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Genom – Kultur – (Evolution —> Evolution 2.0)

In dem vorausgehenden Text „WAS IST LEBEN ? … Wenn Leben ‚Mehr‘ ist, ‚viel Mehr‘“ wurde sichtbar gemacht, dass die verschiedenen Phasen der bisherigen Evolution des Lebens auf dem Planet Erde unmissverständlich eine deutliche Beschleunigung erkennen lassen, die zudem einhergeht, mit einer Zunahme der Komplexität biologischer Strukturen. Ein Kandidat, der in diesem Prozess anwachsender Komplexität real hervortritt, ist die Lebensform des ‚Homo sapiens‘. In diesem Text wird die Besonderheit des Homo sapiens ein wenig genauer betrachtet, aber nicht ‚isoliert‘, sondern als ‚genuiner Teil des gesamten Lebens‘. Dadurch wird eine Dramaturgie in Umrissen sichtbar, die viele Fragen ermöglicht, die in eine mögliche Zukunft der Evolution des Lebens deuten, anders als es bislang thematisiert wurde.

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Datum: 18.April 2025 – 24.April 2025

Kontakt: cagent@cognitiveagent.org

Eine englische Version findet sich HIER.

GENE ODER UMWELT?

So — oder so ähnlich — lautete viele Jahrzehnte die Überschrift über eine intensive Diskussion, wodurch das Verhalten von Menschen im Alltag und dann auch im weiteren Verlauf stark geprägt wurde.

Dass ‚Gene‘ verantwortlich gemacht werden können für bestimmte ‚Verformungen des Körpers‘ (oft als ‚Missbildungen‘ empfunden), für bestimmte Krankheiten, für besondere ‚Begabungen‘ wird heute vielfach angenommen. Gleichzeitig wurde aber auch immer wieder betont, dass die jeweilige Umwelt, in der ein Mensch lebt, aufwächst, und arbeitet einen Einfluß auf sein Verhalten, auf seine Persönlichkeit haben kann.

Die Forschungsergebisse der neueren ‚Soziogenomik‘ [1] wirken in diesem Meinungskonflikt eher versöhnlich: anhand vieler Experimente und Untersuchungen findet sich hier die Arbeitshypothese, dass bestimmte ‚Gene‘ (Bestandteil des umfaassenden ‚Genoms‘ eines Menschen) zwar eine Art ‚Potenzial‘ für eine höhere Wahrscheinlichkeit des Auftretens von bestimmten Verhaltensweisen mit sich bringen, dass die tatsächliche ‚Verwirklichung‘ dieses Potentials dann aber sehr wohl von der Beschaffenheit der Umwelt abhängig sind. Krass ausgesprochen: ein hohes musikalisches Potential wird nicht zur Wirkung kommen, wenn das Kind in einer gesellschaftlichen Situation von großer Armut, Kinderarbeit, Kindersoldaten und Ähnlichem aufwachsen muss. Umgekehrt kann aber die gezielte Förderung von Musikalität bei einem Kind zu einer besonderen Förderung der Fähigkleiten beitragen, zugleich aber auch — möglicherweise — auf Kosten der Unterdrückung vieler anderer Fähigkeiten, über die das Kind auch noch verfügt.

[1] Artikel von Dalton Conley, „A New Scientific Field Is Recasting:
Who We Are and How We Got That Way“, 13.März 2025, New York Times, https://www.nytimes.com/2025/03/13/opinion/genetics-nature-nurturesociogenomics.html . Dazu das Buch von Dalton Conley: „THE SOCIAL GENOME: The New Science of Nature and Nurture“, 18.März 2025 , WW Norton – Penguin Random House

Eine weitergehende Betrachtung kann zu weiteren Aspekten führen, die geeignet erscheinen, die ganze Diskussion in eine gänzlich andere Sicht zu leiten.

Weiterhin eher Black-Box?

Was wir in der Diskussion vorfinden sind die beiden Größen ‚Gene‘ als Teil des Menschlichen Genoms und ‚kulturelle Muster‘, die im Alltag als wirksam angenommen werden.

Klar ist, dass die Gene des Genoms nicht direkt mit den kulturellen Mustern des Alltags interagieren. Wir wissen so viel, dass Gene auf höchst komplexe Weise Teile des Körpers und verschiedene Teile des Gehirns beeinflussen. Man kann aber nicht sagen, dass dieses Wechselspiel zwischen Körper und Gehirn unter Einfluss der Gene hinreichend aufgeklärt ist. Für den Start macht es daher vielleicht Sinn, den Körper – trotz des Wissens, welches wir schon haben – als eine ‚Black Box‘ zu betrachten, die mit der konkreten realen Umgebung in Interaktion tritt. Nennen wir einen menschlichen Akteur mit seinem Genom dazu vorläufig einen ‚Black-Box Akteur‘ – kurz: BBActor –.

Menschliche Akteure sind aber über die Umwelt selbst wieder Teil anderer menschlicher Akteure. Es wird angenommen, dass das beobachtbare Verhalten eines menschlichen BBActors von unterschiedlichen ‚kulturellen Mustern‘ beeinflusst wird, welche sich in ‚Form von Regeln‘ auf das konkrete Verhalten auswirken können. Dies führt zu einer Vielzahl von Perspektiven:

(1) VIELFÄLTIGE UMGEBUNGEN : Aufgrund der großen Bandbreite an kulturellen Mustern in einer Gesellschaft können die gleichen Aktionen eines BBActors völlig verschiedene Reaktionen auslösen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine besondere genetische Disposition von der Umgebung gefördert wird, hängt daher sehr stark von der Umgebung ab (Krieg, Kinderarbeit, große Armut, religiöse Anschauungen mit einer Vielzahl von Verboten, destruktive Verhaltensweisen, …)

(2) PERSÖNLICHKEIT : Ein Verhalten, welches Kindern und Jugendlichen mittelfristig hilft, zu einer ‚Persönlichkeit‘ heran zu wachsen, besteht zudem in der Regel aus verschiedenen ‚Bündeln unterschiedlichster Verhaltensweisen‘, die zusammen eine Art ‚Profil‘ bilden, welches nur begrenzt statisch ist. Diese wechselwirkenden Faktoren in verschiedenen Umgebungen müssen über viele Jahre hin wirksam sein , um ‚konstruktive‘ und ‚stabile‘ ‚innere Verhaltensmodelle‘ entstehen zu lassen.

(3) SOZIAL : Ein wichtiger Teil stabilisierender Faktoren gehört zum großen Komplex ‚sozialer Verhaltensweisen‘ und ‚sozialer Gruppen‘, denen sich ein BBActor ‚zugehörig fühlt‘ und in denen er auch ‚positiv akzeptiert‘ wird. Solche sozialen Beziehungen brauchen kontinuierliches Engagement über viele Jahre.

Soweit die individuelle Perspektive.

Wie hängt diese mit dem größeren Ganzen der Evolution zusammen?

Klar ist, dass jedes einzelne biologische System — und damit auch ein Mensch — vollstänig Teil des gesamten Lebens ist, dass in jedem Augenblick Veränderungen unterworfen ist, die in ihrer Summe das repräsentieren, was wir ‚(biologische) Evolution‘ nennen.

Evolution —> Evolution 2.0 (Evo2)

Mit dem Auftreten des Homo sapiens hat sich die Situation des Lebens auf dem Planet Erde allerdings grundlegend geändert, so sehr geändert, dass wir von einer ‚Evolution 2.0 (Evo2)‘ sprechen sollten.

Die Beschreibung von Evo2 kann hier nur als grobe konzeptuelle Skizze stattfinden, da die Komplexität von Evo2 sehr hoch ist; man benötigt aber eine ‚grobe Idee‘ zu Beginn, um sich nicht von Beginn an in den vielen Details zu verlieren. Außerdem finden sich aktuell in der wissenschaftlichen Diskussion nahezu keine Dialogansätze, um das hier im Fokus stehende Evo2-Konzept ausführlich zu schildern.

Falls die Grundidee des Evo2-Konzepts stimmt, wird aber kein Weg daran vorbeiführen, dieses Konzept zur allgemeinen Grundlage für mögliche Planungen und Ausgestaltungen für die Zukunft zu benutzen.

Logik des Alltags

Wenn man die Evolution ’seit dem Auftreten des Homo sapiens‘ neu ‚Klassifizieren‘ möchte als ‚Evo2‘, dann benötigt man hinreichend viele ‚Eigenschaften‘, die man in Verbindung mit dem Auftreten des Homo sapiens erkennen kann als solche, die es so ‚vorher‘ noch nicht gegeben hat.

Hier einige solcher Eigenschaften, die vom Autor identifiziert werden, eingebettet in angedeuteten Beziehungen, die später konkreter ausgeführt werden müssen.

  • ABSTRAKTION : Auffällig ist, wie leicht ein HS verschiedene ‚einzelne Phänomene‘ in einem ‚abstrakten Konzept‘ ‚zusammenfassen kann‘. So kann ein abstraktes Konzept wie ‚Baum‘ nicht nur viele verschiedene Arten von Bäumen ‚meinen‘, sondern einem Baum können ‚beliebig viele Eigenschaften‘ zugeordnet werden. Und ein abstraktes Konzept kann selbst wieder Element für ein ’noch abstrakteres Konzept‘ werden, z.B. können viele Bäume unter dem Konzept ‚Wald‘ versammelt werden. Denkt man in den Kategorien ‚Element‘ und ‚abstraktes Konzept‘, dann bilden abstrakte Konzepte eine ‚Meta-Ebene‘ und die zugehörigen Elemente eine ‚Objekt-Ebene‘. Und da ein HS offensichtlich Elemente einer Meta-Ebene zu einer ‚Objekt-Ebene‘ ‚höherer Stufe‘ machen kann, indem er einfach eine neue ‚Meta-Ebene‘ einführt, erscheint dieser ‚Mechanismus der Objekt-Meta-Ebenen‘ wie eine Art ‚Fahrstuhl in die Abstraktheit‘, für die es keine festen Grenzen zu geben scheint.
  • ZEIT ALS VERÄNDERUNG : Der HS verfügt über die Fähigkeit, ‚Veränderungen‘ zu erfassen. Veränderungen implizieren ein ‚Vorher‘ und ein ‚Nachher‘. Indirekt manifestiert sich in dieser ‚Vorher-Nachher-Struktur‘ das Phänomen der Zeit‘. Zeit erscheint damit als eine Art ‚Meta-Eigenschaft‘ von jeglicher Art von Veränderung. Sie lässt sich begreifen als eine ‚lineare Struktur‘, auf der ein ‚Nachher‘ wieder zu einem ‚Vorher‘ von einem anderen nachfolgenden ‚Nachher‘ werden kann. Diese Linearität hat zur Konstruktion von ‚Zeitmaschinen (Uhren)‘ geführt, die in regelmäßigen Abständen ‚Ereignisse‘ erzeugen, die man ‚Zeitpunkte‘ nennen kann, und die sich mittels ‚Zahlzeichen‘ quantitativ als ‚Zeitpunkte‘ in einer Weise benutzen lassen, wodurch man den Begriff der ‚Zeitdauer‘ bilden kann. Die Zuordnung von ‚realen Ereignissen‘ zu ‚abstrakten Zeitpunkten‘ bildet ein grundlegendes Instrument zur ‚Vermessung der Welt‘.
  • RAUM-STRUKTUR : Der HS mit seinem eigenen Körper in der Welt verfügt über eine Art von Wahrnehmung, in der ‚alles Wahrnehmbare‘ in einer ‚räumlichen Anordnung‘ erscheint. Es gibt ‚viele einzelne Phänomene‘ angeordnet in einer ‚Menge‘, die indirekt (wie bei der Zeit) eine ‚Fläche‘ oder gar einen ‚Raum‘ manifestieren. Durch das ‚Vorkommen in einem Raum‘ gibt es ‚räumliche Beziehungen‘ wie ‚oben – unten‘, ‚davor – dahinter‘, ‚kleiner – größer‘ usw.

Diese Meta-Eigenchaften wie ‚Raum, Zeit und Abstraktion‘ bilden eine Art ‚Koordinatensystem‘, welches dem HS erlaubt, die Gesamtheit seiner ‚Außenwelt-Wahrnehmung‘ in einer ‚Struktur‘ zu ‚ordnen‘, die ihm die ‚äußere Welt‘ in einer ‚vereinfachten Darstellung‘ ‚verfügbar‘ macht. (Anmerkung: besonders die beiden ‚Koordinaten Raum und Zeit‘ finden sich mit anderen Bezeichnungen und in einem anderen Setting schon bei Kant in seiner ‚Kritik der reinen Vernunft‘ von 1781/1789).

Ergänzend zur Erfassung der Meta-Eigenschaft der Zeit besitzt der HS aber auch noch folgende Fähigkeit:

  • MÖGLICHE VERÄNDERUNG (ZIEL(e)) : Die Fähigkeit, ‚Veränderungen‘ in einer Struktur von ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘ zu erkennen, wird beim HS noch ergänzt um die Fähigkeit, ‚künstliche Nachher‘ zu einem ‚Vorher‘ zu generieren. Ob man diese Fähigkeit nun ‚Vorstellen‘ nennt, ‚Denken‘ oder irgendwie mit ‚Kreativität/ Fantasie‘ umschreibt, Fakt ist, ein HS kann die ‚real erlebte Kette von Ereignissen‘ auch in Form einer ‚Kette von bloß vorgestellten Ereignissen‘ generieren. Sofern diese ‚vorgestellte Kette von Ereignissen‘ sich auf ‚mögliche reale Ereignisse‘ beziehen lässt, die aufgrund von ‚möglichen Veränderungen stattfinden‘ können, erlauben solche ‚vorgestellten Ereignisketten‘ eine Art von ‚Planung‘ dafür, dass man ‚Heute planen‘ kann, was ‚Morgen‘ dann vielleicht ‚der Fall sein sollte‘. Dasjenige, was in dieser Kette dann ‚der Fall sein sollte‘ wäre dann so eine Art ‚Ziel‘: ein Zustand, den man ‚erreichen‘ möchte. Offensichtlich kann ein HS sich solche ‚möglichen Ziele‘ auch vorstellen, bevor er eine ‚Kette von möglichen Ereignissen‘ konstruiert hat. In diesem Fall kann die ‚Vorgabe eines Zieles‘ dazu anzuregen, eine ‚Kette von möglichen Ereignissen‘ zu konstruieren, die ein ‚zunächst bloß vorgestelltes Ziel‘ erreichbar erscheinen lässt.

