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Homo Sapiens: empirische und nachhaltig-empirische Theorien, Emotionen, und Maschinen. Eine Skizze

5.Aug 2023 – 29.Aug 2023 (10:37h)

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Email: gerd@doeben-henisch.de

(Eine Englische Version findet sich hier: https://www.uffmm.org/2023/08/24/homo-sapiens-empirical-and-sustained-empirical-theories-emotions-and-machines-a-sketch/)

Kontext

Dieser Text stellt die Skizze zu einem Vortrag dar, der im Rahmen der Konferenz „KI – Text und Geltung. Wie verändern KI-Textgeneratoren wissenschaftliche Diskurse?“ (25./26.August 2023, TU Darmstadt) gehalten werden soll. [1] Die Englische Version des überarbeiteten Vortrags findet sich schon jetzt HIER: https://www.uffmm.org/2023/10/02/collective-human-machine-intelligence-and-text-generation-a-transdisciplinary-analysis/ . Die Deutsche Version des überarbeiteten Vortrags wird im Verlag Walter de Gruyter bis Ende 2023/ Anfang 2024 erscheinen. Diese Veröffentlichung wird hier dann bekannt gegeben werden.

Sehr geehrtes Auditorium,

In dieser Tagung mit dem Titel „KI – Text und Geltung. Wie verändern KI-Textgeneratoren wissenschaftliche Diskurse?“ geht es zentral um wissenschaftliche Diskurse und den möglichen Einfluss von KI-Textgeneratoren auf diese Diskurse. Der heiße Kern bleibt aber letztlich das Phänomen Text selbst, seine Geltung.

SICHTWEISEN-TRANS-DISZIPLINÄR

In dieser Konferenz werden zu diesem Thema viele verschiedene Sichten vorgetragen, die zu diesem Thema möglich sind.

Mein Beitrag zum Thema versucht die Rolle der sogenannten KI-Textgeneratoren dadurch zu bestimmen, dass aus einer ‚transdisziplinären Sicht‘ heraus die Eigenschaften von ‚KI-Textgeneratoren‘ in eine ’strukturelle Sicht‘ eingebettet werden, mit deren Hilfe die Besonderheiten von wissenschaftlichen Diskursen herausgestellt werden kann. Daraus können sich dann ‚Kriterien für eine erweiterte Einschätzung‘ von KI-Textgeneratoren in ihrer Rolle für wissenschaftliche Diskurse ergeben.

Einen zusätzlichen Aspekt bildet die Frage nach der Struktur der ‚kollektiven Intelligenz‘ am Beispiel des Menschen, und wie sich diese mit einer ‚Künstlichen Intelligenz‘ im Kontext wissenschaftlicher Diskurse möglicherweise vereinen kann.

‚Transdisziplinär‘ bedeutet in diesem Zusammenhang eine ‚Meta-Ebene‘ aufzuspannen, von der aus es möglich sein soll, die heutige ‚Vielfalt von Textproduktionen‘ auf eine Weise zu beschreiben, die ausdrucksstark genug ist, um eine ‚KI-basierte‘ Texterzeugung von einer ‚menschlichen‘ Texterzeugung unterscheiden zu können.

MENSCHLICHE TEXTERZEUGUNG

Die Formulierung ‚wissenschaftlicher Diskurs‘ ist ein Spezialfall des allgemeineren Konzepts ‚menschliche Texterzeugung‘.

Dieser Perspektivenwechsel ist meta-theoretisch notwendig, da es auf den ersten Blick nicht der ‚Text als solcher ‚ ist, der über ‚Geltung und Nicht-Geltung‘ entscheidet, sondern die ‚Akteure‘, die ‚Texte erzeugen und verstehen‘. Und beim Auftreten von ‚verschiedenen Arten von Akteuren‘ — hier ‚Menschen‘, dort ‚Maschinen‘ — wird man nicht umhin kommen, genau jene Unterschiede — falls vorhanden — zu thematisieren, die eine gewichtige Rolle spielen bei der ‚Geltung von Texten‘.

TEXTFÄHIGE MASCHINEN

Bei der Unterscheidung in zwei verschiedenen Arten von Akteuren — hier ‚Menschen‘, dort ‚Maschinen‘ — sticht sofort eine erste ‚grundlegende Asymmetrie‘ ins Auge: sogenannte ‚KI-Textgeneratoren‘ sind Gebilde, die von Menschen ‚erfunden‘ und ‚gebaut‘ wurden, es sind ferner Menschen, die sie ‚benutzen‘, und das wesentliche Material, das von sogenannten KI-Generatoren benutzt wird, sind wiederum ‚Texte‘, die als ‚menschliches Kulturgut‘ gelten.

Im Falle von sogenannten ‚KI-Textgeneratoren‘ soll hier zunächst nur so viel festgehalten werden, dass wir es mit ‚Maschinen‘ zu tun haben, die über ‚Input‘ und ‚Output‘ verfügen, dazu über eine minimale ‚Lernfähigkeit‘, und deren Input und Output ‚textähnliche Objekte‘ verarbeiten kann.

BIOLOGISCH-NICHT-BIOLOGISCH

Auf der Meta-Ebene wird also angenommen, dass wir einerseits über solche Akteure verfügen, die minimal ‚textfähige Maschinen‘ sind — durch und durch menschliche Produkte –, und auf der anderen Seite über Akteure, die wir ‚Menschen‘ nennen. Menschen gehören als ‚Homo-Sapiens Population‘ zur Menge der ‚biologischen Systeme‘, während ‚textfähige Maschinen‘ zu den ’nicht-biologischen Systemen‘ gehören.

LEERSTELLE INTELLIGENZ-BEGRIFF

Die hier vorgenommene Transformation des Begriffs ‚KI-Textgenerator‘ in den Begriff ‚textfähige Maschine‘ soll zusätzlich verdeutlichen, dass die verbreitete Verwendung des Begriffs ‚KI‘ für ‚Künstliche Intelligenz‘ eher irreführend ist. Es gibt bislang in keiner wissenschaftlichen Disziplin einen allgemeinen, über die Einzeldisziplin hinaus anwendbaren und akzeptierten Begriff von ‚Intelligenz‘. Für die heute geradezu inflatorische Verwendung des Begriffs KI gibt es keine wirkliche Begründung außer jener, dass der Begriff so seiner Bedeutung entleert wurde, dass man ihn jederzeit und überall benutzen kann, ohne etwas Falsches zu sagen. Etwas, was keine Bedeutung besitzt, kann weder wahr‘ noch ‚falsch‘ sein.

VORAUSSETZUNGEN FÜR TEXT-GENERIERUNG

Wenn nun die Homo-Sapiens Population als originärer Akteur für ‚Text-Generierung‘ und ‚Text-Verstehen‘ identifiziert wird, soll nun zunächst untersucht werden, welches denn ‚jene besonderen Eigenschaften‘ sind, die eine Homo-Sapiens Population dazu befähigt, Texte zu generieren und zu verstehen und sie ‚im alltäglichen Lebensprozess erfolgreich anzuwenden‘.

GELTUNG

Ein Anknüpfungspunkt für die Untersuchung der besonderen Eigenschaften einer Homo-Sapiens Text-Generierung und eines Text-Verstehens ist der Begriff ‚Geltung‘, der im Tagungsthema vorkommt.

Auf dem primären Schauplatz des biologischen Lebens, in den alltäglichen Prozessen, im Alltag, hat die ‚Geltung‘ eines Textes mit ‚Zutreffen‘ zu tun. Wenn ein Text nicht von vornherein mit einem ‚fiktiven Charakter‘ geplant wird, sondern mit einem ‚Bezug zum Alltagsgeschehen‘, das jeder im Rahmen seiner ‚Weltwahrnehmung‘ ‚überprüfen‘ kann, dann hat ‚Geltung im Alltag‘ damit zu tun, dass das ‚Zutreffen eines Textes überprüft‘ werden kann. Trifft die ‚Aussage eines Textes‘ im Alltag ‚zu‘, dann sagt man auch, dass diese Aussage ‚gilt‘, man räumt ihr ‚Geltung‘ ein, man bezeichnet sie auch als ‚wahr‘. Vor diesem Hintergrund könnte man geneigt sein fortzusetzen und zu sagen: ‚Trifft‘ die Aussage eines Textes ’nicht zu‘, dann kommt ihr ‚keine Geltung‘ zu; vereinfacht zur Formulierung, dass die Aussage ’nicht wahr‘ sei bzw. schlicht ‚falsch‘.

Im ‚realen Alltag‘ ist die Welt allerdings selten ’schwarz‘ und ‚weiß‘: nicht selten kommt es vor, dass wir mit Texten konfrontiert werden, denen wir aufgrund ihrer ‚gelernten Bedeutung‘ geneigt sind ‚eine mögliche Geltung‘ zu zuschreiben, obwohl es möglicherweise gar nicht klar ist, ob es eine Situation im Alltag gibt — bzw. geben wird –, in der die Aussage des Textes tatsächlich zutrifft. In solch einem Fall wäre die Geltung dann ‚unbestimmt‘; die Aussage wäre ‚weder wahr noch falsch‘.

ASYMMETRIE: ZUTREFFEN – NICHT-ZUTREFFEN

Man kann hier eine gewisse Asymmetrie erkennen: Das ‚Zutreffen‘ einer Aussage, ihre tatsächliche Geltung, ist vergleichsweise eindeutig. Das ‚Nicht-Zutreffen‘, also eine ‚bloß mögliche‘ Geltung, ist hingegen schwierig zu entscheiden.

Wir berühren mit diesem Phänomen der ‚aktuellen Nicht-Entscheidbarkeit‘ einer Aussage sowohl das Problem der ‚Bedeutung‘ einer Aussage — wie weit ist überhaupt klar, was gemeint ist? — als auch das Problem der ‚Unabgeschlossenheit unsres Alltags‘, besser bekannt als ‚Zukunft‘: ob eine ‚aktuelle Gegenwart‘ sich als solche fortsetzt, ob genau so, oder ob ganz anders, das hängt davon ab, wie wir ‚Zukunft‘ generell verstehen und einschätzen; was die einen als ’selbstverständlich‘ für eine mögliche Zukunft annehmen, kann für die anderen schlicht ‚Unsinn‘ sein.

BEDEUTUNG

Dieses Spannungsfeld von ‚aktuell entscheidbar‘ und ‚aktuell noch nicht entscheidbar‘ verdeutlicht zusätzlich einen ‚autonomen‘ Aspekt des Phänomens Bedeutung: hat sich ein bestimmtes Wissen im Gehirn gebildet und wurde dieses als ‚Bedeutung‘ für ein ‚Sprachsystem‘ nutzbar gemacht, dann gewinnt diese ‚assoziierte‘ Bedeutung für den Geltungsbereich des Wissens eine eigene ‚Realität‘: es ist nicht die ‚Realität jenseits des Gehirns‘, sondern die ‚Realität des eigenen Denkens‘, wobei diese Realität des Denkens ‚von außen betrachtet‘ etwas ‚Virtuelles‘ hat.

Will man über diese ‚besondere Realität der Bedeutung‘ im Kontext des ‚ganzen Systems‘ sprechen, dann muss man zu weitreichenden Annahmen greifen, um auf der Meta-Ebene einen ‚begrifflichen Rahmen‘ installieren zu können, der in der Lage ist, die Struktur und die Funktion von Bedeutung hinreichend beschreiben zu können. Dafür werden minimal die folgenden Komponenten angenommen (‚Wissen‘, ‚Sprache‘ sowie ‚Bedeutungsbeziehung‘):

  1. WISSEN: Es gibt die Gesamtheit des ‚Wissens‘, das sich im Homo-Sapiens Akteur im Laufe der Zeit im Gehirn ‚aufbaut‘: sowohl aufgrund von kontinuierlichen Interaktionen des ‚Gehirns‘ mit der ‚Umgebung des Körpers‘, als auch aufgrund von Interaktionen ‚mit dem Körper selbst‘, sowie auch aufgrund der Interaktionen ‚des Gehirns mit sich selbst‘.
  2. SPRACHE: Vom Wissen zu unterscheiden ist das dynamische System der ‚potentiellen Ausdrucksmittel‘, hier vereinfachend ‚Sprache‘ genannt, die sich im Laufe der Zeit in Interaktion mit dem ‚Wissen‘ entfalten können.
  3. BEDEUTUNGSBEZIEHUNG: Schließlich gibt es die dynamische ‚Bedeutungsbeziehung‘, ein Interaktionsmechanismus, der beliebige Wissenselemente jederzeit mit beliebigen sprachlichen Ausdrucksmitteln verknüpfen kann.

Jede dieser genannten Komponenten ‚Wissen‘, ‚Sprache‘ wie auch ‚Bedeutungsbeziehung‘ ist extrem komplex; nicht weniger komplex ist auch ihr Zusammenspiel.

ZUKUNFT UND EMOTIONEN

Neben dem Phänomen Bedeutung wurde beim Phänomen des Zutreffens auch sichtbar, dass die Entscheidung des Zutreffens auch von einer ‚verfügbaren Alltagssituation‘ abhängt, in der sich eine aktuelle Entsprechung ‚konkret aufzeigen‘ lässt oder eben nicht.

Verfügen wir zusätzlich zu einer ‚denkbaren Bedeutung‘ im Kopf aktuell über keine Alltagssituation, die dieser Bedeutung im Kopf hinreichend korrespondiert, dann gibt es immer zwei Möglichkeiten: Wir können diesem gedachten Konstrukt trotz fehlendem Realitätsbezug den ‚Status einer möglichen Zukunft‘ verleihen oder nicht.

Würden wir uns dafür entscheiden, einer ‚Bedeutung im Kopf‘ den Status einer möglichen Zukunft zu zusprechen, dann stehen meistens folgende zwei Anforderungen im Raum: (i) Lässt sich im Lichte des verfügbaren Wissens hinreichend plausibel machen, dass sich die ‚gedachte mögliche Situation‘ in ‚absehbarer Zeit‘ ausgehend von der aktuellen realen Situation ‚in eine neue reale Situation transformieren lässt‘? Und (ii) Gibt es ’nachhaltige Gründe‚ warum man diese mögliche Zukunft ‚wollen und bejahen‘ sollte?

Die erste Forderung verlangt nach einer leistungsfähigen ‚Wissenschaft‘, die aufhellt, ob es überhaupt gehen kann. Die zweite Forderung geht darüber hinaus und bringt unter dem Gewand der ‚Nachhaltigkeit‘ den scheinbar ‚irrationalen‘ Aspekt der ‚Emotionalität‘ ins Spiel: es geht nicht nur einfach um ‚Wissen als solches‘, es geht auch nicht nur um ein ’sogenanntes nachhaltiges Wissen‘, das dazu beitragen soll, das Überleben des Lebens auf dem Planet Erde — und auch darüber hinaus — zu unterstützen, es geht vielmehr auch um ein ‚gut finden, etwas bejahen, und es dann auch entscheiden wollen‘. Diese letzten Aspekte werden bislang eher jenseits von ‚Rationalität‘ angesiedelt; sie werden dem diffusen Bereich der ‚Emotionen‘ zugeordnet; was seltsam ist, da ja jedwede Form von ‚üblicher Rationalität‘ genau in diesen ‚Emotionen‘ gründet.[2]

WISSENSCHAFTLICHER DISKURS UND ALLTAGSSITUATIONEN

In diesem soeben angedeuteten Kontext von ‚Rationalität‘ und ‚Emotionalität‘ ist es nicht uninteressant, dass im Tagungsthema der ‚wissenschaftliche Diskurs‘ als Referenzpunkt thematisiert wird, um den Stellenwert textfähiger Maschinen abzuklären.

Es fragt sich, inwieweit ein ‚wissenschaftlicher Diskurs‘ überhaupt als Referenzpunkt für einen erfolgreichen Text dienen kann?

Dazu kann es helfen, sich bewusst zu machen, dass das Leben auf diesem Planet Erde sich in jedem Moment in einer unfassbar großen Menge von ‚Alltagssituationen‘ abspielt, die alle gleichzeitig stattfinden. Jede ‚Alltagssituation‘ repräsentiert für die Akteure eine ‚Gegenwart‘. Und in den Köpfen der Akteure findet sich ein individuell unterschiedliches Wissen darüber, wie sich eine Gegenwart in einer möglichen Zukunft ‚verändern kann‘ bzw. verändern wird.

Dieses ‚Wissen in den Köpfen‘ der beteiligten Akteure kann man generell ‚in Texte transformieren‘, die auf unterschiedliche Weise einige der Aspekte des Alltags ’sprachlich repräsentieren‘.

Der entscheidende Punkt ist, dass es nicht ausreicht, dass jeder ‚für sich‘ alleine, ganz ‚individuell‘, einen Text erzeugt, sondern dass jeder zusammen ‚mit allen anderen‘, die auch von der Alltagssituation betroffen sind, einen ‚gemeinsamen Text‘ erzeugen muss. Eine ‚kollektive‘ Leistung ist gefragt.

Und es geht auch nicht um ‚irgendeinen‘ Text, sondern um einen solchen, der so beschaffen ist, dass er die ‚Generierung möglicher Fortsetzungen in der Zukunft‘ erlaubt, also das, was traditionell von einem ‚wissenschaftlichen Text‘ erwartet wird.

Aus der umfangreichen Diskussion — seit den Zeiten eines Aristoteles — was denn ‚wissenschaftlich‘ bedeuten soll, was eine ‚Theorie‘ ist, was eine ‚empirische Theorie‘ sein soll, skizziere ich das, was ich hier das ‚minimale Konzept einer empirischen Theorie‘ nenne.

  1. Ausgangspunkt ist eine ‚Gruppe von Menschen‘ (die ‚Autoren‘), die einen ‚gemeinsamen Text‘ erstellen wollen.
  2. Dieser Text soll die Eigenschaft besitzen, dass er ‚begründbare Voraussagen‘ für mögliche ‚zukünftige Situationen‘ erlaubt, denen sich dann in der Zukunft ‚irgendwann‘ auch eine ‚Geltung zuordnen lässt‘.
  3. Die Autoren sind in der Lage, sich auf eine ‚Ausgangssituation‘ zu einigen, die sie mittels einer ‚gemeinsamen Sprache‘ in einen ‚Ausgangstext‘ [A] transformieren.
  4. Es gilt als abgemacht, dass dieser Ausgangstext nur ’solche sprachliche Ausdrücke‘ enthalten darf, die sich ‚in der Ausgangssituation‘ als ‚wahr‘ ausweisen lassen.
  5. In einem weiteren Text stellen die Autoren eine Reihe von ‚Veränderungsregeln‘ [V] zusammen, die ‚Formen von Veränderungen‘ an einer gegebenen Situation ins Wort bringen.
  6. Auch in diesem Fall gilt es als abgemacht, dass nur ’solche Veränderungsregeln‘ aufgeschrieben werden dürfen, von denen alle Autoren wissen, dass sie sich in ‚vorausgehenden Alltagssituationen‘ als ‚wahr‘ erwiesen haben.
  7. Der Text mit den Veränderungsregeln V liegt auf einer ‚Meta-Ebene‘ verglichen mit dem Text A über die Ausgangssituation, der relativ zum Text V auf einer ‚Objekt-Ebene‘ liegt.
  8. Das ‚Zusammenspiel‘ zwischen dem Text V mit den Veränderungsregeln und dem Text A mit der Ausgangssituation wird in einem eigenen ‚Anwendungstext‘ [F] beschrieben: Hier wird beschrieben, wann und wie man eine Veränderungsregel (in V) auf einen Ausgangstext A anwenden darf und wie sich dabei der ‚Ausgangstext A‘ zu einem ‚Folgetext A*‘ verändert.
  9. Der Anwendungstext F liegt damit auf einer nächst höheren Meta-Ebene zu den beiden Texten A und V und kann bewirken, dass der Anwendungstext den Ausgangstext A verändert wird.
  1. In dem Moment, wo ein neuer Folgetext A* vorliegt, wird der Folgetext A* zum neuen Anfangstext A.
  2. Falls der neue Ausgangstext A so beschaffen ist, dass sich wieder eine Veränderungsregel aus V anwenden lässt, dann wiederholt sich die Erzeugung eines neuen Folgetextes A*.
  3. Diese ‚Wiederholbarkeit‘ der Anwendung kann zur Generierung von vielen Folgetexten <A*1, …, A*n> führen.
  4. Eine Serie von vielen Folgetexten <A*1, …, A*n> nennt man üblicherweise auch eine ‚Simulation‘.
  5. Abhängig von der Beschaffenheit des Ausgangstextes A und der Art der Veränderungsregeln in V kann es sein, dass mögliche Simulationen ‚ganz unterschiedlich verlaufen können‘. Die Menge der möglichen wissenschaftlichen Simulationen repräsentiert ‚Zukunft‘ damit also nicht als einen einzigen, bestimmten Verlauf, sondern als eine ‚beliebig große Menge möglicher Verläufe‘.
  6. Die Faktoren, von denen unterschiedliche Verläufe abhängen, sind vielfältig. Ein Faktor sind die Autoren selbst. Jeder Autor ist ja mit seiner Körperlichkeit vollständig selbst Teil genau jener empirischen Welt, die in einer wissenschaftlichen Theorie beschrieben werden soll. Und wie bekannt, kann jeder menschliche Akteur seine Meinung jederzeit ändern. Er kann buchstäblich im nächsten Moment genau das Gegenteil von dem tun, was er zuvor gedacht hat. Und damit ist die Welt schon nicht mehr die gleiche, wie zuvor in der wissenschaftlichen Beschreibung angenommen.

