kann, so dass die anhaltende Gefangenschaft der Frauen durch das Gebärprivileg sich lockern oder ganz auflösen könnte. Durch moderne demokratische, säkularisierte und industrialisierte Gesellschaftsformen hat die Befreiung der Frauen aus den klassischen engen Lebensmustern zwar schon begonnen, aber durch die nach hinkende Gebärtechnologie ist die moderne Frau einerseits noch eingebunden in die Gebärverantwortung, andererseits in ein modernes Berufsleben, und die gesellschaftliche Unterstützung für diese Doppelbelastung ist noch vielfach unzureichend.

Veraltete Ethiken

Bislang sind es fragwürdige alte Ethiken, die sich der evolutionären Entwicklung entgegen stellen. Bilder einer statischen Welt werden zum Maßstab genommen für eine Welt, die es so weder jemals gab noch jemals geben wird. Die Welt ist grundlegend anders als die bekannten Ethiken es uns einreden wollen. Neue allgemein akzeptierte Ethiken sind aber aktuell nirgends in Sicht. Die alten Weltbilder haben sich tief in die Gehirne eingenistet. Wo sollen die neuen Sichten herkommen?

Solange die Loslösung der menschlichen Fortpflanzung noch nicht von den Frauen gelöst werden kann, werden sehr viele konkrete Umstände das Entscheiden und Verhalten von Frauen beeinflussen. Je freier eine Gesellschaft wird, je selbstbestimmter eine Frau in solch einer Gesellschaft leben kann, und je mehr einer Frau auch reale materielle Ressourcen zur Verfügung stehen, um so eher wird sie mit entscheiden, ob sie Kinder haben will, wie viele, welche Erziehung, und vieles mehr.

Verunmöglichung von Freiheit

Dass heute Kinder in Situationen geboren werden, wo Armut, Krankheit, Arbeitslosigkeit und vieles mehr unausweichliche Folgen eines unkontrollierten Geborenwerdens sind, ist wohl kaum ethisch zu verantworten. Andererseits verbietet der grundlegende Respekt vor dem Leben, dass Dritte das Leben von anderen ohne deren Zustimmung wegnehmen.

Es obliegt der Gesellschaft als Ganzer, dafür zu sorgen, dass jeder einzelne in die Lage versetzt wird, die richtigen Entscheidungen fällen zu können. Ohne entsprechenden materiellen Aufwand ist eine verantwortlich gelebte Freiheit nicht möglich.

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Populismus – Kultur der Freiheit – Ein Rezept?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 24.März 2019
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

In einem Beitrag vom 7.Februar 2019 hatte ich mir die Frage gestellt, warum sich das alltägliche Phänomen des Populismus nahezu überall in allen Kulturen, in allen Bildungsschichten — eigentlich auch zu allen Zeiten — mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit findet, die einem Angst und Bange machen kann. Und gerade in der Gegenwart scheinen wir geradezu wieder eine Hochblüte zu erleben. In diesem ersten Beitrag hatte ich einige Faktoren angesprochen, die unser normales menschliches Lern- und Sozialverhalten charakterisieren und die genügend Anhaltspunkte liefern, um eine erste ‚Erklärung‘ dafür zu geben, warum das Auftreten populistischer Tendenzen keine Überraschung ist, sondern eben genau in den Strukturen unserer personalen Strukturen als grundlegende Überlebensstrategie angelegt sind. In einem Folgebeitrag am 11.Februar 2019 habe ich diese Gedanken ein wenig weiter verfolgt. Auf die Frage, wie man der starken Verhaltenstendenz des Populismus gegensteuern könnte, habe ich versucht, anhand der Hauptfaktoren des alltäglichen Lernens und der Gruppenbildungen Ansatzpunkte zu identifizieren, die normalerweise die Bildung populistischer Meinungsbilder begünstigen bzw. deren Modifikation dem möglicherweise entgegen wirken könnte. Durch zahlreiche Gespräche und Veranstaltungen der letzten Wochen haben sich die Themen für mich weiter entwickelt bis dahin, dass auch erste Ideen erkennbar sind, wie man den starken Verhaltenstendenzen in jedem von uns möglicherweise entgegen wirken könnte. Gegen Verhaltenstendenzen zu arbeiten war und ist immer sehr herausfordernd.

POPULISMUS – Eine Nachbemerkung

Bislang wird das Thema ‚Populismus‘ in der Öffentlichkeit tendenziell immer noch wie eine ‚religiöse‘ Frage behandelt, stark versetzt mit ‚moralischen Kategorien‘ von ‚gut‘ und ‚böse‘, mit starken Abgrenzungen untereinander, vielfach fanatisch mit der Bereitschaft, diejenigen mit der ‚anderen Meinung‘ zu bekämpfen bis hin zur ‚Ausrottung‘. Diese Meinungen verknüpfen sich mit Ansprüchen auf politische Macht, oft mit autoritären Führungsstrukturen. Die Frage nach Transparenz und Wahrheit spielt keine zentrale Rolle. Und, falls man zu einer Meinungsgruppe gehört, die ‚anders‘ ist, versteht man selten, warum die einen jetzt so unbedingt von Meinung A überzeugt sind, weil man selbst doch eher B oder C favorisiert. Das verbal aufeinander Einschlagen und das Demonstrieren mit Gegenparolen ändert an den grundlegenden Meinungsunterschieden wenig; es fördert möglicherweise eher die Abgrenzung, verhärtet die Fronten.

Dies alles ist nicht neu; die vielen blutigen Religionskriege in der Vergangenheit sind nur ein Beispiel für das Phänomen gewalttätiger Populismen; viele weitere Beispiele liesen sich anführen.

Die Tatsache, dass wir heute, im Jahr 2019, nach vielen tausend Jahren Geschichte mit einer unfassbaren Blutspur hervorgebracht durch Meinungsunterschiede, verteufelnden Abgrenzungen, Schlechtreden ‚der Anderen‘, immer noch, und zwar weltweit (!), in diese Muster zurückfallen, ist ein sehr starkes Indiz dafür, dass die Ursachen für diese Verhaltensmuster tief in der menschlichen Verhaltensdynamik angelegt sein müssen. Bei aller Freiheit, die jedem biologischen System zukommt und dem Menschen insbesondere, scheint es genügend Faktoren zu geben, die die Weltbilder in den Köpfen der Menschen in einer Weise beeinflussen, dass sie im großen Maßstab Bilder von der Welt — und darin auch von den anderen und sich selbst — in ihren Köpfen mit sich herumtragen, die sie in maschinenhafte Zombies verwandeln, die sie daran hindern, die Differenziertheit der Welt wahr zu nehmen, komplexe dynamische Prozesse zu denken, mit der Vielfalt und der Dynamik von biologischem Leben, ökologischen und technischen Systemen nutzbringend für das Ganze umzugehen.

Viele kluge Leute haben dazu viele dicke Bücher geschrieben und es kann hier nicht alles ausgerollt werden.