Soweit erste Grundelemente einer ‚Logik des Alltags‘.

Diese, allein für sich genommen, können allerdings noch nichts bewirken. Dazu braucht es noch mehr. Der HS verfügt über dieses ‚Mehr‘.

Kommunikation und Kooperation

Über welche ‚inneren Zustände‘ ein HS auch verfügt, solange er diese inneren Zustände — oder zumindest Teile davon — nicht mit anderen Menschen ‚teilen‘ kann, bleibt ein HS ein ‚isolierter Körper‘ in Raum und Zeit, der mit niemandem kooperieren kann.

  • KOOPERATION : Zur Kooperation gehört, dass ein einzelner HS sich mit beliebigen anderen Menschen über ‚Ziele‘ verständigen kann, die erreicht werden sollten, und über die ‚Prozesse‘, die gemeinsam durchlaufen werden müssten, um die Ziele einzulösen. Der Begriff ‚Kooperation‘ ist in diesem Zusammenhang auch ein ‚Meta-Konzept‘, welches sehr viele — nicht gerade ‚einfache‘ — Eigenschaften zusammen fasst.
  • SYMBOLISCHE SPRACHE : Ein Standardmittel zur Ermöglichung von ‚Kooperation‘ besteht darin, einen ‚Austausch‘ von ‚Zeichen‘ zu organisieren, der so ist, dass die ‚verwendeten Zeichen‘ mit einer ‚Bedeutung‘ korrelieren, die beim ‚Sprecher (Schreiber)‘ wie beim ‚Hörer (Leser)‘ ‚annähernd gleich‘ sind. Ist dies der Fall, dann kann z.B. ein HS von bestimmten ‚Pflanzen‘ sprechen, die ‚gefunden‘ werden sollen, und ein anderer HS ‚versteht‘ die gesprochenen Worte so, dass er mit den ‚vom Sprecher benutzten Worten‘ in seinem Innern eine ‚Vorstellung von jenen Pflanzen‘ aktivieren kann, die vom Sprecher mit seinen Worten ‚intendiert‘ waren. Zugleich kann er ein ‚inneres Bild‘ von ‚möglichen Orten‘ und ‚dazu passenden Wegen‘ aktivieren. Damit ausgestattet, kann der Hörer sich ‚auf den Weg machen‘, um die ‚intendierten/ gewünschten‘ Pflanzen zu finden, einzusammeln und ’nach Hause‘ zu bringen.

Schon diese wenigen Ausführungen lassen erahnen, wie schnell eine Kooperation mittels sprachlicher Kommunikation an ‚Komplexität zunehmen kann‘. Ein ‚gemeinsames Handeln‘ mit vielen beteiligten Menschen in einer unübersichtlichen ‚dynamischen‘ Situation, die über einen längeren Zeitraum an verschiedenen Orten stattfinden soll, erfordert neben starken sprachlichen Fähigkeiten sehr viel mehr:

  • MOTIVATION : Warum sollte jemand über das ‚Motiv‘ verfügen, sich einer gemeinsamen Handlung anzuschließen?
  • KNOWHOW : Verfügen die Teilnehmer über genügend Wissen/ Erfahrung, so dass ein gemeinsam gesetztes Ziel erreicht werden kann?
  • SOZIALE AKZEPTANZ : Gibt es in der potentiellen ‚Gruppe‘ genügend viele Mitglieder, die über eine ‚hinreichende soziale Akzeptanz‘ verfügen, dass ‚Vorschläge‘ als mögliche Ziele von anderen übernommen werden?
  • RESSOURCEN : Gemeinsame Aktionen in Raum und Zeit benötigen ein Vielerlei an ‚Ressourcen‘, damit die notwendigen Aktionen ausgeführt werden können. Die aktiven Menschen benötigen selbst genügend ‚Energie‘ und ‚Wasser‘ für ihre Körper; ferner muss ‚genügend Zeit‘ verfügbar sein, dazu verschiedene ‚Werkzeuge‘, und manches mehr.

Werkzeuge : Materie und Zukunft

Neben den bislang genannten Faktoren, welche das besondere Potential des Homo sapiens auszeichnen, gibt es noch viele weitere, die genannt werden müssen. Zwei stechen besonders hervor:

(1) ‚Werkzeuge‘, mit denen der HS die materielle Umgebung (einschließlich biologischer Systeme) nahezu ‚vollständig bearbeiten‘ kann, und zwar so, dass sie durch die Bearbeitung eine ‚völlig veränderte Gestalt‘ inklusive ’neuartiger Funktionen‘ annehmen kann.

(2) Werzeuge, mit denen der HS ‚abstrakte Repräsentanten (= Bilder, Modelle,…)‘ der realen Welt (inklusive biologischer Systeme) mit Berücksichtigung einer ‚möglichen Dynamik (Veränderungsformen)‘ über ‚abstrakte Zeitstrecken‘ in einer Weise ‚ausloten‘ kann, dass damit ‚mögliche zukünftige Zustände‘ der Welt und des Lebens in dieser Welt umrisshaft sichtbar gemacht werden können.

Diese beiden Faktoren bilden die Grundbausteine einer ‚evolutionären Revolution‘, wodurch der bisherige Gang der Evolution in einen Zustand versetzt wird, der historisch einmalig ist und dessen Potential bislang weder angemessen erkannt noch ausgelotet ist. Diese Möglichkeiten markieren damit tatsächlich eine völlig neue Phase der Evolution, eben eine ‚Evolution 2.0‘.

Folgende Anmerkungen verdienen hier aber Beachtung:

Technische Werkzeuge für die ‚Sichtbarmachung möglicher zukünftiger Zustände der Welt und des Lebens‚ sind Maschinen, angereichert mit Algorithmen, welche die hierzu notwendigen simulativen Operationen zwar faktisch ausführen können, aber sie hängen fundamental von folgenden Faktoren ab:

(1) Auch sie benötigen für ihre ‚Arbeit‘ ‚Energie‘, und nicht wenig.

(2) Sie benötigen für ihre Simulationen ‚Repräsentationen von Sachverhalten‘, welche

(2.1) ‚empirisch zutreffend‘ sind

(2.2) der ‚Dynamik hinter den Phänomenen‘ gerecht werden

(2.3) die ‚Wechselwirkungen zwischen Faktoren‘ berücksichtigen

(3) benötigen ‚Zielvorstellungen‘, die aus der großen Menge möglicher zukünftiger Zustände jene ‚aussortieren‘, die den ‚Kriterien für eine nachhaltige Zukunft des Lebens‚ auf dem Planeten oder ‚woanders‘ berücksichtigen.

Dabei dürfte der Punkt mit den ‚Zielvorstellungen‘ der schwierigste sein: Wer verfügt über diese Zielvorstellungen? Maschinen als solche haben keinen Zugang dazu. ‚Menschen‘ als Teil des Lebens‘ haben im Laufe ihrer Gegenwart auf dem Planeten zwar gezeigt, dass sie grundsätzlich ‚zielfähig‘ sind, dass sie aber ihre Ziele im Laufe von ca. 300.000 Jahren beständig verändert haben, was verschiedene Ursachen hat. Ungeklärt ist das riesige Potential an Zielen in den übrigen Bereichen des Lebens außer dem Menschen.

Frage nach dem letzten Sinn

In diesem Szenario ist somit zwar das Leben generell — und darin möglicherweise der Homo sapiens ganz besonders — der zentrale Kandidat für das ‚Auffinden der angemessenen Ziele‘ für eine weitere spannende Zukunft des Lebens im bekannten Universum (oder auch jenseits davon), aber wie definieren Menschen Ziele für das Ganze, wenn sie sich selbst noch in einer ‚Ziel-Klärungs-Phase‘ befinden?

Der Zuwachs an Handlungsfreiheit und Gestaltungsmacht ist zugleich ein Zuwachs an Herausforderung an das ‚Selbstbewusstsein‘ des Lebens auf dem Planeten, in diesem Universum: Was wollt ihr hier überhaupt? Auf wen wartet ihr? Merkt ihr nicht, dass ihr jetzt gefordert seid?

WAS IST LEBEN ? … Wenn Leben ‚Mehr‘ ist, ‚viel Mehr‘ …

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Datum: 8.Febr 2025 – 13.Febr 2025

Kontakt: cagent@cognitiveagent.org

Eine englische Version findet sich HIER!

KONTEXT

Dies ist eine direkte Fortsetzung der vorausgehenden Texte

  1. „WAS IST LEBEN ? Welche Rolle haben wir ? Gibt es eine Zukunft ?“
  2. „WAS IST LEBEN ? … DEMOKRATIE – BÜRGER“
  3. „WAS IST LEBEN ? … PHILOSOPHIE DES LEBENS“

Diesem Text ging ein Vortrag am 31.Jan 2025 voraus, in dem ich die grundlegenden Ideen schon mal formuliert hatte.

EINLEITUNG

In den vorausgehenden Texten wurde der ‚Rahmen‘ abgesteckt, innerhalb dessen sich die nachfolgenden Texte zum Thema „Was ist Leben? …“ bewegen werden. Eine Sonderstellung nimmt dabei der Text zur ‚Philosophie‘ ein, da hier darauf aufmerksam gemacht wird, in welcher ‚Perspektive‘ wir uns bewegen, wenn wir über uns selbst und die umgebende Welt anfangen nachzudenken und dann auch noch zu ’schreiben‘. Zur Erinnerung an die philosophische Perspektive hier der letzte Abschnitt als Zitat und zur Erinnerung:

„Letztlich ist ‚Philosophie‘ ein ‚Gesamtphänomen‘, das sich im Zusammenspiel vieler Menschen in einem Alltag zeigt, erlebbar ist und nur hier, in Prozessform, Gestalt annehmen kann. ‚Wahrheit‘ als ‚harter Kern‘ jeglichen wirklichkeitsbezogenen Denkens findet sich dadurch immer nur als ‚Teil‘ eines Prozesses, in dem die wirkenden Zusammenhänge wesentlich zur ‚Wahrheit einer Sache‘ gehören. Wahrheit ist daher niemals ’selbstverständlich‘, niemals ‚einfach‘, niemals ‚kostenlos‘; Wahrheit ist eine ‚kostbare Substanz‘, die zu ‚gewinnen‘ jeglichen Einsatz erfordert, und ihr Zustand ist ein ‚flüchtiger‘, da die ‚Welt‘ innerhalb deren Wahrheit ‚erarbeitet‘ werden kann, sich als Welt kontinuierlich ändert. Ein Hauptfaktor dieser beständigen Veränderung ist das Leben selbst: das ‚Dasein von Leben‘ ist nur möglich innerhalb eines ‚andauernden Prozesses‘ durch den ‚Energie‘ ‚emergente Bilder‘ aufleuchten lassen kann, die nicht zum ‚Ausruhen‘ geschaffen sind, sondern für ein ‚Werden‘, dessen letztes Ziel noch vielfach ‚offen erscheint‘: Leben kann sich tatsächlich — partiell — selbst zerstören oder sich selbst — partiell — ermächtigen. Irgendwo da mitten drin befinden wir uns. Die aktuelle Jahreszahl ‚2025‘ ist dafür eigentlich wenig aussagekräftig.“

WENN LEBEN ‚MEHR‘ IST, ‚VIEL MEHR‘ …

Im ersten Text dieses Textprojektes ‚Was ist Leben‘ wurde unter dem Label ‚EARTH@WORK. Cradle of Humankind‘ im Prinzip schon vieles gesagt, was für eine ’neue Sicht‘ auf das ‚Phänomen Leben‘ im Lichte der modernen wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnisse gesagt werden kann und eigentlich dann auch gesagt werden muss. Hier zur Erinnerung der Text:

„Die Existenz [des Planeten Erde] war faktisch die Voraussetzung dafür, dass das heute bekannte biologische Leben sich so entwickelt hat, wie wir es kennen lernen konnten. Es sind erst wenige Jahre her, seitdem wir ansatzweise verstehen können, wie sich das bekannte ‚biologische Leben‘ (Natur 2) aus dem ’nicht-biologischen Leben‘ (Natur 1) ‚entwickeln‘ konnte. Bei einer noch tiefer gehenden Analyse kann man nicht nur die ‚Gemeinsamkeit‘ in der benutzten ‚Materie‘ erkennen, sondern auch die ’neuartigen Erweiterungen‘, die das ‚Biologische‘ gegenüber dem ‚Nicht-Biologischen‘ auszeichnet. Statt dieses ‚Neuartige‘ in einen Gegensatz zu verwandeln, wie es das bisherige Denken der Menschheit getan hat (z.B. ‚Materie‘ versus ‚Geist‘, ‚Matter‘ versus ‚Mind‘), kann man das Neuartige auch als ‚Manifestation‘ von etwas ‚tiefer Liegendem‘ verstehen, als eine ‚Emergenz‘ von neuen Eigenschaften, die wiederum auf Eigenschaften hindeuten, die in der ‚Grundlage von allem‘ — nämlich in der ‚Energie‘ — vorhanden sind, sich aber erst bei der Bildung von immer komplexeren Strukturen zeigen können. Diese neuartige Interpretation wird angeregt durch die Erkenntnisse der modernen Physik, insbesondere der Quantenphysik in Verbindung mit der Astrophysik. Dies alles legt es dann nahe, die klassische Formel von Einstein (1905) e=mc2 umfassender zu interpretieren als bisher üblich (abgekürzt: Plus(e=mc2)).“

Dieser kurze Text soll im weiteren etwas mehr entfaltet werden, um die Dramatik ein wenig mehr sichtbar zu machen, die sich im Zusammenklang der vielen neuen Erkenntnisse andeutet. Manche werden diese Perspektiven vielleicht ‚bedrohlich‘ empfinden, andere als die ‚lang ersehnte Befreiung‘ von ‚falschen Bildern‘, die unser reale mögliche Zukunft bislang eher ‚verdeckt‘ haben.

