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WAHRHEIT CONTRA WAHRHEIT. Notiz

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Worum es geht

Im Zeitalter von Fake News (manche sprechen schon vom postfaktischen Zeitalter ) scheint der Begriff der Wahrheit abhanden gekommen zu sein. Dies trifft aber nicht zu. Die folgenden Zeilen kann man als Fortsetzung des vorausgehenden Beitrags lesen.

I. ARBEITSDEFINITION VON WAHRHEIT

1) In dem vorausgehenden Beitrag wurde angenommen, dass Wahrheit zunächst einmal die Gesamtheit des Wissens, der Erfahrungen und der Emotionen ist, die einer einzelnen Person zum aktuellen Zeitpunkt zur Verfügung steht. Was immer geschrieben, gedacht, gesagt usw. wird, jeder einzelne versteht und handelt auf
der Basis dessen, was er zu diesem Zeitpunkt in sich angesammelt hat.

2) Eine zentrale Einsicht ist dabei, dass unser Gehirn die aktuellen sensorischen Daten – externe wie interne– sofort, und automatisch, mit dem abgleicht, was bisher zu diesem Zeitpunkt im Gedächtnis verfügbar ist. Dadurch erleben wir alles, was uns begegnet, im Lichte des bislang Bekannten. Unsere Wahrnehmung ist eine unausweichlich interpretierte Wahrnehmung.

3) Ein Beispiel: Wenn jemand gefragt wird, ’ist dies dein Kugelschreiber?’, und dieser jemand antwortet mit ’Ja’, dann nimmt er einen Gegenstand wahr (als Ereignis seines Bewusstseins) und dieser jemand stellt zugleich fest, dass sein Gedächtnis in ihm eine Konzept aktiviert hat, bezogen auf das er diesen Gegenstand als seinen Kugelschreiber interpretieren kann. Für diesen jemand ist Wahrheit dann die Übereinstimmung zwischen (i) einer Wahrnehmung als einem Ereignis ’Kugelschreiber’ in seinem Bewusstsein, (ii) einem zugleich aktivierten Konstrukt aus dem Gedächtnis  ’mein Kugelschreiber’, sowie (iii) der Fähigkeit, erkennen zu können, dass das Wahrnehmungsereignis ’Kugelschreiber’ eine mögliche Instanz des Erinnerungsereignisses ’mein Kugelschreiber’ ist. Das Erinnerungsereignis ’mein Kugelschreiber’ repräsentiert (iv) zudem den Bedeutungsanteil des sprachlichen Ausdrucks ’dein Kugelschreiber’. Letzteres setzt voraus, dass der Frager und der Antwortende (v) beide die gleiche Sprache  gelernt haben und der Ausdruck ’dein Kugelschreiber’ aus Sicht des Fragenden und ’mein Kugelschreiber’ aus Sicht des Antwortenden von beiden (vi) in gleicher Weise interpretiert wird.

4) Anzumerken ist hier, dass jene Ereignisse, die ihm Bewusstsein als Wahrnehmungen aufschlagen können, unterschiedlich leicht zwischen zwei Teilnehmern des Gesprächs identifiziert werden können. Einmal können Aussagen über die empirische Welt sehr viele komplizierte Zusammenhänge implizieren, die nicht sofort erkennbar sind (wie funktioniert ein Fernseher, ein Computer, ein Smartphone…), zum anderen kann es
sein, dass die beiden Gesprächsteilnehmer die benutzte Sprache sehr unterschiedlich gelernt haben können (Fachausdrücke, spezielle Redewendungen, Art der Bedeutungszuschreibung, usw). Obwohl der Sachverhalt vielleicht im Prinzip erklärbar wäre, kann es sein, dass beide Gesprächsteilnehmer im Moment des Gesprächs
damit überfordert sind.

5) Ferner kann man sich durch dieses Beispiel nochmals deutlich machen, dass die Bezeichnung der Gesamtheit des Wissens, der Erfahrung und der Emotionen eines Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt als der subjektiven Wahrheit dieses Menschen ihren Sinn darin besitzt, dass dieser Mensch in dem Moment, wo er gefragt wird, ob es sich SO verhält, nur dann ’Ja’ sagen wird, wenn der gefragte Mensch in seiner subjektiven Wahrheit Elemente findet, die diesem So-sein entsprechen. Das ’So-sein’ aus der Frage muss ein Bestandteil der subjektiven Wahrheit sein und nur dann kann ein Mensch auf eine Anfrage hin sagen, ja, das wahrgenommene So-sein findet in der subjektiven Wahrheit eine Entsprechung. Die Fähigkeit zur Wahrheit erscheint somit primär in der subjektiven Wahrheit eines Menschen begründet zu sein.