Dennoch wäre eine sachliche Analyse des Populismus als einer starken Verhaltenstendenz äußerst wichtig als Referenzpunkt für Strategien, wie sich die Menschen quasi ‚vor sich selbst‘, nämlich vor ihrer eigenen, tief sitzenden Tendenz zum Populismus, schützen könnten.

Eine Antwort kann nur in der Richtung liegen, dass die jeweilige Gesellschaft, innerhalb deren die Menschen ihr Leben organisieren, in einer Weise gestaltet sein muss, dass sie die Tendenzen zur Vereinfachung und zur überdimensionierten Emotionalisierung im Umgang miteinander im alltäglichen Leben gegen steuern. Für eine angemessene Entwicklung der grundlegenden Freiheit, über die jeder Mensch in einer faszinierenden Weise verfügt, müssten maximale Anstrengungen unternommen werden, da die Freiheit die kostbarste Eigenschaft ist, die die Evolution des Lebens als Teil der Evolution des ganzen bekannten Universums bis heute hervorgebracht hat. Ohne die Nutzung dieser Freiheit ist eine konstruktive Gestaltung der Zukunft im Ansatz unmöglich.

KULTUR DER FREIHEIT – Eine Nachbemerkung

In dem erwähnten Beitrag vom 11.Februar 2019 hatte ich erste Gedanken vorgestellt, welche Faktoren sich aus dem Geschehen der biologischen Evolution heraus andeuten, die man berücksichtigen müsste, wollte man das Geschenk der Freiheit gemeinsam weiter zum Nutzen aller gestalten.

Neben der Dimension der Kommunikation, ohne die gar nichts geht, gibt es die fundamentale Dimension der jeweiligen Präferenzen, der ‚Bevorzugung von Zuständen/ Dingen/ Handlungen …, weil man sich von ihnen mehr verspricht als von möglichen Alternativen.

KOMMUNIKATION

Obwohl die Menschen allein in den letzten 100 Jahren viele neue Technologien entwickelt haben, die den Austausch, den Transport von Kommunikationsmaterial hinsichtlich Menge und Geschwindigkeit dramatisch gesteigert haben, ist damit das zugehörige Verstehen in den Menschen selbst nicht schneller und tiefer geworden. Die Biologie des menschlichen Körpers hat sich nicht parallel zu den verfügbaren Technologien mit entwickelt. Auf diese Weise entstehen völlig neue Belastungsphänomene: zwar kann der Mensch noch wahrnehmen, dass es immer schneller immer mehr gibt, aber diese Überflutung führt nur begrenzt zu mehr Verstehen; überwiegend macht sich heute in dieser Situation ein wachsendes Ohnmachtsgefühl breit, eine Hilflosigkeit, in der nicht erkennbar ist, wie man als einzelner damit klar kommen soll. Die gleichzeitige Zunahme von ‚falschen Nachrichten‘, ‚massenhaften Manipulationen‘ und ähnlichen Phänomenen tut ihr Übriges, um in den Menschen das Gefühl zu verstärken, dass ihnen der Boden unter den Füßen gleichsam weggezogen wird. Wenn sich dann selbst in offiziellen demokratischen Gesellschaften Politiker (und Teile der Verwaltung oder Staatstragenden Institutionen) diesem Stil des Verbergens, Mauerns, geheimer Absprachen und dergleichen mehr anzuschließen scheinen, dann gerät das gesellschaftliche Referenzsystem ganz gefährlich ins Schwimmen. Was kann der einzelne dann noch tun?


PRÄFERENZEN (WERTE)

Der andere Faktor neben der aktuell mangelhaften Kommunikation sind die Präferenzen, nach denen Menschen ihr Lernen und Handeln ordnen. Ohne irgendwelche Präferenzen geht gar nichts, steht jedes System auf der Stelle, dreht sich im Kreis.

Ein Teil unserer Präferenzen ist in unserem Verhalten angelegt als unterschiedliche starke Tendenz eher A als B zu tun. Andere Präferenzen werden innerhalb gesellschaftlicher Systeme durch Mehrheiten, privilegierten Gruppen oder irgendwelche andere Mechanismen ausgezeichnet als das, was in der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppierung gelten soll (im Freundeskreis, in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz, im Strafgesetz, in einer religiösen Vereinigung, …). Zwischen den gesellschaftlich induzierten Normen und den individuellen Verhaltenstendenzen gibt es unterschiedlich viele und unterschiedliche starke Konflikte. Ebenso wissen wir durch die Geschichte und die Gegenwart, dass es zwischen den verschiedenen gesellschaftlich induzierten Präferenzsystemen immer mehr oder weniger starke Konflikte gab, die alle Formen von möglichen Auseinandersetzungen befeuert haben: zwischen kriegerischer Totalausrottung und wirtschaftlich-kultureller Vereinnahmung findet sich alles.

Der Sinn von Präferenzen ist schlicht, dass sich Gruppen von Menschen einigen müssen, wie sie ihre Fähigkeiten am besten ordnen, um für alle einen möglichst großen Nutzen in der jeweiligen Lebenswelt zu sichern.

Der eine Bezugspunkt für diese Regeln ist die Lebenswelt selbst, die sogenannte Natur, die heute mehr und mehr von technologischen Entwicklungen zu einer Art Techno-Natur mutiert ist und — das wird gerne übersehen — zu der der Mensch gehört! Der Mensch ist nicht etwas Verschiedenes oder Getrenntes von der Natur, sondern der Mensch ist vollständig Teil der Natur. Im Menschen werden Eigenschaften der Natur sichtbar, die ein besonderes Licht auf das ‚Wesen‘ der Natur werfen können, wenn man es denn überhaupt wissen will. Der andere Bezugspunkt ist die Welt der Bilder in den Köpfen der Beteiligten. Denn was immer man in einer Lebenswelt tun will, es hängt entscheidend davon ab, was jeder der Beteiligte in seinem Kopf als Bild von der Welt, von sich selbst und von den anderen mit sich herum trägt.

An diesem Punkt vermischt sich die Präferenz-/Werte-Frage mit der Wissensfrage. Man kann beide nicht wirklich auseinander dividieren, und doch repräsentieren die Präferenzen und das Weltwissen zwei unterschiedliche Dimensionen in der Innendynamik eines jeden Menschen.

EIN EPOCHALER WENDEPUNKT?

Fasst man die bisherigen ‚Befunde‘ zusammen, dann zeichnet sich ein Bild ab, dem man eine gewisse Dramatik nicht absprechen kann:

  1. In der Kommunikationsdimension hat sich eine Asymmetrie aufgebaut, in der die Technologie die Menge und die Geschwindigkeit des Informationsmaterials in einer Weise intensiviert hat, die die biologischen Strukturen des Menschen vollständig überfordern.
  2. In der Präferenzdimension haben wir eine mehrfache Explosion im Bereich Komplexität der Lebenswelt, Komplexität der Präferenzsysteme, Komplexität der Weltbilder.
  3. Die Anforderungen an mögliche ‚praktische Lösungen‘ steigen ins ‚gefühlt Unermessliche‘, während die Kommunikationsprozesse, die verfügbaren Weltbilder und die verfügbaren Präferenzen sich immer mehr zu einem ‚gefühlten unendlichen Komplexitätsknäuel‘ verdichten
  4. Alle bekannten Wissenstechnologien aus der ‚Vergangenheit (Schulen, Bücher, Bibliotheken, empirische Wissenschaften, …) scheinen nicht mehr auszureichen. Die Defizite sind täglich immer mehr spürbar.