Schon dieses einfache Beispiel zeigt, dass die Emotionalität des ‚Gut-Findens, des Wollens, und des Entscheidens‘ der Rationalität wissenschaftlicher Theorien voraus liegt. Dies setzt sich in der sogenannten ‚Nachhaltigkeitsdiskussion‘ fort.

NACHHALTIGE EMPIRISCHE THEORIE

Mit dem soeben eingeführten ‚minimalen Konzepts einer empirischen Theorie (ET)‘ lässt sich direkt auch ein ‚minimales Konzept einer nachhaltigen empirischen Theorie (NET)‘ einführen.

Während eine empirische Theorie einen beliebig großen Raum an begründeten Simulationen aufspannen kann, die den Raum von vielen möglichen Zukünften sichtbar machen, verbleibt den Akteuren des Alltags die Frage, was sie denn von all dem als ‚ihre Zukunft‘ haben wollen? In der Gegenwart erleben wir die Situation, dass die Menschheit den Eindruck erweckt, als ob sie damit einverstanden ist, das Leben jenseits der menschlichen Population mehr und mehr nachhaltig zu zerstören mit dem erwartbaren Effekt der ‚Selbst-Zerstörung‘.

Dieser in Umrissen vorhersehbare Selbst-Zerstörungseffekt ist aber im Raum der möglichen Zukünfte nur eine Variante. Die empirische Wissenschaft kann sie umrisshaft andeuten. Diese Variante vor anderen auszuzeichnen, sie als ‚gut‘ zu akzeptieren, sie ‚zu wollen‘, sich für diese Variante zu ‚entscheiden‘, liegt in jenem bislang kaum erforschten Bereich der Emotionalität als Wurzel aller Rationalität.

Wenn sich Akteure des Alltags für eine bestimmte rational aufgehellte Variante von möglicher Zukunft entschieden haben, dann können sie jederzeit mit einem geeigneten ‚Evaluationsverfahren (EVAL)‘ auswerten, wie viel ‚Prozent (%) der Eigenschaften des Zielzustandes Z‘ bislang erreicht worden sind, vorausgesetzt, der favorisierte Zielzustand wird in einen passenden Text Z transformiert.

Anders formuliert: in dem Moment, wo wir Alltagsszenarien über geeignete Texte in einen rational greifbaren Zustand transformiert haben, nehmen die Dinge eine gewisse Klarheit an und werden dadurch — in gewisser Weise — einfach. Dass wir solche Transformationen vornehmen und auf welche Aspekte eines realen oder möglichen Zustands wir uns dann fokussieren, das ist aber als emotionale Dimension der textbasierten Rationalität vor-gelagert.[2]

MENSCH-MASCHINE

Nach diesen vorbereitenden Überlegungen stellt sich die abschließende Frage, ob und wie die Hauptfrage dieser Tagung „Wie verändern KI-Textgeneratoren wissenschaftliche Diskurse?“ in irgendeiner Weise beantwortet werden kann?

Meine bisherigen Ausführungen haben versucht aufzuzeigen, was es bedeutet, dass Menschen kollektiv Texte erzeugen, die die Kriterien für einen wissenschaftlichen Diskurs erfüllen, der zudem die Anforderungen für empirische oder gar nachhaltig-empirische Theorien erfüllt.

Dabei zeigt sich, dass sowohl bei der Generierung eines kollektiven wissenschaftlichen Textes wie auch bei seiner Anwendung im Alltag ein enger Wechselbezug sowohl mit der gemeinsamen erfahrbaren Welt wie auch mit den dynamischen Wissens- und Bedeutungskomponenten in jedem Akteur eine Rolle spielen.

Der Aspekt der ‚Geltung‘ ist Teil eines dynamischen Weltbezugs, dessen Einschätzung als ‚wahr‘ beständig im Fluss ist; während der eine Akteur vielleicht dazu tendiert zu sagen „Ja, kann stimmen“, tendiert ein anderer Akteur vielleicht gerade zum Gegenteil. Während die einen eher dazu tendieren, eine mögliche Zukunftsvariante X zu favorisieren, wollen die anderen lieber die Zukunftsvariante Y. Rationale Argumente fehlen; die Gefühle sprechen. Während eine Gruppe gerade beschlossen hat, dem Plan Z zu ‚glauben‘ und ihn ‚umzusetzen‘, wenden sich die anderen ab, verwerfen Plan Z, und tun etwas ganz anderes.

Dieser unstete, unsichere Charakter des Zukunft-Deutens und Zukunft-Handelns begleitet die Homo Sapiens Population von Anbeginn. Der unverstandene emotionale Komplex begleitet den Alltag beständig wie ein Schatten.[2]

Wo und wie können ‚textfähige Maschinen‘ in dieser Situation einen konstruktiven Beitrag leisten?

Angenommen es liegt ein Ausgangstext A vor, dazu ein Veränderungstext V sowie eine Anleitung F, dann könnten heutige Algorithmen alle möglichen Simulationen schneller durchrechnen als es Menschen könnten.

Angenommen zusätzlich es läge auch noch ein Zieltext Z vor, dann könnte ein heutiger Algorithmus auch eine Auswertung zum Verhältnis zwischen einer aktuellen Situation als A und dem Zieltext Z berechnen.

Mit anderen Worten: wäre eine empirische oder eine nachhaltig-empirische Theorie mit ihren notwendigen Texten formuliert, dann könnte ein heutiger Algorithmus alle möglichen Simulationen und den Grad der Zielerfüllung automatisch schneller berechnen, als jeder Mensch allein.

Wie steht es aber mit der (i) Ausarbeitung einer Theorie bzw. (ii) mit der vor-rationalen Entscheidung für eine bestimmte empirische oder gar nachhaltig-empirische Theorie ?

Eine klare Antwort auf beide Fragen erscheint mir zum aktuellen Zeitpunkt kaum möglich, verstehen wir Menschen doch noch zu wenig, wie wir selbst im Alltag kollektiv Theorien bilden, auswählen, überprüfen, vergleichen und auch wieder verwerfen.

Meine Arbeitshypothese zum Thema lautet: dass wir sehr wohl lernfähige Maschinen brauchen werden, um in der Zukunft die Aufgabe erfüllen zu können, brauchbare nachhaltig-empirische Theorien für den gemeinsamen Alltag zu entwickeln. Wann dies aber real geschehen wird und in welchem Umfang scheint mir zum jetzigen Zeitpunkt weitgehend unklar.

ANMERKUNGEN

[1] https://zevedi.de/themen/ki-text/

[2] Das Sprechen über ‚Emotionen‘ im Sinne von ‚Faktoren in uns‘, die uns dazu bewegen, aus dem Zustand ‚vor dem Text‘ in den Zustand ‚geschriebener Text‘ überzugehen, der lässt sehr viele Aspekte anklingen. In einem kleinen explorativen Text „STÄNDIGE WIEDERGEBURT – Jetzt. Schweigen hilft nicht …“ ( https://www.cognitiveagent.org/2023/08/28/staendige-wiedergeburt-jetzt-schweigen-hilft-nicht-exploration/ ) hat der Autor versucht, einige dieser Aspekte anzusprechen. Beim Schreiben wird deutlich, dass hier sehr viele ‚individuell subjektive‘ Aspekte eine Rolle spielen, die natürlich nicht ‚isoliert‘ auftreten, sondern immer auch einen Bezug zu konkreten Kontexten aufblitzen lassen, die sich mit dem Thema verknüpfen. Dennoch, es ist nicht der ‚objektive Kontext‘, der die Kernaussage bildet, sondern die ‚individuell subjektive‘ Komponente, die im Vorgang des ‚ins-Wort-Bringens‘ aufscheint. Diese individuell-subjektive Komponenten wird hier versuchsweise als Kriterium für ‚authentische Texte‘ benutzt im Vergleich zu ‚automatisierten Texten‘ wie jene, die von allerlei Bots generiert werden können. Um diesen Unterschied greifbarer zu machen, hat der Autor sich dazu entschieden, mit dem zitierten authentischen Text zugleich auch einen ‚automatisierten Text‘ mit gleicher Themenstellung zu erzeugen. Dazu hat er chatGBT4 von openAI benutzt. Damit beginnt ein philosophisch-literarisches Experiment, um auf diese Weise vielleicht den möglichen Unterschied sichtbarer zu machen. Aus rein theoretischen Gründen ist klar, dass ein von chatGBT4 erzeugter Text im Ursprung niemals ‚authentische Texte‘ erzeugen kann, es sei denn, er benutzt als Vorlage einen authentischen Text, den er abwandeln kann. Dann ist dies aber ein klares ‚fake Dokument‘. Um solch einem Missbrauch vorzubeugen, schreibt der Autor im Rahmen des Experiments den authentischen Text zu erst und beauftragt dann chatGBT4 zur vorgegebenen Themenstellung etwas zu schreiben, ohne dass chatGBT4 den authentischen Text kennt, da er noch nicht über das Internet in die Datenbasis von chatGBT4 Eingang gefunden hat.

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

MENSCH-MENSCH COMPUTER. Gemeinsam Planen und Lernen. Erste Notizen

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 2.-9.Oktober 2020
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

ÜBERBLICK

Der folgende Text entstand unter dem Eindruck der theoretischen und
praktischen Arbeiten, wie sie in meinem Engineering-Blog bislang dokumentiert
sind. Letztlich geht es darum, das aktuelle Paradigma der Informatik
und der übergreifenden Digitalisierung der Gesellschaft umzudrehen:
statt den Menschen nur als Datenfutter für anonyme Algorithmen zu benutzen,
ihn als digitalen Sklaven zu behandeln, der weitgehend zu einem
rechtlosen Spielball von internationalen Konzernen geworden ist, deren
Interessen weder die Interessen der Benutzer noch derjenigen von demokratischen
Gesellschaften sind, soll wieder der Mensch in das Zentrum
der Betrachtung gerückt werden und die Frage, was können wir tun, um
den Menschen mehr zu befähigen, gemeinsam mit anderen die mögliche
Zukunft besser zu verstehen und vielleicht besser zu gestalten. Der moderne
Mensch begreift sich als Teil der umfassenden Biosphäre auf diesem
Planeten und trägt eine besondere Verantwortung für diese.

Letzte Änderung: 9.Okt.2020

PDF-Dokument

Änderung 9.Okt.2020: Die Rahmenbedingungen von einer gegebenen Situation (hier als Problem) zu einer möglichen zukünftigen Situation (hier als positive Vision) werden etwas genauer analysiert.

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Wieweit können wir unseren eigenen Gedanken trauen, dass sie wahr sind? Memo zur Philosophiewerkstatt vom 11.Juni 2017

Abstract—Dieser Text schildert die Eingangsgedanken
zur Philosophiewerkstatt vom 11.Juni 2017 (in aktualisierter
Form) und berichtet anhand der Gedankenskizze
vom Gespräch. Zu vielen Aspekten und Gedanken blieben
abschließende Stellungnahmen aufgrund der knappen Zeit
aus. Vielleicht l ässt sich dies in der letzten Sitzung vor der
Sommerpause am 16.Juli 2017 noch ergänzen.

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I. Einleitung

A. Erbe aus der letzten Sitzung

In der letzten Philosophiewerkstatt vom 30.April 2017 wurde eine Linie skizziert vom körperlichen Dasein eines Menschen in einem Raum, zu seinem Innenleben voller Eindrücke und Gedanken, durchsetzt von Gefühlen, von dort zu seinem Körper mit dem Nervensystem und Gehirn, durch die das Innenleben möglich wird, und dann der Hinweis auf das Werkzeug Sprache, wodurch Menschen ihr eigenes Innenleben mit dem Innenleben anderer Menschen unterschiedlich gut verknüpfen können.

Im Gespräch zeigte sich dann, dass das Verhältnis von sprachlichem Ausdruck zu dem mit dem Ausdruck Gemeintem (die intendierte Bedeutung) alles andere als einfach ist, kein ‚Selbstläufer‘, kein Automatismus für wahr Sätze. Es entstand vielmehr der Eindruck, dass die Möglichkeit zur subjektiven Täuschung, zur Verzerrung, zum Irrtum von vornherein gegeben ist. Etwas Angemessenes, Richtiges, Wahres sagen zu können erfordert viel Aufmerksamkeit und viel Erfahrung. Was aber, wenn große Teile der Erfahrung schon falsch sind? Wenn gar eine ganze Kultur ’schief liegt‘?

Im folgenden werden zwei berühmte philosophisch-wissenschaftliche Positionen thesenartig vorgestellt, die zu weiterem Nachdenken anregen können.

B. Nilsson: Alles ist Glauben

Nils John Nilssonist ein US-amerikanischer Informatiker, der mit zu den Gründungsvätern der modernen Informatik zählt, hier speziell im Gebiet der künstlichen Intelligenz (KI). Sehr spät, 2014, hat er ein Buch publiziert mit dem Titel Understanding Beliefs.

Nilsson 2014: Mensch so wie Roboter
Nilsson 2014: Mensch so wie Roboter

In dem Maße wie die Informatik im Bereich der KI-Forschung mit Prozessen zu tun hat, die dem menschlichen Erkennen und Denken ähneln, in dem Maße stellen sich hier auch ähnliche — wenn nicht gar die ‚gleichen‘ — Fragen, wie die, die sich uns Menschen stellen, wenn wir über unser eigenes Denken nachsinnen wollen. In der Philosophie nennt man dieses Gebiete des philosophischen Denkens Erkenntnistheorie (engl.: epistemology). Und in der Tat, Nilsson, nach vielen Jahrzehnten der KI-Forschung, wendet sich in seinem jüngsten Buch dezidiert erkenntnistheoretischen Fragen zu, und in diesem Fall nicht Fragen des Denkens bei Maschinen, sondern, genau umgekehrt, herausgefordert durch seine Beschäftigung mit den Maschinen, den Fragen des Erkennens beim Menschen, bei uns selbst.

Bemerkenswert ist hier allerdings seine Formulierung. Ausgehend von den Robotern (vgl. Bild ‚Mensch so wie Roboter‘), die er kennt, weil er selber Roboter entwickelt, gebaut und getestet hat, überträgt er das Robotermodell — so scheint es — einfach auf die Menschen. Genauso, wie es bei dem Roboter ist (it is the same for us humans (vgl.KP 55)) mit sensorischer Wahrnehmung, daraus resultierendem Wissen und Erklärungen und Folgerungen, genau so sei es bei uns Menschen. Auch der menschliche Körper hat eine Sensorik, ein auf der Wahrnehmung basierendes Wissen und zusätzliches Wissen als Erklärung und Folgerungen.Im Fall des Menschen ist es allerdings nicht ein Ingenieur, der baut, sondern der Prozess der biologischen Evolution, der aus Zellen mit DNA-Molekülen menschliche Körper entstehen lässt. (vgl. KP 55ff)

Struktur des menschlichen Wissens nach Nilsson (2014), Kap.1
Struktur des menschlichen Wissens nach Nilsson (2014), Kap.1

Bei der Beschreibung des menschlichen Wissens (vgl. Bild ‚Struktur menschlichen Wissens) unterscheidet Nilsson am Körper der Menschen grundsätzlich Sensorik, die die Außenweltereignisse wahrnehmen kann, dann das Gehirn, das alle Signale verarbeitet, und indirekt das Bewusstsein, in dem unsere Wahrnehmungen und unser Wissen sich zeigen.[Anmerkung: Nilsson erwähnt das Bewusstsein in diesem Kapitel nicht explizit!] Ferner nimmt er ebenfalls nur implizit das beobachtbare Verhalten an, das die Grundlage für die empirische Psychologie bildet.

In Korrespondenz zu diesen Annahmen unterscheidet Nilsson grundsätzlich drei verschiedene Disziplinen, die sich mit menschlichem Wissen beschäftigen: die Philosophie, die Kognitionswissenschaften in Gestalt der kognitiven Psychologie, und die Neurowissenschaften.

Die Neurowissenschaften sortiert er schnell aus, da sie bislang nach seiner Einschätzung noch kein hinreichendes Wissen darüber erarbeitet haben, wie unser Wissen und unsere Überzeugungen im Gehirn tatsächlich repräsentiert sind. [Anmk: Womit sich die Frage stellt, woher wissen wir denn überhaupt etwas über unser Wissen; das Bewusstsein erwähnt er ja nicht.]

Die Philosophie in Form von Erkenntnistheorie (engl.: epistemology) erwähnt er auch nur kurz. Die Erkenntnistheorie beschäftige sich hauptsächlich mit Wissen in Form von deklarativem Wissen, das mittels erklärenden feststellenden sprachlichen Äußerungen artikuliert wird.

Die Kognitionspsychologie (die auch zu den Kognitionswissenschaften gerechnet wird) wird auch nur beiläufig erwähnt. Diese entwickelt theoretische Modelle über das deklarative (Wissen, dass) und prozedurale (Wissen wie) Wissen.

Details über diese verschiedene Disziplinen sowie ihr mögliches Zusammenwirken werden nicht mitgeteilt.

Unbeschwert von methodischen Anforderungen der genannten drei Disziplinen geht Nilsson dann relativ schnell zu der Behauptung über, dass Überzeugungen und Wissen letztlich das Gleiche seien. All unser tatsachenbezogenes Wissen drückt sich in unseren Überzeugungen aus. Überzeugungen sind hypothetisch und veränderbar; sie bilden eine schier unendliche Liste. Sie enthalten inhaltlich Annahmen über Objekte, Eigenschaften und Beziehungen. Ausgedrückt/ artikuliert werden Überzeugungen durch sprachliche Äußerungen in der Form von feststellenden (deklarativen) Ausdrücken. Viele Sätze zusammen bilden dann Theorien bzw. Modelle, die die Realität der Außenwelt für uns Menschen ersetzen, da wir sie so real erleben, als ob sie die Realität wären. Tatsächlich sind sie im Vergleich zur Realität der Außenwelt aber nur virtuelle Größen, die unser Gehirn aufgrund der Sinnesdaten berechnet und uns als produzierte (= virtuelle) Realität anbietet.

Ob und wieweit virtuelle Modelle der Realität ‚entsprechen‘, das müssen spezielle wissenschaftliche Verfahren klären. Ein Mensch kann nicht nur direkt einen bestimmten Sachverhalt X ‚glauben‘, er kann auch glauben, dass der Sachverhalt X nicht zutrifft.

C. Popper: Wider die Unüberwindbarkeit des begrifflichen Rahmens

Von Karl Popper gibt es viele gewichtige Schriften. Hier soll sein Aufsatz The Myth of the Framework berücksichtigt werden, der als Kapitel 2 des Buches The Myth of the Framework: In Defence of Science and Rationality 1994 erschienen ist.

