Archiv der Kategorie: Wiederholungstäter

DIE ANDERE DIFFERENZ (im Gespräch über das, was ein ‘glücklicher Zustand’ sein soll)

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Datum: 2.März 2012

(1) Im Nachklang zu meinem letzten Blogeintrag und in Erinnerung an ein Gespräch, das ich gestern mit einem lieben Freund hatte (und davor mit einem meiner Studenten), trat nochmals die Frage in den Mittelpunkt, was denn das Besondere am Leben sei. Als einzelne(r) erlebt man das Leben aus der individuellen Perspektive und aus dieser Perspektive eröffnen sich zahllose Paradoxien (Widersprüche): z.B. stehen die Endlichkeit des Körpers und der individuellen Lebenszeit in einem scheinbar unauflösbaren Widerspruch zum persönlichen Wunsch nach einem glücklichen, unbeschwerten Leben. Denn, der Körper ist nicht nur endlich, sondern auch geschwängert mit zahllosen Bedürfnissen, Trieben, Emotionen und Gefühlen, die auf vielfältige Weise Spannungen in das Lebensgefühl hineintragen, Unruhen, Unzufriedenheiten, Ängste und dergleichen mehr. Dazu kommt für die überwiegende Anzahl der Menschen die tägliche Notwendigkeit, Zeit und Energie aufwenden zu müssen – man nennt es ‚Arbeiten‘ –, um den ‚Lebensunterhalt‘ zu sichern. Für die allerwenigsten ist diese Arbeit das, was sie tun würden, wenn sie nicht diesem ‚Zwang‘ unterliegen würden; für die meisten erscheint die Arbeit als ‚Last‘, und für nicht wenig ist sie eher ‚Hölle‘ denn ‚Himmel‘. Die täglichen Qualen, die hier sehr viele Menschen erleiden müssen, würden, könnte man sie hörbar machen, eine ‚Musik des Grauens‘ entstehen lassen, die den wenigen, die sich – aus welchen Gründen auch immer –, dieser täglichen Hölle entziehen können, das Leben unerträglich machen, wobei es sicherlich mehr ‚Höllen‘ in diesem Sinne gibt, als der äußere Anschein auf den ersten Blick an Eindruck erweckt. Denn die Endlichkeit, in der wir uns als individuelle Menschen vorfinden ist in sich eine Struktur, der niemand entfliehen kann. Das ‚Hineingeworfensein‘ in das tägliche Leben hat eine Uerbittlichkeit, die letztlich über allem und jedem steht, sie ist Teil unseres Vorkommens in dieser Welt, Teil unseres Erlebens und Fühlens, Teil unseres Denkens, unentrinnbar, wesentlich, selbst im Versuch des ‚Nicht-Denkens‘ verbleibt eine grundlegende ‚Differenz‘ ähnlich wie der kosmischen Hintergrundstrahlung, die noch 13.2 Mrd Jahre nach dem ‚BigBang‘ Kunde gibt, von diesem Anfangsereignis.

(2) Beschreibungen von ‚Glück‘ und ‚Zufriedenheit‘ orientieren sich oft an der gewünschten ‚Abwesenheit‘ der täglichen Spannungen, Abwesenheit von ‚Müssen‘, Abwesenheit von ‚Unruhen‘ oder, konkreter, durch Erfüllung konkreter Bedürfnisse und Triebe wie ‚viel Geld‘, ‚viel Macht‘, ’sexuelle Befriedigung‘, ‚tolles Essen‘, ‚eigenes Haus mit Garten‘, usw. Alle solchen ‚konkreten‘ Erfüllungswünsche tragen den Samen zu neuer Unzufriedenheit, den Samen zu neuen Spannungen schon in sich, bevor sie überhaupt so richtig ‚das Licht dieser Welt‘ erblickt haben. Es sind Wechselpositionen, bei denen man eine Unzufriedenheit gegen eine andere (neue) eintauscht. Hier sind wir alle gern und leicht ‚Wiederholungstäter‘; wir sind unzufrieden mit dem ‚Bisherigen‘, trennen uns, weil wir die Unzufriedenheit loswerden wollen, und schon sind wir im scheinbar ‚Neuen‘ genau wieder da, wo wir eigentlich herkommen: weil wir nicht wirklich etwas Neues kennen oder suchen landen wir immer wieder bei dem, was uns vertraut ist, selbst im Muster der ‚Flucht‘.

(3) Ähnlich der klassischen bewusstseinsorientierten Philosophie, in der alle – auch noch so großen – Gedanken im engen Raum des bewussten Erlebens wie Atome an die Wände eines Behälters prallen und so auf engem Raum verharren, und den Anschein von Aporien (Widersprüchen) entstehen lassen, so unterliegt unser subjektives Erleben der permanenten Gefahr, seine eigentümliche Kraft in einer Art dauerhaften ‚psychischen Selbstverbrennung‘ zu verzehren, anstatt zu erleben, dass es weit über sich selbst hinausweisen kann, dass es sehr wohl individuelle Schranken überwinden kann, dass es nicht nur dem Anschein nach, sondern ‚wirklich‘, ‚real‘ ‚grenzenlos‘ sein kann.