WAS BEDEUTET DIES FÜR EINE MÖGLICHE NEUE STRATEGIE?

Obwohl die soeben aufgelisteten Punkte nur als eine sehr grobe Charakterisierung der Problemlage aufgefasst werden können, bieten sie doch Anhaltspunkte, in welcher Richtung man suchen sollte.

Ich deute die Asymmetrie zwischen der technologisch ermöglichten Turbo-Daten-Welt und dem individuellen Gehirn mit seiner nenschentypischen Arbeitsweise als eine Aufforderung, dass man die Verstehensprozesse auf Seiten des Menschen deutlich verbessern muss. Wenn jemand über ein — bildhaft gesprochen — ‚Schwarz-Weiß‘ Bild der Welt verfügt, wo er doch ein ‚Vielfarbiges‘ Bild benötigen würde, um überhaupt wichtige Dinge erkennen zu können, dann muss man bei den Bildern selbst ansetzen. Wie kommen sie zustande? Was können wir dazu beitragen, dass jeder von uns die Bilder in den Kopf bekommt, die benötigt werden, wollen wir gemeinsame eine komplexe Aufgabe erfolgreich bewältigen? Einzelne Spezialisten reichen nicht. Ein solcher würde als Einzelgänger ‚veröden‘ oder — viel wahrscheinlicher — auf lange Sicht von der Mehrheit der anderen als ‚Verrückter‘ und ‚Unruhestifter‘ ‚ausgestoßen‘ werden.

Vom Ende her gedacht, von der praktisch erwarteten Lösung, muss es möglich sein, dass die jeweilige gesellschaftliche Gruppe in der Lage ist, gemeinsam ein Bild der Welt zu erarbeiten, das die Gruppe in die Lage versetzt, aktuelle Herausforderungen so zu lösen, dass diese Lösung noch in einem überschaubaren Zeitabschnitt (wie viele Jahre? Auch noch für die Enkel?) funktionieren. Dies schließt eine sachliche Funktion genauso ein wie die Übereinstimmung mit jenen Präferenzen, auf sich die Gruppierung zu Beginn geeinigt hat.

Die Ermöglichung hinreichend leistungsfähiger Bilder von der Welt in allen Beteiligten verlangt auf jeden Fall einen Kommunikationsprozess, bei dem alle Beteiligten aktiv mitwirken können. Nun kennen wir in demokratischen Gesellschaften heute die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligungen aus vielen politischen Bekundungen und auch von zahllosen realen Initiativen. Die reale Auswirkung auf die Politik wie auch die Qualität dieser Beteiligungen ist bislang — in meiner Wahrnehmung — nicht sehr groß, meistens sehr schlecht, und auch eher folgenlos. Diese Situation kann auch die gefühlte Ohnmacht weiter verstärken.

EINE PARALLELWELT – Bislang ungenutzt

Bei der Frage, was kann man in dieser Situation tun, kann es hilfreich sein, den Blick vom ‚alltäglichen politischen Normalgeschehen‘ mal in jene Bereiche der Gesellschaft zu lenken, in denen es — unbeachtet von der öffentlichen Aufmerksamkeit und den Mainstream-Medien — weltweit eine Gruppe von Menschen gelingt, täglich die kompliziertesten Aufgaben erfolgreich zu lösen. Diese Menschen arbeiten in Gruppen von 10 bis 10.000 (oder gar mehr), sprechen viele verschiedene Sprachen, haben ganz unterschiedliches Wissen, arbeiten parallel in verschiedenen Ländern und gar auf verschiedenen Kontinenten in unterschiedlichen Zeitzonen, und errichten riesige Bauwerke, bauen riesige Flugzeuge, Raketen, ermöglichen die Arbeit von riesigen Fabriken, bauen eine Vielzahl von Autos, bauen tausende von Kraftwerken, immer komplexere Datennetzwerke mit Rechenzentren und Kontrollstrukturen, Roboter, und vieles, vieles mehr …

Was von außen vielleicht wie Magie wirken kann, wie ein Wunder aus einer anderen Welt, entpuppt sich bei näherem Zusehen als ein organisiertes Vorgehen nach transparenten Regeln, nach eingeübten und bewährten Methoden, in denen alle Beteiligten ihr Wissen nach vereinbarten Regeln gemeinsam ‚auf den Tisch‘ legen, es in einer gemeinsamen Sprache tun, die alle verstehen; wo alles ausführlich dokumentiert ist; wo man die Sachverhalte als transparente Modelle aufbaut, die alle sehen können, die alle ausprobieren können, und wo diese Modelle — schon seit vielen Jahren — immer auch Simulierbar sind, testbar und auch ausführlich getestet werden. Das, was am Ende eines solche Prozesses der Öffentlichkeit übergeben wird, funktioniert dann genauso, wie geplant (wenn nicht Manager und Politiker aus sachfremden Motiven heraus, Druck ausüben, wichtige Regel zu verletzten, damit es schneller fertig wird und/ oder billiger wird. Unfälle mit Todesfolgen sind dann nicht auszuschließen).

Normalerweise existiert die Welt des Engineerings und die soziale und politische Alltagswelt eher getrennt nebeneinander her, wenn man sie aber miteinander verknüpft, kann sich Erstaunliches ereignen.

KOMMUNALPLANUNG UND eGAMING

Bei einem Kongress im April 2018 kam es zu einer denkwürdigen Begegnung zwischen Städteplanern und einem Informatiker der UAS Frankfurt. Aus dem Kongress ergab sich eine erste Einsicht in das Planungsproblem von Kommunen, das schon bei ‚kleinen‘ Kommunen mit ca. 15.000 Einwohner eigentlich alle bekannten Planungsmethoden überfordert. Von größeren Gebilden, geschweige denn ‚Mega-Cities‘, gar nicht zu reden.

Mehrere Gespräche, Workshops und Vorträge mit Bürgern aus verschiedenen Kommunen und Planungseinheiten von zwei größeren Städten ermöglichten dann die Formulierung eines umfassenden Projektes, das von Mai – August 2019 einen realen Testlauf dieser Ideen ermöglicht.

Aus nachfolgenden Diskussionen entstand eine erste Vision unter dem Titel Kommunalplanung und eGaming , in der versuchsweise die Methoden der Ingenieure auf das Feld der Kommunalplanung und der Beteiligung der Bürger angedacht wurde. Es entstand eine zwar noch sehr grobe, aber doch vielseitig elektrisierende Vision eines neuen Formates, wie die Weisheit der Ingenieure für die Interessen der Bürger einer Kommune nutzbar gemacht werden könnte.