In diesem Text vertritt Popper einige Kernthesen, die er — aufgrund seines umfangreichen historischen Wissens — mit sehr vielen Beispielen illustriert. So interessant diese Beispiele sind, so können sie aber auch die Kernthesen verdecken. Im Folgenden (siehe dazu auch Bild ‚Gegen den Mythos von der …‘) werden daher die historischen Beispiele weitgehend ausgeblendet. Dem interessierten Leser sei aber empfohlen, den ganzen Text zu lesen.

https://www.cognitiveagent.org/wp-content/uploads/2017/06/PopperMythFramework1-2400.jpg
Popper (1994): Gegen den Mythos von der Unüberwindbrkeit des begrifflichen Rahmens

Popper beginnt seinen Text mit einer These, die er dem sogenannten Relativismus zuschreibt: dass jeder Mensch in seinem Denken jeweils einen bestimmten kulturellen Kontext widerspiegele, und dieser Kontext sich in Form eines bestimmten begrifflichen Rahmens (engl.: framework) bestimmend auf das Denken auswirke. Die Wahrnehmung der Welt wird im Lichte des begrifflichen Rahmens so stark bestimmt, dass ein anderer Mensch mit einem anderen kulturellen Kontext bei gleichen Wahrnehmungen zu unterschiedlichen Interpretationen kommen würde. Diese kulturell und dann begrifflich-rahmenmäßig induzierten Interpretationsunterschiede seien unüberwindlich.

Dieser Auffassung widerspricht Popper vehement.

Dabei macht er gleich zu Beginn eine Unterscheidung, die er leider nicht weiter ausführt und systematisiert: er weist darauf hin, dass man zwischen dem jeweiligen begrifflichen Rahmen und den Voraussetzungen für einen Dialog unterscheiden muss. Das eine ist, was wir wissen (innerhalb unseres begrifflichen Rahmens), das andere sind psychologische und soziale Rahmenbedingungen, die festlegen, ob und wie wir miteinander kommunizieren. Explizit nennt er hier illustrierend die Toleranz, den guten Willen, Freiheit, Rationalität und auch eine demokratische Verfasstheit. Diese (und andere) Faktoren können einen offenen, kritischen Diskurs fördern.

Dass ein offener Diskurs wichtig ist, das liegt daran, dass gerade bei Unterschieden im begrifflichen Rahmen angesichts unterschiedlicher Kulturen diese Unterschiede eine Herausforderung darstellen: wirken diese Unterschiede bedrohlich? Haben sie möglicherweise einschneidende negative Folgen für die Betroffenen? Es besteht dann die Gefahr einer Ablehnung, die sich mit Gewalt verbindet, bis hin zum Krieg. Werden Unterschiede aber offen aufgegriffen, nüchtern analysiert, versucht man aus ihnen zu lernen, kommt man aufgrund von Unterschieden zu neuen, möglicherweise besseren Einsichten, dann können alle Beteiligten aus solchen Unterschieden einen Gewinn ziehen. Und genau für diesen konstruktiv-positiven Umgang mit Unterschieden haben sich im Laufe der Jahrhunderte und sogar Jahrtausenden Haltungen wie Toleranz und Rationalität sehr bewährt.

Es fragt sich, was man näher hin unter einem begrifflichen Rahmen verstehen soll. Diese Frage wird von Popper nicht sehr präzise beantwortet. Allgemein bauen wir unsere begriffliche Rahmen als Teil unserer Kultur auf, um die Welt, das Leben zu erklären. Dies beinhaltet zahlreiche Annahmen (engl.: assumptions) und Prinzipien. In der Wahrnehmung der Welt geht der begriffliche Rahmen insoweit ein, als jede Beobachtung Theorie geladen ist (engl.: theory impregnated). Wahre Aussagen sind solche, die sich mit Bezug auf reale Sachverhalten entscheiden lassen. Sofern ein solcher entscheidbarer Bezug auf Sachverhalte verfügbar ist, sind sprachliche Aussagen unterschiedlicher Sprachen ineinander übersetzbar. Durch eine solche Entscheidbarkeit von Sätzen gibt es Ansatzpunkte für eine Falsifizierbarkeit. Popper geht allerdings nicht näher darauf ein, ob und wie sich die Entscheidbarkeit einzelner Aussagen im größeren Kontext einer Theorie nutzen lässt.

II. Nilsson, Popper und das Gespräch

Im nachfolgenden Gespräch wurden die Thesen von Nilsson und Popper von den Teilnehmern nur sehr indirekt angesprochen.[Anmk: An dem Tag lagen die graphischen Interpretationen noch nicht vor und die verfügbare Zeit war ein bisschen knapp,um die Text voll zu lesen.] Es wird daher erst das Gespräch kurz skizziert und dann werden einige Fragen aufgeführt, die sich angesichts der vorausgehenden Themen stellen können. Möglicherweise wird die nächste Sitzung der Philosophiewerkstatt am So 16.Juli 2017 eine Weiterführung und Vertiefung der aktuellen Überlegungen bringen, zusätzlich angereichert von Thesen von Deutsch (1997) „The Fabric of Reality“.

III. Memo Gespräch

Gedankenbild zum Gespräch der Philosophiewerkstatt vom 11.Juni 2017
Gedankenbild zum Gespräch der Philosophiewerkstatt vom 11.Juni 2017

A. Alltagserfahrung

Das Gespräch nahm seinen (natürlichen) Ausgangspunkt bei Alltagserfahrungen der Teilnehmer. Alle empfinden die Situation so, dass sie immer schneller mit immer mehr Fakten überflutet werden; dies führt dazu, dass sich Wissen durch die schiere Menge selbst relativiert. Das Reden von ‚Wissen‘, das heute überall verfügbar sei, gewinnt dadurch fast illusorische Züge, da der einzelne mit seinem Gehirn in seinem Leben nur einen Bruchteil des verfügbaren Wissens wird verarbeiten können.

Diese Relativität von Wissen prägt unsere politischen Formen (Mehrheiten, keine absoluten Wahrheiten) und auch die Rechtsfindung (Fakten sammeln, abwägen, evaluierten). Die leitenden Rechtsnormen repräsenieren keine absoluten Werte und sind interpretationsbedürftig.

B.Kinder

Die Entwicklung der Kinder war schon oft ein Modellfall für viele Fragen. Auch für die Frage nach der Wahrheit war dies wieder ergiebig: sie überschwemmen ihre Umgebung mit Warum-Fragen und suchen Deutungsangebote. Ein Blick in die Kulturen und Geschichte deutet an, dass die Suche nach Erklärungen möglicherweise ein tiefsitzendes Bedürfnis des Menschen nach Verstehen, nach Sicherheit widerspiegelt. Und insofern von der Deutung/ Erklärung viele praktischen Konsequenzen abhängen können, stellt sich die Frage nach der Wahrheit eines Zutreffens in der Erfahrungswelt meist nicht interessefrei.

C. Wissenschaftliches Wissen

Es ist interessant, dass die Menschen erst nach vielen tausend Jahren in der Lage waren, die Produktion und Pflege von wahrem, nachprüfbaren Wissen zu beherrschen. Wissenschaftliches Wissen gründet auf nachvollziehbaren, wiederholbaren Messprozessen, die als solche jedem zugänglich sind, die unabhängig sind von den inneren Zuständen des einzelnen. Solche wissenschaftliche Messungen generieren für einen bestimmten Zeitpunkt und einen bestimmten Ort einen Messwert. Messwerte als solche bieten aber keine Erklärung. Um einzelne Messwerte für die Zwecke der Erklärung zu benutzen, muss eine allgemeine Beziehung generiert werden, die für alle bekannten Messwerte funktioniert. Diese Beziehung ist kein empirisches Objekt im üblichen Sinne, sondern eine kreative Erfindung des Wissenschaftlers, der damit versucht, die Messwerte zu deuten. In der Regel hilft das verfügbare Vorwissen bei der Formulierung solch einer Hypothese. Gelingt es, mit Hilfe eines allgemeinen Verfahrens andere potentielle Messwerte voraus zu sagen (Prognose), dann wird dies üblicherweise als Bestätigung der Hypothese interpretiert; im anderen Fall spricht man von einer Abschwächung oder gar Widerlegung (Falsifikation).

D. Biologische Evolution

Interessant ist, dass es zwischen diesem experimentellen Vortasten des Wissenschaftlers und dem Prozess der biologischen Evolution direkte Parallelen gibt. Im Prozess der biologischen Evolution besitzt jede Zelle im DNA-Molekül eine Art Vorwissen der bisherigen Erfolge, und ergänzend dazu werden zufällig-kreativ zahllose neue Varianten gebildet. Einige von diesen neuen Varianten zeugen dann, dass sie funktionieren (d.h. meistens: überleben können), andere nicht. Das Überleben ist in diesem Zusammenhang dann die Bestätigung.

E. Menschliches Bewusstsein

Die wissenschaftliche Form des Wissens wirft auch Licht auf eine fundamentale Eigenart des menschlichen Bewusstseins. Im menschlichen Bewusstsein treffen die konkreten sensorischen Ereignisse zusammen mit den abstrahierten, geclusterten, vernetzten Elementen des Gedächtnisses. Dadurch kann jeder Mensch beständig konkrete Objekte als Instanzen von allgemeinen Begriffen erkennen und sieht sie sogleich in allen möglichen Kontexten. Dies ist einerseits sehr hilfreich, birgt aber zugleich auch die Gefahr, dass eine falsche Vorerfahrung aktuelle Wahrnehmungen falsch einordnet.

In allen Kontexten tauchten immer wieder auch die Frage nach den Werten auf. Es blieb offen welche Rolle Gefühle wie angenehm/ unangenehm spielen, unterschiedliche Interessen, Bedürfnisse. Welchen Stellenwert haben sie letztlich?

 

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AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 15

VORGESCHICHTE

Für einen Überblick zu allen vorausgehenden Beiträgen dieser rekonstruierenden Lektüre von Avicennas Beitrag zur Logik siehe AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – BLITZÜBERSICHT.

Übersicht zum Wissen K bestehend aus Ausdrücken E, Objekten O sowie Bedeutungsbeziehungen M
Übersicht zum Wissen K bestehend aus Ausdrücken E, Objekten O sowie Bedeutungsbeziehungen M

WAHR UND FALSCHE AUSSAGEN

1. Nach dem Blogeintrag Avicenna 14b gibt es jetzt Ausdrücke A, B, …, die ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ sein können und die wir deshalb ‚Aussagen‘ (auch ‚Propositionen‘) nennen. Aussagen können mittels aussagenlogischer Operatoren wie ‚NEGATION‘, ‚UND‘, ‚IMPLIKATION‘ usw. zu komplexeren Ausdrücken so verknüpft werden, dass jederzeit ermittelt werden kann, wie der Wahrheitswert des komplexen Ausdrucks lautet, wenn die Wahrheitswerte der Teilausdrücke bekannt sind. Ob im Einzelfall eine Aussage A ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ ist, muss durch Rückgriff auf ihre Bedeutungsbeziehung M(A) geklärt werden. Bislang ist nur klar, dass die Bedeutungsbeziehung M nur allgemein eine Beziehung zu den (kognitiven) Objekten O herstellt (siehe Grafik oben).

2. Avicenna spricht aber nicht nur von Aussagen A allgemein, sondern unterscheidet die Teilausdrücke ‚Subjekt‘ S und ‚Prädikat‘ P, zusätzlich oft noch ‚Quantoren‘ Q.

FEINSTRUKTUR DER BEDEUTUNG VON AUSDRÜCKEN

3. Man kann und muss dann die Frage stellen, ob und wie sich auf der Bedeutungsseite die Unterscheidung in S und P auf der Ausdrucksseite widerspiegelt?

ECHTE UND UNECHTE OBJEKTE

4. In vorausgehenden Blogeinträgen zu Avicenna (Avicenna 4, 5, 7 und 11) wurde schon unterschieden zwischen ‚echten‘ und ‚unechten‘ Objekten. ‚Unechte Objekte‘ sind solche Wissenstatbestände, die man zwar identifizieren und unterscheiden kann, die aber immer nur im Kontext von ‚echten Objekten‘ auftreten. ‚Unechte‘ Objekte werden meistens als ‚Eigenschaften‘ bezeichnet. Beispiel: die Farbe ‚Rot‘ können wir wahrnehmen und z.B. von der Farbe ‚Blau‘ unterscheiden, die Farbe ‚Rot‘ tritt aber nie alleine auf so wie z.B. Gegenstände (Tassen, Stühle, Früchte, Blumen, …) alleine auftreten.

5. Hier wird davon ausgegangen, dass die Objekthierarchie O primär von echten Objekten gebildet wird; unechte Objekte als Eigenschaften treten nur im Kontext eines echten Objekts auf.

GATTUNG UND ART; KATEGORIEN

6. Ein Objekt kann viele Eigenschaften umfassen. Wenn es mehr als ein Objekt gibt – also O1, O2, … — die sowohl Eigenschaften Ex gemeinsam haben wie auch Eigenschaften Ey, die unterschiedlich sind, dann kann man sagen, dass alle Objekte, die die Eigenschaften Ex gemeinsam haben, eine ‚Gattung‘ (‚genus‘) bilden, und dass man anhand der ‚unterscheidenden Eigenschaften Ey‘ unterschiedliche ‚Arten‘ (’species‘) innerhalb der Gattung unterscheiden kann.

7. Gattungen, die keine Gattungen mehr ‚über sich‘ haben können, sollen hier ‚Kategorien‘ genannt werden.

ONTOLOGISCHE UND DEFINITORISCHE (ANALYTISCHE) WAHRHEIT

8. Bislang ist der Wahrheitsbegriff $latex \top, \bot$ in dieser Diskussion an der hinreichenden Ähnlichkeit eines vorgestellten/ gedachten kognitiven) Objekts $latex a \in Oa$ mit sinnlichen wahrnehmbaren Eigenschaften $latex s \subseteq Os$ festgemacht worden. Ein ‚rein gedachtes Objekt $latex a \in Oa$ ist in diesem Sinne weder ‚wahr‘ $latex \top$ noch ‚falsch‘ $latex \bot$.

9. Setzt man allerdings eine Objekthierarchie O voraus, in der man von einem beliebigen individuellem Objekt a immer sagen kann, zu welchem Objekt Y es als seiner Gattung gehört, dann kann man eine Aussagen der Art bilden ‚a ist eine Tasse‘.

10. Wenn man zuvor in einer Definition vereinbart haben sollte, dass zum Begriff der ‚Tasse‘ wesentlich die Eigenschaften Ex gehören, und das Objekt a hätte die Eigenschaften $latex Ex \cup Ey$, dann würde man sagen, dass die Aussage ‚a ist eine Tasse‘ ‚wahr‘ ist, unabhängig davon, ob es zum kognitiven Objekt a ein ’sinnliches‘ ‚Pendant‘ geben würde oder nicht. Die Aussage ‚a ist eine Tasse‘ wäre dann ‚rein definitorisch‘ (bzw. ‚rein analytisch‘) ‚wahr.

11. Im Gegensatz zu solch einer rein definitorischen (analytischen) Wahrheit eines Objekts a, die als solche nichts darüber sagt, ob es das Objekt a ‚tatsächlich‘ gibt, soll hier die ursprünglich vereinbarte ‚Wahrheit‘ durch Bezug auf eine ’sinnliche Gegebenheit‘ $latex s \subseteq Os$ ‚ontologische‘ Wahrheit genannt werden, also einer Wahrheit, die sich auf das ‚real Seiende‘ in der umgebenden Welt W bezieht.

12. [Anmerkung: Dieses – auch im Alltagsdenken – unterstellte ‚Sein‘, die unterstellte übergreifende ‚Realität‘ ist nicht nur eine ‚Extrapolation‘ aufgrund sinnlicher Gegebenheiten ‚im‘ wissenden System, sondern ist in seiner unterstellten ‚Realität‘ auch nur eine sehr spezifische Form von Realität. Wie wir heute aufgrund immer komplexerer Messprozeduren wissen, gibt es ‚Realitäten‘, die weit jenseits aller sinnlichen Qualitäten liegen. Es fällt uns nur nicht so auf, weil diese gemessenen Eigenschaften X durch allerlei Prozeduren für unsere Sinnesorgane ‚umgerechnet‘, ‚transformiert‘ werden, so dass wir etwas ‚Sehen‘ oder ‚Hören‘, obgleich das gemessene X nicht zu sehen oder zu hören ist.]

13. Solange wir uns in unseren Aussagen auf das Enthaltensein eines Objektes a in einem Gattungsobjekts X beschränken ‚a ist ein X‘ oder das Feststellen von Eigenschaften der Art ‚a hat b‘ kann man sagen, dass eine Aussagestruktur wie (S P) wie folgt interpretiert werden kann: Es gibt einen Ausdruck A=(AsAp), bei dem ein Ausdrucksteil As sich auf ein echtes Objekt M(As) = $latex a \in Oa$ bezieht und der andere Ausdrucksteil Ap bezieht sich auf die Beziehung zwischen dem Objekt a und entweder einem Gattungsobjekt X (Ap = ‚ist ein X‘) oder auf eine Eigenschaft Y (Ap = ‚hat Y‘).

14. Derjenige Ausdrucksteil As, der sich auf das echte Objekt a bezieht, ‚von dem‘ etwas ausgesagt werden soll (‚ist ein…‘, ‚hat …‘), dieser Ausdrucksteil wird als ‚Subjekt‘ S bezeichnet, und der Ausdrucksteil Ap, mittels dem etwas über das Subjekt ausgesagt wird, wird ‚Prädikat‘ P genannt.

15. Hierbei ist eine gewisse ‚Asymmetrie‘ zu beachten. Die Bedeutung vom Ausdrucksteil As – M(As) – bezieht sich auf eine ‚konkrete‘ Eigenschaftsstruktur innerhalb der Objekthierarchie. Die Bedeutung vom Ausdrucksteil Ap – M(Ap) – bezieht sich auf eine ‚Beziehung‘ / ‚Relation’/ ein ‚Verhältnis‘ [R] zwischen dem bezeichneten Bedeutungsobjekt M(As) = a und einem anderen bezeichneten Bedeutungsobjekt M(Ap), also R(M(As), M(Ap)). Die Beziehung R ist selbst kein ‚Objekt‘ so wie das Objekt a oder das implizit angenommene ‚Bezugsobjekt‘ X bzw. Y von a. Eine solche Beziehung R setzt – um prozessural ‚hantierbar‘ zu sein – eine zusätzliche ‚Objektebene‘ voraus, auf der es ein R-Objekt gibt, das die Beziehung zwischen dem a-Objekt und dem X-Y-Objekt ‚repräsentiert.

16. [Anmerkung: Bei ’neuronalen Netzen‘ wäre das R-Objekt jenes Neuron, das die Verbindung zwischen zwei anderen Neuronen ‚realisiert‘.]

17. Fassen wir zusammen: Bei einem Ausdruck A der Art A=’Hans ist ein Mensch‘ gibt es den Ausdrucksteil As=’Hans‘ und den Ausdrucksteil Ap=’ist ein Mensch‘. Die Bedeutung des Ausdrucksteils As M(As) als M(‚Hans‘) ist ein Objekt h in der unterstellten Bedeutungshierarchie O des Sprechers, das gewisse Eigenschaften E(h) besitzt. Die Bedeutung des Ausdrucksteils Ap als M(Ap) bzw. M(‚ist ein Mensch‘) ist sowohl ein Objekt M mit Eigenschaften E(M) als auch eine Beziehung R_ist zwischen dem Objekt h und dem Objekt M, also R_ist(h,M). Die Beziehung ist definitorisch/ analytisch ‚wahr‘ wenn es gilt, dass die definierenden Eigenschaften E(M) des Objekts Mensch M auch bei den Eigenschaften E(h) von Hans zu finden sind, also $latex E(M) \subset E(h)$ .

BEZIEHUNGSRAUM – TRANSZENDENTALE BEDINGUNGEN

18.

Fortsetzung folgt

QUELLEN

  • Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
  • Digital Averroes Research Environment
  • Nicholas Rescher (1928 – ),The Development of Arabic Logic. University of Pittsburgh Press, 1964
  • Hans-Jörg Sandkühler (Hg.) unter Mitwirkung von Dagmar Borchers, Arnim Regenbogen, Volker Schürmann und Pirmin Stekeler-Weithofer, ‚Enzyklopädie Philosophie‘, 3 Bd., Hamburg: FELIX MEINER VERLAG, 2010 (mit CD-ROM)
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy, Aristotle’s Logic
  • Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7

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AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 14

VORGESCHICHTE

Für einen Überblick zu allen vorausgehenden Beiträgen dieser rekonstruierenden Lektüre von Avicennas Beitrag zur Logik siehe AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – BLITZÜBERSICHT.