(4) Dies kann man aber nur erkennen, wenn man den Blick über den Augenblick hinaus ausweitet und sich der Zusammenhänge bewusst wird, die alle wirksam sind dafür, dass man selbst in dem jeweiligen Augenblick ‚da ist‘, und zwar ’so‘ da ist, wie man sich gerade vorfindet. Denn, schon der eigene Körper, in den man sich so leicht verlieben kann, ist so da, ohne dass man selbst irgend etwas dafür getan hätte; natürlich, die Ernährung dieses Körpers, die tägliche Bewegung oder Nicht-Bewegung können diese Körper beeinflussen, können ihn ‚dick‘ oder ‚dünn‘ machen, können ihn ‚verschleißen‘ und dergleichen mehr, aber dies sind nur Modulationen eines Grundthemas, das als solches uns vorgegeben ist. Grundsätzlich finden wir uns vor mit unserem Körper, mit den Eigenschaften dieses Körpers; wir finden uns vor mit anderen Menschen, die wir uns nicht ausgesucht haben, wir finden uns vor in Gebäuden, Strassen, Infrastrukturen, die wir selbst nicht gemacht haben, wir finden uns vor mit Pflanzen und Tieren, die wir nicht gemacht haben, mit einer Atmosphäre, einer Erde, usw. Strenggenommen gibt es nahezu nichts von Bedeutung, was wir selbst dazu beigetragen haben, dass das Leben ist, wie wir es vorfinden. Merkwürdigerweise scheint es es nur wenige Menschen zu geben, denen diese Grundtatsache bewusst ist. Nicht wenige zeigen ein Selbstgefühl im Sinne eines ‚Grundanspruchs auf alles‘, ‚Hier bin ich, seht doch, ich habe ein Anspruch auf…‘. Dabei sind Alle ‚Gewordene‘, ungefragt; alle sind Teil eines größeren Prozesses, der nicht nur Orte und Regionen umfasst, sondern die ganze Erde, unser Sonnensystem, unsere Milchstraße, ja sogar das gesamte Universum: wer sich dieser Perspektive verschließt, wird vermutlich niemals verstehen, verstehen können, wer er ist, was das Ganze soll. Es kann keine ‚partielle‘ Wahrheit geben; dies ist ein Widerspruch in sich.

(5) Was ist ein ‚wirklich glücklicher Zustand‘? Wir Menschen haben unzählige Bilder entwickelt von dem, was wir als ’schön‘ und ‚gut‘ empfinden wollen, unzählige (Texte, Musik, Mode, Rezepte, Bauten, soziale Gebilde, Verhaltensweisen,….), aber, was auch immer es war oder ist, im Moment des Geschehens ist klar, dass das nicht ‚voll wirklich‘ sein kann, weil es einen nächsten Moment gibt, noch einen, und noch einen und dann verfällt entweder das mühsame zubereitete Gebilde oder das Erlebnis ist vergangen, wird zur Erinnerung, oder wir selbst haben uns verändert, verändern uns beständig weiter, und noch so viele ‚Verdrängungsmassnahmen‘ können auf Dauer unser Altern und Sterben nicht verhindern, und was ist ’schön‘ und ‚wahr‘ im Moment des Sterbens?

(6) Was also ist ein ‚wahrhaft glücklicher Zustand‘? Die Logik hat uns gelehrt, dass wir nur Dinge als ‚logisch wahr‘ beweisen können, die in den akzeptierten Voraussetzungen potentiell enthalten sind. Angewandt auf unsere Fragestellungen würde dies bedeuten, dass wir nur dann ein ‚umfassendes‘ Glück finden können, wenn unsere jeweiligen Voraussetzungen solch ein umfassendes Glück prinzipiell zulassen könnten.