REALWELT EXPERIMENT SOMMER 2019

Im Rahmen einer alle Fachbereiche übergreifenden Lehrveranstaltung haben Teams von Studierenden die Möglichkeit (i) die ingenieurmäßigen Methoden kennen zu lernen, mit denen man Fragestellungen in einer Kommune ausgehend von den Bürgern (!) analysieren kann; (ii) mit diesen Fragestellungen können dann — immer auch in Absprache mit den Bürgern — Analysemodelle erarbeitet werden, die dann — unter Klärung möglicher Veränderbarkeit — zu (interaktiven) Simulationsmodellen erweitert werden. Diese lassen sich dann (iii) mit allen Beteiligten durchspielen. Dadurch eröffnen sich Möglichkeiten des direkten ‚Erfahrungsaustausches zwischen Studierenden und Bürgern und ein gemeinsames Lernen, was die Wirklichkeit einer Stadt ist und welche Potentiale eine solche Kommune hat. Insbesondere eröffnet solch ein Vorgehen auch Einsichten in vielfältige Wechselwirkungen zwischen allen Faktoren, die ohne diese Methoden völlig unsichtbar blieben. In nachfolgenden Semestern soll noch die wichtige Orakelfunktion hinzugefügt werden.

Parallel zum Vorlesungsgeschehen bereitet ein eigenes Software-Team eine erste Demonstrationssoftware vor, mit der man erste Analysemodelle und Simulationsmodelle erstellen kann, um — auch interaktive — Simulationen vornehmen zu können. Wenn alles klappt, würde diese Juni/ Juli zur Verfügung stehen.

AUSBLICK

Vereinfachend — und vielleicht auch ein wenig überspitzt polemisch — ausgedrückt, kann man sagen, dass in diesem Projekt (vorläufige Abkürzung: KOMeGA) das Verhältnis zwischen Menschen und digitaler Technologie umgekehrt wird: während bislang die Menschen mehr und mehr nur dazu missbraucht werden, anonyme Algorithmen zu füttern, die globalen Interessen dienen, die nicht die des einzelnen Bürgers sind, wird hier die Technik den Interessen der Bürger vollständig untergeordnet. Die Technologie hat einzig die Aufgabe, den Bürgern zu helfen ihr gemeinsames Wissen über die Kommune :

  • zu klären
  • sichtbar zu machen
  • auszuarbeiten
  • durch zuspielen
  • zu verbessern
  • nach Regeln, die die Bürger selbst formulieren
  • für alle transparent
  • jederzeit änderbar
  • rund um die Uhr über das Smartphone abrufbar
The power of the future is your freedom … breaking the chains of the colonization of your mind …

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FREIHEIT DIE ICH MEINE. Nachhall zu einem Gespräch

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 19.Nov 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

‚Freiheit‘ ist eines dieser Worte, um das sich seit Jahrtausende Erwartungen, Vorstellungen, Wünsche, Geschichten ranken, mit viel Blut, mit vielen Toten, aber auch strahlenden Gesichtern, glücklichen Menschen.

Erst ab dem 18.Jahrhundert fand das mit ‚Freiheit‘ Gemeinte dann in Europa und Nordamerika eine politische Gestalt, in der eine Vision von Freiheit zum zentralen Leitmotiv vieler Gesellschaftsverträge wurde. Aber es dauerte weitere 100 Jahre, bis es sich in offiziellen Gesetzen und staatlichen Institutionen so konkretisierte, dass heute ein normaler Bürger davon ausgehen darf, dass seine ‚Freiheit‘ durch den Staat als ein großes Gut des Lebens geschützt wird.

Trotz dieser unfassbaren Geschichte der ‚Sichtbarmachung‘ von ‚Freiheit‘ in der allgemeinen gesellschaftlichen Wirklichkeit besteht im Alltag, bei den einzelnen, weiterhin eine große Verwirrung und Unsicherheit darüber, ob es ‚Freiheit‘ wirklich gibt, was ‚Freiheit‘ genau ist, ob und wie man sie konkret leben soll/kann.

In diesem Blog wurde das Thema ‚Freiheit‘ schon öfters angesprochen, auch sehr grundsätzlich, vielleicht sogar grundsätzlicher, als es bislang in den offiziellen Erklärungen zum ‚Menschenrecht Freiheit‘ formuliert worden ist.

Im folgenden Text werden einzelne Aspekte des mit ‚Freiheit Gemeinten‘ artikuliert, wie sie in einem Gespräch gestern unter 12 FreundenInnen kontrovers diskutiert wurde.

SPLITTER EINES GESPRÄCH

Die folgenden Notizen sind kein ‚Protokoll‘ des Gesprächs, sondern meine subjektive aktive Nach-Erinnerung. Vielleicht kommentieren ja einige der TeilnehmerInnen, um ihre eigenen Sichten sichtbar zu machen.