1. Wenn also eine Formulierung von Konvertierungsregeln nicht ohne Bezug auf irgend eine Bedeutung M hinter den Ausdrücken möglich ist, stellt sich zum wiederholten Male die Frage, über welche mögliche Bedeutung M ‚hinter‘ den Ausdrücken gesprochen werden muss.

KONVERTIERUNG MIT BEDEUTUNG – MIT WELCHER?

2. Beginnen wir mit dem Ausgangspunkt, dass Aussagen PROP solche Ausdrücke von der Menge aller Ausdrücke E sind, die ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ sein können. ‚Treffen sie zu‘ gelten sie als ‚wahr‘; ‚treffen sie nicht zu‘ gelten sie als ‚falsch‘.
3. Bislang hatten wir schon die generelle Annahme geäußert, dass das Denken und Wissen eines Menschen im ‚Innern‘ dieses Menschen zu verorten sei und der Mensch ‚in‘ einer umgebenden Welt W mit realen Ereignissen X vorkommt.
4. Um die Begriffe ‚wahr/ falsch‘ bzw. ‚zutreffen/ nicht zutreffen‘ zu ‚erklären‘, nehmen wir an, dass die Menge des möglichen Wissens K eines einzelnen Menschen sich zerlegen lässt in die Teilmengen ‚Vorgestellt‘ K_v, ‚Erinnert‘ K_m sowie ’sinnlich präsent‘ K_s. Es gilt also $latex K = K_{s} \cup M_{v} \cup M_{m}$.
5. Eine Bedeutung wird dann durch eine Beziehung zwischen dem Wissen K und möglichen Ausdrücken $latex PROP \subseteq E$ gebildet: $latex M \subseteq PROP \times K$.
6. Speziell gilt aber, dass man zwischen einer ’neutralen‘ Bedeutung $latex M_n \subseteq E \times (K_{v} \cup K_{m})$ unterscheiden muss, die weder ‚wahr‘ noch ‚falsch‘ ist, und der ’sinnlich fundierten‘ Bedeutung $latex M_s \subseteq E \times K_{s}$. Gibt es zwischen einer neutralen Bedeutung $latex M_{n}$ und einer sinnlich fundierten Bedeutung $latex M_{s}$ eine Beziehung des ‚Zutreffens‘ $latex M_{s} \models M_{n}$, dann kann man sagen, dass das Wissen $latex K_{n}$ in dieser Beziehung ‚wahr‘ ist, andernfalls nicht, geschrieben $latex M_{s} \not\models K_{n}$.
7. Zusätzlich kann man im Bereich des erinnerten Wissens $latex K_{m}$ noch unterscheiden zwischen einem solchen, das Bezug zu ‚vormals sinnlich fundiertem Wissen‘ aufweist als $latex K_{ms}$ und solchem, das ‚keinen Bezug zu vormals fundiertem sinnlichen Wissen‘ aufweist als $latex K_{mns}$.
8. Erinnertes Wissen mit Bezug zu vormals fundiertem Wissen $latex K_{ms}$ hat die Eigenart, dass sich in Abhängigkeit von der ‚Häufigkeit‘ der erinnerbaren Wissenselementen in $latex K_{ms}$ eine Art ‚Erwartung‘ bzgl. des neuerlichen Eintretens dieses Wissens als sinnliches Wissen $latex K_{vs}$ ausbildet: $latex \mu: K_{ms} \longrightarrow K_{vs}$ mit $latex K_{vs} \subseteq K_{v}$, d.h. im Bereich des vorgestellten Wissens $latex K_{v}$ gibt es solches mit einem speziellen Erwartungsanteil $latex K_{vs}$ hervorgerufen durch besondere Erinnerungen.

EXKLUSIVE MODALOPERATOREN

9. An dieser Stelle könnte man dann noch die Begriffe ‚möglich‘ $latex \diamond$ und ’notwendig‘ $latex \boxempty$ wie folgt einführen: ein vorgestelltes Wissen gilt als ‚möglich‘, wenn der Erwartungswert nicht gleich 1 ist, also $latex \diamond K_{v} \leftrightarrow \mu(K_{v}) \not= 1$, andernfalls als notwendig, also $latex \boxempty K_{v} \leftrightarrow \mu(K_{v}) = 1$
10. Daraus kann man ableiten, dass gelten soll $latex \boxempty K_{v} \leftrightarrow \neg\diamond K_{v}$ oder $latex \neg\boxempty K_{v} \leftrightarrow \diamond K_{v}$.
11. Diese Definition von ‚möglich‘ und ’notwendig‘ entspricht nicht ganz der ‚Intuition‘, dass etwas, was ’notwendig‘ ist, auf jeden Fall auch möglich sein sollte; allerdings folgt – intuitiv — aus der Möglichkeit keine Notwendigkeit. Die vorausgehende Definition von möglich und notwendig erinnert ein wenig an das ‚exklusive Oder‘, das auch ’schärfer‘ ist als das normale Oder. Nennen wie die hier benutzte Definition von ‚möglich‘ $latex \diamond$ und ’notwendig‘ $latex \boxempty$ daher auch die ‚exklusiven Modaloperatoren‘: Wenn etwas notwendig ist, dann ist es nicht möglich, und wenn etwas möglich ist, dann ist es nicht notwendig.
12. Anmerkung: wenn etwas ‚gedanklich notwendig‘ ist, folgt daraus in diesem Rahmen allerdings nicht, dass es auch tatsächlich sinnlich eintritt. Aus der gedanklichen Notwendigkeit folgt nur, dass es in der erinnerbaren Vergangenheit bislang immer eingetreten ist und daher die Erwartung sehr hoch ist, dass es wieder eintreten wird.

WAHR und FALSCH ABKÜRZUNGEN

13. Wenn man von einer Aussage $latex e \in E$ sagen kann, dass das zugehörige vorstellbare Wissen $latex M(e)=K_{v}$ ‚wahr‘ ist, weil es auf ein sinnliches Wissen $latex K_{s}$ ‚zutrifft oder eben ‚falsch‘, weil es ’nicht zutrifft‘, dann soll dieser Sachverhalt hier wie folgt abgekürzt werden:
14. Eine Aussage A soll genau dann mit ‚wahr‘ $latex \top$ bezeichnet werden, wenn es ein sinnliches Wissen gibt, das das zugehörige vorgestellte Wissen ‚erfüllt‘, also $latex (A)\top \leftrightarrow M(A)=K_{v}$ und es gibt ein sinnlich fundiertes Wissen $latex K_{s}$, so dass gilt $latex K_{s} \models K_{v}$.
15. Eine Aussage A soll genau dann mit ‚falsch‘ $latex \bot$ bezeichnet werden, wenn es kein sinnliches Wissen gibt, das das zugehörige vorgestellte Wissen ‚erfüllt‘, also $latex (A)\bot \leftrightarrow M(A)=K_{v}$ und $latex K_{s} \not\models K_{v}$. [Anmerkung: Es gibt nur ein einziges sinnlich fundiertes Wissen, und zwar das jeweils aktuelle!]

AUSSAGEOPERATOREN

16. Jetzt kann man folgende Operatoren über Aussagen definieren:
17. NEGATION: die Verneinung einer Aussage A ist wahr, wenn die Aussage selbst falsch ist, also $latex (\neg A)\top \leftrightarrow (A)\bot$.
18. KONJUNKTION: die Konjunktion $latex \wedge$ von zwei Aussagen A und B ist wahr, wenn beide Aussagen zugleich wahr sind; ansonsten ist die Konjunktion falsch, also $latex (A \wedge B)\top \leftrightarrow (A)\top\ und\ zugleich\ (B)\top$; ansonsten falsch.
19. DISJUNKTION: die Disjunktion $latex \vee$ von zwei Aussagen A und B ist wahr, wenn eine von beiden Aussagen wahr ist; ansonsten ist die Disjunktion falsch, also $latex (A \vee B)\top \leftrightarrow (A)\top\ oder\ (B)\top$; ansonsten falsch.
20. EXKLUSIVE DISJUNKTION: die exklusive Disjunktion $latex \sqcup$ von zwei Aussagen A und B ist wahr, wenn genau eine von beiden Aussagen wahr ist; ansonsten ist die exklusive Disjunktion falsch, also $latex (A \sqcup B)\top \leftrightarrow\ Entweder\ (A)\top\ oder\ (B)\top$; ansonsten falsch.
21. IMPLIKATION: die Implikation $latex \rightarrow$ von zwei Aussagen A und B ist wahr, wenn nicht A wahr ist und zugleich B falsch, also $latex (A \rightarrow B)\top \leftrightarrow\ nicht (A)\top\ und\ zugleich\ (B)\bot$; ansonsten falsch.

Fortsetzung folgt

QUELLEN

  • Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
  • Digital Averroes Research Environment
  • Nicholas Rescher (1928 – ),The Development of Arabic Logic. University of Pittsburgh Press, 1964
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy, Aristotle’s Logic
  • Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7

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AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 13

(Letzte Änderung 8.Sept.2014, 02:59h)

VORGESCHICHTE

Für einen Überblick zu allen vorausgehenden Beiträgen dieser rekonstruierenden Lektüre von Avicennas Beitrag zur Logik siehe AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – BLITZÜBERSICHT.

AVICENNAS DISKUSSION VON UMWANDLUNG (‚Conversion‘)

1. Aus der englischen Übersetzung ist nicht klar zu entnehmen, ob der Begriff ‚Umwandlung‘ (engl.: ‚conversion‘) tatsächlich eine Form von ‚Umwandlung’/ ‚Umformung’/ ‚Konvertierung‘ meint oder spezieller eine Umformung von Aussagen, die letztlich eine ‚logische Folgerung‘ darstellen. Letztere Interpretation wird angeregt, da er dann tatsächlich an entscheidender Stelle zum ersten Mal in der ganzen Abhandlung eine Folge von Aussagen präsentiert, die man als ‚Folgerungstext‘ interpretieren kann.

2. In seiner Kerndefinition gleich zu Beginn charakterisiert er den Ausdruck ‚Umformung‘ mit Bezug auf zwei Ausdrücke A und B, die Subjekte, Prädikate, Antezedenz und Konsequenz enthalten können (implizit auch Quantoren, da er diese im folgenden Text beständig benutzt). Jede der beiden Aussagen hat eine Bedeutung M(A) bzw. M(B). Umformung hat jetzt damit zu tun, dass einzelne dieser logischen Rollen (Q, S, P, …) ‚ausgetauscht‘ werden, ohne dass dadurch die ‚Bedeutung‘ verändert wird.

3. [Anmerkung: Hier gibt es folgende Unklarheiten: (i) Sollen die Bedeutungen M(A) und M(B) von vornherein ‚gleich‘ sein, und zwar so, dass sie nach dem Austausch unverändert sind? oder (ii) sind die Bedeutungen M(A) und M(B) von vornherein ungleich, sollen aber, jede für sich, auch nach der Umformung gleich sein? In beiden Fällen – so interpretiere ich seine Aussage von Avicenna, gibt es eine Bedeutung vor der Umformung – eine gemeinsame oder eine individuelle –, die nach der Umformung ‚gleich‘ geblieben ist. Schreiben wir für die Umformung als $latex \vdash$, dann würde bedeuten ‚$latex A \vdash B$‘ A wird nach B umgeformt, so dass die Bedeutung von A und B – gemeinsam oder individuell – erhalten bleibt. Es stellt sich hier wieder das Problem – wie im gesamten vorausgehenden Text –, dass der Begriff ‚Bedeutung‘ bei Avicenna nicht scharf definiert ist. Er kann alles und nichts bedeuten. Die ‚Gleichheit‘ von zwei Bedeutungen M_vorher und M_nachher ist also ein ‚offener Begriff‘.]

4. In dem folgenden Text präsentiert Avicenna einerseits einige Beispiele von Umformungen ohne genauere Begründungen, in einem Fall präsentiert er aber das Beispiel einer ausführlicheren Begründung, die wie eine Folgerungstext (wie ein logischer Beweis) aussieht. Beginnen wir mit den Beispielen ohne Begründung.

5. Mögliche Konversion: Von ‚Kein Mensch ist unsterblich‘ ($latex \neg\exists (Mensch)(ist)(unsterblich)$) kann man bedeutungserhaltend umformen in ‚Kein Unsterblicher ist ein Mensch‘ ($latex (\neg\exists (Unsterblicher)(ist)(Mensch)$).

6. Avicenna stellt die Regel auf: Von einer affirmativen All-Aussage kann ich nicht zu einer anderen affirmativen All-Aussage konvertieren.

7. Beispiel: Von ‚Jeder Mensch ist ein Lebewesen‘ kann ich nicht umformen zu ‚Jedes Lebewesen ist ein Mensch‘ (mehr formalisiert: ($latex \forall (Mensch)(ist)(Lebwesen)$) kann nicht umgeformt werden zu ($latex \forall (Lebewesen)(ist)(Mensch)$).

8. Avicenna stellt die Regel auf: Die Umformung einer affirmativen All-Aussage ist eine affirmative Partikular-Aussage.

9. Beispiel: Die Aussage ‚Alle F sind B‘ kann umgeformt werden zu ‚Einige B sind F‘ (Formalisierter: Den Ausdruck $latex \forall (F)(sind)(B)$) kann man umformen zu ($latex \exists(B)(ist)(F)$))

10. Avicenna stellt die Regel auf: Eine affirmative Partikular-Aussage kann umgeformt werden in eine affirmative Partikular-Aussage.

11. Beispiel: Der Ausdruck ‚Einige F sind B‘ kann umgeformt werden zu ‚Einige B sind F‘ (Formalisierter: ($latex \exists (F)(sind)(B)$) $latex \vdash$ ($latex \exists (B)(sind)(F)$)).

12. Avicenna stellt die Regel auf: Eine negative Partikular-Aussage kann nicht konvertiert werden.

13. Beispiel: Die Aussage ‚Kein Lebewesen ist ein Mensch‘ kann nicht konvertiert werden zu ‚Kein Mensch ist ein Lebewesen‘. (mehr formalisiert: ($latex \neg\exists (Lebewesen)(ist)(Mensch)$) $latex \not\vdash$ ($latex \neg\exists (Mensch)(ist)(Lebewesen)$))

14. [Anmerkung: Hier gibt es einigen Diskussionsbedarf. Bevor die Diskussion eröffnet wird, hier aber noch das Konvertierungsbeispiel, das wie ein Folgerungstext aussieht.]

15. Ausgangspunkt ist die Regel: Eine negative All-Aussage kann in eine negative All-Aussage konvertiert werden mit dem Beispiel: Von ($latex \neg\exists (Mensch)(ist)(Unsterblicher)$) $latex \vdash$ ($latex \neg\exists (Unsterblicher)(ist)(Mensch)$).

16. Avicenna nennt die nun folgende ‚Folge von Aussagen‘ explizit einen ‚Beweis‘ (engl.: ‚proof‘).

17. Wenn es ‚wahr‘ ist, dass gilt (Kein F ist B), dann ist es auch wahr, dass (Kein B ist F). Andernfalls [wäre der Wenn-Dann-Zusammenhang nicht wahr] würde der Widerspruch (engl.: ‚contradictory‘) folgen (Einige B sind F).

18. [Anmerkung: Zur Erinnerung, die Negation einer Implikation (Wenn A dann B) ist nur wahr, wenn A wahr wäre und zugleich B falsch, also ’nicht B‘, d.h. ’nicht(Kein B ist F)‘ d.h. (einige B sind F). Insofern bildet die Aussage (Einige B sind F) einen logischen Widerspruch zu (Kein B ist F). ]

19. Der Beweis beginnt damit, dass Avicenna eine Abkürzung einführt: Er definiert ‚H := ‚Einige B‘. [ein sehr gefährliches Unterfangen…]

20. Dann folgert er ‚H ist gleichbedeutend mit F‘

21. Er folgert weiter: ‚H ist sowohl F als auch B [Damit unterschlägt er, dass H eigentlich nur ‚einige‘ B meinen sollte]

22. Er folgert weiter: Dann gibt es ein F, das auch B ist ($latex \exists (F)(ist)(B)$

23. Er folgert weiter: Nehme ich die Aussage (Einige B sind F) als wahr an, dann komme ich zu der Aussage (Einige F sind B); dies steht aber im Widerspruch zu der Ausgangsbehauptung, das ‚Kein F ist B‘.

24. Er folgert weiter: Deshalb ist es nicht möglich, von der Ausgangsbehauptung ‚Wenn es ‚wahr‘ ist, dass gilt (Kein F ist B), dann ist es auch wahr, dass (Kein B ist F)‘ auf den Widerspruch ‚Einige F sind B‘ zu schließen.

25. Avicenna folgert weiter: Von daher, wenn es gilt, dass ‚Kein F ist B‘, dann gilt auch die Konvertierung ‚Kein B ist F‘.

DISKUSSION

KONVERTIERBARKEIT DER FORMEN (Q (A B)) zu (Q (B A)) – BEDEUTUNGSABHÄNGIG

26. In den Beispielen, die Avicenna präsentiert, gibt es zwei Beispiele, die verwirrend sind. Im einen Fall will er über ’negative All-Aussagen‘ ($latex \neg\forall$) sprechen und im anderen Fall über ’negative Partikular-Aussagen‘ ($latex \neg\exists$). Das Beispiel für negative All-Aussagen lautet ‚Kein Mensch ist unsterblich‘. Der Quantor ‚kein‘ ist aber definiert als ’nicht einige‘ bzw. ‚$latex \neg\exists$‘. Dies aber ist gleichbedeutend mit einer negativen Partikular-Aussage. Später präsentiert er als Beispiel für negative Partikular-Aussagen den Ausdruck ‚Kein Lebewesen ist ein Mensch‘ ($latex \neg\exists (Lebewesen)(ist)(Mensch)$).

27. Damit haben wir es mit folgenden Widersprüchlichkeiten zu tun: (i) Avicenna interpretiert seinen Begriff der negativen Allaussagen mit einem Beispiel, das eine negative Partikular-Aussage repräsentiert; (ii) Mit einem Beispiel, das eine negative Partikular-Aussage repräsentiert, argumentiert er, dass man bedeutungserhaltend negative All-Aussagen konvertieren kann; (iii) Mit einem anderen Beispiel einer negativen Partikularaussage argumentiert er, man könne dieses nicht konvertieren.

28. Da das Beispiel zu (ii) zeigt, dass man sehr wohl eine negative Partikular-Aussage konvertieren kann, fragt man sich, warum es in einem anderen Fall nicht gehen soll. Dazu kommt, dass das konkrete Beispiel, das Avicenna präsentiert, aus sich heraus fragwürdig erscheint: ‚Kein Lebewesen ist ein Mensch‘ soll nicht konvertierbar sein zu ‚Kein Mensch ist ein Lebewesen‘. (mehr formalisiert: ($latex \neg\exists (Lebewesen)(ist)(Mensch)$) $latex \not\vdash$ ($latex \neg\exists (Mensch)(ist)(Lebewesen)$))

29. Bekannt ist – zumindest bezogen auf diese Begriffe –, dass sehr wohl einige Lebewesen Menschen sind, also eher gilt $latex \neg\neg\exists (Lebewesen)(ist)(Mensch)$, d.h. $latex \exists (Lebewesen)(ist)(Mensch)$. Von einer Aussage wie $latex \neg\exists (Mensch)(ist)\neg(Lebewesen)$) könnte man allerdings nicht konvertieren zu $latex \neg\exists (Lebewesen)(ist)\neg(Mensch)$).

30. Trotzdem gibt es eine mögliche Konvertierung von ($latex \neg\exists (Mensch)(ist)(Unsterblich)$)) zu ($latex \neg\exists (Unsterblich)(ist)(Mensch)$)).

31. Diese Beispiele legen die Vermutung nahe, dass die bisherigen ‚Konvertierungsregeln‘ von Avicenna nicht unabhängig sind von der jeweils unterstellten Bedeutung der beteiligten Subjekte und Prädikate.

32. Bezogen auf die Struktur (Q (A B)) $latex \vdash (Q (B A))$ hängt die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Konvertierung in den Beispielen davon ab, wie sich die Bedeutungen von A und B, also M(A) und M(B), zueinander verhalten.