II. WAHRHEIT UND LEBENSFORM

1) Ergänzend zu diesem geschilderten grundsätzlichem Zusammenhang wissen wir, dass die subjektive Wahrheit nicht unabhängig ist von dem Lebensprozess des jeweiligen Menschen. Alles, was ein Mensch erlebt, was auf ihn einwirkt, kann in diesem Menschen als Ereignis erlebbar werden, kann ihn beeinflussen, kann ihn
verändern. Dazu gehört natürlich auch das eigene Tun. Wenn jemand durch den Wald läuft und merkt, dass er laufen kann, wie sich das Laufen anfühlt, wie sich dies langfristig auf seinen Körperzustand auswirkt, dann beeinflusst dies auch das individuelle Erkennen von Welt und von sich selbst, als jemand, der laufen und
Fühlen kann. Wenn stattdessen Kinder in Kobaldminen arbeiten müssen statt zu lernen,  sich vielfältig neu entdecken zu können, dann wird diesen Kinder mit der Vorenthaltung einer Lebenspraxis zugleich ihr Inneres zerstört; es kann nur ein verzerrter Aufbau von Persönlichkeit stattfinden. Wir schwärmen derweil von den angeblich umweltfreundlichen Elektroautos, die wir fahren sollen. Oder: wenn Kinder im Dauerhagel von Granaten und Bomben aufwachsen müssen, um sich herum Verwundete und Tote erleben müssen, dann werden sie sich selbst entfremdet, weil verschiedene Machthaber ihre Macht in Stellvertreterkriegen meinen, ausagieren zu müssen.

2) Aufgrund der so unendlich verschiedenen Lebensprozesse auf dieser Erde können sich in den Menschen, die von ihrer Natur aus weitgehend strukturgleich sind,  ganz unterschiedliche subjektive Wahrheiten ansammeln. Derselbe Mensch sieht dann die Welt anders, handelt anders, fühlt anders. Es ist dann nahezu unausweichlich, dass sich bei der Begegnung von zwei Menschen zwei verschiedene Wahrheiten begegnen. Je nachdem, wie ähnlich oder unähnlich die Lebensprozesse dieser Menschen sind, sind auch die subjektiven Wahrheiten eher ähnlich oder unähnlich.

3) Wie man beobachten kann, tendieren Menschen dazu, sich vorzugsweise mit solchen Menschen zu treffen, mit ihnen zu reden, mit ihnen zusammen etwas tun, die mit ihnen bezüglich ihrer subjektiven Wahrheiten möglichst ähnlich sind. Manche meinen, solche selbstbezügliche Gruppen (’Echokammer’, ’Filterblase’) auch
im Internet, in den sozialen Netzwerken entdecken zu können. Obwohl das Internet im Prinzip die ganze Welt zugänglich macht [Anmerkung: Allerdings nicht in Ländern, in denen der Zugang zum Internet kontrolliert wird, wie z.B. massiv in China.], treffen sich Menschen vorzugsweise mit denen, die sie kennen, und mit denen sie eine ähnliche Meinung teilen. Man muss aber dazu gar nicht ins Internet schauen. Auch im Alltag kann man beobachten, dass jeder einzelne Mitglied unterschiedlicher sozialer Gruppen ist, in denen er sich wohl fühlt, weil man dort zu bestimmten Themen eine gleiche Anschauung vorfindet. An meiner Hochschule, an der Studierende aus mehr als 100 Ländern vertreten sind, kann man beobachten, dass die Studierenden
vorzugsweise unter sich bleiben statt die Vielfalt zu nutzen. Und die vielfältigen Beziehungskonflikte, die sich zwischen Nachbarn, Freunden, Lebenspartnern, Mitarbeitern usw. finden, sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie real  unterschiedlich subjektive Wahrheiten im Alltag sind. [Anmerkung: Allerdings ist diese Aufsplitterung in viele kleine Gruppen von ‚Gleichgesinnten‘ nicht notwendigerweise nur negativ; die Kultivierung von Vielfalt braucht eine natürliche Umgebung, in der Vielfalt möglich ist und geschätzt wird.]

4) Obwohl also der Mechanismus der subjektiven Wahrheitsbildung grob betrachtet einfach erscheint, hat man den Eindruck, dass wir Menschen uns dieses Sachverhaltes im Alltag nicht  wirklich bewusst sind. Wie schnell fühlt sich jemand beleidigt, verletzt, oder gar angegriffen, nur weil jemand sich anders verhält, als man es im Lichte seiner subjektiven Wahrheit erwartet. Wie schnell neigen wir dazu, uns von anderen abzugrenzen, sie abzustempeln als krank, verrückt, oder böse zu erklären, nur weil sie anders sind als wir selbst.