  1. Wenn im folgenden von ‚der Freiheit‘ die Rede ist, dann ist immer ‚das mit dem Wort Freiheit Gemeinte‘ der Gegenstand. Da Freiheit nicht als normaler ‚Gegenstand‘ im Alltag vorkommt, sondern nur in einem komplexen Geflecht von vielen Gegenständen und Handlungen, ist im Einzelfall immer nachzufragen, was denn jemand meint, wenn er das Wort ‚Freiheit‘ im Munde führt.
  2. In dem Gespräch wurde Freiheit zudem nicht isoliert diskutiert sondern verknüpft mit den Begriffen ‚Demokratie‘. ‚Digitalisierung‘ und ‚Meditation‘, Begriffe, die selbst nicht gerade vor Einfachheit strotzen.
  3. Begründet wurde dies damit, dass in der ‚realen Welt‘ nichts isoliert, nichts ‚einfach‘ vorkommt, sondern immer verbunden mit vielen anderen, gleichzeitig, simultan. Einfach zu sagen, man sei ‚für A‘ oder ‚gegen A‘ ist daher in vielen Fällen unzureichend, da ‚A‘ nie alleine vorkommt, sondern in vielfältigen Beziehungen mit B und C und …. so gibt es Freiheit nicht lupenrein, als etwas ‚Ideales‘, von allem anderen ‚Losgelöstes‘, sondern verflochten mit vielen realen Bedingungen, die man mit bedenken muss, will man von Freiheit reden.
  4. So stand zu Beginn des Gesprächs also nicht einfach nur das Wort ‚Freiheit‘ im Raum sondern die Sätze: ‚In einer Demokratie herrscht Freiheit. Digitalisierung und Meditation hilft uns‘.
  5. In einer ersten Reaktion wurden diese einfachen Sätze natürlich sofort in ihre Bestandteile zerpflückt, dass man das ja so gar nicht sagen könne, weil …
  6. Das Problem aber war (und ist), dass wir die Wirklichkeit nicht beliebig in ihre Bestandteile zerpflücken können. Die alltägliche Wirklichkeit kommt als ein Vielfalts-Monster daher: manches finden wir gut, manches wissen wir nicht, anderes finden wir schlecht. So auch die Freiheit in einer Demokratie. Dazu heute eine umfassende Digitalisierung mit guten wie schlechten Wirkungen. Die Praxis der Meditation, die helfen kann oder auch nicht; viele wissen dazu nichts Genaues.
  7. Nimmt man als Arbeitshypothese versuchsweise mal an, dass es tatsächlich an der Wurzel allen Lebens eine grundlegende Freiheit derart gibt, entscheiden zu können, ob man A oder nicht-A tun will, dann kann die Gesellschaftsform ‚Demokratie‘ als jene Verfassung angesehen werden, die vom Ansatz her den individuellen Freiheiten den maximal möglichen Raum zu sichern sucht. Die neuen digitalen Technologien können – bei richtiger Anwendung — den individuellen Freiheiten eine neuartige Unterstützung zukommen lassen, die ihnen helfen, die historisch angewachsene Komplexität der Wirklichkeit besser mit als ohne digitale Technologien zu meistern. Für die persönliche Orientierung (auch emotional) kann eine geeignete Form des Meditierens zusätzlich eine fundamentale Unterstützung bieten.
  8. Diese Worte deuten ein ‚Potential‘ an, das Möglichkeitsräume eröffnet. Möglichkeiten müssen aber ‚realisiert‘ werden in Raum und Zeit, durch konkrete Taten unter Zuhilfenahme von realen Ressourcen.
  9. Wenn man Kindern von vornherein aber z.B. die konkreten Bedingungen verweigert, die sie bräuchten, um ‚Lernen‘ zu können, um ihre Freiheit ‚auszuprobieren‘, dann haben sie zwar eine grundlegende Freiheit, aber sie können sie nicht ausleben, da ihnen dann die geistigen und materiellen Voraussetzungen fehlen, um es tun zu können. Wenn ich Informationen verweigere oder nur falsche Informationen gebe; wenn ich keine Zeit zugestehe, um lernen zu können, keine Nahrung für die notwendige Kraft, keine Anerkennung für den notwendigen Mut, und vieles mehr, dann verhindert man im Ansatz die Entwicklung jener Formen von Freiheit, von der wir alle konkret leben (falls wir überhaupt zum Leben gefunden haben).
  10. Das Thema der ‚Ermöglichung‘ von Freiheit zieht sich aber durch das gesamte Leben eines Menschen durch, in jeder Gesellschaft. Wenn es immer weniger ‚wahre Informationen‘ gibt, stattdessen ‚falsche Informationen‘, dann kann jemand noch so viel das ‚Richtige‘ wollen, noch so viel ‚eine gute Zukunft‘ wollen, er/ sie wird nur das Falsche tun können, Unheil anrichten, Ressourcen vergeuden, anderen Menschen Unrecht tun, auf Dauer mehr zerstören als aufbauen, auf Dauer Leid erzeugen und Tod. Die heute zu beobachtende Erosion der sogenannten ‚Öffentlichkeit‘ in demokratischen Gesellschaften ist die sicherste Methode, die Vision einer Demokratie und Freiheit im Ansatz zu zerstören, da Demokratie auf die wechselseitige Kommunikation angewiesen ist. Freiheit und Demokratie brauchen ein Maximum an Wahrheit und Kommunikation; dies kostet viel Engagement, Arbeit, Ressourcen. Wer dies verweigert und leichtfertig verspielt, verspielt Freiheit und damit dann Demokratie.
  11. Von daher ist auch klar, dass Bildung in allen Lebensphasen für alle Menschen grundlegend ist. Ein demokratischer Staat, der an Bildung spart, gib sich von innen her auf. Was nützen die großen Worte einer Verfassung, wenn die Mehrheit der Bürger sie gar nicht mehr versteht? Wenn niemand weis, wie die grundlegenden Mechanismen einer freien Gesellschaft ineinander spielen? Wenn die jungen Menschen nie lernen können, mit sich selber, mit ihren Emotionen konstruktiv umgehen zu können? Wenn Leitbilder fehlen, die eine freiheitliche demokratische Gesellschaft konstruktiv fördern? Wenn das grundlegende Wissen in jenen wissenschaftlichen und technischen Bereichen fehlen, durch die moderne Gesellschaften überhaupt nur lebensfähig sind?
  12. Natürlich erlebt jeder von Kindheit an, wie die grundlegenden Bedürfnisse des Körpers, des Lebens unser Fühlen und Handeln dominieren können. Wer hungert und dürstet, wird darum kämpfen müssen, dass er überlebt. Dass die einen Menschen anderen Menschen ihr Wasser wegnehmen können und ihre Äcker, von denen sie leben, ohne Ersatz, das ermöglicht keine Freiheit und keine Demokratie. Dass die einen ihr Kapital so nutzen, dass nur wenige davon leben können und so viele in Armut leben müssen, das kann auch keine Grundlage sein.
  13. Wir haben auch gelernt, dass der weitaus größte Teil des Körpers un-bewusst ist, dass in diesem Unbewussten viele Prozesse im Menschen ablaufen, die den Menschen ‚von innen heraus‘ steuern können. Die betroffenen Menschen erleben, dass sie sich ‚anders‘ verhalten, als sie vielleicht wollen, als es die offiziellen ‚gesellschaftlichen Normen‘ vorschreiben; sie fühlen sich aber unter ‚inneren Zwängen‘; sie ‚verstehen sich selbst nicht‘; sie sind sich selbst gegenüber ‚hilflos‘. Dies wird oft verursacht durch großes Leid, das Menschen als Kinder oder auch als Erwachsene zugefügt bekamen, auch durch körperliche Defekte, genetische Besonderheiten, durch Krankheiten. Ein Leben ‚aus Freiheit‘ ist dann erschwert oder gar blockiert. Solche ‚inneren Verwundungen‘ zu ‚heilen‘ kann langwierig, sehr schwer sein. Besser ist es, man lässt sie gar nicht entstehen.
  14. Im Vergleich der gesellschaftlichen Systeme und ihren Verhaltensregeln können wir heute sehen, wie unterschiedlich gleiche Situationen interpretiert und geregelt werden. Im Extremfall wird in einer Gesellschaft jemand für ein Verhalten X zum Tode verurteilt, während es in einer anderen Gesellschaft ganz ’normal‘ ist, X zu tun. Die Gesamtheit der vielen Regeln können viele Verhaltensweisen, die wichtig wären, ‚unterdrücken‘, ‚verhindern‘, sie können bestimmte Menschen und Menschengruppen ‚verteufeln‘, sie können ganze Wissensbereiche ausgrenzen, die zum Lebe und Überleben aber wichtig sind (in der Sicht anderer Gesellschaften). Diese verwirrende Vielfalt erschwert ein Leben aus Freiheit, in Freiheit, da es für Entscheidungen immer mehr als eine Option gibt.
  15. ‚Vielfalt‘ kann man daher aus der Sicht der Entscheidung als ‚Last‘ empfinden. Und in der Tat ist Freiheit als solche eine permanente ‚Herausforderung‘; ein ‚un-freies‘ ‚blindes‘ ‚einfaches Tun‘ erscheint auf den ersten Blick ‚einfacher‘ (für autoritäre dogmatische Regierungsformen und für diktatorische Machtstrukturen ist es auf jeden Fall ‚einfacher‘, da sie dann mit geringem Widerstand ihre egoistischen Ziele umsetzen können), aber im Laufe der Zeit kann eine solche ‚Vereinfachung‘ nur scheitern und ins Unheil führen. Dazu muss man sich nicht nur die sehr kurze Geschichte der Menschen anschauen, sondern die sehr lange Geschichte des Lebens auf der Erde demonstriert mit großer Wucht, dass ein biologisches Leben nur möglich ist, wenn es zusätzlich zu dem jeweiligen begrenzten Wissen einer Gegenwart auch solche Gedanken und Handlungsweisen zulässt, die in der Gegenwart ‚un-sinnig‘ erscheinen mögen. Dieses ‚andere‘ Wissen und Verhalten sollte nicht nur bei einigen wenigen (den berühmten ‚Hofnarren‘ oder den sogenannten ‚Künstlern‘) zugelassen werden (also nicht nur als ‚Spielerei‘), sondern ernsthaft flächendeckend in der ganzen Gesellschaft; nur gebildete, wache, kreative, unkonventionelle, mutige Gesellschaften haben eine leichte Chance, in der Zukunft bestehen zu können. Freiheit verlangt ein Leben auf allen Ebenen, außen wie innen, alleine und mit anderen, mit Gewohntem und Ungewohntem, immer mit Respekt vor dem grundlegenden Leben als solchem.