Kontexte

Wenn wir einen ‚Apfel‘ sehen, ganz isoliert, dann ist dieser Apfel für sich genommen mit seinen Formen und Farben irgendwie ‚unbestimmt‘. Wenn wir aber ‚erleben‘ können, dass man einen Apfel z.B. ‚essen‘ kann, seinen Geschmack spüren, seine Wirkung auf unsren Körper, dann wird der Apfel ‚Teil eines Kontextes‘. Und wenn wir dann zufällig auch noch etwas ‚wissen‘ über seine Zusammensetzung und deren mögliche Wirkung auf unseren Körper, dann erweitert sich das ‚Bild des Erlebens‘ um ein ‚Wissensbild‘ und kann damit einen ‚Erlebens-Wissens-Kontext‘ in uns bilden, der den Apfel aus seiner ‚anfänglichen Unbestimmtheit‘ entreißt. Als Teil eines solchen Kontextes ist der Apfel ‚Mehr‘ als vorher.

Ähnlich mit einem ‚Stuhl‘: einfach so hat er irgendwie eine Form, hat Farben, zeigt Oberflächeneigenschaften, aber mehr nicht. Kann man erleben, dass dieser Stuhl in einem ‚Zimmer‘ steht ‚zusammen mit anderen ‚Möbelstücken‘, dass man sich ‚auf einen Stuhl setzen kann‘, dass man seinen Platz im Zimmer verändern kann, dann entsteht ein erlebtes Bild von einem größeren Ganzen, in dem der Stuhl ein Teil ist mit bestimmten Eigenschaften, die ihn von den anderen Möbelstücken unterscheiden. Wenn wir dann noch wissen, dass Möbelstücke in ‚Zimmern‘ vorkommen, die Teile von ‚Häusern‘ sind, dann entsteht wieder ein recht komplexer ‚Erlebens-Wissens-Kontext‘ in uns, der aus dem einzelnen Stuhl wieder ‚Mehr‘ macht.

Diese Art von Überlegungen können wir im Alltag auf sehr viele Objekte anwenden. Tatsächlich gibt es kein einziges Objekt, das ganz alleine, nur für sich vorkommt. Ganz krass findet sich dies bei ‚biologischen Objekten‘: Tieren, Pflanzen, Insekten, …

Nehmen wir uns selbst — wir als Menschen — als Beispiel. Lassen wir den Blick schweifen von dem Punkt, wo sich jeder gerade jetzt befindet, über das ganze Land, über den ganzen Kontinent, ja über das ganze Rund unseres Planeten, dann finden sich heute (2025) nahezu überall Menschen. Standardmäßig als Mann und Frau gibt es kaum eine Umgebung, wo nicht Menschen leben. Die jeweiligen Umgebungen können sehr einfach sein oder hoch verdichtet mit riesigen Gebäuden, Geräten, Menschen auf engstem Raum. Hat man den Blick so geweitet, dann ist klar, dass auch wir Menschen ‚Teil von etwas sind‘: sowohl von der jeweiligen geografischen Umgebung wie auch Teil einer großen biologischen Lebensgemeinschaft. Im Alltagserleben begegnen wir normalerweise immer nur wenigen (auch mal einige Hundert, speziell auch einige Tausend) anderen Menschen, aber durch das verfügbare Wissen können wir erschließen, dass wir viele Milliarden sind. So ist es wieder der ‚Erlebens-Wissens-Kontext‘ , der uns in einen größeren Kontext versetzt, in dem wir klar ‚Teil von etwas Großem‘ sind. Auch hier repräsentiert der Kontext ein Mehr gegenüber uns selbst als einzelner Person, als einzelnem Bürger, als einzelnem Menschen.

Zeit, Zeitscheiben, …

Wenn man die Dinge um uns herum — und dann auch uns selbst — im ‚Format‘ von ‚Kontexten‘ erleben und denken kann, dann ist es nicht weit, das Phänomen der ‚Veränderung‘ zu bemerken. Da, wo wir gerade sind, im ‚Jetzt‘, im ‚aktuellen Augenblick‘, gibt es keine Veränderung; alles ist, wie es ist. Sobald aber der ‚aktuelle Augenblick‘ von einem ’neuen Augenblick‘ gefolgt wird, und dann immer mehr neue Augenblicke ‚hintereinander‘, dann werden wir unweigerlich ‚Veränderungen‘ feststellen können: die Dinge ändern sich, alle Dinge in dieser Welt ändern sich; es gibt nichts, was sich nicht ändert!

Im ‚individuellen Erleben‘ kann es sein, dass wir mit unseren Augen, Ohren, Geruchssinn und sonstigen Sinnen für mehrere Augenblicke ’nichts sinnlich wahrnehmen‘. Dies ist möglich, weil unsere körpereigenen Sinnesorgane die Welt nur sehr grob wahrnehmen können. Mit den Methoden der neuen Wissenschaften, die nahezu beliebig ‚ins Kleine‘ und ‚ins Große‘ schauen können, können wir ‚wissen‘, dass zum Beispiel unsere ca. 37 Billionen (1012) Körperzellen in jedem Moment hoch aktiv sind, indem sie ‚Botschaften‘ austauschen, ‚Material austauschen‘, sich ‚reparieren‘, abgestorbene Zellen durch neue ersetzen, usw. Unser eigener Körper ist also in jedem Augenblick einem regelrechten ‚Veränderungssturm‘ ausgesetzt, ohne dass wir dies irgendwie bemerken können. Das Gleiche gilt für den Bereich der ‚Mikroben‘, kleinsten Lebewesen, die wir nicht sehen können, die aber zu vielen Milliarden nicht nur ‚um uns herum‘ leben, sondern sie besiedeln unsere Haut und sind auch ständig hochaktiv. Dazu kommt das Material der Gebäude um uns herum. In jedem Moment finden Veränderungsprozess im Material statt, so dass es nach einer bestimmten Anzahl von Jahren so ‚gealtert‘ ist, dass es seine geplante Funktion immer weniger erfüllen kann; Brücken können dann auch einstürzen, wie wir erleben können.

Generell können wir von ‚Veränderungen‘ nur sprechen, wenn wir ein ‚Vorher‘ und ein ‚Nachher‘ unterscheiden können, und wir die vielen Eigenschaften, die ein ‚Augenblick vorher‘ aufweist, mit den Eigenschaften ‚vergleichen‘ können, die ein ‚Augenblick nachher‘ aufweist. Im Raum unserer ’sinnlichen Wahrnehmung‘ gibt es immer nur ein ‚Jetzt‘ ohne vorher und nachher. Durch die Eigenschaft des ‚Erinnerns‘ in Zusammenarbeit mit einem ‚Merken‘ von aktuellen Ereignissen verfügt unser ‚Gehirn‘ aber über die wunderbare Fähigkeit, ‚Augenblicke‘ bis zu einem gewissen Grade ‚quasi zu speichern‘, und ergänzend über die Fähigkeit, ‚verschiedene gespeicherte Augenblicke‘ nach bestimmten Kriterien mit einer aktuellen sinnlichen Wahrnehmung zu vergleichen. Gibt es ‚Unterschiede‘ zwischen der ‚aktuellen sinnlichen Wahrnehmung‘ und den bislang ‚gespeicherten Augenblicken‘, dann macht uns das Gehirn darauf ‚aufmerksam‘; es ‚fällt uns auf‘.

Dieses Phänomen der ‚erlebbaren Veränderungen‘ ist die Basis für unser ‚Empfinden von Zeit‘. Wir Menschen haben zwar schon immer auch ‚externe Ereignisse‘ zur Hilfe genommen, um erlebbare Veränderungen in einen größeren Rahmen einordnen zu können (Tag-Nacht, Jahreszeiten, diverse Konstellationen von Sternen, Zeitmaschinen wie verschiedenste ‚Uhren‘, … unterstützt durch Zeitaufzeichnungen, später auch ‚Kalendern‘), aber die Fähigkeit, Veränderungen erleben zu können, bleibt für uns grundlegend.

Wenn man über dies alles ’nachdenkt‘, dann kann man z.B. das Konzept der ‚Zeitscheibe‘ formulieren: Wenn man sich einen ‚Zeitabschnitt‘ denkt — der natürlich unterschiedlich kurz oder lang sein kann (Nanosekunden, Sekunden, Stunden, Jahre, …) — und alle Orte unseres Planeten samt allem, was sich da gerade befindet, als einen einzigen ‚Zustand‘ ansieht, und dies macht man für jeden Zeitabschnitt, der auf den ersten Zeitabschnitt folgt, dann bekommt man eine ‚Reihe/ Folge‘ von ‚Zeitscheiben‘. Bei dieser Konstellation ist es dann so, dass jede Veränderung, wo immer sie innerhalb des Zustands stattfindet, sich mit ihren ‚Wirkungen‘ in einer der folgenden Zeitscheiben ‚auswirkt‘. Je nach ‚Dicke der Zeitscheibe‘ ist es in der ‚direkt nachfolgenden Zeitscheibe‘ oder eben ‚viel später‘. In diesem Modell geht nichts verloren. Je nach ‚Dicke‘ ist das Modell eher ’sehr präzise‘ oder ’sehr grob‘. So wird z.B. die Bevölkerungsentwicklung von einer Gemeinde in Deutschland immer nur stichprobenartig am letzten Tag eines Jahres erhoben. Würde man dies jede Woche machen, dann würden sich die einzelnen Kenngrößen (Geburten, Sterbefälle, Zuzüge, Weggang, …) sehr unterscheiden.

Im Übergang von einer zur nächsten Zeitscheibe wirkt sich ‚jede Veränderung‘ aus, also auch, was jeder einzelne Mensch tut. Allerdings muss man unterscheiden zwischen konkreten Wirkungen (wenn ein junger Mensch regelmäßig zur Schule geht) und einem ‚langfristigen Ergebnis (Schulabschluss, erworbene Kompetenzen,…), das sich ’nicht direkt‘ als konkretes Veränderungsereignis zeigt. Erwerb von Erfahrungen, Wissen, Kompetenzen … wirkt sich ‚im Innern‘ eines Menschen aus durch ‚Aufbau von unterschiedlichen Strukturen‘, die den einzelnen Menschen in die Lage versetzen, z.B. auf neue Weise zu ‚Planen, zu entscheiden und zu Handeln‘. Dieser ‚Aufbau von unterschiedlichen Strukturen‘ im Innern eines Menschen ist nicht direkt beobachtbar. Diese Strukturen können aber die ‚Qualität des Verhaltens‘ sehr stark beeinflussen.

Zeitscheiben des Lebens auf dem Planet Erde

Es klang eben schon an, dass die ‚Dicke einer Zeitscheibe‘ sich darin auswirkt, welche Ereignisse man sieht. Dies hängt damit zusammen, dass wir auf dem Planet Erde sehr viele ‚unterschiedliche Arten von Veränderungen‘ kennen gelernt haben. Vorgänge am Himmel und Vorgänge in der Natur dauern gefühlt eher ‚länger‘, Wirkungen von konkreten mechanischen Aktionen finden eher ’schnell‘ statt, Veränderungen der Erdoberfläche brauchen tausende, viele tausende oder gar Millionen von Jahren.

Hier soll der Blick auf die großen Entwicklungsschritte des (biologischen) Lebens auf dem Planeten Erde gelenkt werden. Wir selbst — als Homo sapiens — sind Teil dieser Entwicklung und es kann interessant sein, zu klären, ob die Tatsache, dass wir ‚Teil des großen Lebens‘ sind Perspektiven sichtbar macht, die wir im ’normalen Alltag‘ eines einzelnen Menschen praktisch nicht erkennen können, obgleich diese Perspektiven möglicherweise von großer Bedeutung für jeden von uns sind.