III. GEDANKE UND REALE WELT

1) Bis hierher konnte man den Eindruck gewinnen, als ob die subjektive Wahrheit ein rein gedankliches, theoretisches Etwas ist, das sich allerdings im Handeln bemerkbar machen kann. Doch schon durch die Erwähnung des Lebensprozesses, innerhalb dessen sich die subjektive Wahrheit bildet, konnte man ahnen, dass die konkreten Umstände ein wichtiges Moment an der subjektiven Wahrheit spielen. Dies bedeutet z.B., dass wir die Welt nicht nur in einer bestimmten Weise sehen, sondern wir verhalten uns ganz konkret in dieser Welt aufgrund unserer subjektiven Wahrheit (= Weltsicht), wir leben unseren Alltag mit ganz konkreten Objekten, Besitztümern und Gewohnheiten. Eine andere subjektive Wahrheit (bzw. Weltsicht) ist daher in der
Regel nicht nur ein bloßer abstrakter Gedanke, sondern kann zugleich reale, konkrete Veränderungen des eigenen Alltags implizieren. Da aber schrecken wir alle (verständlicherweise?) sofort zurück, blitzartig, vielleicht sogar unbewusst. Über die Wahrheit reden mag grundsätzlich chic sein, aber wenn die zur Sprache kommenden
Wahrheit anders ist als die eigene Wahrheit, dann zucken wir zurück. Dann wird es unheimlich, ungemütlich; dann können allerlei Ängste aufsteigen: was ist das für eine Welt, die anders wäre als die Welt, die wir kennen? Der verinnerlichten Welt korrespondiert immer auch eine reale Alltagswelt. [Anmerkung: In diesen Kontext passt vielleicht das paradoxe Beispiel, das Jesus von Nazareth in den Mund gelegt wird mit dem Bild, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen würde, als dass ein Reicher in den Himmel gelangen könnte. Eine Deutung wäre, dass jemand der als Reicher
(unterstellt: auf Kosten anderer) in einer Wirklichkeitsblase lebt, die angenehm ist, und er als Reicher wenig Motive hat, dies zu ändern. Allerdings, was man gerne
übersieht, ein solches Verhaftetsein mit der aktuellen Situation, die als angenehm gilt, gilt in vielen Abstufungen für jeden Menschen. In den Apartheitsgefängnissen von Südafrika (heute als Museum zu besichtigen) gab es z.B. unter den Gefangenen eine klare Hierarchie: die Bosse, die Helfer der Bosse, und der Rest. Kein Boss wäre auf die Idee gekommen, seine relativen Vorteile zu Gunsten von allen aufzugeben.]

2) In der Struktur der gesellschaftliche Wirklichkeit kann man den Mechanismus der parzellierten Wahrheiten wiederfinden. Eine Gesellschaft ist mit unzähligen Rollen durchsetzt, mit Ämtern, Amtsbezeichnungen, Institutionen usw.. Dazu kommen in vielen Ländern Abgrenzungen von unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Weiter gibt es Nationalstaaten, die ihre eigenen Wahrheiten pflegen. Die Tendenz, das Andere, die Anderen negativ zu belegen, um seinen eigenen Status dadurch indirekt zu sichern, findet sich zwischenstaatlich auch wieder. [Anmerkung: Gut zu erkennen in dem Erstarken von nationalistisch-populistischen Doktrinen in leider immer mehr Ländern der Erde.] Eine unkritische Ausübung gewachsener partieller Wahrheiten kann Unterschiede dann nur zementieren oder gar vergrößern, anstatt sie zu überbrücken und zu allgemeineren Wahrheitsbegriffen zu kommen.

IV. EINE KULTUR DER WAHRHEIT?

1) Wenn man sieht wie unglaublich stark die Tendenz unter uns Menschen ist, aktuelle, partielle Wahrheiten (die aus Sicht des einzelnen nicht partiell, sondern universell sind) mit einer bestimmten Alltagspraxis zu verknüpfen und diese fest zu schreiben, dann könnte man auf die Idee kommen, zu fragen, was wir als Menschen tun können, um dieser starken Tendenz ein natürliches Gegengewicht gegenüber zu stellen, das
dem Trieb zu partiellen Wahrheit entgegenwirken könnte.

2) Innerhalb der Rechtsgeschichte kann man beobachten, wie im Laufe von Jahrtausenden das Recht des Angeklagten häppchenweise soweit gestärkt wurde, dass es in modernen Staaten mit einem funktionieren Rechtssystem üblich geworden ist, jemanden erst dann tatsächlich zu verurteilen, nachdem in nachvollziehbaren, transparenten Verfahren die Schuld bzw. Unschuld objektiv festgestellt worden ist. Dennoch kann man sehen, dass gerade in der Gegenwart in vielen Staaten wieder eine umgekehrte Entwicklung um sich greift: der methodische Respekt vor der Gefahr partieller Wahrheiten wird einfachüber Bord geworfen und Menschen werden allein aufgrund ihrer Andersheit und eines blinden Verdachts vorverurteilt, gefoltert, und
aus ihren gesellschaftlichen Stellungen verjagt.

3) Innerhalb der Welt der Ideen gab es eine ähnliche Entwicklung wie im Rechtssystem: mit dem Aufkommen der empirischen experimentellen Wissenschaften in Kooperation mit Mathematischen Strukturen konnte das Reden über Sachverhalte, über mögliche Entstehungsprozesse und über mögliche Entwicklungen auf ganz neue Weise transparent gemacht werden, nachvollziehbar, überprüfbar, wiederholbar, unabhängig von dem Fühlen und Meinen eines einzelnen [Anmerkung: Allerdings nicht ganz!].  Diese Art von Wissenschaft kann großartige Erfolge aufweisen, ohne die das heutige
Leben gar nicht vorstellbar wäre. Doch auch hier können wir heute beobachten, wie selbst in den Ländern mit einem entwickelten Wissenschaftssystem die wissenschaftlichen Prinzipien zunehmen kurzfristigen politischen
und ökonomischen Interessen geopfert werden, die jeweils auf den partiellen Wahrheiten der Akteure beruhen.