MATERIALANHANG

Das nachfolgende ‚Material‘ bietet Links zu Wikipedia-Artikeln, die schnell zu wichtigen Grundpositionen führen können. Von da aus führen Wege in viele Richtungen. Einige Textabschnitte wurden mit kopiert. Sie stellen keine erschöpfende Erklärungen dar sondern sollen nur anregen, sich selbst intensiver mit den in den Texten angesprochenen Sachverhalten zu beschäftigen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Menschenrechte

Der explizite Begriff der Menschenrechte wurde 1791 von Thomas Paine mit seinem Werk The Rights of Man erstmals eingeführt: Thomas Paine (1792), The Rights of Man. Online verfügbar unter diesem Link: http://pinkmonkey.com/dl/library1/right.pdf Rights of Man (1792) – Written as an answer to Edmund Burke’s Reflections on the Revolution in France, it states Paine’s belief that men have “natural rights” and urges individuals to free themselves from governmental tyranny.

https://de.wikipedia.org/wiki/Menschenrechte

Als Menschenrechte werden subjektive Rechte bezeichnet, die jedem Menschen gleichermaßen zustehen. Das Konzept der Menschenrechte geht davon aus, dass alle Menschen allein aufgrund ihres Menschseins mit gleichen Rechten ausgestattet und dass diese egalitär begründeten Rechte universell, unveräußerlich und unteilbar sind.[1] Die Idee der Menschenrechte ist eng verbunden mit dem Humanismus und der im Zeitalter der Aufklärung entwickelten Idee des Naturrechtes. Der explizite Begriff der Menschenrechte wurde 1791 von Thomas Paine mit seinem Werk The Rights of Man erstmals eingeführt.

Das Bestehen von Menschenrechten wird heute von fast allen Staaten prinzipiell anerkannt. Die Universalität ist gleichwohl Grundlage politischer Debatten und Auseinandersetzungen.

Es hat sich eingebürgert, die Entwicklung der Menschenrechte in drei „Generationen“ einzuteilen: die Entwicklung von Abwehrrechten des Bürgers gegen den Staat zum Schutz seiner Freiheitssphäre (1. Generation), von sozialen Anspruchs- und Teilhaberechten (2. Generation) und von kollektiven Rechten, wie beispielsweise das Recht auf Selbstbestimmung der Völker (3. Generation).[2] Die Einteilung in drei Generationen wird kontrovers diskutiert, da sie eine Hierarchie zwischen Menschenrechten implizieren kann.

Weil Menschenrechte auch von dritter Seite bedroht werden, wird davon ausgegangen, dass außerdem zu jedem Menschenrecht eine staatliche Schutzpflicht gehört, mit der erst ein Menschenrecht vollständig verwirklicht werden kann. Durch die Ratifizierung von internationalen Menschenrechtsabkommen sowie durch deren Verankerung in ihren nationalen Verfassungen verpflichten sich die Staaten, die Grundrechte und Völkerrechte zunehmend umzusetzen, sie also als einklagbare Rechte in ihrem jeweiligen nationalen Recht auszugestalten.

In einem weiteren Sinne ist der Begriff „Menschenrechte“ auch als Erweiterung zu den „Bürgerrechten“ zu verstehen: Er steht dann für Grundrechte, die unabhängig von der Staatsangehörigkeit allen Menschen zustehen. „

https://de.wikipedia.org/wiki/Menschenrechtsabkommen

Menschenrechtsabkommen sind multilateral abgeschlossene völkerrechtliche Verträge. Sie kodifizieren in erster Linie Individualrechte, doch enthalten sie auch kollektive Rechte wie das Recht auf Selbstbestimmung der Völker. Die Verträge schaffen Menschenrechtsinstrumente, die im Gegensatz zu den auf der UN-Charta beruhenden Instrumenten nur für diejenigen Staaten, die den Verträgen durch Ratifikation beigetreten sind, gelten.

Seit Ende 2006 gibt es im Rahmen der Vereinten Nationen neun allen Staaten zur Ratifikation offenstehende Menschenrechtsabkommen im engeren Sinne. Sie enthalten Überprüfungsverfahren, die den dazu eingesetzten UN-Vertragsorganen obliegen. Einige, aber nicht alle Verträge werden ergänzt durch Zusatzabkommen, sogenannte Optionsprotokolle, die in der Regel Individualbeschwerdeverfahren zum Gegenstand haben.

Europa, Amerika und Afrika haben darüber hinaus unterschiedlich weit reichende regionale Menschenrechtsabkommen vereinbart, die allen Ländern dieser Regionen offenstehen. Hier nicht behandelt werden die bereits seit 1912 erzielten zahlreichen Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation.

***

Das wohl bekannteste Menschenrechtsdokument, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, ist kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern eine Resolution der UN-Generalversammlung und somit nicht rechtlich bindend, sondern eine politische Verlautbarung und Willenserklärung der UN-Generalversammlung vom 10. Dezember 1948. Wegen ihrer universellen Anerkennung und permanenten Bekräftigung gilt sie aber als Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts. Zusammen mit dem Sozial- und Zivilpakt spricht man von der International Bill of Human Rights als einem Grundkodex der internationalen Staatengemeinschaft über die Menschenrechte.

https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeine_Erklärung_der_Menschenrechte

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (A/RES/217, UN-Doc. 217/A-(III)), auch Deklaration der Menschenrechte oder UN-Menschenrechtscharta, Charta der Menschenrechte oder kurz AEMR[1], sind unverbindliche Empfehlungen der Vereinten Nationen zu den allgemeinen Grundsätzen der Menschenrechte. Sie wurde am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Palais de Chaillot in Paris verkündet.

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

Der 10. Dezember als Tag der Verkündung wird seit 1948 als Internationaler Tag der Menschenrechte begangen.