33. Zwei Hauptfälle kann man unterscheiden: (i) die Bedeutung von beiden Ausdrücken ist ‚gleich‘, d.h. M(A) = M(B), oder (ii) die Bedeutungen sind ungleich in dem Sinne, dass zwar alle Elemente, die zu M(B) gehören auch in M(A) sind, aber nicht umgekehrt, also $latex M(B) \subseteq M(A)$.

34. Wenn wir Fall (i) M(A) = M(B) unterstellen können, dann kann man von $latex \forall A sind B$ auf $latex \forall B sind A$ schließen, oder $latex \exists A sind B$ und umgekehrt. Die Aussage $latex \neg\forall A sind B$ wäre formal zwar möglich, wäre aber ’semantisch‘ (aufgrund der angenommenen Bedeutung) aber nicht möglich. Genau sowenig wie $latex \neg\exists A sind B$ semantisch möglich wäre, wohl aber syntaktisch.

35. Unterstellen wir hingegen den Fall (ii) $latex M(B) \subseteq M(A)$, dann würde die Konvertierung von $latex \forall A sind B$ auf $latex \forall B sind A$ nicht gelten. Entsprechend kann man die wahre Aussage $latex \forall B sind A$ nicht konvertieren zu $latex \forall A sind B$. Die Konvertierung $latex \exists A sind B$ würde gehen wie auch umgekehrt. Die Aussage $latex \neg\forall A sind B$ ist wahr, die Konvertierung zu $latex \neg\forall B sind A$ wäre falsch. Usw.

36. Diese Beispiele verdeutlichen, dass die Konvertierbarkeit von Ausdrücken der Form (Q (A B)) zu (Q (B A)) eindeutig von der angenommenen Bedeutungsstruktur abhängig ist (zumindest in dem Kontext, den Avicenna diskutiert). Betrachten wir seine anderen Konvertierungsregeln.

37. (i) Von einer affirmativen All-Aussage kann ich nicht zu einer anderen affirmativen All-Aussage konvertieren.

38. (ii) Die Umformung einer affirmativen All-Aussage ist eine affirmative Partikular-Aussage.

39. (iii) Eine affirmative Partikular-Aussage kann umgeformt werden in eine affirmative Partikular-Aussage.

40. (iv) Eine negative Partikular-Aussage kann nicht konvertiert werden.

41. Zu (i): Nehmen wir an, dass gilt ($latex M(A) = M(B)$), dann trifft diese Regel zu. Nehmen wir aber an, dass gilt ($latex M(B) \subseteq M(A)$), dann gilt diese Regel nicht.

42. Zu (ii) und (iii): Nehmen wir an, dass gilt ($latex M(A) = M(B)$), dann trifft diese Regel zu. Nehmen wir aber an, dass gilt ($latex M(B) \subseteq M(A)$), dann gilt diese Regel auch.

43. Zu (iv): Dieser Fall ist von der Form her (rein syntaktisch) möglich, von der Bedeutung her (rein semantisch) aber ausgeschlossen.

44. Bei allen bisherigen Konvertierungsbeispiele von Avicenna ist zu beachten, dass sich die Bedeutung des Subjekts S und des Prädikats P in einer Aussage (S P) in der Art $latex M(A) = M(B)$ oder $latex M(B) \subseteq M(A)$ beschreiben lässt. Dies setzt voraus, dass sich ein Prädikat P auch als eine Menge von Objekten auffassen lässt, denen eine bestimmte Eigenschaft E zukommt, also etwa P := ‚eine Menge von Elementen, die die Eigenschaft P haben‘. Zu sagen ‚S ist P‘ würde dann sagen, dass die Elemente die S sind auch die Elemente sind, die P sind.

45. Man muss hier die Frage stellen, ob Prädikate immer diese Form haben.

KONVERTIERUNG OHNE BEDEUTUNG?

46. Macht man die Konvertierbarkeit von Ausdrücken der Form (Q (A B)) und (Q (B A)) von der Bedeutung M der Ausdrücke A und B abhängig, dann hängt die Formulierung der Konvertierungsregeln ab von einer brauchbaren Definition des zugrundeliegenden Bedeutungsraumes samt seiner Interaktion mit den Ausdrucksformen. Im weiteren Verlauf soll dies explizit untersucht werden. Es stellt sich aber auch die Frage, ob man Konvertierungsregeln nicht auch ohne Rückgriff auf die Bedeutung der Teilausdrücke formulieren kann.

47. Hat man nur die Ausdrücke (Q (S P)) mit der Verallgemeinerung, dass S und P ‚gleichwertig‘ sein können im Sinne von (Q (A B)) $latex \vdash$ (Q (B A)), dann stellt sich die Frage welche Kriterien man hätte, gäbe es keinen Bedeutungsbezug?

48. Man muss feststellen, dass ohne irgendeinen Bedeutungsbezug die Ausdrücke als solche keinerlei Ansatzpunkt bieten, eine Konvertierung zuzulassen oder sie zu verbieten.

49. Wenn aber Konvertierungsregeln ohne Bedeutung keinen Sinn machen, dann muss man sich fragen, welche Bedeutungsstrukturen man benötigt, dass man solche Konvertierungsregeln sinnvoll einführen kann.

KONVERTIERUNG MIT BEDEUTUNG – MIT WELCHER?

50. Wenn es also ohne Bezug auf eine Bedeutung nicht geht, stellt sich die Frage, wie eine solche Bedeutungsstruktur aussehen muss, damit solche – oder auch andere – Konvertierungsregeln formuliert werden können.

51. Die weitere Diskussion wird in einem neuen Blogeintrag fortgeführt werden.

Fortsetzung folgt

QUELLEN

  • Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
  • Digital Averroes Research Environment
  • Nicholas Rescher (1928 – ),The Development of Arabic Logic. University of Pittsburgh Press, 1964
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy, Aristotle’s Logic
  • Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7

Eine Übersicht über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 8

VORGESCHICHTE

1. In einem ersten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 1 hatte ich geschildert, wie ich zur Lektüre des Textes von Avicenna gekommen bin und wie der Text grob einzuordnen ist. In einem zweiten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 2 ging es um die Frage, warum überhaupt Logik? Avicenna führt erste Unterscheidungen zu verschiedenen Wissensformen ein, lässt aber alle Detailfragen noch weitgehend im Dunkeln. Im Teil AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 3 ging es um einfache und zusammengesetzte Begriffe, und bei den einfachen Begriffen um ‚individuelle‘ und ‚universelle‘. Schon hier zeigt sich der fundamentale Unterschied zwischen der antiken und der modernen-formalen Logik. In der antiken Logik wird die Ausdrucksebene E – und einer sich daran manifestierenden Folgerungslogik – immer in Verbindung mit einer zugehörigen Bedeutungsstruktur gesehen, die sich an einer Objektstruktur O festmacht. Die moderne formale Logik kennt zwar auch ‚Semantiken‘ und ‚Ontologien‘, diese sind aber ’sekundär‘, d.h. es werden nur solche ‚formalen Semantiken‘ betrachtet, die zum vorausgesetzten syntaktischen Folgerungsbegriff ‚passen‘. Dies sollte dann später an konkreten Beispielen diskutiert werden. Hier liegt der Fokus auf der antiken Logik im Sinne Avicennas. Im Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 4 knüpft Avicenna an den zuvor eingeführten Begriff des ‚universellen‘ Begriffs an und betrachtet jetzt solche als ‚universell‘ bezeichneten Ausdrücke in einem Ausdruckskontext von aufeinanderfolgenden Ausdrücken. Alle diese Ausdrücke könnte man im Sinne der antiken Logik auch als ‚Urteile‘ bezeichnen, durch die einem bestimmten Ausdruck durch andere Ausdrücke bestimmte Bedeutungen (Eigenschaften) zu- oder abgesprochen werden. Hier unterscheidet er die Fälle eines ‚wesentlichen‘ Zusammenhanges zwischen zwei Begriffen und eines ’nicht wesentlichen‘ – sprich ‚akzidentellen‘ – Zusammenhangs. Im Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 5 führt Avicenna eine Reihe von neuen technischen Begriffen ein, die sich nicht alle in ihrer Bedeutung widerspruchsfrei auflösen lassen. Es handelt sich um die Begriffe ‚Genus‘, ‚Spezies‘, Differenz, allgemeine und spezielle Akzidens, den Begriff ‚Kategorie(n)‘ mit den Kategorien ‚Substanz‘, ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘. Die Rekonstruktion führt dennoch zu spannenden Themen, z.B. zu einem möglichen Einstieg in das weltverändernde Phänomen der kognitiven Evolution. Im Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 6 geht es um die Begriffe ‚Definition‘ und ‚Beschreibung‘. Im Verhältnis zwischen beiden Begriffen geht die Beschreibung der Definition voraus. In der ‚Definition‘, die Avicenna vorstellt, wird ein neuer Ausdruck e mittels anderer Ausdrücke <e1, …, ek>, die sich auf schon bekannte Sachverhalte beziehen, ‚erklärt‘. Die von Avicenna dann vorgenommene Erklärung, was eine ‚Definition‘ sei, hängt u.a. stark ab von dem Begriff der ‚Bekanntheit‘ und dem Begriff des ‚wahren Wesens‘. Für die Tatsache, dass ein Mensch A bestimmte Ausdrücke <e1, …, ek> einer Sprache L ‚kennt‘ oder ’nicht kennt‘, dafür gibt es keine allgemeinen Regeln oder Kriterien. Von daher macht die Verwendung der Ausdrücke ‚bekannt’/ ’nicht bekannt‘ eigentlich nur Sinn in solch einem lokalen Kontexten W* (z.B. einem Artikel, ein Buch, ein Vortrag, …), in dem entscheidbar ist, ob ein bestimmter Ausdruck e einer Sprache L schon mal vorkam oder nicht. Schwierig wird es mit dem Begriff des ‚wahren Wesens‘. In meiner Interpretation mit der dynamischen Objekthierarchie gibt es ‚das wahre Wesen‘ in Form von Objekten auf einer Stufe j, die Instanzen auf Stufen kleiner als j haben. Dazu gab es weitere Überlegungen. Im folgenden Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 7 beschreibt Avicenna syntaktisch zusammengesetzte, aber semantisch einfache Ausdrücke. Innerhalb der Ausdrücke unterscheidet er die Teileausdrücke ‚Name‘, ‚Verb‘ und ‚Präposition‘. Die unterschiedliche Charakterisierung erfolgt nicht aufgrund der syntaktischen Form, sondern aufgrund der semantischen Eigenschaften, die mit diesen Ausdrücken verbunden werden. Neben dem Objektbezug, der die eigentliche Bedeutung fundiert, gibt es im Bedeutungsraum auch noch den zeitlichen und den räumlichen Aspekt. Das Zusammenspiel von Bedeutung und Ausdruck wird angerissen.

AUSSAGEN/ FESTSTELLUNGEN – WAHR oder FALSCH

2. Nun wendet sich Avicenna zusammengesetzten (engl.: ‚compound‘) ‚Aussagen‘ (engl.: ‚proposition‘) bzw. ‚Feststellungen‘ (engl.: ’statements‘) bzw. ‚bekräftigende Rede‘ (engl.: ‚affirmative speech‘) zu.
3. Stillschweigend wird hier vorausgesetzt, dass eine Aussage mit den im vorausgehenden Abschnitt charakterisierten semantischen Ausdruckstypen (Name, Verb, Präposition) realisiert ist.
4. ‚Aussagen‘ [P] sind alle jene Ausdrücke E, von denen man sagen kann, sie treffen zu (sind ‚wahr‘), oder sie treffen nicht zu (sind ‚falsch‘); Aussagen sind eine echte Teilmenge aller Ausdrücke, $latex P \subset E$.
5. Avicenna unterscheidet drei Arten von Aussagen:
6. Beispiele für ‚kategorische‘ Aussagen sind (Der Mensch)(ist)(ein Lebewesen) bzw. (Der Mensch)(ist nicht)(ein Lebewesen).
7. Beispiele für ‚Disjunktiv-konditionelle‘ (engl.:‘ ‚disjunctive conditional‘) Aussagen sind (Etwas)(ist)(dies)(oder)(jenes) bzw. (Etwas)(ist nicht)(dies)(oder)(jenes) (oder: (Es ist nicht der Fall, dass)(Etwas)(ist)(dies)(oder)(jenes).
8. Beispiele für ‚Konjunktiv-konditionelle‘ (engl.:‘ ‚conjunctive conditional‘) Aussagen sind (Wenn)(dies)(der Fall ist)(dann)(ist auch)(das)(der Fall) oder (Weil)(dies)(der Fall ist)(ist)(auch)(das der Fall) oder (Und nicht)(Wenn)(dies)(der Fall ist)(oder)(das)(der Fall ist).

DISKUSSION

WAHR/FALSCH

9. Zunächst einmal die Formulierung, ‚dass etwas der Fall sei‘ als Kriterium für die Eigenschaft ‚wahr‘ und die Formulierung ‚dass etwas nicht der Fall sei‘ als Kriterium für die Eigenschaft ‚falsch‘.
10. Aussagen bilden eine Kombination aus Ausdruck e und Bedeutungskomponente m aus dem Bedeutungsraum M.
11. Vom Sprecher/ Hörer wird angenommen, dass er die Beziehung zwischen e und m ‚kennt‘, schreiben wir K(e,m) (für die Beziehung KNOW [K] mit $latex K \subseteq E \times M$).
12. Jetzt wird gesagt, dass eine solche Beziehung K(e,m) ‚zutreffen‘ kann oder ’nicht zutreffen‘ kann, bzw. ‚wahr’/ ‚falsch‘ sein kann.
13. Dies bedeutet, es muss einen zusätzlichen Aspekt, einen zusätzlichen Umstand Y geben, wodurch ein Sprecher/ Hörer zu solch einer Charakterisierung kommen kann.
14. Dieser zusätzliche Umstand Y muss ‚veränderlich‘ sein, d.h. er muss in einem Zustand Y_w auftreten, wodurch die Beziehung K(e,m) als ‚wahr‘ bezeichnet wird, und in einem Zustand Y_f, woraus ‚falsch‘ folgt. Möglicherweise gibt es auch noch eine neutrale Variante Y_n, bei deren Vorliegen man nicht weiß, ob es die Eigenschaft ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ zutrifft.
15. Intuitiv wissen wir, dass wir zwar mit Ausdrücken e bestimmte Bedeutungen/ Vorstellungen m verknüpfen können, wir wissen aber auch, dass solche gewussten Sachverhalte m sich in der ‚realen Welt‘ W ändern können.
16. Zuvor haben wir schon die Annahmen entwickelt, dass sich eine dynamische Objekthierarchie O mittels $latex \kappa$ angeregt von Eigenschaften X der realen Welt W bilden lässt. D.h. die Objektstruktur O, die ein Teil des Bedeutungsraumes M ist – also auch Anteile in der Bedeutung m von der Beziehung K(e,m) haben kann –, ist nicht identisch mit den Eigenschaften X der realen Welt. Die Objektstruktur O ist ein ‚konstruiertes Bild über X‘. Von daher ist es denkbar, dass das konstruierte Bild O in M als Grundlage von K(e,m) zwar unveränderlich ist – es ist, wie es ist –, dass aber die auslösenden Eigenschaften X der realen Welt sich geändert haben, und sei es nur für einen Moment (t,t‘) mit t‘ > t.
17. Man könnte nun sagen, dass Beziehungen K(e,m) die sind, bei denen der Bedeutungsanteil m in dieser Beziehung so stark von einem X in der realen Welt abhängt, dass eine ‚Änderung von X‘ als ‚Differenz‘ wahrgenommen werden kann, d.h. es wird nicht direkt ein X oder ein verändertes X verglichen, sondern nur die ‚prozessierte Form‘ vom X über die Prozesse perc() und $latex \alpha$ unter Berücksichtigung von Raum und Zeit und Anzahl. So wie das gewusste ‚m‘ einem bestimmten Xm entspricht, so würde ein ‚Nicht-Xm‘, also $latex \overline{Xm}$ in der entsprechenden Form $latex nicht-m=\alpha(perc(\overline{X}))$ als ‚verschieden‘ von m erkannt/ aufgefasst/ verstanden.
18. Anders gesagt: Wenn wir in unserm Wissen von einer Beziehung K(e,m) ‚wissen‘, bei der wir ein Bedeutungselement ‚m‘ aus M ‚kennen‘, das durch unsere Interaktion mit der realen Welt W anlässlich bestimmter realer Welteigenschaften Xm ‚konstruiert‘ werden konnte also $latex m = \lambda(\alpha(perc(Xm)),M)$, – mit $latex O \subseteq M$ –, dann würde ein von Xm verschiedener Sachverhalt $latex \overline{Xm}$ auch eine unterschiedliche Bedeutungsrepräsentation $latex \overline{m} = \lambda(\alpha(perc(\overline{Xm})),M)$ hervorbringen können. Damit könnte unser ‚Wissen‘ im allgemeinen Bedeutungsraum M die beiden Bedeutungsobjekte ‚m‘ und ‚$latex \overline{m}$‘ direkt ‚vergleichen‘.
19. Wichtig wäre bei diesem Vergleich, dass hier die Zeitkomponente eine Rolle spielt. In der gewussten Beziehung K(e,m) ist die Zeit in gewisser Weise ‚aufgehoben‘, ’neutralisiert‘, für das Vergleichsobjekt ‚m‘ bzw. ‚$latex \overline{m}$‘ müsste gelten, dass es ‚aktuell‘ ist, ‚jetzt‘. Dann könnte man sagen, wenn eine Bedeutung ‚m‘ aus einer Wissensbeziehung K(e,m) über dem Bedeutungsraum M eine Entsprechung in einem ‚aktuellen m‘ finden kann (gebunden an eine aktuelle Wahrnehmung perc()), dann korrespondiert das gewusste ‚$latex m_{K}$‘ aus K(e,m) mit dem aktuell wahrnehmbaren ‚$latex m_{now}$‘. Ist dies nicht der Fall, lässt sich keine aktuelle Entsprechung zwischen einem gewusstem ‚$latex m_{K}$‘ aus K(e,m) zu einem wahrnehmbaren ‚$latex m_{now}$‘ finden, weil die aktuellen Bedeutungen ‚$latex \overline{m}_{now}$‘ anders sind.
20. In dieser Konstruktion gibt es in der Tat nur zwei Fälle: entweder findet sich zu einem gewussten m eine aktuelle Entsprechung ‚$latex m_{now}$‘ oder eben nicht. Dazwischen gibt es nichts. Ein ’neutrales‘ m kommt hier nicht zum Tragen. Denkbar wäre allerdings ein ‚Irrtum‘ in dem Sinne, dass das aktuell wahrgenommene ‚$latex \overline{m}_{now}$‘ zwar verschieden ist, dass diese Verschiedenheit aber entweder ‚falsch eingeschätzt‘ wird oder die Konstruktion des ‚$latex \overline{m}_{now}$‘ irgendwelche ‚Störungen‘, ‚Verzerrungen‘ aufweist, so dass das ‚$latex \overline{m}_{now}$‘ einige ‚Ähnlichkeiten‘ mit dem gewussten m aufweist, die zu einem Fehlurteil führen. Denn, nicht nur kann die aktuelle Konstruktion $latex \lambda$ Fehler aufweisen, sondern auch die auf ‚Erinnerung‘ basierende gewusste Beziehung K(e,m) kann Fehler aufweisen, die das gewusste m in die Nähe des aktuellen ‚$latex \overline{m}_{now}$‘ bringen. Also, Neutralität gibt es hier nicht, aber mögliche Irrtümer unterschiedlichster Art.