4) Es drängt sich dann die Frage auf, ob der Zustand der vielen (partiellen) Wahrheiten generell vermeidbar wäre bzw. wie man ihn konstruktiv nutzen könnte, um auf der Basis der partiellen Wahrheiten zu einer umfassenderen weniger partiellen Wahrheit zu kommen.

5) Eine beliebte Lösungsstrategie ist ein autoritär-diktatorisches Gesellschaftssystem, das überhaupt nur noch eine partielle Wahrheit zulässt. Dies kennen wir aus der Geschichte und leider auch aus der Gegenwart: Gleichschaltung von Presse, Medien; Zensur; nur noch eine Meinung zählt.

6) Die Alternative ist die berühmte offene Gesellschaft, in der eine Vielfalt von partiellen Wahrheiten möglich ist, verbunden mit dem Vertrauen, dass die Vielfalt zu entsprechend vielen neuen erweiterten partiellen Wahrheiten führen kann (nicht muss!). Hier gibt es – im Idealfall – eine Fülle unterschiedlicher Medien und keine Zensur. Entsprechend wären auch alle Lern- und Erziehungsprozesse nicht an einem Drill, einer
autoritären Abrichtung der Kinder und Jugendlichen orientiert, sondern an offenen, kreativen Lernprozessen, mit viel Austausch, mit vielen Experimenten.

7) Allerdings kann man beobachten kann, dass viele Menschen nicht von vornherein solche offenen, kreativen Lernprozesse gut finden oder unterstützen, weil sie viel anstrengender sind als einfach einer autoritären Vorgabe zu folgen. Und es ist ein historisches Faktum, dass partielle Wahrheitsmodelle bei geeigneter Propaganda und gesellschaftlichen Druck eine große Anhängerschaft finden können.  Dies war und ist eine große Versuchung für alle narzisstischen und machtorientierte Menschen. Das scheinbar Einfachere und Bequemere wird damit sprichwörtlich zum ’highway to hell’.

8) Für eine offene Gesellschaft als natürlicher Entwicklungsumgebung für das Entstehen immer allgemeinerer Wahrheiten sowohl in den Beteiligten wie auch im Alltag scheinen von daher geeignete Bildungsprozesse sowie freie, unzensierte Medien (dazu gehört heute auch das Internet) eine grundlegende Voraussetzung zu
sein. Die Verfügbarkeit solcher Prozesse und Medien kann zwar keine bessere gedachte und gelebte Wahrheit garantieren, sie sind allerdings notwendige Voraussetzungen, für eine umfassendere Kultur der Wahrheit. [Anmerkung: Natürlich braucht es noch mehr Elemente, um einen einigermaßen freien Raum für möglicheübergreifende Wahrheiten zu ermöglichen.]

9) Vor diesem Hintergrund ist die weltweit zu beobachtende Erosion von freien Medien und einer offenen, kreativen Bildung ein deutliches Alarmsignal, das wir Menschen offensichtlich dabei sind, den Weg in ein wahrheitsfähige Zukunft immer mehr zu blockieren. Letztlich blockieren wir uns als Menschen damit nur selbst. Allerdings,
aus der kritischen Beobachtung alleine folgen keine wirkenden konkreten Verbesserungen. Ohne eine bessere Vision von Wahrheit ist auch kein alternatives Handeln möglich. Deswegen versuchen ja autoritäre Regierungen immer, zu zensieren und mit Propaganda und Fake-News die Öffentlichkeit zu verwirren.

V. KONTEXTE

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PHILOSOPHISCHES DENKEN HEUTE – Zurück auf Start?

TREND ZU INSTITUTIONALISIEREN

  1. Es scheint eine allgemeine Tendenz menschlichen Handelns zu sein, aufregende Ideen und erfolgreiche Konzepte – allerdings nicht immer – zu institutionalisieren: aus einzelnen Menschen die überzeugen, aus einzelnen kleinen Unternehmungen, die Erfolg haben, werden Institutionen, große Firmen, Staatsgebilde.
  2. Wenn sie denn da sind, die Institutionen (Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Universitäten, politische Formen, Rechtssysteme, …), dann verselbständigen sich viele Mechanismen. Die treibende Idee kann verblassen, die Selbsterhaltungskräfte einer Institution gewinnen die Oberhand (im Falle von Geheimdiensten wenig Demokratie förderlich …).

WAS BEWEGT?

  1. Bei der Frage, was das Handeln von Menschen leitet, kann man angesichts der Realität von Institutionen verleitet sein, auf die soziale Realität dieser Institutionen zu starren und zu glauben, gegen diese sei nicht anzukommen, als einzelner.
  2. Die Geschichte – und die unruhige Gegenwart – kann uns aber darüber belehren, dass alle Institutionen nur so lange funktionieren, als die sie tragenden Menschen mit ihren subjektiven-inneren Leitbildern diese Institutionen stützen. Wenn sich die subjektiven-inneren Anschauungen ändern, zerfallen Institutionen.
  3. Dafür gibt es zahllose Beispiele. Der immer stärker werdende Lobbyismus unter Politikern, die fast schon dreiste Voranstellung persönlicher kurzfristiger Erfolgskriterien vor jeder gesellschaftlich tragenden Perspektive, die zunehmende Propaganda und Zensur in vielen Ländern dieser Erde, vereinfachende schwarz-weiß Modelle von Gesellschaft und Zukunft, sind einige der wirksamen Mittel, eine friedliche, kooperierende, zukunftsfähige Gesellschaft zu zerstören.