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https://de.wikipedia.org/wiki/Europäische_Menschenrechtskonvention

Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten enthält einen Katalog von Grundrechten und Menschenrechten (Konvention Nr. 005 des Europarats). Über ihre Umsetzung wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

Die Konvention mit der SEV-Nr. 003 wurde im Rahmen des Europarats ausgearbeitet, am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet und trat am 3. September 1953 allgemein in Kraft. Völkerrechtlich verbindlich ist allein ihre englische und französische Sprachfassung, nicht hingegen die zwischen Deutschland, Österreich, Liechtenstein und der Schweiz vereinbarte gemeinsame deutschsprachige Fassung.

Als so genannte geschlossene Konvention kann sie nur von Mitgliedern des Europarats – sowie von der Europäischen Union – unterzeichnet werden.[1] Die Bereitschaft zur Unterzeichnung und Ratifikation der EMRK hat sich im Laufe der Zeit zu einer festen Beitrittsbedingung für Staaten entwickelt, die dem Europarat angehören möchten. Daher haben alle Mitgliedsstaaten des Europarats die Konvention unterzeichnet und ihr innerstaatliche Geltung verschafft.

Artikel 5 – Recht auf Freiheit und Sicherheit

Art. 5 gewährleistet das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Er enthält in Abs. 1 einen abschließenden Katalog von Umständen, unter denen einer Person auf gesetzlicher Grundlage die Freiheit entzogen werden darf (z. B. nach Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, in Fällen der vorläufigen Festnahme bzw. bei psychisch Kranken, Rauschgiftsüchtigen oder auch Landstreichern). In den Absätzen 2–5 dieses Artikels sind die entsprechenden Rechte solcher Personen geregelt. Hierzu gehören die Information festgenommener Personen über die Gründe für die Festnahme und die Beschuldigungen und das Recht, unverzüglich einem Richter vorgeführt zu werden. Weiterhin gehört hierzu das Recht, die Freiheitsentziehung durch einen Richter prüfen zu lassen und das Recht auf Schadensersatz bei unrechtmäßigen Freiheitsentziehungen.

https://dejure.org/gesetze/MRK/5.html

Art. 5
Recht auf Freiheit und Sicherheit

(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.

Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;
b) rechtmäßige Festnahme oder rechtmäßiger Freiheitsentziehung wegen Nichtbefolgung einer rechtmäßigen gerichtlichen Anordnung oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung;
c) rechtmäßige Festnahme oder rechtmäßiger Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, daß die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlaß zu der Annahme besteht, daß es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;
d) rechtmäßige Freiheitsentziehung bei Minderjährigen zum Zweck überwachter Erziehung oder zur Vorführung vor die zuständige Behörde;
e) rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern;
f) rechtmäßige Festnahme oder rechtmäßige Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.

(2) Jeder festgenommenen Person muß unverzüglich in einer ihr verständlichen Sprache mitgeteilt werden, welches die Gründe für ihre Festnahme sind und welche Beschuldigungen gegen sie erhoben werden.

(3) Jede Person, die nach Absatz 1 Buchstabe c von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, muß unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt werden; sie hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens. 2Die Entlassung kann von der Leistung einer Sicherheit für das Erscheinen vor Gericht abhängig gemacht werden.

(4) Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, daß ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.

(5) Jede Person, die unter Verletzung dieses Artikels von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, hat Anspruch auf Schadensersatz.

***

https://de.wikipedia.org/wiki/Europäische_Menschenrechtskonvention#Artikel_5_-_Recht_auf_Freiheit_und_Sicherheit

Artikel 4 – Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit

Art. 4 verbietet es, eine Person in Sklaverei oder Leibeigenschaft zu halten (Abs. 1). Weiterhin verbietet dieser Artikel Zwangs- oder Pflichtarbeit (Abs. 2). Nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit nach diesem Artikel zählen allerdings z. B. Arbeitspflichten im Strafvollzug, im Wehr- und Wehrersatzdienst oder bei Katastrophenfällen.

https://dejure.org/gesetze/MRK/4.html

Art. 4
Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit

  1. Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
  2. Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten.
  3. Nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne dieses Artikels gilt
    1. eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist
    2. eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist
    3. eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen
    4. eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.

https://de.wikipedia.org/wiki/Europäische_Menschenrechtskonvention#Urteil_des_Bundesverfassungsgerichts_2004

Stellung und Rang im nationalen Recht

Art. 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention lautet: „Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen.“

Sämtliche Unterzeichnerstaaten haben sich demgemäß der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) unterworfen. Der EGMR kann jedoch mangels Exekutivbefugnissen nur Restitutionen in Form von Entschädigungszahlungen gegen den handelnden Staat verhängen (vgl. Art. 41 EMRK). Obwohl die Entscheidungen des EGMR auf völkerrechtlicher Ebene verbindlich sind, variiert ihre Bindungswirkung innerhalb der Rechtsordnungen der einzelnen Konventionsstaaten, da die Stellung der Menschenrechtskonvention von Staat zu Staat unterschiedlich ist (siehe Dualistisches System).

Deutschland

In Deutschland steht die EMRK im Rang unter dem Grundgesetz auf Ebene des einfachen Bundesgesetzes.[26] Damit geht sie zwar landesgesetzlichen Bestimmungen vor, ist im Vergleich mit bundesgesetzlichen gleichartigen Regelungen allerdings dem „lex posterior“-Grundsatz unterworfen, könnte also unter Umständen hinter neueren gesetzlichen Regelungen zurücktreten. Da jedoch die Grundrechtsgewährleistung der EMRK weitgehend der des Grundgesetzes entspricht, hat das Bundesverfassungsgericht 1987 ausgeführt, dass andere gesetzliche Bestimmungen der Bundesrepublik (wie beispielsweise die Strafprozessordnung) im Lichte der EMRK auszulegen seien.[27] Dieser Auffassung folgen auch die oberen Bundesgerichte. Damit kommt de facto der EMRK im deutschen Recht zwar kein verfassungsrechtlicher, aber doch ein übergesetzlicher Rang zu.

Der Europarat überwacht die nationale Umsetzung der Urteile des EGMR zu Menschenrechtsverletzungen. In der aktuellen Liste der zu überwachenden Urteile u. a. zu Deutschland sind mit Stand Mai 2009 insgesamt 7 Verfahren noch nicht in Deutschland umgesetzt.[28]

Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2004

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Oktober 2004 im Fall Görgülü[29] sind alle staatlichen Organe der Bundesrepublik Deutschland an die Konvention und die für Deutschland in Kraft getretenen Zusatzprotokolle im Rahmen ihrer Zuständigkeit kraft Gesetzes gebunden. Sie haben die Gewährleistungen der Konvention und die Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung von Grundrechten und rechtsstaatlichen Gewährleistungen zu berücksichtigen.[29] So sind die Urteile des EGMR eine Auslegungshilfe der Konvention für die deutschen Gerichte. Ist eine konventionskonforme Auslegung des deutschen Rechts möglich, so geht diese vor. Will ein deutsches Gericht anders als der EGMR entscheiden, muss es dies ausführlich begründen und sich mit der Rechtsprechung des EGMR eingehend auseinandersetzen.[29]