(7) Erinnert man sich nun, dass das biologische Leben seinen Ausgangspunkt bei der Tatsache nimmt, dass sich in einem Universum, in dem das Gesetz der Entropie gilt (salopp: Ausgleich aller Unterschiede auf Dauer) — in einer bestimmten Region dieses Universums (ob woanders als auf der Erde auch, wissen wir noch nicht; ist aber nicht auszuschließen) durch Verbrauch von Energie lokale Unterschiede gebildet haben, die die Eigenschaft besitzen, als ‚Signale für Ereignisse‘ fungieren zu können, und – mehr noch –, die nicht nur die außergewöhnliche Eigenschaft besitzen, sich ‚kopieren‘ zu können, sondern darüber hinaus auch noch, sich zu ‚immer komplexeren Differenzmustern‘ anreichern zu können, für deren ‚Ausdehnung‘ es keine ‚Grenze‘ zu geben scheint. Diese Differenzmustern verbrauchen immer mehr Energie aus der Umgebung, sind aber in der Lage, ihre ‚Signaleigenschaften‘ dahingehend ‚organisieren‘ zu können, dass Sie unterschiedliche ‚Signalebenen‘ generieren, die sich ‚wechselseitig repräsentieren‘ können. Dadurch besteht die Möglichkeit, dass ‚Ereignisprofile der Umgebung‘ als energetische Muster in die internen Signalstrukturen ‚abgebildet‘ und dort weiter ‚verarbeitet‘ werden können. Auf diese Weise hat das Universum eine Möglichkeit geschaffen, in Form ’selbstorganisierender Differenzstrukturen‘ energetisch bedingte Eigenschaften des Universums in Form von ‚Signalmodellen‘ zu ‚reformulieren‘ und damit ‚explizit‘ zu machen. Durch das Aufspannen von ‚Signalebenen‘ ist auch das entstanden, was wir ‚Bewusstsein‘ nennen. D.h. die sich selbst organisierenden und expandierenden Differenzmuster des ‚Lebens‘ können ‚in sich‘ die Struktur des Universums (einschließlich ihrer selbst) ‚wiederholen‘ und in steigendem Umfang auf diese zurückwirken. Grundsätzlich ist nicht ausgeschlossen, dass das Prinzip der vielschichtigen Differenzmuster nicht nur die wesentlichen Wirkprinzipien des Universums entschlüsselt (und dabei zu einem ‚zweiten‘ Universum, zur ’symbolischen Form‘ des Universums wird), sondern letztlich das gesamte Universum ‚mittels seiner eigenen Prinzipien‘ ‚verändert. In dem Masse, wie dies geschieht, kann das ‚erreichbare Glück‘ für solch eine Differenzstruktur ’sehr weit‘ anwachsen.

(8) Natürlich wird hier auch klar, dass es nicht die einzelne, isolierte Differenzstruktur ist, auf die es ankommt (wenngleich es ohne jede einzelne Struktur auch kein Ganzes geben kann), sondern die Gesamtheit, die nur solange eine ‚Gesamtheit‘ ist, solange es ihr gelingt, sich untereinander durch ‚Kommunikation‘ und entsprechende ‚Verarbeitung‘ zu ‚koordinieren‘. ‚Isolierte‘ hochentwickelte Differenzstrukturen haben keine Überlebenschance auf Dauer; sie vergehen, ohne möglicherweise eine ‚Wirkung‘ entfaltet zu haben. Überleben können nur solche ‚Verbände‘ von Differenzstrukturen, die einen ‚hinreichenden‘ Zusammenhang, sprich eine hinreichende ‚Koordinierung‘ haben. Dies kann bis zu einem gewissen Grad durch ‚Zwang‘ geschehen, aber auf Dauer ist ‚Zwang‘ ‚unproduktiv‘. Ein ‚Optimum‘ liegt nur vor, wenn jede einzelne Differenzstruktur ihr ‚Maximum‘ erreichen kann und diese individuellen Maxima durch ‚Kommunikation‘ miteinander im permanenten ‚Austausch‘ bestehen. Historisch beobachten wir momentan, dass die Kommunkationstechnologie zwar das Ausmaß des Austausches dramatisch erhöhen konnte, dass aber die individuellen Verarbeitungskapazitäten der einzelnen Differenzmuster quasi konstant auf einem bestimmten Niveau verharrt (daneben gibt es  kulturell und machtpolitisch errichtete Barrieren des Austausches und des ungehinderten Denkens, die erheblich sind). Dieser ‚Bottleneck‘ ist eine ernsthafte Gefahr. Es steht den Differenzmustern allerdings frei, ihre Denkpotential zu nutzen, um den ‚eigenen Bottleneck‘ durch geeignete Maßnahmen zu beheben (Denktechnologie in Verbindung mit Gentechnik, d.h. Beschleunigung der Evolution dadurch, dass die Evolution eine ihrer größten Errungenschaften, die Denkmöglichkeiten des homo sapiens, dazu benutzt, ihren Konstruktionsprozess zu beschleunigen. Viele aktuell gehandelte sogenannte ‚Ethiken‘ (salopp: Regeln des richtigen Verhaltens) sind hoffnungslos falsch und damit für das Überleben des Lebens (nicht nur auf der Erde) gefährlich).

Natürlich ist das Thema damit nicht erschöpft. Unser Schicksal ist es, ein großes Ganzes immer nur in Splittern und Bruchstücken denken zu können; viele Splitter können ‚Umrisse‘ ergeben, Umrisse …. usw.

 

 

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