GEMEINSAMES WISSEN

  1. In solch einer Situation – die es in den letzten Jahrtausenden immer gab, immer wieder – stellt sich die Frage, wie kann das Wissen eines Menschen so mit anderen geteilt werden, dass aus diesem gemeinsamen Wissen auch ein gemeinsames Handeln erwachsen kann?

GRÜNDUNGSIDEEN

  1. Demokratische Parteien, die noch jung sind, die noch ein wenig das Gründungsfieber, die neue Vision in sich tragen, sind gute Lehrbeispiele dafür, wie Ideen sich im Alltag mühsam ihren Weg in die Köpfe möglicher Anhänger suchen müssen und dann, im Laufe der Jahre, sich behaupten müssen. Am Gründungstag weiß niemand, wer in der Zukunft dazukommen wird und was die nachfolgenden Generationen daraus machen werden.
  2. Ähnliches kann man bei Religionsgründern und bei Ordensgründungen beobachten: eine elektrisierende Anfangsidee bringt Menschen dazu, ihr Leben nachhaltig zu ändern und damit jeweils auch ein Stück Welt.
  3. Auch Firmengründungen laufen ähnlich ab: zu einem bestimmten Zeitpunkt hatte eine Idee einen wirtschaftliche Erfolg, und dieser führt zu einem Wachstum, der vorher nicht absehbar und nicht planbar war. Irgendwann gibt es ein Konglomerat aus Kapital und Macht, wo die Gründungsidee sich verdunstet hat, wo die Firma sich selbst fremd geworden ist. Manager sind angeheuerte Mietkräfte, die im System ihren persönlichen Vorteil suchen oder es gibt Anteilseigner, die wie kleine Monarchen ihrem Absolutismus zu frönen scheinen.
  4. Und so weiter, und so weiter…

ZEITLICHKEIT

  1. Die übergreifende Wahrheit ist, dass alle diese Gebilde Zeit behaftet sind: mit der Sterblichkeit ihrer Leitfiguren, mit der Veränderung der Gesellschaft und Technik und der Welt drum herum verändern sich Systeme und ihre Kontexte unaufhaltsam. Die Versuchung der totalen Kontrolle durch kleine Machtzirkel ist immer gegeben und ist immer auf Scheitern programmiert, ein Scheitern, dass vieles zerstört, viele in den Tod reist, … Jahrzehnte spielen keine Rolle; Jahrhunderte sind das minimale Zeitmaß für grundlegende Ideen und Änderungen. Die Geschichte ist hier ein unerbittliches Protokoll der Wahrheiten (was solche kurzfristigen Machtinszenierungen gerne verschweigen und fälschen).

WAHRE VISIONEN

  1. Parallel gab es immer auch die Vision einer Menschheit die lernt, die es schafft, gemeinsam Egoismus und Wahnsinn zu verhindern, Humanität allgegenwärtig zu machen, eine Vision der Zukunft zu entwickeln, in der alle vorkommen.
  2. Die historische Realität erzählt uns aber, dass bislang alle Visionen zu schwach waren. Reich – Arm, Gebildet – Ungebildet, Mächtig – machtlos sind Koordinaten eines Raumes, in dem die Wirklichkeit bis heute ungleich verteilt ist.
  3. Wahr ist aber auch, dass der Prozess des Lebens auf der Erde, wie immer er laufen wird, nur dann eine Richtung in eine gemeinsame, nachhaltige, friedliche Zukunft für alle nehmen kann, wenn es genügend Menschen gibt, die über eine Vision, über den Ansatz eines Bildes von solch einer gemeinsamen lebensfähigen Zukunft besitzen, die ihr Handeln gemeinsam leitet, eine Vision die ‚wahr‘ ist im Sinne, dass sie eine Welt beschreibt und schafft, die tatsächlich für alle das gibt, was sie suchen und brauchen.