AUSSAGENTYPEN

21. Nach dieser Klärung, wie die Eigenschaft ‚wahr’/ ‚falsch‘ in dieser Rekonstruktion von Avicenna nachvollziehbar wären, geht es um die Frage, was es mit den drei Aussagetypen auf sich hat, die ich hier abkürzend ‚Kategorisierend‘, ‚Disjunktiv‘ und ‚Konjunktiv‘ bezeichne.
22. Im Fall des Aussagetyps ‚Kategorisierend‘ mit dem Beispiel (Der Mensch)(ist)(ein Lebewesen) bzw. (Der Mensch)(ist nicht)(ein Lebewesen) geht es offensichtlich nicht um einen Bezug zur aktuell realen Welt mit ihren realen Eigenschaften X, sondern um eine Beziehung zwischen zwei gewussten Bedeutungsstrukturen $latex m_{Mensch}$ und $latex m_{Lebewesen}$. Zwischen diesen beiden Bedeutungsstrukturen $latex m_{Mensch}, m_{Lebewesen}$ gibt es eine Beziehung der Art, dass die Bedeutungsstruktur $latex m_{Mensch}$ eine ‚Instanz‘ der Bedeutungsstruktur $latex m_{Lewesen}$ ist. Sofern dies der Fall ist wird durch eine Aussage der Art (Der Mensch)(ist)(ein Lebewesen) genau dieser Fall angesprochen. Wenn der Ausdruck (Der Mensch)(ist)(ein Lebewesen) mit den Verhältnissen der Bedeutungsstrukturen übereinstimmt (was man direkt wissen kann), dann trifft der gewusste Sachverhalt zu, andernfalls nicht. Natürlich kann es auch in diesem Fall prozessspezifische Fehler geben, die Bedeutungszuordnungen konstruieren, die falsch sind oder missverständlich oder verändert.
23. Im Fall der disjunktiven und konjunktiven Aussagetypen ist die Lage etwas unübersichtlicher, da Avicenna keine direkte Charakterisierung der beiden Aussagetypen mittels Wahrheitswerten vornimmt. Er erwähnt nur verschiedene Ausdrücke, denen man ‚intuitiv‘ eine Bedeutung zuordnen muss, und diese Beispiele sind – bei genauer Betrachtung – sogar widersprüchlich.
24. Bedient man sich des Hilfsmittels der Wahrheitswerttabelle, die zumindest in der stoischen Logik schon bekannt gewesen sein soll, dann kann man die beiden Aussagetypen Disjunktion und Konjunktion eindeutig charakterisieren. Dazu ist es hilfreich, die Ausdrücke von Avicenna ein wenig zu ’normieren‘.
25. DISJUNKTION: Statt zu schreiben (Etwas)(ist)(dies)(oder)(jenes), würde man umschreiben A=(Etwas)(ist)(dies) und B=(Etwas)(ist)(jenes), sodass der ganze Ausdruck lauten würde (A)(oder)(B), wobei sowohl A als auch B vom Typ ‚Aussage‘ sind, die ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ sein kann. Dann könnte man sagen, dass ein Aussagetyp ‚Disjunktion‘ nur dann wahr ist, wenn wenigstens eine der beiden Teilaussagen A oder B wahr ist bzw. nur dann falsch ist, wenn beide Teilaussagen A und B falsch sind.
26. Den Fall, den Avicenna als ‚Konjunktives Konditional‘ einführt, ist nicht eindeutig. Es könnte entweder der späteren aussagenlogischen Konjunktion entsprechen oder auch der aussagenlogischen Implikation. Seine unvollständige Charakterisierung lässt beide Rekonstruktionen zu. Ich betrachte hier beide Fälle.
27. KONJUNKTION: Statt zu schreiben (Weil)(dies)(der Fall ist)(ist)(auch)(das der Fall) würde man im Fall der Konjunktion abkürzend schreiben A=(dies)(der Fall ist) und B=(das(ist)(der Fall). Dann könnte man sagen, der Ausdruck (A)(und)(B) ist nur wahr, wenn jeder der beiden Teilaussagen A und B wahr ist, und ist falsch, wenn wenigstens einer der beiden Teilaussagen falsch ist.
28. IMPLIKATION: Der Ausdruck (Wenn)(A)(dann)(B) ist nur falsch, wenn A wahr ist und B zugleich falsch; in allen anderen Fällen ist der Ausdruck wahr.
29. Disjunktion, Konjunktion und Implikation sind also Aussagetypen, die aus zwei Teilausdrücken A und B bestehen, die selbst wieder Aussagen sind, die wahr oder falsch sein können. Die beiden Teilausdrücke A und B werden dann durch die Teilausdrücke (oder), (und) sowie (wenn)-(dann)- verknüpft. Sie unterscheiden sich dadurch, wie der Wahrheitswert des Gesamtausdrucks von der Verteilung der Wahrheitswerte auf die Teilausdrücke festgelegt ist. Die Teilausdrücke (oder), (und) sowie (wenn)-(dann)- nennt man später dann auch ‚aussagenlogische Operatoren‘.
30. Man sieht hier leicht, dass der Aussagetyp ‚kategoriesierend‘ nicht in dieses Schema passt. Der Aussagetyp ‚kategorisierend‘ ist eine Aussage A, die wahr oder falsch sein kann unabhängig von irgendeinem aussagenlogischen Operator.

NEGATION

31. Die Verneinung von Aussagen hat man später dann auch anders geschrieben.
32. Statt zu schreiben (Etwas)(ist nicht)(dies)(oder)(jenes) hat man später geschrieben $latex \neg(A)(oder)(B)$ mit dem Zeichen $latex \neg$ für ’nicht‘ oder ‚es ist nicht der Fall, dass‘. Statt (oder) wurde später auch geschrieben $latex \vee$. Statt (und) das Zeichen $latex \wedge$. Dann bekommt man $latex \neg(A)(\vee)(B)$ bzw. $latex \neg(A)(\wedge)(B)$.

ERGEBNIS

33. Diese Rekonstruktionsansätze mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass man eine plausible Semantik zur bisherigen Logik von Avicenna dazu konstruieren und dass man seine Aussagen zu Aussagetypen mit Wahrheitswerten letztlich mit den Konzepten der modernen Aussagenlogik versöhnen kann.
34. Was hier (noch) nicht gemacht wird, das ist die sich daraus ergebenden Konsequenzen in ihrer ganzen Breite zu entwickeln. Dies wird zu einem späteren Zeitpunkt geschehen.
35. Was die Semantik angeht, so kann man natürlich die Quintessenz der Semantik in einem formalen Modell auch noch viel einfacher fassen. Allerdings liegt das Interesse hier gerade darin, es nicht einfach nur zu vereinfachen, sondern es ganz speziell auch im Hinblick auf das Alltagsdenken und mit Blick auf die kognitiven Prozesse so zu verorten, dass die ‚Entstehung der Bedeutung‘ – zumindest prinzipiell – mit erfasst wird. Die Minimalforderung lautet, dass ein Ingenieur/ Informatiker in der Lage sein sollte, mit diesem Minimalmodell einen Roboter/ Softwareagenten zu bauen, der selbstständig die Bedeutung normalsprachlicher Ausdrücke von jeder Sprache für realweltliche Kontexte W erlernen kann.

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

QUELLEN

  • Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
  • Digital Averroes Research Environment
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy, Aristotle’s Logic
  • Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7

Eine Übersicht über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

RÜCKKEHR DER METAPHYSIK? Natur als Offenbarung? Universale Ethik?

Einbettung von Metaphysik in moderne Wissenschaft

 

 

 

 

(1) Im Zwiegespräch mit dem Text ‚Metaphysik der Erkenntnis‘ (erstmalig 1921) von Nicolai Hartmann trifft man auf zahlreiche Aporien (siehe die anderen Blogeintragungen). Hartmann nimmt seinen Ausgangspunkt bei der — für ihn grundlegenden – Beziehung zwischen einem ‚erkennenden Subjekt‘ und einem ‚erkannten Objekt‘. Dies in einer primär ‚phänomenologischen‘ Einstellung, die ihren Ausgangspunkt bei dem ‚Gegebenem‘ nimmt im Versuch, ’sichtbar zu machen‘, was sich vorfindet.

 

(2) Tatsächlich ist das, was wir im Bewusstseinserlebnis als aufscheinendes ‚Phänomen‘ vorfinden, das erste und einzige, was wir vorfinden. Nach Hartmann ist dieses aufscheinend Gegebene aber eingebettet in eine begleitend vorhandene ‚Reflexion‘, mittels der sich Eigenschaften fokussieren, abstrahieren und in Beziehung setzen lassen; nicht zuletzt lassen sich ‚Begriffe‘ bilden. Die Reflexion als solche ist nicht mehr ’neutral‘; sie kann das vorfindlich Gegebene verändern, modifizieren und damit in gewisser Weise interpretieren.

 

(3) Die ‚Abfallprodukte‘ der Reflexion bilden nicht automatisch eine ‚Theorie‘ verstanden als ein systematisches Begriffsnetzwerk, in dem alle Begriffe vollständig aufeinander bezogen sind entweder als ‚Grundterme‘ oder als ‚axiomatische Terme‘, eingebunden in Relationen und Axiome, repräsentiert in einer eigenen ‚Theoriesprache‘. Eine Theorie auf der Basis der primären Reflexion bildet eine ‚Metaebene‘ und stellt eine Konstruktion dar, die aus einer Vielzahl von Möglichkeiten eine Variante herausgreift. Zugleich ist jede Theorie eine bestimmte Interpretation. Eine interessante Frage ist, ob und wie sowohl die Begriffe der primären Reflexion wie auch die Strukturen einer Theorie in einem bestimmbaren Sinn ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ sein können.

 

(4) Hartmann diskutiert die Frage der ‚Wahrheit‘ im Umfeld seiner Subjekt-Objekt-Relation mit einem sehr unspezifischen Begriff von ‚Erkenntnis‘. Er geht von der Annahme aus – die er nicht weiter begründet –, dass Wahrheit mit Übereinstimmung zu tun haben muss, nämlich der Übereinstimmung (oder Nicht-Übereinstimmung) von dem erkennbaren Objekt für das Subjekt mit einem Objekt an sich, das dem erkennenden Subjekt per definitionem nicht zugänglich ist; daher spricht er hier auch von einem ‚transzendentem Objekt‘ bzw. vom ‚Transobjektivem‘, das das erkennende Subjekt ‚objiziert‘ mithilfe von ‚Bestimmtheiten‘, die ein ‚Bild‘ des ursprünglichen Objektes darstellen, nicht das transzendente Objekt selbst. Die vom Transobjektivem objizierten Bestimmtheiten, die vom verursachenden Objekt verschieden sind, will er auch eine ‚Repräsentation‘ des Transobjektiven nennen.

 

 

(5) Das ‚Transobjektive‘, das vom erkennenden Subjekt nicht erreicht werden kann, ist damit auch nicht intelligibel, ist im vollen Sinne ‚irrational‘. Dennoch assoziiert Hartmann genau mit diesem Transobjektiven das eigentliche ‚Sein‘, ‚volle Wirklichkeit‘, ‚Realität‘. Hier verortete er die ontologische Dimension, den Fluchtpunkt jeder Metaphysik. In einer Metaphysik ist Erkenntnis nur ein Durchgang, ein Medium zur Erfassung und Beschreibung von ‚Wahrheit‘ als letztlich im ‚Sein‘ gründend.

 

 

(7) Der von ihm zuerst favorisierte Wahrheitsbegriff als Übereinstimmungsoperation wahr: OBJ x OBJ* —> {wahr, falsch} mit ‚OBJ‘ für das Transobjektive (verursachende) Sein und ‚OBJ*‘ als der Repräsentation des Transobjektiven für das erkennende Subjekt setzt die Verfügbarkeit des Transobjektiven in dieser Übereinstimmung voraus, ohne aber in der Lage zu sein, zu erklären, wie das erkennende Subjekt dies nutzen soll, da das Transobjektive ja per definitionem vom Erkennen eines Transobjektiven ausgeschlossen wurde. Die sich hier auftuende logische Antinomie verwirbelt Hartmann in bis zu vier unterschiedliche Aporien, die allesamt letztlich nur diese eine zentrale Antinomie umschreiben.

 

(8) Aktuell weiss ich noch nicht, wie es ab S.88 in seinem Buch weiter gehen wird. Bezogen auf seine bisherigen Ausführungen kann man nur sagen, dass er sich mit seinem bisherigen Begriffsapparat in einer Sackgasse befindet. Auch wenn er noch weitere Aporien durch Einführung neuer begrifflicher Gebilde generieren mag, sein Grundproblem wird er nicht lösen, solange er seine bisherigen Voraussetzungen nicht einer kritischen Re-Analyse unterzieht.

 

(9) Ob mein Lösungsansatz tatsächlich ein Lösungsansatz ist, muss sich in den weiteren Diskussionen und Experimenten noch zeigen, aber auf jeden Fall sehe ich einen gedanklichen Weg, der ohne die antinomischen Konstruktionen Hartmanns auskommt, der mit den großen Themen der Philosophie kompatibel ist, und der nicht zuletzt auch mit den tiefgreifenden Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften harmoniert (soweit wir heute meinen zu verstehen, was wir verstehen).

 

(10) Wie schon im Bremerhaven-Vortrag skizziert nehme ich auch den Ausgangspunkt im Raum der Phänomene (es gibt keine Alternative), allerdings mit der Differenzierung, dass sich im Gesamtbereich der Phänomene Ph eine spezielle Teilmenge der empirischen Phänomene Ph_emp identifizieren lässt. Dies sind solche Phänomene, die durch Verwendung von definierten Messprozeduren meas() generiert werden, etwa meas: Ph —> Ph_emp. Empirische Phänomene sind zwar auch Phänomene, aber eben solche, die auf eine spezielle Weise hervorgebracht werden, die unabhängig vom Körper eines Menschen ist. Nur das Produkt eines Messvorganges muss wahrnehmbar sein, der Messvorgang selber ist unabhängig von einem menschlichen Körper (und Gehirn, und Bewusstsein).

 

(11) Auf den ersten Blick wirkt dieser Hinweis auf die Teilmenge der empirischen Phänomene möglicherweise unscheinbar. Aber bei längerer Betrachtung zeigt sich, dass hier die Lösung für nahezu alle Aporien liegen kann, mit denen sich Hartmann herumschlägt.

 

(12) Natürlich gilt im Falle der empirischen Phänomene Ph_emp auch – wie im Falle aller Phänomene –, dass die empirischen Phänomene nicht ‚isoliert‘ dastehen, sondern auch eingebettet sind in die allgemeine ‚Reflexion‘, die alles Erleben begleitet und durchdringt; und es gilt auch, dass sich im Medium dieser Reflexion Unterscheidungen treffen lassen, Zusammenfassungen bilden lassen, Begriffe einführen lassen, Beziehungen aufzeigen lassen, usw. bis hin dazu, dass sich explizite Theorien formulieren lassen. Diese Reflexion, Begriffsbildungen, Theoriebildung unterscheidet sich im Allgemeinen in Nichts von der alltäglichen oder philosophischen Reflexion, wohl aber im Speziellen. Auf der Basis von empirischen Daten lassen sich nämlich eindeutiger und klarer als durch die rein körperbasierten Phänomene Ph\Ph_emp Begriffe mit einer ‚operationalisierten‘ Bedeutung einführen, darauf aufbauend Abstraktionen, Relationen und Gesetzmäßigkeiten unter kontrollierten Bedingungen und in mathematischer Form. Natürlich ist auch diese Form von Erkenntnisbildung nicht frei von Problemen (dazu gibt es weit mehr als 1000 wissenschaftliche Publikationen!), doch trotz all dieser Probleme hat die Praxis gezeigt, dass diese Erkenntnisstrategie trotz aller Spezialisierung Erkenntnisse (und Technologien) hervorgebracht hat, die noch vor 100 – 150 Jahren unvorstellbar waren.

 

(13) Mittels der Reflexion (und darauf aufbauenden Theorien oder theorieähnlichen begrifflichen Strukturen) lassen sich im Strom der Phänomene Objekte, Beziehungen, und Aktionen identifizieren, die das Bild eines ‚Außenraums‘ um den Körper herum entstehen lassen, der eine eigene Dynamik hat, die man heute ansatzweise in seiner evolutionären Dimension fassen kann. Ferner kann man im Bereich der identifizierbaren Objekte solche unterscheiden, die man durch spezifische Eigenschaften als ‚biologisch‘ qualifizieren kann, als ‚Körper‘ mit einer Innenstruktur, zu der u.a. ein Nervensystem (Gehirn) gehört. Durch Korrelation der empirischen Daten mit den Erlebnisdaten läßt sich die starke Hypothese formulieren, dass die uns primär zugänglichen Phänomene Ph im Raum des Bewusstseins Eigenschaften eines Nervensystems sind, das sich empirisch nur ‚von außen‘ messen und beschreiben läßt. D.h. man kann nicht die bewussten Erlebnisse selbst ‚messen‘, sondern nur physikalisch-chemische Eigenschaften des Nervensystems DAT_nn, die zeitlich mit bestimmten Erlebnissen Ph korrelieren.

 

(14) Abseits vieler ungelöster Detailfragen lässt sich eine generelle Schlussfolgerung auf jeden Fall ziehen: die Phänomene unseres Bewusstseins sind als solche keine Objekte der umgebenden Außenwelt! Vielmehr scheint es so zu sein, dass die ‚Zustände der Außenwelt‘ auf einen ‚Körper‘ einwirken können, der diese physikalisch-chemischen Einwirkungen mittels einer Vielzahl sogenannter ‚Sensoren‘ in ’neuronale Signale‘ ‚übersetzt‘, also etwa sens: ENV x IS —> IS x NN, d.h. die Menge aller Sensoren realisieren eine Abbildung von Umweltereignissen ENV – eventuell modifiziert durch aktuelle interne Zustände IS des Körpers – in eine Menge von neuronalen Signalen NN, eventuell begleitet von zusätzlichen internen Zuständen IS des Körpers.

 

(15) Wie wir heute schon wissen werden diese sensorisch induzierten neuronalen Signale NN_sens über ein komplexes Schaltwerk von Neuronen auf verschiedenen ‚Ebenen‘ und durch verschiedene ‚Querschaltungen‘ und ‚Rückkopplungen‘ zu abstrakteren Konzepten und Beziehungen ‚weiterverarbeitet‘. D.h. das, was uns irgendwann ‚bewusst‘ wird als Phänomen Ph ist in der Regel sowohl ein ’spätes Verarbeitungsprodukt‘ und zugleich eine ‚Auswahl‘ aller stattfindender neuronaler Zustände, also etwa nn: NN_sens x NN —> NN x Ph. Hierbei gilt die weitreichende Annahme, dass die Menge der Phänomene Ph aus Sicht des Gehirns letztlich eine Teilmenge, und zwar eine echte Teilmenge, der Menge aller neuronalen Zustände ist. Sei NN_ph jene Menge von Neuronalen Signalen, die mit den erlebten Phänomenen Ph korrelieren, und NN_nph die Menge der neuronalen Signale, die nicht mit Ph korrelieren, dann gilt, dass die Menge der neuronalen Signale NN = NN_ph u NN_nph, mit der Annahme, dass die Menge der neuronalen Signale NN_ph, die mit den erlebten Phänomenen Ph korrelieren, eine echte Teilmenge aller neuronalen Signale sind NN_ph  rsubset NN. Denn gerade in diesem Umstand der echten Teilmenge wurzelt der evolutionäre Gewinn des ‚Bwusstseins‘: durch die Möglichkeit einer ‚Abstraktion‘ von der beliebig großen Komplexität des begleitenden Körpers und eines kontinuierlich wachsenden Gehirns kann man aktuelles Entscheiden und Kommunizieren in einem überschaubaren Bereich halten.