Hat der EGMR einen Menschenrechtsverstoß durch die Bundesrepublik Deutschland festgestellt, wird dadurch die Rechtskraft von Entscheidungen (z. B. ein Urteil) nicht beseitigt.[29] Kann aber die Entscheidung des EGMR in einem Gerichtsverfahren noch berücksichtigt werden, so muss dies grundsätzlich erfolgen. Das bedeutet: Der Menschenrechtsverstoß ist durch eine gerichtliche Entscheidung zu beseitigen.[29] Dabei ist jedoch eine „schematische Vollstreckung“ nicht gefordert. Eine solche kann sogar verfassungswidrig sein. Beachtet beispielsweise das zuständige Fachgericht in einem Zivilverfahren nicht die Interessen der am Straßburger Verfahren nicht beteiligten Prozesspartei, so kann dies einen Verstoß gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip darstellen.[29] Im Fall Görgülü, einem Streit um das Umgangsrecht mit einem Kind, mussten daher auch die Interessen des Kindes und der Pflegefamilie berücksichtigt werden, die nicht in Straßburg eine Beschwerde geführt hatten.

Die Entscheidung des BVerfG lässt in weitem Umfang Interpretationen zu, ob und wie Entscheidungen des EGMR, die gegen Deutschland ergangen sind, national umgesetzt werden müssen. Sie sorgte auf Seiten der Mitglieder des Europarats für erhebliche Irritationen darüber, inwieweit sich die Mitgliedsstaaten an die Entscheidungen des EGMR halten müssen.[30] Der Gesetzgeber hat auf die Rechtsprechung des BVerfG reagiert. Stellt der EGMR eine Verletzung der EMRK oder ihrer Protokolle durch Deutschland fest und beruht ein Urteil auf dieser Verletzung, kann im Zivilprozess Restitutionsklage geführt werden (vgl. § 580 Nr. 8 ZPO). Auf diese Vorschrift verweisen auch die Vorschriften für den Arbeits- (§ 79 ArbGG), Sozial- (§ 179 SGG), Verwaltungs- (§ 153 VwGO) und Finanzgerichtsprozess (§ 134 FGO). Für den Strafprozess besteht bereits seit 1998 die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 359 Nr. 6 StPO, sog. lex Pakelli).[31]

Deutschland wurde laut Aussage der Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff im Humboldt Forum Recht (ECtHR and national jurisdiction – The Görgülü Case) bis Juli 2005 insgesamt 62 Mal wegen begangener Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Gleichzeitig äußert Lübbe-Wolff das allgemeine Unverständnis der Fachleute zum obigen Urteil (RZ 32). Sie stellt fest, dass der Staat im Falle von Menschenrechtsverletzungen den vorherigen Zustand wiederherstellen müsse und, wenn diese andauerten, der Staat diese stoppen müsse (Ziffer 16). In diesem Vortrag wird von ihr in RZ 34 auch der Fall Sürmeli erwähnt, dem ein Stillstand der Rechtserlangung vom EGMR wegen überlanger Verfahrensdauer zugestanden wurde. Der Fall wurde von der Großen Kammer des EGMR durch Urteil vom 8. Juni 2006 entschieden.[32] Dazu merkt Lübbe-Wolff an, dass Deutschland in diesem Fall schnell reagiert habe und einen Gesetzesentwurf schon im September 2006 vom Bundesjustizministerium vorgelegt habe, der diesen Fall heile. Es handelt sich jedoch dabei immer noch um den Gesetzesentwurf der Untätigkeitsbeschwerde (siehe insofern Untätigkeitsklage), der jedoch bereits im August 2005 vorgelegt wurde.[33]

Aufgrund eines Konfliktes zwischen dem EGMR und dem Bundesverfassungsgericht, wie er in der Zeitung Das Parlament vom 11. Juli 2005 beschrieben wurde, kam es in der Geschichte des Europarats zu einem beispiellosen offenen Widerstand eines nationalen Verfassungsgerichtes. Im selben Artikel wird auch die ehemalige Verfassungsrichterin Renate Jaeger zitiert, die bis Ende 2010 Richterin am Menschenrechtsgerichtshof war.

„Vielleicht, mutmaßte Jaeger, sei es manchen Ländern als „Nebeneffekt“ der Überlastung des Gerichts ja gar nicht unlieb, wenn Menschenrechtsverstöße „nicht oder nicht zeitnah untersucht und gerügt werden“. Möglicherweise gebe es bei Regierungen, die wegen Verletzungen der Menschenrechtscharta zu Schadensersatz verurteilt werden, einen „Abschreckungseffekt“ – mit der Konsequenz, dass den Staaten „Verlangsamung, Stillstand und Leerlauf“ eventuell nicht unwillkommen seien.[34]

Im Juli 2007 hat der EGMR im Fall Skugor gegen Deutschland konstatiert, dass bei menschenrechtswidriger überlanger Verfahrensdauer in Zivilverfahren die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht nicht als wirksame Beschwerdemöglichkeit im Sinne des Art. 13 EMRK angesehen werden könne:

„[…] so erinnert der Gerichtshof daran, dass die Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht nicht als wirksame Beschwerde im Sinne des Artikels 13 der Konvention angesehen werden kann und ein Beschwerdeführer demnach nicht verpflichtet ist, von diesem Rechtsbehelf Gebrauch zu machen, auch wenn die Sache noch anhängig ist (Sürmeli ./. Deutschland [GK], Nr. 75529/01, Rdnrn. 103–108, CEDH 2006-…) oder bereits abgeschlossen wurde (Herbst ./. Deutschland, Nr. 20027/02, 11. Januar 2007, Rdnrn. 65–66).“

– EGMR-Beschluss – 10/05/07: Rechtssache Skugor gegen Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 76680/01)[35]

Um die vom EGMR aufgezeigten Rechtsschutzlücken zu schließen und wirksame Rechtsschutzmöglichkeiten im Falle überlanger Gerichtsverfahren sowie strafrechtlicher Ermittlungsverfahren zu schaffen, hat die Bundesregierung im Jahr 2010 einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der zwei Stufen vorsieht: auf der ersten Stufe sollen Betroffene die Möglichkeit erhalten, eine überlange Verfahrensdauer zu rügen („Verzögerungsrüge“); in einem zweiten Schritt kann ggf. ein angemessener Ausgleich geltend gemacht werden.

Das BVerfG wird aufgrund des Beschlusses des Bundesfinanzhofs (zum sogenannten „treaty override[36]) zu entscheiden haben, ob Völkervertragsrecht – wie bspw. auch die EMRK – wegen seiner Völkerrechtsfreundlichkeit dem Grundgesetz entgegenstehendem einfachen deutschen Recht vorgeht. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Entscheidung vom 27. Februar 2014 zum Streikrecht für Beamte die Konfliktlösung zwischen der EMRK und entgegenstehendem einfachen deutschen Recht allein dem Gesetzgeber zugewiesen,[37][38] ohne wie der BFH eine Vorlage an das BVerfG zu erwägen.

 

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