GENEINSAME LERNPROZESSE

  1. Die Geschichte Europas vom antiken Griechenland bis in die Gegenwart ist ein Beispiel, an dem man studieren kann, wie eine ganze Epoche (das lateinische Mittelalter) durch ein gemeinsames Nachbuchstabieren vorausgehender Gedanken zu sich selbst und dann zu etwas ganz Neuem gefunden hat. In der Gegenwart kann man das Gefühl haben, dass das Neue wieder zu zerfallen droht, weil man immer mehr nur auf einzelne Teile schaut und nicht auf das Ganze.
  2. Ein Beispiel ist das wundersame Werk Wikipedia: eine solche Enzyklopädie (bei allen realen Schwächen) gab es noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Aber diese Enzyklopädie liefert nur unverbundene Einzelteile. Wo sind die Modelle, die die Zusammenhänge sichtbar machen? Wo sind die gemeinsam geteilten Modelle, die alle nachvollziehen können? Welche transparenten Mechanismen der Bewertung bräuchte man?
  3. Die Physiker, Chemiker, Biologen liefern ansatzweise Modelle für Teilbereiche. Das ist gut. Aber es sind nur sehr partielle Modelle und solche, die nur die Forscher selbst verstehen. Der Rest der Welt versteht nichts, ist außen vor, und trotz hochentwickelten Teilmodellen blühen Aberglauben, vereinfachende religiöse Überzeugungen, Esoterik und Ähnliches in einem Ausmaß, was (erschreckend) staunen lässt. … Und die Politik schafft wichtige Wissenschaften sogar wieder ab, weil die Politiker gar nicht verstehen, was die Forscher da machen (im Bereich Cyber- und Drohnenkrieg leider genau umgekehrt…).
  4. Die geistige Welt scheint also zu zerfallen, weil wir immer höhere Datengebirge erzeugen, und immer weniger interpretierende Modelle, die alle verstehen. (BigData liefert ‚Oberflächenmodelle‘ unter Voraussetzung, dessen, was ist, aber geht nicht tiefer, erklärt nichts, und vor allem, ist blind, wenn die Daten schon Schrott sind).
  5. Die Frage ist also, wie kann eine ganze Epoche aus der Zersplitterung in alte, schlechte, unverständliche Modelle der Welt zu etwas mehr gemeinsamer nachhaltiger Modellbildung kommen?

DAS GUTE UND WAHRE SIND EIN SELBSTZWECK

  1. Der einzige Grund für das ‚Gute‘ und ‚Wahre‘ ist das ‚Gute‘ und ‚Wahre‘ selbst. Die Alternativen erkennt man an ihren zerstörerischen Wirkungen (allerdings nicht immer sofort; Jahrzehnte sind die Sekunden von Kulturgeschichte, Generationen ihre Minuten, Jahrhunderte ihre Stunden ….).
  2. Der je größere Zusammenhang ist bei empirischer Betrachtung objektiv gegeben. Wieweit sind wir aber in der Lage, diese übergreifenden objektiven Zusammenhänge subjektiv zu fassen, so zu verinnerlichen, dass wir damit ‚im Einklang mit allem‘ positiv leben können?
  3. Die Geschichte sagt ganz klar, dass es nur gemeinsam geht. Wie wird aus vielen einzelnen eine geistige (rational begründete) und emotionale Gemeinschaft, die heute das tut, was auch morgen Sinn macht?
  4. Man kann ja mal die Frage stellen, warum (um einen winzigen Aspekt zu nennen), Schulen und Hochschulen es nicht als eine ihrer Hauptaufgaben ansehen, die Wikipedia der Fakten (Wikipedia Level 0) mit zu pflegen, um gleichzeitig damit zu beginnen, eine Wikipedia der Modelle (Wikipedia Level 1) aufzubauen?
  5. Philosophische Überlegungen, die ernsthaft anlässlich der realen Welt über diese reale Welt und ihre impliziten kognitiven Räume nachdenken wollen, könnten dann Level 0 + 1 als natürliche Referenzpunkte benutzen, um die kritische Reflexion über das Weltwissen weiter voran zu treiben.
  6. Ja gewiss, dies alles ist nur ein Fragment. Aber als einzelne sind wir alle fragmentiert. Leben ist die Kunst der Überwindung der Fragmente in höheren, lebensfähigen Einheiten ….

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WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 11

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

VORBEMERKUNG

In den Blogbeiträgen 1-11 zum Buch von Paul Tiedemann handelt es sich um eine erste ‚Wahrnehmungsstufe‘ des Textes und seiner möglichen Bedeutung(en). Angereichert mit ersten Fragen und Querüberlegungen. Erst nach Abschluss dieser ersten wahrnehmenden Lektüre erfolgt eine darauf aufbauende Reflexion, die die Einordnungen der Position von Paul Tiedemann in andere denkerische Kontexte versuchen wird. Schon jetzt kann man aber sagen, dass dieses Buch zu dieser Zeit – unabhängig von möglichen späteren Reflexionsergebnissen – einen wichtigen Beitrag darstellt, da es in einer schwierigen geistigen-kulturellen Situation mit dem Begriff ‚Menschenwürde‘ einen Aspekt unseres individuellen und gesellschaftlichen Daseins thematisiert, der durch die aktuellen globalen Strömungen eher als gefährdet zu betrachten ist als gesichert. Wie das Buch zeigt, ist die Materie alles andere als einfach und es ist schon ein Glücksfall, dass der Richter Paul Tiedemann zugleich auch ein Philosoph ist, der auf die juristischen Sachverhalte zusätzlich mit einem veränderten philosophischen Blick schauen kann. Auch wenn man nicht alle philosophischen Einschätzungen teilen muss, gewinnt das Bild, das Paul Tiedemann zeichnet, doch eine Tiefe und Differenziertheit, die in der aktuellen Diskussion von unschätzbarem Wert ist. Nimmt man die Sicht von Paul Tiedemann ernst, dann kann man sehr besorgt sein über die Zukunft von Menschenwürde unter den Menschen, wenn man sieht, welche wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kräfte auf unsere Gegenwart Einfluss nehmen und zu nehmen versuchen.