 

(16) Zu sagen, dass die bewussten Phänomene Ph aus ‚Sicht des Gehirns‘ auch nur neuronale Zustände sind ist kein (logischer) Widerspruch zur Annahme, dass die Phänomene unseres Bewusstseins aus Sicht unseres Erlebens etwas Besonderes sind, das sich nicht auf neuronale Signale reduzieren lässt. Dies hat mit dem begrifflichen Rahmen zu tun, in dem man sich bewegt. Im phänomenologischen Kontext bewege ich mich im Raum meines Erlebens. Meine ‚Daten‘ DAT_ph sind die erlebbaren Phänomene meines Bewusstseins. Aufbauend auf diesen primären Daten kann ich Begriffsnetze entwickeln, ja sogar Theorien reflexion: DAT_ph —> Th_ph. Beschränke ich mich auf die Teilmenge der empirischen Phänomene Ph_emp habe ich zwar immer noch Phänomene, im Fall der empirischen Untersuchungen zum Körper und Gehirn benutze ich aber zusätzlich zum ’normalen‘ Erkennen empirische Messverfahren meas(), mit denen ich Eigenschaften des Körpers bzw. des Nervensystems untersuche, also meas: BODY x BRAIN —> DAT_bd x DAT_nn. Insofern ich diese Messwerte als Messwerte wahrnehmen kann, sind diese natürlich auch Phänomene Ph_emp_bd und Ph_emp_nn, aber das Besondere dieser Phänomene liegt nicht in dem, was ich als Messergebnis wahrnehme, sondern in der Art, wie ich dieses Phänomen erzeugt habe, eben durch einen zusätzlichen Messvorgang. Wenn ich also bei dem Drücken einer bestimmten Taste auf einem Klavier einen bestimmten Ton höre DAT_ph_ton_i, und die Neuropsychologen zeitlich gleichzeitig durch eine geeignete Messvorrichtung in bestimmten Bereichen meines Gehirns bestimmte Erregungsmuster DAT_nn_ton_i messen können, dann kann man in der Regel nicht direkt von DAT_nn_ton_i auf DAT_ph_ton_i schliessen oder umgekehrt, aber eine Versuchsperson Vpn, die einen Ton hört (DAT_ph_ton_i)Person_abc, und die zugleich das Messergebnis (DAT_nn_ton_i)Person_abc wahrnehmen kann, kann kontrollieren, ob es zwischen den empirischen Messwerten und ihren subjektiven Wahrnehmungen eine signifikante Korrelation gibt (wobei wir unterstellen, dass die ausgewählte Gehirnregion ‚relevant‘ ist). Insofern also solch eine Versuchsperson in dieser speziellen Konstellation eine signifikante Korrelation feststellen könnte, könnte man begründet vermuten, dass das erlebte Phänomen und die gemessenen neuronalen Zustände ‚identisch‘ sind in dem Sinne, dass Erlebnisse als indirekt messbare neuronale Zustände ‚auftreten‘. Davon zu unterscheiden ist die Frage, wie man das Phänomen des subjektiven Erlebens im Rahmen einer empirischen Theorie des Gehirns ‚erklärt‘. Offensichtlich handelt es sich um eine Art ‚Innensicht‘ des Gehirns, bei der ausgewählte Bereiche der Gehirnzustände dazu dienen, wichtige Steuerungsparameter des Gehirns auf einer hohen Abstraktionsebene so zu organisieren, dass sie sich u.a. auch mit symbolischer Sprache verknüpfen lassen.

 

(17) Zusammenfassend gilt, dass die jeweiligen Konstruktionen des Gehirns auf Basis der sensorischen und körpereigenen Signale DAT_nn_sens und DAT_bd vollständige Eigenleistungen des Gehirns sind. Letztlich baut das Gehirn mit seinen ‚Bordmitteln‘ eine ‚Theorie der umgebenden Welt‘ TH_nn_env mit sich selbst als ‚agierendem Objekt‘ Th_nn_ego subset Th_nn_env.

 

(18) In diesem Kontext stellt sich die ‚Wahrheitsfrage‘ – will man diesen klassischen Term beibehalten – auf mindestens zweifache Weise: (i) systemintern und (ii) in Relation zur umgebenden Außenwelt.

 

(19) Systemintern (hier ‚Wahrheit_1‘ genannt) stellt sich primär die Frage, ob die emergierenden Theorien Th_nn als hypothetische Deutungen der in den Daten DAT_nn implizit mitgegebenen Dynamiken mit den Daten hinreichend ‚kongruent‘ sind? D.h. gilt es, dass die Daten DAT_nn vollständig in der ‚Bildmenge‘ der Theorie(n) Th_nn vorkommen? Bzw. gilt, dass  DAT_nn_sens subset Th_nn(DAT_nn_sens)? Da jede Theorie aufgrund der ihr ‚innewohnenden‘ Generalisierungen grundsätzlich mehr Elemente in ihrer Bildmenge hat als sensorische Daten in sie eingehen, kann man nicht verlangen, dass sich zu allen theoretisch möglichen Bildelementen 1-zu-1-Entsprechungen in den Primärdaten finden lassen, wohl aber kann – und muss – man verlangen, dass alle tatsächlich auftretenden Primärdaten sich als Elemente der Bildmenge darstellen lassen. Wahrheit_1 wäre dann also genau die Erfüllung dieser Forderung, dass man also sagen könnte: Eine nuronale Theorie der Welt ist Wahr_1 genau dann, wenn gilt: DAT_nn_sens subset Th_nn(DAT_nn_sens). Also nicht Übereinstimmung sondern abschwächend ‚Enthaltensein‘. Der Bewusstseinsraum Ph als ‚Bewusstsein‘  CONSC ist hier verstehbar als korrespondierend mit eine Teilmenge NN_ph der Menge der neuronalen Zustände NN, also NN_ph subset NN und die zu prüfenden neuronalen Theorien sind Muster innerhalb von NN_ph und NN_nph und ihr Referenzpunkt (ihr ‚Kriterium‘) für Wahrheit_1 ist das Enthaltensein der auftretenden neuronalen Ereignisse in der Bildmenge der Theorie. Eine logische Antinomie und daraus sich herleitenden Aporien gibt es hier nicht.

 

(20) In Relation zur umgebenden Außenwelt (hier ‚Wahrheit_2‘ genannt) stellt sich die Frage nicht innerhalb eines Systems, da das einzelne System in seinem internen Modell ‚gefangen‘ ist. Die modernen empirischen Wissenschaften haben uns aber die Möglichkeit eröffnet, dass wir andere Körper – menschliche wie tierische und andere – als ‚empirische Objekte‘ untersuchen können. Zusätzlich können wir – bis zu einem gewissen Grad – die Entwicklung von Populationen im Laufe der Zeit untersuchen. In diesem Kontext kann man die Frage der ‚Passung‘ des Verhaltens einer Population zur jeweiligen Außenwelt nach unterschiedlichen Kriterien gewichten. Z.B. stellt das schlichte ‚Überleben‘ bzw. ‚Nicht-Überleben‘ ein Basiskriterium dar. Populationen, die nicht überleben, haben offensichtlich ein Verhaltensspektrum, was nicht geeignet ist, alle notwendigen ‚Aufgaben‘, die die jeweilige Umgebung stellt, in der verfügbaren Zeit befriedigend zu lösen. Insofern das Verhalten ein Ouput des Körpers mit seinem Nervensystem ist, das auf einem bestimmten Input basiert – also sys: IN x BD x NN —> OUT — muss man sagen, dass die Systemfunktion sys offensichtlich unzulänglich ist. Da jede Systemfunktion eine Synthese von Körper mit Nervensystem BD x NN bildet, von dem wir wissen, dass es auf biochemischem Wege über Genetik, Wachstum und Vererbung weitergegeben und zugleich ‚verformt‘ wird, könnte man sagen, ein Körper-mit-Nervensystem-System SYS_bd_nn hat eine ‚wahre_2‘ Struktur, wenn das potentielle Verhalten sys( IN x BD x NN) geeignet ist, dass die Population dieses Systems POP_sys überlebt. Hier wird also der Körper mit seinem Nervensystem und den im Nervensystem bildbaren ‚Modellen‘ Th_nn einheitlich als ein dynamisches Modell sys() gesehen, das alle für das Überleben notwendigen Eigenschaften in der umgebenden Außenwelt hinreichend abbilden und gestalten kann. Das ‚Transobjektive‘ von Hartmann könnte in diesem Kontext interpretiert werden als die umgebenden Außenwelt, die auf den jeweiligen Körper einwirkt und über die verfügbaren Sensoren in dem Körper ein ‚Bild ihrer selbst‘ erzeugt, das nicht die Außenwelt ist, wie sie ‚an sich‘ ist, sondern die Außenwelt, wie sie aufgrund einer kausalen Wirkkette innerhalb eines Organismus repräsentiert werden kann. Die verfügbare neuronale Maschinerie generiert aus diesem primären ‚Bild‘ unterschiedliche komplexe Theorien, die über die konkreten einzelnen Daten hinausreichen (sie ‚transzendieren‘) und mittels einer Theorie ein übergreifendes Bild von einem ‚transzendierenden Objekt‘ entwerfen. Dieses selbst generierte ‚Bild eines Urbildes‘ kann mit dem Urbild – von einem Metastandpunkt aus betrachtet — mehr oder weniger ‚übereinstimmen‘ –also: wahr2: ENV x BD x NN x IN —> {passt, passt-nicht} –, doch ist diese Art von Passung dem individuellen System nicht zugänglich! Sie erschliesst sich nur in einer empirischen Untersuchung, die historische Entwicklungen untersuchen kann.

 

(21) Behält man das Verständnis von Metaphysik als Wissenschaft vom Seienden bei, das sich durch und jenseits der Erkenntnis erschließt und das unabhängig von der Erkenntnis existiert, dann müsste man nun sagen, Metaphysik ist im Prinzip möglich, nicht jedoch als Disziplin individuellen Erkennens, sondern nur als empirische Disziplin, die in einem Netzwerk betrieben wird. Moderne empirische Wissenschaften mit explizitem Theorieanteil, die die Leistungsfähigkeit von Populationen unter expliziter Berücksichtigung des neuronal basierten Verhaltens mit Bezug auf ihre Umwelt untersuchen, bilden gute Kandidaten für eine moderne Metaphysik.

(22) Man kann diese Überlegungen auf vielfältige Weise ergänzen und weiterführen. Ein interessanter Aspekt ist der ‚Offenbarungscharakter‘ von Natur. Wenn man bedenkt, wie umfangreich der Weg vom sogenannten Big-Bang (reine Energie mit einer unvorstellbar großen Temperatur) über Ausdehnung, Sternenbildung, Elementbildung, Bildung unserer Galaxie mit einem komfortablen Platz für unser Sonnensystem, mit einem komfortablen Platz für unsere Erde mit einer extrem günstigen Konstellation aller Planeten, der Entstehung von Molekülen aus Elementen, bis hin zu den ersten Zellen (bis heute letztlich ungeklärt)(vor ca. -3.2 Milliarden Jahren), von da aus eine ‚endogen und interaktiv  getriebene Entwicklung‘ genannt Evolution hin zu körperlichen Strukturen mit vielen Zellen, hin zu Nervensystemen (Start vor ca. -700 Mio Jahren), hin zu Körpern und Gehirnen, die explizite Modelle ihrer Umwelt und ihrer selbst entwickeln können, die symbolische Sprache erfunden haben und vieles mehr. Entscheidend: von der reinen Energie am Anfang sind wir zu Gehirnzuständen gekommen, in denen sich das Universum gleichsam ’selbst‘ anschauen kann, den Augenblick, das Einzelne, aber auch Alle und die ganze Entwicklung. Im Bewusstsein eines JEDEN Menschen kann sich potentiell das gesamte Universum mit allen seinen Facetten ‚versammeln‘, ‚aufscheinen‘. Ich habe nicht den Eindruck, dass irgendein Mensch sich der Tragweite dieses Faktums bewusst ist. Und bezogen auf die klassischen Offenbarungsreligionen (Judentum, Christentum, Islam) habe ich den Eindruck, dass diese die Menschen, statt sie mehr und tiefer zu Gott und einer Ehrfurcht vor dem Leben hinzuführen, eher dazu dienen, die Menschen Gott zu entfremden und das Leben – auch in Gestalt anderer Menschen – zu verachten, zu hassen oder gar zu töten. Ein solches Verhalten ist NIEMALS die Botschaft des Lebens, wenngleich das ‚Fressen und Gefressenwerden‘ im Bereich des Lebens eine Eigenschaft darstellt, die an die Notwendigkeit der Verfügbarkeit von hinreichender Energie gekoppelt ist. Doch in der Gestalt des Menschen hat das biologische Leben einen Punkt erreicht, bei dem dieses zwanghafte Fressen und Gefressenwerden prinzipiell durchbrochen werden kann. Wir haben die grundsätzliche Möglichkeit –zum ersten Mal seitdem es dieses Universum gibt!!! — die Gesetze des Lebens neu zu gestalten, neu zu formen, ja, letztlich können wir im Prinzip das gesamte bekannte Weltall von Grund auf neu umformen (natürlich nicht an einem Tag….). Genau dazu sind wir ‚berufen‘. Aber wen interessiert schon die Wahrheit2? Noch liegt immer ein gewisser ‚Schleier‘ über der Bestimmung des gesamten Lebens. Dass es auch irgendwo anders im riesigen Universum ähnliches der gar gleiches Leben wie unseres geben sollte, ist grundsätzlich weder auszuschließen noch würde es unserer ‚Bestimmung‘ irgendeinen Abbruch tun. Die Erkenntnis des ‚gemeinsam Gewordenseins‘ enthält in sich eine gemeinsame Berufung für das Ganze, von dem wir in Gestalt des messbaren Universums möglicherweise bislang nur einen kleinen Zipfel sehen (so wie unser Gehirn im Körper sich als ‚Herr der Dinge‘ erlebt, obgleich es doch, wie wir heute wissen können, nur einen winzigen Ausschnitt eines viel Größeren erlebt). ‚Wahrheit‘ ist das jeweils ‚Größere‘ (Magis), dem wir uns beugen und dienen müssen, da wir als einzelne nicht ‚Herr des Geschehens‘ sind. Insofern wir aber untereinander mit allem unauflöslich ‚verbunden‘ sind, ist diese individuelle Beschränkung nur relativ.

 

 

Eine direkte Fortsetzung findet sich hier

 

 

Eine Übersicht zu allen Beiträgen des Blogs findet sich im begleitenden cogntiveagent-Wiki

 

 

 

 

 

 

Weil es Sinn gibt, kann sich Wissen akkumulieren, das Sinn sichtbar macht. Oder: warum die Frage ‚Warum gerade ich?‘ in die Irre führen kann.

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 15.Juni 2011
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Zum Thema ‚Sinn‘ hab es einen vorausgehenden Beitrag mit dem Titel „Zur Grammatik des Sinns„, der möglicherweise hilfreich ist, um diesen Beitrag zu vertiefen.

(1) Wenn etwas ‚Schlimmes‘ passiert, dann fragen sich viele Menschen ‚Warum gerade ich?‘ (hätte es jemanden anderen getroffen wäre man vielleicht ‚berührt‘ — falls man der anderen Person nahe stand –, aber es würde einen bei weitem nicht so zentral treffen wie das eigene Leid. Wenn etwas subjektiv ‚Schönes‘ oder gar ‚Außergewöhnliches‘ geschieht, dann geraten die einen außer sich und halten sich womöglich sogar für ‚auserwählt‘, womöglich für etwas ‚Besonderes‘; andere bekommen sofort Angst, dass sie all dies, kaum dass sie es besitzen, wieder verlieren könnten, dass sie ‚dem Schicksal‘ misstrauen; sie haben bislang — in ihrer Wahrnehmung — nicht viel Gutes erlebt, also verbietet es ihr Denken, das ‚punktuell Schöne‘ ‚anzunehmen‘; oder trotzig gerade doch: es geht ja doch, ich habe es immer gewusst….

(2) Man kann den Eindruck gewinnen, dass wir tendenziell eine ‚Deutungstendenz‘ in uns tragen, die in allem nach einem ‚möglichen Sinn‘ sucht, der die eigene ‚Werthaftigkeit‘ unterstützt, der klar macht, dass das eigene Leben doch irgendwie einen ‚Wert‘ und einen ‚Sinn‘ hat. Andererseits, wenn wir uns lange Zeit schwer tun, einen ‚Sinn‘ zu erkennen, dann kann dies sehr anstrengend, kann es schmerzhaft sein, keinen Sinn zu erkennen; dann ist es einfacher einen Sinn grundsätzlich auszuschließen (z.B. das alte Gegensatzpaar ‚Gläubige‘ gegen ‚Ungläubige‘, ‚Theisten‘ versus ‚Atheisten‘, ‚Optimist‘ vs. ‚Pessimist‘, …), überraschen lassen kann man sich ja immer noch.

(3) Es ist nicht leicht zu sehen, ob man diese Frage(n) nach dem Sinn überhaupt beantworten kann. Bei der Untersuchung der Frage, wie Wissen generell entstehen kann, wie Systeme generell lernen können, stellt man irgendwann nicht nur fest, wie ungeheuer schwierig die Entwicklung von Wissen ist, sondern dass es so etwas wie ein ‚Optimum‘ nicht isoliert für ‚ein einziges‘ System geben kann, sondern nur im Wechselspiel zwischen einem System und der ‚zugehörigen‘ Umgebung. ‚In‘ dieser bzw. ‚bezogen auf diese‘ kann das Verhalten eines Systems und sein aktueller Zustand einen bestimmten ‚Wert‘ haben; ohne diesen Zusammenhang ist nicht klar, wie man die ‚Werthaftigkeit‘ eines Systems definieren soll. Ein ‚individuelles System an sich‘ gibt es nicht. Alle bekannten Systeme — biologische wie technische — kommen immer nur vor als ‚Teil eines Ganzen‚.

(4) Traditionelle Deutungssysteme (mythische, religiöse, philosophische,…?) fallen dadurch auf, dass sie versuchen, dem einzelnen Menschen einen Deutungszusammenhang anzubieten, der es ihnen erlaubt, trotz der Vielfalt der wechselnden Alltagsbilder ‚in Allem‘ einen ‚Sinn für sich selbst‘ erkennen zu können, der ’stabil‘ ist gegen die Schwankungen des Alltags.

(5) Stellt man solche traditionellen Deutungsstrategien in Frage, kann man aus Sicht der ‚Anhänger‘ dieser Deutungsstrategien sehr schnell als ‚Bedrohung‘ angesehen werden, nicht nur als Bedroher des gedeuteten Sinns, sondern dann auch als Bedroher des eigenen Lebens, das durch diesen ‚gedeuteten Sinn‘ einen ‚abgeleiteten Sinn‘ hat/hatte, der durch die Infragestellung der Deutung womöglich abhanden kommt. Letztlich ist es egal welche Deutungsstrategie man in Frage stellt (religiöse, philosophische, esoterische, ad-hoc Alltagsmythologien, Verschwörungstheorien,….), entscheidend ist, dass man durch die Infragestellung bei den jeweiligen ‚Anhängern‘ (‚Gläubigen‘) den Eindruck erweckt, man greife mit der Deutung auch den gedeuteten Sinn selbst an, und damit zentrale ‚Gegenstände‘ des subjektiven Denkens, das sich ‚in‘ diesen ‚geglaubten‘ Gegenständen eine Weltsicht ‚gebaut‘ hat, die ‚Heimat‘, ‚Sinn‘ und persönlichen ‚Wert‘ (für viele Geschäftemacher aber auch konkrete Einkünfte) verspricht.

(6) Die ‚Stabilisierung des Alltags‚ durch Ausdeutung eines Sinns kann man negativ als ‚Immunisierung‚ verstehen, als Versuch der ‚Abschottung‘ vor den ‚Tiefen‘ und ‚Unwägbarkeiten‘ des realen Lebens. Doch letztlich partizipiert diese Tendenz der ‚Stabilisierung durch Deutung‘ von der allgemeinen Natur des Wissens, in einem anfänglichen ‚Meer von isolierten Zufälligkeiten‘ schrittweise ‚Muster‘ und ‚Zusammenhänge‘ erkennen zu können, die sich mehr und mehr zu komplexen Strukturen, Modellen, Theorien formen können. D.h. es ist die Eigenart unserer biologisch bedingten Wissensmaschinerie, die uns dazu anleitet/ führt/ zwingt, im Strom der Zufälligkeiten Nicht-Zufälliges aufzuspüren und dieses dann — wie Steine im fließenden Bach — als ‚Sprungstellen‘ zu benutzen, um ‚in allem Nicht-Sinn‘ dann doch Umrisse eines möglichen ‚Sinns‘ erkennen zu können.