Die Auswahl von ‚markanten Ereignissen‘ in der Entwicklung des Lebens auf der Erde ist natürlich sehr stark abhängig von dem ‚Vor-Wissen‘, mit dem man an die Aufgabe herangeht. Ich habe hier nur solche Punkte ausgewählt, die sich in nahezu allen wichtigen Publikationen finden. Die Angabe jenes Zeitpunkts, ‚ab dem‘ diese Ereignisse anerkannt werden, haben grundsätzlich eine ‚Unschärfe‘, da sowohl die ‚Komplexität‘ des Ereignisses wie auch die Problematik der ‚zeitlichen Bestimmung‘ bis heute nicht viel genauer sein kann. Folgende markante Ereignisse habe ich ausgewählt:

  1. Molekulare Evolution (ab ~3.9 Mrd. Jahren)
  2. Prokaryotische Zellen (ab ~3.5 Mrd. Jahren)
  3. Großes Sauerstoffereignis (ab ~2.5 Mrd. Jahren)
  4. Eukaryotische Zellen (ab ~1.5 Mrd. Jahren)
  5. Vielzeller (ab ~600 Mio. Jahren)
  6. Auftreten der Gattung Homo (ab ~2.5 Mio. Jahren)
  7. Auftreten des Homo sapiens (ab ~300.000 Jahren)
  8. Auftreten von Künstlicher Intelligenz (ab ~21. Jahrhundert)

Mich hat dann interessiert, wie groß die Abstände zwischen diesen Ereignissen waren. Für die Berechnung wurden immer die Anfangspunkte der markanten Ereignisse genommen, da sich im weiteren Verlauf kein Zeitpunkt gut festlegen lässt. Folgende Tabelle hat sich dann ergeben:

  1. Molekulare Evolution zu Prokaryotischen Zellen: 400 Millionen Jahre
  2. Prokaryotische Zellen zum Großen Sauerstoffereignis: 1 Milliarde Jahre
  3. Großes Sauerstoffereignis zu Eukaryotischen Zellen: 1 Milliarde Jahre
  4. Eukaryotische Zellen zu Vielzellern: 900 Millionen Jahre
  5. Vielzeller zum Auftreten der Gattung Homo: 597,5 Millionen Jahre
  6. Gattung Homo zum Homo sapiens: 2,2 Millionen Jahre
  7. Homo sapiens zur Künstlichen Intelligenz: 297.900 Jahre

Als nächstes habe ich diese Zeitabstände umgerechnet in ‚prozentuale Anteile der Gesamtzeit‘ von 3.9 Milliarden Jahren. Damit er gibt sich folgende Tabelle:

  1. Molekulare Evolution zu Prokaryotischen Zellen: 400 Millionen Jahre = 10,26%
  2. Prokaryotische Zellen zum Großen Sauerstoffereignis: 1 Milliarde Jahre = 25,64%
  3. Großes Sauerstoffereignis zu Eukaryotischen Zellen: 1 Milliarde Jahre = 25,64%
  4. Eukaryotische Zellen zu Vielzellern: 900 Millionen Jahre = 23,08%
  5. Vielzeller zum Auftreten der Gattung Homo: 597,5 Millionen Jahre = 15,32%
  6. Gattung Homo zum Homo sapiens: 2,2 Millionen Jahre = 0,056%
  7. Homo sapiens zur Künstlichen Intelligenz: 297.900 Jahre = 0,0076%

Mit diesen Zahlen kann man dann schauen, ob diese Daten als ‚Datenpunkte‘ auf einer Zeitachse irgendeine auffällige Eigenschaft erkennen lassen. Natürlich gibt es hier rein mathematisch sehr viele Optionen, wonach man schauen könnte. Mich hat zunächst nur interessiert, ob es eine ‚mathematisch definierte Kurve‘ geben kann, die mit diesen Datenpunkten ’signifikant korreliert‘. Nach zahlreichen Tests mit verschiedenen Schätzfunktionen (siehe Erläuterungen im Anhang) ergab sich, dass die logistische Funktion (S-Kurve) von ihrem Design her die Dynamik der realen Daten der Entwicklung von biologischen Systemen am besten wiedergibt.

Für diese Schätzfunktion wurden die Datenpunkte ‚Molekulare Evolution‘ sowie ‚Auftreten von KI‘ ausgeklammert, da sie nicht zum Entwicklungsgeschehen von biologischen Systemen im engeren Sinne gehören. Damit ergaben sich folgende Datenpunkte als Ausgangspunkt für das Finden einer Schätzfunktion :

0 Molekulare Evolution zu Prokaryoten 4.000000e+08 (NICHT)
1 Prokaryoten zum Großen Sauerstoffereignis 1.000000e+09
2 Sauerstoffereignis zu Eukaryoten 1.000000e+09
3 Eukaryoten zu Vielzellern 9.000000e+08
4 Vielzeller zu Homo 5.975000e+08
5 Homo zu Homo sapiens 2.200000e+06
6 Homo sapiens zu KI 2.979000e+05 (NICHT)

Für die ausgewählten Ereignisse ergaben sich dann jeweils die kumulierte Zeit zu:

0 0.400000
1 1.400000
2 2.400000
3 3.300000
4 3.897500
5 3.899700
6 3.899998

Und als Voraussage des nächsten ‚besonderen‘ Ereignisses in der Entwicklung biologischer Systeme ergab sich das Jahr ‚4.0468‘ Mrd (unsere Gegenwart ist bei ‚3.899998‘ Mrd). Damit soll das nächste strukturelle Ereignis bei konservativer Schätzung ca. 146.8 Mio Jahre in der Zukunft liegen. Es könnte aber auch — nicht ganz unwahrscheinlich — in ca. 100 Mio Jahren stattfinden.

Die Kurve erzählt jene ‚Wirkgeschichte‘, die ‚klassische biologische Systeme‘ bis zum Homo sapiens mit ihren ‚bisherigen Mitteln‘ erzeugen konnten. Mit dem Auftreten des Typs ‚Homo‘, und dann insbesondere mit der Lebensform ‚Homo sapiens‘, kommen aber völlig neue Eigenschaften ins Spiel. Mit der Teil-Population des Homo sapiens gibt es eine Lebensform, die mittels ihrer ‚kognitiven‘ Dimension und ihrer neuartigen ‚symbolischen Kommunikation‘ extrem viel schneller und komplexer Handlungsgrundlagen generieren kann. Damit ist nicht auszuschließen, dass das nächste markante evolutionäre Ereignis nicht nur weit vor 148 Mio Jahren stattfinden kann, sondern sogar vor 100 Mio Jahren.

Diese Arbeitshypothese wird noch dadurch gestärkt, dass der Homo sapiens nach ca. 300.000 Jahren mittlerweile ‚Maschinen‘ bauen kann, die er ‚programmieren‘ kann, und die viele Aufgaben, die für die ‚kognitive Durchdringung‘ unserer komplexen Welt schon jetzt das einzelne menschliche Gehirn überfordern, große Dienste erweisen können. Die Maschinen als nicht-biologische Systeme haben zwar keine ‚Entwicklungs-Basis‘ wie die biologischen Systeme, aber im Format einer ‚Co-Evolution‘ könnte das Leben auf der Erde mit Unterstützung von solchen ‚programmierbaren Maschinen‘ sehr wahrscheinlich die weitere Entwicklung beschleunigen.

Mensch sein, Verantwortung und Emotionen

Mit der soeben vorgenommenen Kontexterweiterung für die Frage nach der möglichen Rolle von Menschen im Kontext der globalen Entwicklung eröffnen sich viele interessante Perspektiven, die für uns Menschen nicht nur angenehm sind. Sie sind allesamt eher ‚unbequem‘ in dem Sinne, dass diese Perspektiven erkennen lassen, dass unsere bisherige ‚Selbstgenügsamkeit mit uns selbst‘ — fast vergleichbar mit einem ‚globalen Narzissmus‘ –, uns nicht nur ‚uns selbst entfremdet‘, sondern dass wir, die wir ein Produkt des Gesamtlebens auf dem Planeten sind, dabei sind, genau dieses Gesamtleben zunehmend empfindlich zu zerstören. Es scheint, dass die meisten nicht begreifen, was sie da tun, oder, wenn sie es vielleicht sogar ahnen, all dies beiseite schieben, weil ihnen das ‚Ganze‘ zu weit weg erscheint vom ‚aktuellen individuellen Lebenssinn‘.

Dieser letzte Punkt ist ernst zu nehmen: Wie kann eine ‚Verantwortung für das globale Leben‘ für uns Menschen von uns einzelnen Menschen überhaupt ‚verstanden‘, geschweige denn ‚praktisch umgesetzt‘ werden? Wie sollen Menschen, die aktuell ca. 60 – 120 Jahre leben, sich Gedanken machen für eine Entwicklung, die viele Millionen oder gar mehr Jahre in die Zukunft zu denken ist?

Die Frage nach der Verantwortung wird noch zusätzlich erschwert durch eine ‚konstruktive Besonderheit‘ des aktuellen Homo sapiens: Eine Besonderheit des Menschen besteht darin, dass seine ‚Kognitive Dimension‘ (Wissen, Denken…) nahezu vollständig unter der Kontrolle vielfältigster Emotionen steht. Selbst im Jahr 2025 gibt es ungeheuer viele ‚Weltbilder‘ in den Köpfen von Menschen, die mit der realen Welt wenig bis gar nichts zu tun haben, aber die emotional wie ‚zementiert‘ wirken. Der ‚Umgang mit Emotionen‘ erscheint bislang ein großer blinder Fleck zu sein: Wo wird dies wirklich ‚trainiert‘ und flächendeckend erforscht, dazu alltagsnah, für jeden?

Alle diese Fragen rühren letztlich an unserem bisherigen ‚Selbstverständnis als Menschen‘. Wenn wir diese neue Perspektive ernst nehmen, dann müssen wir Menschen
offensichtlich neu und tiefer begreifen, was es heißt ‚Mensch zu sein‘ in solch einem gewaltigen ‚alles umfassenden Prozess‘. Ja, und dies wird offensichtlich nicht gehen, wenn wir uns selbst körperlich und geistig nicht deutlich weiter entwickeln. Die aktuelle Ethik mit ihrem ‚Veränderungsverbot‘ für Menschen, wie sie aktuell beschaffen sind, kann angesichts der ungeheuren Herausforderung im Grenzfall genau das Gegenteil bewirken: nicht ‚Erhalt‘ des Menschen sondern ‚Vernichtung‘. Es deutet sich an, dass es ‚wirklich bessere Technik‘ möglicherweise nur geben wird, wenn auch das Leben selbst, und hier speziell wir Menschen, uns dramatisch weiter entwickeln.

Ende des Dualismus ‚Nicht-Biologisch‘ : ‚Biologisch‘ ?

Bis zu dieser Stelle der Überlegungen sprechen wir so, wie es bislang üblich ist, wenn man über das ‚Leben‘ (die biologischen Systeme) und davon unterschieden von dem System Erde mit all dem ‚Nicht-Biologischen‘ spricht. Diese Unterscheidung zwischen ‚Biologisch‘ und ‚Nicht-Biologisch‘ sitzt sehr tief im Bewusstsein mindestens der europäischen Kultur und all jener Kulturen, die davon stark geprägt wurden.

Natürlich ist es nicht zufällig, dass sehr früh schon der Unterschied zwischen ‚belebter Materie‘ (Biologischen Systemen) und ‚unbelebter Materie‘ erkannt und benutzt wurde. Letztlich lag dies daran, dass ‚belebte Materie‘ Eigenschaften aufwies, die man so nicht bei ‚unbelebter Materie‘ feststellen konnte. Dabei blieb es bis heute.

Ausgestattet mit dem heutigen Wissen kann man diesen uralten Dualismus aber nicht nur in Frage stellen, man kann ihn eigentlich überwinden.

Der Ausgangspunkt für diesen denkerischen Brückenschlag findet man auf Seiten des Biologischen in der Tatsache begründet, dass ja die ersten einfachen Zellen, die Prokaryoten, aus ‚Molekülen‘ bestehen, diese wiederum aus ‚Atomen‘, diese wiederum aus … diese Hierarchie der Bestandteile kennt keine Grenze nach unten. Klar ist nur, dass eine ‚prokaryotische Zelle‘, die früheste Form von Leben auf dem Planet Erde, vom ‚Baumaterial‘ her vollständig aus dem Material besteht, aus dem alle nicht-biologischen Systeme bestehen, ein Material, was letztlich der ‚allgemeine Baustoff‘ ist, aus dem das ganze übrige Universum besteht. Dies wird im folgenden Bild angedeutet:

Für den Bereich der ‚unbelebten Materie‘ hat Einstein (1905) mit der Formel ‚e = mc2‚ dargelegt, dass zwischen der Masse‘ ‚m‘ einer beobachtbaren Materie und dem theoretischen Begriff der (nicht beobachtbaren) Energie ‚e‘ eine bestimmte Gleichwertigkeit besteht, wenn man die Masse m mit einem bestimmten ‚Betrag an Energie‘ auf eine bestimmte ‚Geschwindigkeit‘ ‚beschleunigt‘. Man kann aus Energie e nicht nur eine Masse m gewinnen sondern umgekehrt auch umgekehrt aus einer Masse m auch wieder Energie e.

Diese Formel hat sich bis heute bewährt.

Was aber bedeutet diese Formel für eine Materie m, die im ‚Zustand des Biologischen‘ vorliegt? Biologische Strukturen müssen nicht ’selbst ‚beschleunigt‘ sein, um ‚biologisch zu existieren‘. Allerdings müssen biologische Zellen zusätzlich zur ‚Energie‘ ihrer materiellen Bestandteile kontinuierlich ‚Energie aufnehmen‘, um ihre ’spezielle materielle Struktur‘ aufzubauen, zu erhalten, und zu verändern. Zusätzlich zu diesen ‚Aktivitäten‘ kann Materie im Format des Biologischen sich ’selbst reproduzieren‘. Im Rahmen dieser ‚Selbstreproduktion‘ findet zusätzlich ein ’semiotischer Prozess‘ statt, der später im Fall der symbolischen Kommunikation der hochkomplexen Lebewesen — insbesondere beim Homo sapiens — zur Grundlage einer neuartigen und hoch leistungsfähigen Kommunikation zwischen den biologischen Systemen geworden ist.