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgte dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte. Dieser endet für Paul Tiedemann in einer ‚Verwirrung‘. Er versuchte daraufhin eine weitere Klärung über die ‚Wortbedeutung‘ im Kapitel 4. Dieser ‚Umweg‘ über die Wortbedeutung wird in seiner Methodik nicht selbst problematisiert, liefert aber für den Fortgang der Untersuchung im Buch einen neuen Anknüpfungspunkt durch das Konzept des Werturteils. Es folgt dann der Versuch, einen absoluten Referenzpunkt für Werturteile zu identifizieren, mittels dem sich dann vielleicht das Werturteil als grundlegend erweisen lässt. Diesen absoluten Referenzpunkt findet Paul Tiedemann in der ‘Identitätstheorie der Menschenwürde’: diese geht aus von einer grundsätzlichen Selbstbestimmungskompetenz des Menschen und enthält als ein Moment auch den Aufbau einer individuellen Identität (‘Ich’). Dann folgt eine Anzahl möglicher Einwände gruppiert nach vier Themen: Anderer, Determiniert, Böse, nicht-personale Menschen. Dann betrachtet er in Kap.7, einem etwas längeren Kapitel, wichtige Konkretisierungen von Menschenwürde, wie sie uns im Alltag real begegnen. Sehr anschaulich führt er die verschiedenen Punkte aus, so dass man nachvollziehen kann, wie verschiedene Verhaltensweisen/ Lebensweisen tief in das Selbst- und Lebensgefühl eines Menschen eingreifen können, bis dahin, dass er in der Wurzel getroffen, verletzt oder gar nachhaltig zerstört wird. Es sind weniger die äußerlichen Dinge als solche, sondern ihre Wirkung auf das ‚Innere‘ eines Menschen, sein Fühlen, seine Fähigkeit zu vertrauen, sein Denken usw. Schließlich, im Kapitel 9, Menschenrechte als Moralische Rechte, geht es um Begriffe wie ‚Werte‘ – ‚Normen‘, ‚Pflichten‘, oder auch um ‚Moral‘. Insbesondere die Frage, wie komme ich von ‚Werten‘ zu ‚Normen‘? Ferner die Problematik des Verhältnisses von ‚Individuum‘ zur ‚Gesellschaft‘: inwiefern können sanktionierte gesellschaftliche Normen eine ‚Pflicht‘ für ein Individuum sein, das auf ‚authentische‘ Weise versucht, jene Werte und daraus sich ergebenden Pflichten zu bestimmen, denen es folgen will? Ist ‚Moral‘ im Sinne der Übereinstimmung von ‚gesellschaftlich‘ auferlegten Pflichten und ’subjektiv‘ auferlegten Pflichten möglich? Es ist aufschlussreich, wie Paul Tiedemann diese komplizierte Begriffslage aufschlüsselt und seine Sicht darlegt. Die ‚Kluft‘ zwischen individueller und gesellschaftlich sanktionierter Selbstverpflichtung schließt sich bei Paul Tiedemann dadurch, dass er die gesellschaftlichen Institutionen, die Normen in Form von Recht inhaltlich erlassen, sich in ihrem Geltungsgrund letztlich auf das Wollen der Wählerschaft zurückführen müssen. Durch diese Rückkoppelung des gesellschaftlichen Normgebers an das Wollen des einzelnen besteht im Prinzip die Möglichkeit, dass die ‚Werte‘ des einzelnen, an die sich der einzelne binden möchte (über die Delegierung an den gesellschaftlichen Normgeber), dem einzelnen nicht als ‚fremde‘ Normen gegenübertreten, sondern letztlich seinen eigenen intrinsischen Werten entsprechen.

Begriffsnetzwerk zu Kapitel 10 des Buches 'Menschenwürde' von Paul Tiedemann
Begriffsnetzwerk zu Kapitel 10 des Buches ‚Menschenwürde‘ von Paul Tiedemann

KAPITEL 10 (SS.178 – 193) RECHTSTHEORIE DER MENSCHENWÜRDE

1. Den Abschluss des Buches bildet ein Kapitel über rechtstheoretische Zusammenhänge, also jene Strukturen, innerhalb deren der Wert der ‚Menschenwürde‘ im öffentlichen, staatlichen Geschehen, zur Geltung kommen kann (oder auch nicht).

2. Bei diesen Überlegungen lässt sich Paul Tiedemann offensichtlich von der Frage leiten, wie es sein müsste, WENN der Wert der Menschenwürde zur Geltung kommen sollte (die Alternative würde auch gar keinen Sinn ergeben).

3. Entsprechend der vorausgehenden Unterscheidung (vgl. Kap.9) zwischen der subjektiven moralischen Verpflichtungsdimension ausgehend von erkannten Werten und der Externalisierung solcher Werte in einer öffentlichen staatlichen Rechtsordnung kann der Wert der Menschenwürde letztlich nur zur allgemeinen Geltung kommen, wenn eine staatliche Rechtsordnung in ihren Grundlagen diesen Wert zulässt, einbezieht, bejaht.

4. Wenn überhaupt, dann kann der Wert der Menschenwürde, nicht ein Wert neben anderen sein, sondern kann nur als ein absoluter Wert allen anderen Werten voraus liegen. Dies drückt sich auch darin aus, dass mögliche ‚Grundrechte‘ nicht in Konkurrenz zur Menschenwürde stehen können. Im Gegenteil, die Menschenwürde ist konstitutiv für alle sowohl ausdrücklich formulierten Grundrechte wie auch Grund möglicher neuer, noch nicht geschriebener Grundrechte.