(7) Streng genommen sind selbst die radikalsten wissenschaftlichen Modell bzw. Theoriebildungen Formen von ‚Sinngebung‚. Im Unterschied zu den vielfältigen Formen ‚alltäglicher Deutungen‘ mit Tendenz zur Abschottung, zur Immunisierung (die Andersgläubigen, die Ausländer, die Nachbarn, die Polizei, die Politiker, die Banker, die Proleten, die Versager, die Karrieristen, …) bieten wissenschaftliche Deutungsmodelle zumindest prinzipiell eine Transparenz für alle Daten und Methoden, die benutzt werden, um eine bestimmte Deutung aufrecht zu erhalten. Je komplexer wissenschaftliche Deutungen werden, je mehr persönliche Eitelkeiten von Forschern sich mit der Geltung einer bestimmten Deutung verknüpfen, je mehr finanzielle Einkünfte und politische Macht sich mit einer bestimmten Deutung gewinnen lassen, um so eher steht natürlich auch eine sogenannte wissenschaftliche Deutung in Gefahr, sich ‚unwissenschaftlich zu stabilisieren‘, sich zu ‚immunisieren‘, da der Verlust der Deutungshoheit einhergehen würde mit dem Verlust von vielen sekundären Vorteilen, die direkt nichts mit Wahrheit zu tun haben.

(8) Es gibt also eine eingebaute Tendenz der biologischen ‚Wissensmaschinerie‘ nicht nur überhaupt Deutungen zu generieren, sondern den Inhalt dieser Deutungen als das zu nehmen, was die erfahrbare flüchtige Welt ‚eigentlich‘ ist. Während wir alle von Geburt an automatisch Teil dieses ‚Deutungsgeschehens‘ sind, ist es nicht auch automatisch der Fall, dass wir uns dieses ‚vorprogrammierten Deutungsspiels‘ ‚bewusst‘ werden. In der ‚Simulation von Welt‘ ‚in unserem Kopf‘ ist das biologische Gehirn so meisterhaft, dass viele Menschen bis zu ihrem Tode niemals gemerkt haben, dass die Welt, die sie ‚zu sehen meinten‘, gar nicht die Welt ist, die real außerhalb des Gehirns existiert, sondern ’nur‘ die Welt, wie sie das Gehirn kontinuierlich aufgrund der ihm verfügbaren ‚Signale‘ ‚zusammenbaute‘. Aufgrund von vielen hundert Millionen Jahren ‚Entwicklungszeit‘ hat das Gehirn darin eine ‚Meisterschaft‘ erlangt, die uns die Möglichkeit bietet, auch ohne spezielles bewusstes Wollen Strukturen in der uns umgebenden Welt erkennen zu können, die wir in unserer Bewusstheit noch nie gedacht hatten. M.a.W. unser Gehirn ‚erzählt‘ uns kontinuierlich eine Geschichte von der Welt, die ein hohes Maß an Plausibilität besitzt, aber dennoch nur eine bestimmte (begrenzte) Deutung aufgrund spezieller Annahmen ist.

(9) Der seit Jahrtausenden anhaltende Versuch von Menschen, der automatischen Erkennungsleistung des Gehirns explizit konstruierte zusätzliche Deutungsmodelle an die Seite zu stellen, stellt eine außerordentliche Leistung dar, ist aber aufgrund der unausweichlichen Komplexität des Geschehens auf Schritt und Tritt anfällig für Fehler und Fehldeutungen. Es ist die Aufgabe der vielfältigen wissenschaftlichen (und auch philosophischen) Disziplinen, das gesamtgesellschaftliche Deutungsgeschehen kontinuierlich zu verbessern.

(10) Sofern ein Deutungsgeschehen — in welche Form auch immer — bestimmte Deutungsinhalte ’sichtbar‘ macht, die als ’sinngebend‘ verstanden/ erlebt werden, geschieht dies niemals ohne einen Bezug zu ‚vorgegebener Welt‘, es sei denn, die Deutungsinhalte sind ‚reine gedankliche Konstruktionen‘, ‚Phantasiegebilde‘, ‚gedankliche Spielereien‘, ‚gedankliche Erfindungen‘ und damit ‚beliebig‘, ‚wertlos‘. ‚Wertvolle‘ Deutungsinhalte entstammen letztlich immer einer ‚Begegnung‘ des erkennenden Systems mit einem ‚Anderen‘, das im erkennenden System eine Art ‚Echo’/ ‚Widerhall’/ ‚Erschütterung‘ … erzeugt. In diesem fundamentalen Sinn sind ‚wertvolle Deutungsinhalte‘ ‚wahr‘, weil es das, ‚wovon’/ ‚worüber‘ sie handeln, unabhängig vom Deutungsmedium in irgendeiner Form ‚tatsächlich gibt‘. Wenn jemand also ‚unwahre‘ Deutungen kritisiert, dann gefährdet er den Deutungsinhalt wesentlich. Im Falle von ‚wahren‘ Deutungen ist dies nicht so; durch die Kritik am deutenden Modell, am Deutungsmedium, am Deutungsgeschehen wird die wahr Ursache der Deutung nicht beseitigt. Im Gegenteil, ein — vernünftig geführter — ‚Deutungsstreit‘ trägt meistens dazu bei, ‚die zu deutende Sache‘ als Anlass einer Deutung weiter zu klären. Angesichts der Unzulänglichkeiten der biologischen Wissensprozesse sind Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte keine lange Zeit, letztlich ‚evolutionäre Augenblicke‘. Wahre (!) Wahrheit verschwindet also nicht durch die Kritik an ihrer Deutung; sie kann allerdings für eine gewisse Zeit ‚verdeckt‘ bleiben. Falsche (!) Wahrheiten können ebenfalls Jahrhunderte — oder gar Jahrtausende — überdauern, wenn die Menschen nicht bemerken, dass diese Deutungen letztlich nicht der Welt entsprechen, wie sie außerhalb ihres Denkens ist, sondern nur als Konstruktion in ihrem Kopf.

(11) Entsprechend der Volksweisheit ‚Aus Nichts kommt nichts‘ haben wir in der modernen Logik gelernt, dass man nur etwas beweisen kann, was man zuvor angenommen hat; die Physiker belehren uns über den Energieerhaltungssatz, der anders formuliert besagt, dass ich aus einem System nicht mehr Energie herausbekommen kann, als sowieso schon drin steckt. Im Bereich Wissen gilt letztlich etwas Analoges: ich kann nur wissen, was es schon gibt. In dem heute bekannten Kosmos haben wir — bezogen auf die Verteilung von Energie — noch ‚lokale Ungleichheiten‘. Diese ermöglichen die Entstehung von biologischen Systemen, die lokal Energie ansammeln und in dieser zeitlich begrenzten Energieakkumulationen Strukturen möglich machen, die partiell ‚unwahrscheinlich‘ sind und damit ‚Informationen‘ darstellen, die wir als ‚Wissen‘ erleben: Strukturen, die uns im Fluss von ‚Zufälligkeiten‘ als ‚Häufigkeiten‘ auffallen, die wir ’speichern‘ können, und die wir im Kontext des ‚Fortgangs‘ weiter ‚bewerten‘ können. Durch solche bewertbaren speicherbaren Häufigkeiten akkumulieren Energieungleichheiten als Wissen, das in der Tat letztlich ’nur‘ ein Echo dessen darstellt, was uns Erkennenden ‚widerfährt‘!!! In der Form des erfahrungsbasierten Wissens akkumulieren sich Aspekte des kontinuierlichen Weltgeschehens in verstehtigten Augenblicken, durch die etwas ’sichtbar‘ werden kann, was als Weltgeschehen kontinuierlich ‚abläuft‘, ohne dass der Ablauf als solcher ‚um sich weiß‘. Aber biologische Systeme als Teil dieses kosmischen Ablaufs können im Ablauf Aspekte des Ablaufs ‚akkumulieren‘, diese dadurch ‚füreinander sichtbar‘ machen, und in diesem ‚Füreinander-Sichtbarmachen‘ die Umrisse eines ‚wachsenden Sinnes‘ sichtbar machen, der etwas über das ‚Innere‘ des Kosmos erzählt, über seine ‚mögliche Seele‘, über den möglichen ‚Weltgeist‘ (der selbst möglicherweise keine biologische Strukturen benötigt, um zu ‚wissen‘; biologische Systeme sind spezielle Konstellationen innerhalb der materiellen Makrostrukturen).

(12) Wenn es also ‚für uns Menschen‘ einen Sinn gibt, dann nur, weil es diesen Sinn schon immer unabhängig von uns gibt und nur in dem Modus, dass wir diesen potentiellen wahren Sinn in einem gemeinsamen Deutungsgeschehen über Jahrhunderte, Jahrtausende… schrittweise aufdecken. Dass die zeitliche und körperliche Begrenztheit unseres biologischen Lebens diesen globalen Sinnzusammenhang nicht in Frage stellen können, ergibt ich daraus von selbst. Sinnlosigkeit besteht dann nur solange, als der einzelne sich nicht als Teil des größeren Sinnzusammenhanges verstehen und erleben kann. … was einfacher klingt als es real getan ist…..

 

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Hoffmanns Erzählungen

  1. Nach Jahren war ich wieder mal in der Oper (Frankfurt); ‚Hoffmanns Erzählungen‘ in der Vertonung von Jaques Offenbach. Zum ersten Mal aufgeführt in Paris am 10.Februar 1881. Der Komponist selbst starb vor der Uraufführung am 5.Okt.1880 in Paris. Er hinterlässt eine vollständige Klavierpartitur für die ersten drei Akte und Skizzen für die restlichen zwei.

  2. Von den vielen Dingen, die man über den Text und die Musik schreiben könnte (und so viel wurde auch schon geschrieben) hier jetzt nur dieses: im Handlungsteil erleben wir einen Hauptdarsteller Hoffmann (gleichnamig mit dem Autor des Textes), der drei Beziehungsgeschichten durchlebt, die alle in der Enttäuschung enden.

  3. Die erste Frau, in die er sich verliebt, wird irgendwann ‚enttarnt‘ als ein ‚Automat‘ (heute würden wir vielleicht sagen ‚Roboter‘); gar kein Mensch. Ob die Liebe trotz allem bis zu einem gewissen Grade vielleicht doch Bestand gehabt hätte, erfahren wir nicht, weil der Automat von einem anderen Enttäuschten zerstört wird.

  4. Die zweite Frau, in die er sich verliebt, ist todkrank, ohne es zu wissen. Der schöne Körper als Projektionsfläche der Erwartungen, ’stirbt‘ sehr bald. Die wunderschöne Stimme des Körpers erklingt zuvor, erweckt schöne Gefühle, bewirkt aber die Beschleunigung des körperlichen Todes. Die Frau selbst, Antonia, erlebt unterschiedlichste starke Gefühle in sich, die sie hin und her reißen, weil sie nicht weiß, wie sie diese Gefühle deuten soll. Welches Gefühl ist ‚richtig‘?

  5. Die dritte Frau wird als ‚Kurtisane‘ bezeichnet (Prostituierte, Hure, erotische Dienstleisterin,…). Obgleich als solche dem Hauptdarsteller bekannt und abgelehnt, gelingt es ihr, seine Zuneigung durch eine Verführung der anderen Art zu gewinnen: sie präsentiert sich als ‚Opfer‘ und bietet sich ihm als ‚Belohnung‘ an, wenn er sie aus ihrer Gefangenschaft befreit. Als die Verführung gelingt, entlockt sie ihm sein ‚Spiegelbild‘ und bringt ihn dazu, den Mann zu erschießen, von dem sie behauptet, dass er sie gefangen halte.

  6. Man kann diese bisherige Handlung als ‚billige‘ Geschichten abtun, als ’seichte‘ Unterhaltung, als Boulevardstoff (als der er zu seiner Zeit sicher auch gehandelt wurde; E.T.A. Hoffmann war seinerzeit mit seinen skurrilen Geschichten sehr populär), aber man muss nicht. Je nach Standpunkt bieten Sie Ansatzpunkte für weiterreichende Betrachtungen.

  7. In der Frankfurter Aufführung folgt den drei verunglückten Beziehungsgeschichten noch ein Epilog, in dem die ‚wahre‘ Freundin den Hauptdarsteller in seinem Leid und Suff ‚bespricht‘; sie sieht in seinem ‚Leid‘ eine Chance zu Läuterung, zur tieferen Erkenntnis. Details bleiben im Dunkel. Möglicherweise erhofft Sie sich als konkrete Person durch die Befreiung des Hauptdarstellers von ‚falschen‘ Liebesbildern eine stärkere Öffnung und Zuwendung für sie als Freundin. Aber dies bleibt im Ungewissen.

  8. Das ist das Bizarre an diesem Stück: der Weg ins ‚Unglück‘ in Form selbstzerstörerischen Leidens und begleitendem Suff wird breit und lustvoll inszeniert (eine gewisse Parallele zum Lebensstil und Leben von Jacques Offenbach und E.T.A.Hoffmann selbst), ein Ausweg aber nur angedeutet. Die treibenden Kräfte der Handlung sind ein buntes Gemisch, aus Sehnsüchten, Leidenschaft, der viel bemühten ‚Liebe‘, Drogen, Ruhmsucht, die aufgrund ihrer fragilen und zeitlich beschränkten Natur auf Scheitern programmiert sind. Und dann der Absturz, das Versagen, das Scheitern, das Zerbrechen, das Entschwinden des begehrten Objektes, das zu einem ebenso schmerzenden Gemisch aus enttäuschten Gefühlen führt, die das innere Erleben überschwemmen und zu ersticken drohen.

  9. So fantastisch die Struktur von uns Menschen vor dem Hintergrund einer langen evolutionären Entwicklungsgeschichte auch erscheinen mag, im alltäglichen Leben des vielfältigen komplexen Miteinanders erweisen sich die emotionalen Komponenten der Bewertung und Steuerung als ‚primitiv‘ und vielfältig überfordert. So mag man z.B. die hormonale Programmierung des männlichen Gehirns auf spezifische weibliche Attribute gattungstechnisch als ‚überlebensnotwendig‘ klassifizieren oder sie subjektiv bisweilen als ‚angenehme‘ empfinden, in den meisten Fällen ist diese Programmierung aber unangepasst, störend, quälend bis hin zu zerstörend und Enttäuschungen produzierend. Das hormonale Programm als solches ist sehr dumm, es ist ‚blind‘. Ähnlich sind viele tief sitzende primitiven Bedürfnisse wie z.B. an ‚Kontrolle‘, an ‚Macht‘ und an ‚Ruhm‘ Fixierungen, die den betreffenden ‚von innen fesseln‘, ihn an bestimmte Ereignisse, Situationen ‚binden‘. Enttäuschungen hier, Zerstörungen dort sind unausweichlich; eine vergiftete Atmosphäre ist das begleitende ‚Parfüm‘ dieser Verhaltensprogramme.

  10. Wenn am Ende von Hoffmanns Erzählungen das ‚Leiden‘ als mögliches Tor zur Läuterung, zur Erlösung bemüht wird, dann fragt man sich: wieso? Warum und wie kann das Leiden die Situation verbessern, und , warum erst Leiden? Warum nicht gleich den ‚besseren‘ Weg wählen, wenn es denn einen gibt. Warum soviel Zeit mit ‚Schrott‘ verbringen, wenn es doch etwas ‚Besseres‘ gibt?

  11. Das Leiden wird gerne und oft bemüht als der ‚Preis‘ für ein falsches Leben oder eben als möglicher ‚Einstieg‘ in ein Besseres. Doch erscheint dies zu billig. Denn weder muss das Leben immer und überall zum ‚Leiden‘ führen noch ist gesagt, dass Menschen durch Leiden tatsächlich zu einem ‚besseren‘ Zustand finden. Viele (die meisten?), die durch den Gang ihres konkreten Lebens in den inneren Zustand des ‚Leidens‘ kommen, finden dadurch nicht zu einem besseren Leben. Sie verfangen sich in diesen Gefühlen und finden keinen Ausgang. Es ist wie ein Strudel, der alles weg zu reißen scheint, was vielleicht Hoffnung geben könnte. Die Betroffenen wirken wie Ertrinkende, bei denen nicht klar ist, welcher ‚Rettungsring‘ noch greift.

  12. Der Verweis auf das Leiden erscheint daher eher als hilflose Geste gespeist von einem Funken Hoffnung, dass es trotz all des erlebten Scheiterns irgendwie doch noch irgendwo etwas gibt, was da heraus führt.

  13. Im Buddhismus hat man hier eine sehr einfache Antwort: ‚Man muss sich von all dem lösen, was Leiden erzeugen kann‘. Im radikalen Sinn würde dies bedeuten, dass man seinem aktuellen Leben ein Ende bereitet, da unsere aktuelle Lebensform sich genau durch diese implizite ‚Spannung‘ definiert. Im Gegensatz zur ‚unbelebten‘ Materie definiert sich Leben ja gerade dadurch, daß durch Zusammenführung von freier Energie aus der Umgebung Potentialunterschiede aufgebaut werden, die durch die daraus resultierenden Differenzen/ Spannungen zu jenen Informationsflüssen fähig sind, die das Geschehen in den Zellen, in den Zellverbänden, in den Organen, im Körper ermöglichen. Wir sind körperlich nur das, was wir sind, weil hunderte von Milliarden Potentialunterschiede sich gegenseitig, wechselwirkend anregen, anstoßen, und zwischen Spannung und Entspannung hin und her oszillieren. Und dies alles nicht ‚ungeordnet‘, sondern in – fast möchte ich sagen ‚geheimnisvollen‘ – Rhythmen, deren Ungleichzeitigkeit und Gleichzeitigkeit die Symphonie eines bewussten Gehirns ermöglichen. Aus dieser Perspektive erscheint das Motto des Buddhisus als lebensfeindliche Ideologie, die genau das, was Leben ausmacht, verteufelt. Das erscheint mir nicht zielführend.

  14. Unsere aktuelle körperliche Lebensform, die ein Durchgangsstadium repräsentiert von ungefähr -3.6 Milliarden beginnend bis zu einem unbekannten Enddatum, enthält neben sehr vielen ‚eingebauten‘ (‚angeborenen, genetisch bedingten,….) Mechanismen, die sowohl hilfreich als auch störend, belastend sein können, auch verschiedene Möglichkeiten, sich ‚zusätzliche‘ Erkenntnis- Erlebens- und Handlungsebenen zu verschaffen, die über die eingebauten Tendenzen hinausführen können. Die Antonia aus Hoffmanns Erzählungen wird zwischen verschiedenen erlebten Zuständen (Gefühlen) hin und her gerissen, weil sie nicht weiß, wie sie die verschiedenen Gefühle ‚bewerten‘, ‚deuten‘ soll. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir heute in der Kunst der Gefühlsdeutung im Alltag nennenswert weiter gekommen sind. Die Literatur über Gefühle ist zwar uferlos, aber ihr ‚Wahrheitsgehalt‘ erscheint mir gering, da meistens sehr beliebig. Die wissenschaftliche Psychologie hilft partiell weiter, sehr partiell. Das größte Hindernis für einen substantiellen Fortschritt in Sachen besseres Verständnis der menschlichen Emotionen und ihre konstruktive Einbindung in den Alltag sehe ich darin, das wir bislang nicht zugeben können, dass wir fast nichts Brauchbares wissen. Wissenschaft wird zur Pseudowissenschaft, wenn sie vorgibt, mehr zu können als sie wirklich kann.

  15. Eine Oper besteht natürlich nicht nur aus Handlungen und Text, sondern auch aus Klängen, die Handlung und Text ‚umhüllen‘. Sie dringen ins Ohr und bewegen unsere Emotionen (und den Verstand?). Aber, es ist bekannt, dass das visuelle System des Menschen das auditive ‚dominiert‘: erste ’sehen‘ wir und dann ‚hören‘ wir. So entsteht in einer Oper eine diffuse Parallelität zwischen Zuschauer und Zuhörer, zwischen Bild und Klang, eine Parallelität, die naturgemäß nicht ‚aufgeschlüsselt‘ ist. Wer nicht vorher den Text, die Handlung und die Partitur intensiv analysiert hat, der wird nahezu nichts von den Details der Musik ‚mitbekommen‘. Es bleiben im Gesamteindruck Höhen und Tiefen, Laut Leise, diverse Klangfarben, emotionale Schwingungen, anrührende Stimmen, blasse Abschnitte, usw. im ‚Kontext‘ einer Handlung, die anspricht oder nicht. Ist dies eine ‚Versklavung‘ der Musik durch das Auge? Nur, wenn man es so sehen will. Im ‚reinen‘ Konzert wird das Auge weitgehend neutralisiert. Es gibt viele Formen der Einwirkung auf das Gehirn.