Die ’semiotische Struktur‘ im Kontext der Reproduktion kann man wie folgt (vereinfacht) beschreiben: eine Art von Molekülen (M1) ‚wirken‘ auf Moleküle (M2) so, als ob die Elemente der Moleküle M1 ‚Steuerbefehle‘ für die Moleküle von M2 sind, wodurch die Moleküle M2 chemische ‚Prozesse‘ anstoßen, durch welche neue Moleküle (M3) zusammen gebaut werden. Die Elemente von von M1, die ‚wie Steuerbefehle‘ wirken, verhalten sich dabei wie sogenannte ‚Zeichen‘ im Rahmen der Theorie der Semiotik. Die Moleküle ‚M3‘, die vom Molekül M2 erzeugt werden, sind im Rahmen der Semiotik zu verstehen als die ‚Bedeutung‘ von M1 und M2 wäre die ‚Bedeutungsbeziehung‘ für M1 mit M3.

Nicht nur das menschliche Gehirn arbeitet mit solchen semiotischen Strukturen, auch jeder moderne Computer besitzt diese semiotische Struktur. Dies deutet an, dass es sich möglicherweise um eine universelle Struktur handelt.

Akzeptiert man diese Überlegungen, dann scheint es so zu sein, dass sich ‚biologische Materie‘ von ‚nicht-biologischer Materie‘ dadurch unterscheidet, dass biologische Materie über die Eigenschaft verfügt, dass sie mit Hilfe von Energie nicht-biologische Materie so anordnen kann, dass zwischen den einzelnen nicht-biologischen Elementen (Atome, Moleküle) funktionale ‚Beziehungen‘ entstehen, die man als ‚semiotische Strukturen‘ interpretieren kann: nicht-biologische Elemente funktionieren ‚in einem Zusammenhang‘ (!) sowohl als ‚Zeichen‘ wie auch als ‚dynamische Bedeutungsbeziehung‘ wie auch als ‚Bedeutung‘.

Es stellt sich jetzt die Frage, wie weit man die ‚zusätzlichen Eigenschaften‘, die Materie im Format des Biologischen ‚zeigt‘, nicht nur als ‚emergente Eigenschaften‘ verstehen sollte, sondern darüber hinaus zugleich auch als ‚Manifestationen von Eigenschaften der Energie selbst‘! Da man die Energie e selbst nicht direkt beobachten kann, sondern nur indirekt durch ihre beobachtbaren Wirkungen, ist es der Forschung freigestellt, ob sie die gewohnte ‚Perspektive‘ von Einsteins 1905-Formel ‚e = mc2‚ weiter beibehalten will — und damit in Kauf nimmt, dass die komplexesten Eigenschaften des Universums weiter ‚unerklärt‘ bleiben –, oder ob die Forschung auch ‚unbelebte Materie im Format des Biologischen‘ in die Betrachtung einbeziehen will. Biologische Systeme sind ohne Energie nicht erklärbar. Allerdings fordert ihre ‚Dreifachstruktur‘ mit Materie als ‚Objekte‘ und mit Materie als ‚Metaebene‘ und noch Materie als ‚Akteur‘ dazu heraus, der unterstellten ‚Energie‘ mehr ‚interne Eigenschaften‘ zuzugestehen als bislang gewährt. Resultiert diese ‚Weigerung‘ aus einer ‚falschen Eitelkeit des Erkennenden‘, der nicht zugeben will, dass ihm ‚in der Materie selbst‘ etwas entgegen tritt, was deutlich mehr ist als ‚unbelebte Materie‘? Und ja, der ‚Erkennende‘ ist ja selbst genau dies: ‚Materie im Format des Biologischen‘ mit Eigenschaften, die weit über alles hinausgehen, was bislang die Physik bereit war, zu buchstabieren. Von der Vielfalt der Emotionen, die hier auch überall im Spiel sind, wurde bei dieser Erzählung noch nicht viel gesagt. Was, wenn die Energie auch für diesen Komplex zuständig ist? Vielleicht müssen wir alle — Philosophen, Wissenschaftler, .. — zurück auf ‚Start‘? Vielleicht müssen wir lernen, die Geschichte des Lebens auf dem Planeten und den wahren Sinn unseres Menschseins lernen, ganz neu zu erzählen …. Eigentlich haben wir dabei nichts zu verlieren. Alle bisherigen Geschichten taugen nicht all zu viel. Die mögliche Zukunft ist mit Sicherheit spannender, aufregender, reicher … als alles, was bislang erzählt wurde…

ANHANG PYTHON PROGRAMM

Ich habe mit Unterstützung von chatGPT4o eine ganze Reihe von Schätzfunktionen durchprobiert (z.B. Potenzfunktion, invertierte Potenzfunktion, Exponentialfunktion, Hyperbolische Funktion, Gompertz-Funktion, Logistische Funktion, Summierte Potenzfunktion, jeweils mit unterschiedlichen Varianten). Im Ergebnis zeigte sich die logistische (S-Kurve) Funktion als jene, die sich den realen Datenwerte am besten ‚anpasste‘ und eine ‚konservative Schätzung‘ für die Zukunft ermöglichte, die einigermaßen ‚plausibel‘ erscheint und die sich nach Bedarf notfalls noch ein wenig präzisieren lassen würde. Doch angesichts der vielen offenen Parameter für die Zukunft scheint eine ‚konservative Schätzung‘ am besten geeignet: man kann eine gewisse Richtung erkennen, aber es bleibt ‚Spielraum‘ für unverhoffte Ereignisse.

Das nachfolgende python-Programm wurde mit der Entwicklungsumgebung Python 3.12.3 64-bit mit Qt 5.15.13 und PyQt5 5.15.10 auf Linux 6.8.0-52-generic (x86_64) (Für spyder siehe: Spyder-IDE.org ) ausgeführt.

#!/usr/bin/env python3
# -*- coding: utf-8 -*-
"""
Created on Mon Feb 10 07:25:38 2025

@author: gerd (supported by chatGPT4o)
"""
import numpy as np
import pandas as pd
import matplotlib.pyplot as plt
from scipy.optimize import curve_fit

# Daten für die Tabelle
data = {
    "Phase": [
        "Molekulare Evolution zu Prokaryoten",
        "Prokaryoten zum Großen Sauerstoffereignis",
        "Sauerstoffereignis zu Eukaryoten",
        "Eukaryoten zu Vielzellern",
        "Vielzeller zu Homo",
        "Homo zu Homo sapiens",
        "Homo sapiens zu KI"
    ],
    "Dauer (Jahre)": [
        400e6,
        1e9,
        1e9,
        900e6,
        597.5e6,
        2.2e6,
        297900
    ]
}

# Gesamtzeit der Entwicklung des Lebens (ca. 3,9 Mrd. Jahre)
total_time = 3.9e9

# DataFrame erstellen
df = pd.DataFrame(data)

# Berechnung des prozentualen Anteils
df["% Anteil an Gesamtzeit"] = (df["Dauer (Jahre)"] / total_time) * 100

# Berechnung der kumulativen Zeit
df["Kumulative Zeit (Mrd. Jahre)"] = (df["Dauer (Jahre)"].cumsum()) / 1e9

# Extrahieren der relevanten kumulativen Zeitintervalle (Differenzen der biologischen Phasen)
relevant_intervals = df["Kumulative Zeit (Mrd. Jahre)"].iloc[1:6].diff().dropna().values

# Definieren der Zeitindices für die relevanten Intervalle
interval_steps = np.arange(len(relevant_intervals))



# Sicherstellen, dass x_cumulative_fit korrekt definiert ist
x_cumulative_fit = np.arange(1, 6)  # Index für biologische Phasen 1 bis 5
y_cumulative_fit = df["Kumulative Zeit (Mrd. Jahre)"].iloc[1:6].values  # Die zugehörigen Zeiten

# Logistische Funktion (Sigmoid-Funktion) definieren
def logistic_fit(x, L, x0, k):
    return L / (1 + np.exp(-k * (x - x0)))  # Standardisierte S-Kurve

# Curve Fitting für die kumulierte Zeitreihe mit der logistischen Funktion
params_logistic, _ = curve_fit(
    logistic_fit,
    x_cumulative_fit,
    y_cumulative_fit,
    p0=[max(y_cumulative_fit), np.median(x_cumulative_fit), 1],  # Startwerte
    maxfev=2000  # Mehr Iterationen für stabilere Konvergenz
)

# Prognose des nächsten kumulierten Zeitpunkts mit der logistischen Funktion
predicted_cumulative_logistic = logistic_fit(len(x_cumulative_fit) + 1, *params_logistic)

# Fit-Kurve für die Visualisierung der logistischen Anpassung
x_fit_time_logistic = np.linspace(1, len(x_cumulative_fit) + 1, 100)
y_fit_time_logistic = logistic_fit(x_fit_time_logistic, *params_logistic)

# Visualisierung der logistischen Anpassung an die kumulierte Zeitreihe
plt.figure(figsize=(10, 6))
plt.scatter(x_cumulative_fit, y_cumulative_fit, color='blue', label="Real Data Points")
plt.plot(x_fit_time_logistic, y_fit_time_logistic, 'r-', label="Logistic Fit (S-Curve)")
plt.axvline(len(x_cumulative_fit) + 1, color='r', linestyle='--', label="Next Forecast Point")
plt.scatter(len(x_cumulative_fit) + 1, predicted_cumulative_logistic, color='red', label=f"Forecast: {predicted_cumulative_logistic:.3f} Bn Years")

# Titel und Achsenbeschriftungen
plt.title("Logistic (S-Curve) Fit on Cumulative Evolutionary Time")
plt.xlabel("Evolutionary Phase Index")
plt.ylabel("Cumulative Time (Billion Years)")
plt.legend()
plt.grid(True)
plt.show()

# Neues t_next basierend auf der logistischen Anpassung
predicted_cumulative_logistic

Out[109]: 4.04682980616636 (Prognosewert)

WAS IST LEBEN ? … PHILOSOPHIE DES LEBENS

Eine Lokalisierung von Philosophie im Gesamtzusammenhang:

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Datum: 21.Jan 2025 – 22.Jan 2025

Autor: Ich habe den Titel „WAS IST LEBEN? … PHILOSOPHIE DER WELT“ abgeändert zu „WAS IST LEBEN? … PHILOSOPHIE DES LEBENS“. Grund: Es wird sich im Verlauf der Untersuchung zeigen, dass das ‚Leben‘, das wir auf dem Planet Erde vorfinden und somit auf den ersten Blick als ‚Teil der Welt und des Universums‘ erscheint, möglicherweise gar kein ‚Teil‘ ist sondern … jedenfalls ist eine ‚Philosophie‘, welche die ‚Welt‘ beschreiben will, besser beraten, sich gleich dem ‚Leben‘ zuzuwenden’, welches das eigentliche ‚Rätsel des Universums‘ ist.

Kontakt: cagent@cognitiveagent.org

Eine englische Version findet sich HIER.

KONTEXT

Dies ist eine direkte Fortsetzung der vorausgehenden Texte „WAS IST LEBEN ?Welche Rolle haben wir ? Gibt es eine Zukunft ?“ und „WAS IST LEBEN ? … DEMOKRATIE – BÜRGER“

EINLEITUNG

In den beiden vorausgehenden Texten wurde der ‚Rahmen‘ abgesteckt, innerhalb dessen sich die nachfolgenden Texte zum Thema „Was ist Leben? Welche Rollen haben wir? Gibt es eine Zukunft?“ bewegen werden.

Die Ausfaltung der verschiedenen Aspekte dieses großen Themas beginnt mit Überlegungen zur Rolle der ‚Philosophie‘ in diesem Zusammenhang.

VERANKERUNG VON ‚PHILOSOPHIE‘ IM LEBEN

Es wird hier die Annahme vertreten, dass das Phänomen ‚Philosophie‘ verknüpft ist mit ‚Akteuren‘, die auf diesem ‚Planeten‘ leben, die Teil des großen Phänomens ‚Leben‘ auf diesem Planeten sind, und hier nach einem weit verbreiteten Verständnis bevorzugt in jener Lebensform zu finden sind, die grob ‚Homo‘ genannt werden (ungefähr ab 6 Millionen Jahren vor unserer Gegenwart), und im Bereich der Lebensform Homo dann später als ‚Homo sapiens‘ auftraten (ungefähr ab 300.000 Jahren vor unserer Gegenwart). Nicht, dass es neben dem Homo sapiens nicht noch andere Ausprägungen der Lebensform Homo gegeben hätte, aber überlebt hat bis heute eben nur der Homo sapiens, also ‚Wir‘.

Bekanntlich finden sich auf dem Planeten Erde im Jahr 2025 viele ‚Kontinente‘, auf denen nahezu überall ‚Menschen‘ leben. Die Art und Weise, wie die Menschen auf den verschiedenen Kontinenten leben unterscheidet sich äußerlich oft sehr stark, was durch die äußerlichen Gegebenheiten (Klima, Vegetation, Geologie, Weltanschauungen usw.) bedingt ist. Die ‚genetische Basis‘ ist entweder nahezu ‚gleich‘ oder unterscheidet sich nur in ‚Details‘. Der Zusammenhang zwischen diesen Details und dem beobachtbaren ‚Verhalten‘ ist bislang weitgehend unklar. Im ‚Erscheinungsbild‘ kann es zwar Unterschiede in Haarfarbe, Hautfarbe, Körperform usw. geben, doch diese Unterschiede finden sich auf jedem Kontinent, in jeder Bevölkerungsgruppe, sind aber für das Verhalten irrelevant.

Aufgrund vieler ‚Lebensnotwendigkeiten‘ (Ernährung, Trinken, Wohnen, …) verhalten sich Menschen niemals ganz ‚planlos‘. Von den frühesten ‚Zeugnissen menschlichen Lebens‘ an kann man beobachten, dass Menschen ihr Verhalten und ihre Umgebung ‚formen‘, ‚organisieren‘ und zu immer komplexeren ‚Regelsystemen‘ finden, nach denen sie ihr Verhalten ausrichten. Die Gesamtheit dieser Formen, Organisationen und überhaupt Regelsystemen wird hier ‚Kultur‘ genannt.