5. Zwischenstaatliche, völkerrechtliche Vereinbarungen sind nationalstaatlich formal nur bindend, wenn die völkerrechtlichen Sachverhalte durch geeignete Transformationsrechte in nationalstaatliches Recht ‚überführt‘ wurden. Bezieht sich ein nationales Recht allerdings auf die Menschenwürde, dann ergibt sich implizit aus dieser Zielrichtung eine Art ‚immanente‘ Verpflichtung des Staates, sich einer völkerrechtlich formulierten Geltung der Menschenwürde anzuschließen und diese zu unterstützen.

DISKUSSION

6. Diese Gesamtarchitektur lässt allerdings deutlich eine Schwachstelle dort erkennen, wo die Geltung einer Rechtsordnung vom verfassungsgebenden Willen der Rechtssubjekte abhängt. Diese Rechtssubjekte als konkrete Individuen sind bekanntlich gebunden durch begrenztes Wissen, historischen Erfahrungen und aktuelle Wertesysteme, die statistisch eher nicht die Allgemeinheit des Wertes Menschenwürde widerspiegeln. Vielmehr finden wir in einer konkreten westlichen Gesellschaft heute eine Pluralität von Wertesysteme, die nicht vollständig kompatibel sind und in wichtigen Teilen dem Konzept der Menschenwürde eher widersprechen.

7. Dieser konkrete empirische Befund spricht nicht gegen die Menschenwürde, sondern beleuchtet nur den kontingenten Charakter ihrer ‚Erkennung‘ wie auch ihrer jeweiligen ‚Umsetzung‘.

8. Der Einwand von Paul Tiedemann gegen ein Naturgesetz gerade durch den Verweis auf die grundlegende Abhängigkeit jeder rechtmäßigen Verfassung vom Willen der Rechtssubjekte erscheint hier nicht ganz überzeugend, da dies ja für die Anerkennung und Geltung der Menschenwürde ja auch gilt. Die Menschenwürde wird von Paul Tiedemann ja als oberster fundamentaler Wert gesetzt unabhängig davon, ob einzelne Menschen dies nun voll erkennen oder nicht. Das gleiche gilt von der ‚Natur‘. Die Natur ist gesetzt vor allem individuellen Wollen und Anerkennen. Und insofern der Mensch vollständig ein ‚Produkt‘ dieser Natur ist, ist eine Trennung zwischen dem 100-prozentigen Naturprodukt Mensch und der den Menschen hervorbringenden Natur nicht so ohne weiteres einsichtig.

ABCHLUSS WAHRNEHMUNG, BEGINN REFLEXION

9. Mit diesem letzten 10.Kapitel endet diese erste Bestandsaufnahme des Buches von Paul Tiedemann.

10. Wie schon einleitend mehrfach festgestellt, ist es ein wunderbares Buch zur rechten Zeit, das aber, soviel wunderbare Einsichten es vermittelt, gerade deswegen auch zugleich eine Reihe von weiterführenden Fragen ermöglicht, die wichtig und drängend sind.

11. Die Abhängigkeit der letzten Werterkenntnis und deren reale Umgestaltung von den Rechtssubjekten selbst, den heute lebenden Menschen, macht das Erkennen und das Umgestalten notorisch fragil, da sich nicht nur die erste Natur, sondern auch die zweite von Menschen geschaffene Natur, immer schneller verändert. In evolutionärer Perspektive befindet sich das gesamte biologische Leben auf der Erde in einem Transformationsprozess von universalem Ausmaß, der es erzwingt, alle bisherigen Grundlagen von neuem und zukunftsoffen zu überdenken. Wenn meine Wahrnehmung zutrifft, dann sind es gerade die treibenden Kräfte der westlichen Länder, die zunehmend ein grundlegendes Problem mit dem Begriff der Menschenwürde haben, weil sie ein zunehmendes Problem mit dem Menschen als solchen haben. Aktuell kann der Eindruck entstehen, dass das Transhumane einen höheren Stellenwert bekommt als das Humane. Sollte dieser Eindruck zutreffen, würde damit in einer breiten gesellschaftlichen Strömung dem klassischen Begriff der Menschenwürde der Boden entzogen. Persönlich glaube ich nicht an einen grundlegenden Gegensatz von Humanem und Transhumanem, da sowohl das Humane wie auch das Transhumane prinzipiell Momente am biologischen Leben sind und beide Momente auf sehr grundlegende Weise miteinander verschränkt sind. Am elementarsten über die Wertefrage! Dieser Sachverhalt wird heute aber – soweit ich sehe – praktisch noch nirgends wahrgenommen. Dies liegt möglicherweise daran, dass es bis heute zu wenig Menschen gibt, die sich ernsthaft mit der Grundlagenproblematik lernender Systeme (biologischen technischen) beschäftigt haben. Es gibt nämlich kein ernsthaftes Lernen ohne Werte. Und Werte fallen nicht vom Himmel, sie kosten vielmehr einen sehr hohen Preis, genau genommen kosten sie soviel Existenz, wie man dadurch gewinnen will.

Fortsetzung folgt

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