Im Rahmen dieser ‚menschlichen Kultur‘ fällt eine Eigenschaft besonders auf: das miteinander Kommunizieren mittels ‚gesprochener Sprache‘. Zwar können Menschen auch ohne explizites Sprechen auf vielfache Weise ‚kommunizieren‘, aber für alle detaillierten, komplexen Sachverhalte, insbesondere für die Zwecke der ‚Koordination eines gemeinsamen Verhaltens‘, erweist sich die gesprochene Sprache als unverzichtbar und enorm mächtig! Dabei fällt auf, dass es nicht nur ‚eine Sprache‘ gab, sondern fast so viele Sprachen wie es ‚menschliche Gemeinschaften‘ gab. Eine ‚Angleichung von Sprachen‘, eine ‚Fusion‘ verschiedener Sprachen, hat — wenn überhaupt — nur über viele Generationen stattgefunden. Noch heute (2025) haben wir nationale Gemeinschaften mit vielen hundert Sprachen nebeneinander und es erscheint selbstverständlich, dass bei multinationalen Veranstaltungen jede Nation mit mindestens einer ‚eigenen‘ Sprache auftritt.

In dem Maße, in dem sich eine Kultur mit immer mehr ‚Elementen‘ anreichert, um so höher steigt die Anforderung an die ‚Mitglieder dieser Kultur‘, sich mit all diesen Elementen und ihrem ‚Zusammenspiel‘ ‚vertraut‘ zu machen. Heute würden wir sagen, dass die einzelnen Mitglieder ihre eigene Kultur ‚lernen‘ müssen, und vielfach nennt man die Gesamtheit solcher Lernprozesse auch ‚Aus-Bildung‘ bzw. einfach ‚Bildung‘.

So hat sich in den letzten ungefähr 2000 – 3000 Jahren menschlicher Kultur auch ein ‚Bildungsmuster‘ herausgeschält, dass pauschal ‚Philosophie‘ genannt wird oder man nennt bestimmte Verhaltensweisen ‚philosophisch‘. Die Vielfalt dieses Phänomens ‚Philosophie‘ ist so groß, so ausgeprägt, dass es nahezu unmöglich erscheint, diese Vielfalt auf einige wenige Grundelemente zurück zu führen. Wer dieser historischen Vielfalt weiter nachspüren möchte, kann dies tun, indem er die einschlägigen Handbücher und Lexika aufschlägt und sich in dieser Vielfalt — möglicherweise — ‚verliert‘.

Hier soll ein anderer Weg eingeschlagen werden.

Diese ‚Vielfalt des Philosophischen‘ führt ja letztlich immer zurück zu konkreten Menschen — bildungstechnisch meistens ‚Philosophen‘ genannt –, die Akteure in einem bestimmten — kulturell geprägten — ‚Alltag‘ waren. Als ‚Teil‘ eines solchen ‚Lebensprozesses‘ haben sie bestimmte ‚Meinungen‘ ausgebildet, ‚Sichten des Lebens‘; sie haben ‚bestimmte sprachliche Ausdrücke‘ benutzt, haben mittels ihrer sprachlichen Ausdrücke das erfahrbare Leben ‚interpretiert‘, ‚klassifiziert‘, ‚angeordnet‘, und haben von Einzelphänomenen ‚abstrahiert‘; zwischen Phänomenen haben sie ‚Beziehungen gesehen‘, haben viele Beziehungen wiederum ‚zusammengefasst‘ zu ‚Netzwerken von Beziehungen‘ ( oft auch ‚Modelle‘ oder ‚Theorien‘ genannt), und haben das ‚Funktionieren der Sprache‘ untersucht (eher sehr spät), das ‚Funktionieren des Denkens‘, und vieles mehr.

‚Unterm Strich‘ haben alle diese sprachlichen und denkerischen Aktivitäten dazu geführt, dass die verschiedenen Philosophen verschiedene ‚Sichten auf den Alltag und die Welt‘ entwickelt haben. Teilweise haben ’spätere‘ Philosophen solche ‚philosophische Sichten‘ von ‚früheren‘ Philosophen für ihre eigene ‚Produktion von Sichten‘ berücksichtigt, aber bis heute kann man nicht behaupten, dass es ‚die eine große philosophische Sicht der Welt‘ gibt. Wir finden eine Unmenge an Bruchstücken und Entwürfen vor, spezielle Sichten, teils gegensätzlich, wenig überlappend.

Auffällig ist, dass es bislang keine (!) philosophische Sicht der Welt gibt, in der die Philosophie ’sich selbst‘ erklärt, ihre eigene ‚Entstehung‘, ihr eigenes ‚Funktionieren‘. Dafür, dass dies so ist, kann man viele Gründe anführen. Selbst für einen Philosophen, der bereit ist, alle ‚Voraussetzungen seines Denkens‘ auf den Prüfstand zu stellen, gibt es solche Hindernisse. Dies ist einmal die Sprache, in und mit der er philosophiert. Mit einer bestimmten Sprache zu ‚philosophieren‘ und zugleich, die ‚Voraussetzungen dieser Sprache‘ zu reflektieren‘, ist maximal schwierig und dies hat noch niemand wirklich geschafft. Analog bis zu einem gewissen Grad ist auch der eigene Körper, in dem sich der Philosoph vorfindet, ein reales Hindernis. Das komplexe Innenleben des eigenen Körpers ist für jeden Menschen — geschätzt — nicht mehr als bis zu ungefähr 1% zugänglich. Ein weiteres sehr starkes Hindernis ist die Gesamtheit der Kultur in einer Gesellschaft. Während der gesamten Zeit des Lebens, in der diese Kultur auf einen Philosophen einwirkt, hinterlässt sie tiefe Spuren im ‚Fühlen, Denken und Verhalten‘, die sich nur sehr bedingt hinterfragen und ändern lassen. Schließlich, nicht zu vergessen, das Phänomen der ‚Zeit‘, welches sich in Form von ‚Veränderungen‘ im erlebbaren Alltag und im sich verändernden ‚Innenleben‘ eines Philosophen niederschlägt: Was gerade noch ‚Gegenwart war‘, ist plötzlich ‚Vergangenheit‘, was gerade noch ‚blau‘ war, ist plötzlich ’schwarz‘, was …. alles kann sich ändern. Und was macht ein Philosoph dann mit seinen ‚Erinnerungen‘, die von ‚Gestern‘ geprägt sind?

Diese Besinnung auf einige der ‚Bedingungen des Erkennens eines Philosophen‘ können ‚deprimierend‘ wirken, können jede ‚Hoffnung auf nutzbare Erkenntnis‘ im Ansatz ersterben lassen. Der Alltag belehrt uns aber darüber, dass es uns Menschen immer noch gibt, dass es sogar im ‚wissenschaftlichen Bereich der Philosophie‘ eine Art ‚Entwicklung von Anschauungen (Modelle, Theorien)‘ gibt, von denen wir den Eindruck haben, dass sie ‚funktionieren‘, dass wir ‚Voraussagen‘ im beschränkten Umfang machen können, die ’nachprüfbar eintreffen‘.

Für die weitere Bestimmung dessen, was das Phänomen der ‚Philosophie‘ auszeichnet, soll hier weniger die bildungstechnisch ‚geronnene Form‘ von Philosophie betrachtet werden, sondern der Blick eher auf die ‚Alltagsprozesse‘ gelenkt werden, in denen konkrete Menschen konkrete Dinge tun, die den ‚Rahmen‘, das ‚Medium‘ darstellen, innerhalb dessen sich ‚Philosophie für alle ereignet‘.

Letztlich ist ‚Philosophie‘ ein ‚Gesamtphänomen‘, das sich im Zusammenspiel vieler Menschen in einem Alltag zeigt, erlebbar ist und nur hier, in Prozessform, Gestalt annehmen kann. ‚Wahrheit‘ als ‚harter Kern‘ jeglichen wirklichkeitsbezogenen Denkens findet sich dadurch immer nur als ‚Teil‘ eines Prozesses, in dem die wirkenden Zusammenhänge wesentlich zur ‚Wahrheit einer Sache‘ gehören. Wahrheit ist daher niemals ’selbstverständlich‘, niemals ‚einfach‘, niemals ‚kostenlos‘; Wahrheit ist eine ‚kostbare Substanz‘, die zu ‚gewinnen‘ jeglichen Einsatz erfordert, und ihr Zustand ist ein ‚flüchtiger‘, da die ‚Welt‘ innerhalb deren Wahrheit ‚erarbeitet‘ werden kann, sich als Welt kontinuierlich ändert. Ein Hauptfaktor dieser beständigen Veränderung ist das Leben selbst: das ‚Dasein von Leben‘ ist nur möglich innerhalb eines ‚andauernden Prozesses‘ durch den ‚Energie‘ ‚emergente Bilder‘ aufleuchten lassen kann, die nicht zum ‚Ausruhen‘ geschaffen sind, sondern für ein ‚Werden‘, dessen letztes Ziel noch vielfach ‚offen erscheint‘: Leben kann sich tatsächlich — partiell — selbst zerstören oder sich selbst — partiell — ermächtigen. Irgendwo da mitten drin befinden wir uns. Die aktuelle Jahreszahl ‚2025‘ ist dafür eigentlich wenig aussagekräftig.

… Fortsetzung folgt …

Überlegungen zum Thema „Zeit“

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Peter Gottwald
Email: pjgottwald@web.de
Mi 1.Januar 2020

KONTEXT

Aufgrund eines Gedankenaustausches zwischen Prof. Peter Gotttwald und mir kam es zur Idee, den Gedankenaustausch direkt in diesen Blog zu verlagern. Das hilft nicht nur uns beiden bei der wechselseitigen Bezugnahme, sondern eröffnet es auch potentiellen Lesern, daran teilzunehmen.

DAS GANZE ALS PROZESS

Dieser Beitrag von Peter Gottwald gibt mir als Blog-Moderator nochmals die Gelegenheit, auf die Besonderheit des Blog-Schreibens hinzuweisen. Während man bei einer normalen wissenschaftlichen Publikation — sei es Artikel oder insbesondere Buch — kaum umhin kommt, von einem vorweggenommenen Ganzen her zu denken und man auf Vollständigkeit achten sollte, eröffnet das Schreiben in einem Blog die Möglichkeit, das Ganze in einzelne Schritte zu zerlegen, es als einen Prozess zu sehen, der im Fortschreiten erst seine ganze Aussagekraft entfaltet. Im Falle von aktiven Lesern — als Autor darf man davon träumen 🙂 — kann deren Interaktion dann Aspekte ansprechen, anregen, die im Thema ’schlummern‘, die aber nicht angesprochen worden wären, hätte man das Thema von vornherein monolithisch als Ganzes abgehandelt. Durch solche Interaktionen kann nicht nur der Autor dazu lernen, sondern das Thema kann an Vielfalt gewinnen, oder bildhaft: das Thema selbst kann durch das ineinander Spielen von Gedanken lernen.

TEXT VON PETER GOTTWALD

Peter Gottwald hat eine überarbeitete Version seines Beitrags geschickt. Sie wird hier als PDF-Dokument zugänglich gemacht:

Hier die ursprüngliche Version

Motto:

Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion. Albert Einstein

Motto:

Wer seiner Zeit nur voraus ist, den holt sie einmal ein. Ludwig Wittgenstein

1

„Die Zeit gibt es nicht…“ Mit dieser Aussage überraschte ich die Teilnehmer meines Gebser-Seminars am Ende der letzten Sitzung des Jahres. Und auf das erstaunte Blicken fügte ich hinzu: „Alles, was wir wahrnehmen können, ist Bewegung!“ Es entstand eine längere Pause, dann begann ich zu erläutern: Die Sonne bewege sich am Himmel, und dabei sei eine Wiederkehr zu beobachten, nämlich ihr höchster Stand am Himmel. Früh sei der Mensch auf den Gedanken gekommen, nun von einem „Tag“ zu sprechen, diesen in 24 Stunden einzuteilen, jede dieser Stunden in 60 Minuten, diese wiederum in 60 Sekunden. Danach habe man von der ZEIT gesprochen als etwas, das „abliefe“. „Zeit“ sei somit ein Begriff, also eine Errungenschaft des Menschen, gleichsam seine „Zutat“ zum Phänomen der Bewegung – eine Zutat mit weitreichenden und ungeahnten Folgen.

In der „Zeit zwischen den Jahren“ entstand der folgende Text.

Denn dieser Begriff einer „Zeit“, die aus der Unendlichkeit kommt und in die Unendlichkeit verschwindet auf ihrem „Weg“, damit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entstehen lässt, hat sich im Verlaufe mehrerer tausend Jahre mit anderen Begriffen aus Philosophie und Wissenschaft zu einem riesigen „System“ verbunden, das unser heutiges Leben beherrscht, aber auch zu ersticken droht. Dieses System nämlich bestimmt, was „wirklich“ ist und lehnt alles ab, ja bekämpft alles, was nicht in dieses System hineinpasst. Alles „Neue“

2

wird wie auf einem Prokrustes-Bett1 entweder gestreckt oder verkürzt, bis es „passt“. Was dabei verlorengeht, erscheint dem Systematiker irrelevant.

1 Dieser gemeine „Gastgeber“ pflegte seine Gäste an sein Bett anzupassen; wer zu lang war, wurde „verkürzt“, wer zu kurz war, „gestreckt“. Was mit den „Passenden“ geschah, verrät der Mythos nicht. Vermutlich hat er dann das Bett verändert.

Die „Findung“ des Zeitbegriffs muss den Früheren so bedeutsam erschienen sein, dass sie ihm eine Gottheit zuordneten, die sie Chronos nannten; nach ihm sind bis heute die Uhren benannt, auch die Zeitmessung – die Chronometrie. Auch dieser Gott war so wirksam und furchtbar zugleich wie viele andere: Er pflegte nämlich seine Kinder zu fressen, und sein Sohn Zeus entkam diesem Schicksal nur, weil seine Mutter dem Gott einen in eine Windel gewickelten Stein gab…So sagt uns der Mythos noch heute etwas: Die Zeit frisst ihre Kinder, also uns, die wir Kinder der Zeit sind…

Wann diese Handlung geschah, darüber herrscht zwischen Karl Jaspers und Jean Gebser die Übereinstimmung, dass es im „Abendland“ zu einer „Achsenzeit“ gewesen sein muss, die etwa in das 7. „vorchristliche Jahrhundert“ zu legen ist. Was aber war dann „vorher“ für eine Vorstellung dessen lebendig, was an Bewegungen schon wahrnehmbar war am Himmel und auf der Erde? Die Mythen geben davon Kunde, sie berichten vom „ewigen Kreisen“, der „Wiederkehr“. Gebser nannte diese Struktur ein „Mythisches Bewusstsein“.

Das „Mentale Bewusstsein“, entstanden während der „Achsenzeit“, manifestiert sich erst danach, es übernimmt gleichsam die Führung für das weitere kulturelle Geschehen. Fortan ist unsere Sprache durchdrungen von Begriffen, die mit dieser nun so genannten „Zeit“ in Verbindung stehen: früher und später, vorher, nachher, bald, jetzt, Zukunft und Vergangenheit, gleichzeitig, Freizeit, Auszeit …und so endlos weiter. Die Vorstellung eines „Ablaufs“ ist uns so selbstverständlich geworden, dass wir nicht darüber nachdenken (selbst in diesem „nach“denken schwingt noch das Zeitliche mit).

Überlegungen wie diese schaffen nun, und das ist überaus wichtig, eine Transparenz, nämlich ein Durchsichtig-Werden für das, was wir Menschen tun und getan haben auf unserem langen Weg durch das, was wir „kulturelle Entwicklung“ (auch so ein verdeckter Zeitbezug) nennen.

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Nebenbei gesagt ist ja auch der Begriff „Bewegung“ mit einem weiteren Begriff, nämlich des eines „Raumes“, verbunden, in dem es einen „Weg“ von „Ort zu Ort“ gibt. Allgemeiner gesprochen, haben wir es mit der Wahrnehmung von „Veränderungen“ zu tun – wir sehen, hören oder fühlen, dass sich „etwas“ verändert hat, in einen neuen „Zustand“ geraten ist1. So etwas nehmen wir „auf Erden“ wie „am Himmel“ wahr: Der Mond liefert uns ein gutes Beispiel – er verändert nicht nur seine Gestalt, er bewegt sich auch, und zwar nicht nur mit dem „Sternenhimmel“, sondern auch von West nach Ost2! Ein weiteres liefern die „Wandelsterne“, die sich im Gegensatz zu den „Fixsternen“ auf komplizierten Bahnen am „Himmelsgewölbe“ bewegen. Bedenkt man, welcher ausdauernden und nächtlichen Beobachtungen es bedarf, um solches „festzustellen“, so kann man schließen, dass erst auf einer hohen Kulturstufe, also vermutlich erst im mythischen Bewusstsein, einzelne Menschen freigestellt waren, um Nacht für Nacht wach zu bleiben. Vermutlich aber waren das die Priester, die so, neben Opfer- und anderen Ritualen, ihren Göttern

1 In diesem Zusammenhang hat I.Prigogine von einer „tau-Zeit“ gesprochen.

2 Daraus haben die Nordmenschen, wie Chr.Bornewasser nachwies, einen Mythos gemacht, der in der Edda nachzulesen ist. Ein Ase (Mond) verliebt sich in eine Schöne (Sonne) und verzehrt sich nach ihr.

dienen. Noch allerdings hatten sie keinen Zeit-Begriff! Der wurde erst auf der nächsten Kulturstufe gefunden!

Unsere ganze Wissenschaft und die darauf aufbauende Technik ist nun ohne diesen Zeitbegriff nicht denkbar; die Physik arbeitet ja mit einem cgs-System, wobei „Zentimeter“ und „Sekunde“ die menschlichen Zutaten, das „Gramm“ als Teil eines „Gewichtes“ oder auch einer „Masse“ als „Wirkung“ einer kosmischen „Schwerkraft“ betrachtet und als „Schwere“ empfunden wird.

Wir haben uns sogar daran gewöhnt, die Zeit zu „messen“ und zu diesem Zweck die verschiedenartigsten „Uhren“ gebaut. Doch sind das „nur“ sehr feine Geräte, in denen die Bewegungen von Zeigern und neuerdings auch Ziffern mit der (scheinbaren) Bewegung der Sonne übereinstimmen. Steht die Sonne am höchsten, zeigen beide Zeiger auf eine 12.

Hoffmeisters „Wörterbuch der philosophischen Begriffe1“ beschreibt dies so: „Diese „objektive Zeit“ ist messbar. Gemessen wird sie allerdings nicht an sich selbst, sondern an der gleichmäßigen Fortbewegung von Körpern, deren Bahn in gleiche Abschnitte zerlegt wird, sodass die Gliederung der räumlichen Bewegung zugleich eine Zerlegung der Zeit in Zeit-Abschnitte ermöglicht.

1 Zweite Auflage 1955, im Verlag von Felix Meiner, Hamburg.

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Hierauf beruht das Prinzip der Uhr, deren Gang nach der großen Weltenuhr, der Bewegung der Gestirne, geregelt wird. Diese Zeitmessung ermöglicht die exakte Naturwissenschaft, die Wissenschaft von der berechenbaren Natur.“ Dem folgt ein philosophischer Hinweis: „Von dieser objektiven Zeit nun hat Kant gelehrt, dass ihr in Wahrheit nicht objektive Realität zukomme: Sie sei eine im menschlichen Subjekt liegende „reine Form der Anschauung.“ (678)

Diese Beschreibung verleugnet aber, so meine ich, den Handlungsaspekt – es ist schließlich so, dass dieses „Subjekt“ nun tatsächlich handelt, indem es (als uns immer noch unbegreifliche Folge der Anschauung) ein neues Wort, damit aber einen neuen Begriff hervorbringt, und das ist eine „Handlung“, auch wenn sie mit Kehlkopf und Zunge vollzogen wird, und nicht mir der Hand.

Bezugnahme auf Jean Gebsers Werk „Ursprung und Gegenwart“.

Wenn man nach diesen Überlegungen zu Gebsers Werk greift und dort über „Zeit“ liest, dann stößt man sofort auf Überschriften wie „Der Einbruch der Zeit“, auf Sätze wie „Der Einbruch der Zeit in unser Bewusstsein: Dieses Ereignis ist das große und einzigartige Thema unserer Weltstunde. (III/379) Wie sind sie von Gebser in einen großen Zusammenhang gestellt worden? Das ist die erste Frage, der ich hier nachgehen will. Die zweite ist dann: Wie kam Gebser zu dieser neuen Sicht auf die Welt und auf die Zeit?

Gebser spricht von der „Komplexität des Zeit-Themas“ und entfaltet diese unter Bezug auf die Stufen der kulturellen Entwicklung, die mit einer „archaischen“ beginnt, auf die eine „magischen“, dann eine „mythische“ und zuletzt eine „mentale“ folgte (s.o.), die uns noch heute formt. Ob nun tatsächlich Anzeichen für eine weitere Stufe bestehen, die Gebser eine „integrale“ nennt, das ist der Inhalt des genannten Werkes. Dabei werde, so Gebser, auch eine neue Zeit-Qualität wahrnehmbar, die er „Zeitfreiheit“ nannte. Schon hier sei angedeutet, dass es für mich sinnvoll erscheint, allein vom Erleben einer neuartigen „Freiheit“ zu sprechen, also von einer Bewusstseins-Struktur, die aus der Integration von Bewusstseins-Zuständen erwachsen kann, in denen etwas wahrnehmbar wurde, was als „Erleuchtung“ bezeichnet worden ist.

Wie also beschreibt Gebser „Zeit“? Er spricht von einer „mental-rationalen Zeit“ (als einer Errungenschaft des „mentalen Bewusstseins“) die ein teilendes Prinzip und ein Begriff sei. Solange er gelte, gelte noch das Teilende,

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Zerstörerische, Auflösende, das aber teilend, zerstörend und auflösend den Weg für eine neue Wirklichkeit freilege. Was aber freigelegt werde, das sei mehr als der bloße Begriff „Zeit“: Es ist das Achronon, also das Frei- und Befreitsein von jeder Zeitform, es ist die Zeitfreiheit.(III/380)

Gebser fragt dann: Was ist aber nun die „Zeit“? und er antwortet, „sie ist mehr als bloße Uhrenzeit“, ja sogar, Zeit müsse als „Qualität und Intensität“ berücksichtigt werden (III/381).

„Aus der aperspektivischen Weltsicht heraus betrachtet, erscheint (die Zeit) geradezu als die grundlegende Funktion und von vielfältigster Art. Sie äußert sich, ihrer jeweiligen Manifestationsmöglichkeit und der jeweiligen Bewusstseinsstruktur entsprechend, unter den verschiedensten Aspekten als: Uhrenzeit, Naturzeit, kosmische Zeit oder Sternenzeit, als biologische Dauer, Rhythmus, Metrik; als Mutation, Diskontinuität, Relativität; als vitale Dynamik, psychische Energie (und demzufolge in einem gewissen Sinne als das, was wir „Seele“ und „Unbewusstes“ nennen), mentales Teilen; sie äußert sich als Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; als das Schöpferische, als Einbildungskraft, als Arbeit, selbst als Motorik. Nicht zuletzt aber muss, nach den vitalen, psychischen, biologischen, kosmischen, rationalen, kreativen, soziologischen und technischen Aspekten der Zeit auch ihres physikalisch-geometrischen Aspektes gedacht sein, der die Bezeichnung „vierte Dimension“ trägt. (III/381)

Zeit wird damit zu einem Synonym für das Schöpferische schlechthin. Damit aber scheint mir „Zeit“ zu einer Art von Mysterium geworden zu sein, zu dem ich Abstand gewinnen möchte. Ohne Frage gibt es in allen eben genannten Bereichen (von „vital“ bis „technisch“) eine „Dynamik“, d.h. aber unendlich vielfältige Veränderungen und Bewegungen – aber diese sind auch für den jeweiligen Bereich spezifisch, nicht auf andere übertragbar. Mit Wittgenstein könnte man sagen, es handele sich um ganz unterschiedliche „Sprachspiele“ mit speziellen Regeln, die nicht vermischt werden dürfen, da sonst eine heillose Verwirrung entsteht. Bleibe ich bei dem Begriff „Bewegungen“ in deren unendlich verschiedenen Formen, die zu immer neuen Gestalten führen, sodass man mit Goethe sagen könnte: Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinns ewige Unterhaltung – dann gestehe ich mir nicht nur mein sehr begrenztes Wissen ein, sondern erlebe auch immer wieder ein grenzenloses Verwundern angesichts eines „All“, das all dies und uns hervorgebracht hat.

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Gebsers starke Betonung der Zeit, sein Bemühen, sie zugleich aber auch zu überwinden, was mit Wortschöpfungen wie „das Achronon“ ausgedrückt wird, steht im Zentrum seines Werkes1. Einem Integralen Bewusstsein ist „Zeit“ nicht mehr nur ein Begriff (der zu wahren sei), sondern eine neue Qualität, die Geber als „Intensität“ bezeichnete. Was aber meinte Gebser, als er von „Zeitfreiheit“

1 Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart. Chronos (sic!)Verlag, Zürich,2012

sprach? Damit möchte ich mich der zweiten Frage zuwenden: Was veranlasste Gebser, so von „Zeit“ zu sprechen?

Gebsers persönliche Erfahrungen und die Folgen.

Im Alter von 27 Jahren machte Gebser in einer krisenhaften Situation eine Erfahrung, die ihn, wie er schreibt, mit dem „Gedanken“ zurückließ „Überwindung von Raum und Zeit“. Sie war es, die es vermochte, seine jahrzehntelange Suchbewegung nach ähnlichen Aussagen in den Wissenschaften, später in allen Bereichen der Kultur, zu unterhalten. Ich habe dargelegt, dass ich diese Erfahrung als eine spontan auftretende Erleuchtung zu verstehen suche, so wie ich auch seine weitere einschlägige Erfahrung während seiner Asienreise auffasse1.

In der Zentradition nämlich, auf die sich auch Gebser in der 2. Auflage von „Ursprung und Gegenwart“ ausführlich bezieht, werden solche Erfahrungen als satori oder auch kensho (Wesensschau) bezeichnet. Es ist typisch für sie, dass für Augenblicke alle Dualitäten schwinden, dass weder ein Raum- noch ein Zeitgefühl existiert. Solche Erfahrungen können einen tiefen Frieden und große Freude hinterlassen, die das ganze weitere Leben umzugestalten vermögen. Wie darüber zu sprechen sei, wird jeder und jede mit eigenen Mitteln versuchen. Gebser hat eine Form gewählt, die offen für ganz unterschiedliche Adressaten war: So konnte er Christen, Buddhisten, aber auch Esoteriker ansprechen, ohne auf fundamentale Differenzen aufmerksam zu machen. Dass er das Thema „Zeit“ in den Mittelpunkt stellte, muss man respektieren – wie er jedoch darüber spricht, darf man auch kritisch betrachten.

„Zeitfreiheit“ ist nach meiner Auffassung etwas, das Menschen für sich selbst wahrnehmen können, sie ist damit nichts „Objektives“, das „dingfest“ gemacht werden könnte. Die Auswirkungen auf ein „Subjekt“ können so dramatisch sein,

1 P. Gottwald: Zen und Integraes Bewusstsein. In: Integrale Weltsicht. Vol. XXV, 2019 herausgegeben von der Jean Gebser Gesellschaft, Bern.

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wie dies R. M. Pirsig1 erfuhr, oder sie können als „kleine Erleuchtung“ geschehen, wie der Zenlehrer Enomiya-Lassalle sie seinen Schülern und Schülerinnen zu wünschen pflegte.

Nach alledem zeigt sich mir nun ein neues, ein eher beunruhigendes „Prinzip“, nämlich das unserer „Verantwortung2“ für unser Tun und Lassen. Ihm hat bekanntlich Hans Jonas eine eingehende Untersuchung gewidmet. Ihr müssen wir uns heute stellen, wenn es nicht mit uns, wie Jonas, sagte „…böse enden soll“. Welche inneren Widerstände dadurch wachgerufen werden, darauf hat Kafka3 auf seine unnachahmliche Weise hingewiesen. In seinen „Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“ schreibt er (Nr.92):

Die erste Götzenanbetung war gewiss Angst vor den Dingen, aber damit zusammenhängend Angst vor der Notwendigkeit der Dinge und damit zusammenhängend Angst vor der Verantwortung für die Dinge.

1 Vgl. dazu R.M.Pirsig: Zen und die Kunst ein Motorrad zu warte. Fischer Taschenbuch.

2 Ludwig Wittgenstein: Die Verantwortung leugnen heißt, den Menschen nicht zur Verantwortung ziehen (Vermischte Bemerkungen, S. 121)

3 Franz Kafka: ER. Bibliothek Suhrkamp, 1968

So ungeheuer erschien diese Verantwortung, dass man sie nicht einmal einem einzelnen Außermenschlichen aufzuerlegen wagte, denn auch durch Vermittlung eines Wesens wäre die menschliche Verantwortung noch nicht genügend erleichtert worden, der Verkehr mit nur einem Wesen wäre noch zu sehr von Verantwortung befleckt gewesen, deshalb gab man jedem Ding die Verantwortung für sich selbst, mehr noch, man gab diesen Dingen auch noch eine verhältnismäßige Verantwortung für den Menschen.

Wie gut passt dies zu der Beschreibung, die Gebser von der Bewusstseinsstruktur des magisch gestimmten Menschen gab!

Seine Wahrnehmung der Keime einer neuen und vielleicht kulturstiftenden Bewusstseinsstruktur, eben eines Integralen Bewusstseins, hat Viele ermutigt, nicht zuletzt den Jesuiten und Zenlehrer Enomiya-Lassalle1, der mich sieben Jahre lang auf dem Zenweg begleitete und dem ich die Begegnung mit dem Werk Jean Gebsers verdanke. Wie weit dieses valide ist und weiteren Suchbewegungen standhält, muss offen bleiben. Aus ihm eine Hoffnung in dieser von Krisen geschüttelten Zeit abzuleiten, wäre vermessen. Dass uns Menschen Möglichkeiten zur persönlichen Entwicklung zur Verfügung stehen,

1 Vgl. Enomiya-Lassalle: Wohin geht der Mensch? Aurum Verlag, 1983.

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kann nicht bestritten werden. Ob und welcher „kritischen Masse“ es bedarf, ehe politische Wirkungen sichtbar werden, bleibt ebenfalls offen…

Anhang

Ludwig Wittgenstein über den Begriff „Fortschritt“.

„Man hört immer wieder die Bemerkung, dass die Philosophie eigentlich keinen Fortschritt mache, dass die gleichen philosophischen Probleme, die schon die Griechen beschäftigten, uns noch beschäftigen. Die das aber sagen, verstehen nicht den Grund, warum es so sein muss. Der ist aber, dass unsere Sprache sich gleich geblieben ist und uns immer wieder zu denselben Fragen verführt. Solange es ein Verbum „sein“ geben wird, das zu funktionieren scheint wie „essen“ und „trinken“, so lange es Adjektive „identisch“, „wahr“, „falsch“, „möglich“ geben wird, solange von einem Fluss der Zeit und einer Ausdehnung des Raumes die Rede sein wird, usw., solange werden die Menschen immer wieder an die gleichen rätselhaften Schwierigkeiten stoßen, und auf etwas starren, was keine Erklärung scheint wegheben zu können.“ (36)

„…Es ist nicht unsinnig zu glauben, dass das wissenschaftliche und technische Zeitalter der Anfang vom Ende der Menschheit ist; dass die Idee vom großen Fortschritt eine Verblendung ist, wie auch von der endlichen Erkenntnis der Wahrheit; dass an der wissenschaftlichen Erkenntnis nichts Gutes oder Wünschenswertes ist und dass die Menschheit, die nach ihr strebt, in eine Falle läuft. Es ist durchaus nicht klar, dass dies nicht so ist.“ (107)

„Es könnte sein, dass die Wissenschaft und Industrie, und der Fortschritt, das Bleibendste der heutigen Welt ist. Dass jede Mutmaßung eines Zusammenbruchs der Wissenschaft und Industrie einstweilen, und auf lange Zeit, ein bloßer Traum sei, und dass Wissenschaft und Industrie auch und mit unendlichem Jammer die Welt einigen werden, ich meine, sie zu einem zusammenfassen werden, in welchem dann freilich alles eher als der Friede wohnen wird…“ (120)

Aus: L. Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Suhrkamp.

Die Wiederentdeckung Gottes auf dem Planeten Erde für alle denkbaren Universen. Essay. Teil 3

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ÜBERBLICK

Voraus ging ein anderer  Beitrag, siehe HIER.

Im Folgenden weitere Aspekte zur Wiederentdeckung Gottes auf dem Planet Erde … Wir sind da. Die Dinge sind da. Wir selbst sind ein ‚Ding‘. Raum und Zeit. Konservierte Zeit.

WAS DA IST

Naturgesetz im Alltag

  1. Wenn etwas, was da ist, so da ist, weil es nach unserem Verständnis einem ‚Naturgesetz‘ folgt, dann ist es nach unserem alltäglichen Verständnis erzwungener Maßen da, notwendigerweise, deterministisch. Bei gleichen Voraussetzungen würde es immer genau so sich wiederholen. Der berühmte Apfel löst sich aus dem Baum, fällt ’nach unten‘ und bleibt liegen.

Gegenstand im Raum

  1. Und es ist auch wahr, dass in unserem alltäglichem Erleben der Apfel nicht isoliert vorkommt sondern als abgrenzbares Etwas in dem, was wir ‚Raum‘ nennen; an derselben Stelle, an der sich der Apfel befindet, kann kein zweiter Apfel sein, und der Apfel hat eine ‚Umgebung‘, die wir hemdsärmelig mit ‚Oben‘, ‚Unten‘, ‚links‘, ‚rechts‘, ‚vorne‘ und ‚hinten‘ usw. beschreiben. In unserem alltäglichen Raum fällt der Apfel immer nach ‚unten‘, nie nach ‚oben‘.
  2. Auf den Apfel können wir als Gegenstand, als Objekt hinweisen, ihn abgrenzen von seiner Umgebung; auf den Raum können wir nicht direkt hinweisen; der Raum ist kein Objekt wie der Apfel. Der Raum ist wie eine Art ‚Behälter‘ aber ohne Begrenzung. Für uns erscheint der Raum in der alltäglichen Erfahrung quasi ‚unendlich‘. Wir sprechen über den Raum relativ durch Bezug über das, was ‚in dem Raum‘ vorkommt. Wir kennen ‚Objekte‘ nur als ‚in einem Raum vorkommend‘. Die Erfahrung von Objekten und Raum ist simultan.
  3. Was ist, wenn jemand blind ist, absolut nichts sieht? Ist der Raum dann weg?
  4. Wenn wir unsere Augen schließen können wir (im Normalfall (was ist ’normal?)) mit unseren Händen Oberflächen spüren, denen wir durch Bewegung unserer Finger, Hände, Arme, eventuell auch des Körpers, folgen können. Die Bewegung unseres Körpers verändern die jeweilige ‚Stellung‘ von Körperteilen, Muskeln, Knochen… Diese ‚Stellungen‘ sind subjektiv, sie spiegeln sich ‚in uns selbst‘ wieder; wir können sie im Erleben unterscheiden. ‚In uns‘ versammeln wir alle diese Erlebnisse unterschiedlicher Stellungen und können sie ‚in Beziehung‘ setzen: wenn das Objekt selbst sich nicht verändert, dann sind diese Stellungen nicht beliebig. Das Verhältnis der verschiedenen erlebbaren Stellungen bildet ein Beziehungsgeflecht, das man auch als ‚räumlich‘ interpretieren kann, das dann auch ein ‚oben‘, ‚unten‘, ‚links‘ und ‚rechts‘ usw. zulässt. Die unterschiedlichen Stellungen markieren dann in diesem Beziehungsgeflecht eine ‚Position‘. Mit anderen Worten: auch ohne Sehen, nur mit unseren körperlichen Bewegungen zusammen mit den Tastempfindungen ist unser Erleben von etwas anderem, von Gegenständen, von Objekten, mit der ‚Vorstellung eines Raumes‘ verbunden.
  5. Wenn wir ‚Sehen‘ und ‚Tasten‘ können, dann lässt sich der ‚Seh-Raum‘ und der ‚Tast-Raum‘ miteinander in Beziehung setzen.

Wir sind auch ein Objekt

  1. Eine Besonderheit ist, dass wir in beiden Räumen ‚uns selbst‘, ‚unseren Körper‘ als Teil des Raumes, als Gegenstand neben anderen Gegenständen erleben können. Wir erleben uns als Gegenstand, als Objekt in einem ‚Raum‘ von vielen Objekten. Die Gegenstände erscheinen als ‚endlich‘, der Raum als ‚unendlich‘.

Sprache kann verbinden

  1. Wenn wir weder sehen noch tasten können, wird es schwierig. Mir persönlich versagt da die Vorstellung, und unsere Sprache verliert den Weltbezug, den sie braucht, um zwischen verschiedenen Menschen zu funktionieren. Was immer ein einzelner Mensch ‚in sich‘ erlebt, sofern jeder Mensch als Objekt in einem Raum von Objekten vorkommt, den er mit einem anderen Menschen teilt, so lange kann er mittels der Sprache ein gemeinsames Bezugssystem aufspannen, innerhalb dessen er sich selbst und sein Erleben ‚verorten‘ kann.

Zeit subjektiv

  1. Die Situation des fallenden Apfels lässt aber noch mehr erkennen. Es ist nicht nur ein ‚Raum‘, der sich mit dem Apfel zum Erleben bringt, es ist auch etwas, das wir ‚Zeit‘ nennen.
  2. Wie selbstverständlich sagen wir im Alltag, dass der Apfel ‚zuerst‘ am Baum war, und ‚dann‘, ’später‘ auf dem Boden lag. Wir verfügen (als Menschen) über die Fähigkeit, nicht nur den ‚jeweiligen Augenblick‘ erleben zu können, sondern wir können auch ‚vergangene Augenblicke erinnern‘, weil wir uns Erlebnisse ‚merken‘ können (nicht unbedingt 1-zu-1), und weil wir ‚vergangene Augenblicke‘ erinnern können, können wir zwischen einem ‚aktuellen Augenblick‘ und einem ‚erinnerten Augenblick‘ vergleichen. Im aktuellen Augenblick liegt der Apfel z.B. auf dem Boden, wir können aber erinnern, dass es einen Augenblick gab, da war der Apfel noch am Baum, also ‚vorher‘ an einer anderen Position im Raum als ‚jetzt‘.

Konservierte Zeit

  1. Diese Unterscheidung von ‚vorher‘ und ’nachher‘ relativ zu einem ‚jetzt‘ können wir erleben, weil wir erinnern können. In der Welt des Raumes für sich, ohne das menschliche Erleben, gibt es nur ein Jetzt! Die Raumwelt ist reine Gegenwart, allerdings, wenn man die Gegenwart der Raumwelt ‚lesen‘ kann, dann kann man in der Gegenwart der Raumwelt ‚Hinweise‘ finden, ‚Indizien‘, die auf eine ‚andere (vorausgehende) Gegenwart‘ hindeuten können. In der Gegenwart des Raumes ist die Zeit des Entstehens quasi ‚konserviert‘, ‚eingefroren‘, ‚eingebrannt‘ in die Welt. Die Raumwelt enthält ihre ‚Geschichte‘ quasi ‚in sich selbst‘, ‚an sich‘.
  2. Am Beispiel des fallenden Apfels ‚lernt‘ schon jedes Kind, dass Äpfel, die am Boden liegen, vorher am Baum hingen und dann irgendwann herunter fallen. Wenn also ein Kind einen Apfel liegen sieht, erinnert es sich an die ‚Regel‘ die es gelernt hat, und schließt vom Apfel am Boden mittels dieser Regel darauf, dass es ‚vorher‘ einen Zustand gegeben hat, bei dem der Apfel am Baum war. Mit der gelernten Regel wird der Apfel am Boden zu einem Anzeichen, einem Hinweis, einem Indiz, dass es vorher einen anderen Zustand gegeben hat.
  3. Es war eine große Sternstunde der menschlichen Wissenschaft, als die Geologen — wie jedes Kind — lernten, in der Gegenwart der Erde ‚Spuren‘, ‚Hinweise‘, ‚Indizien‘ zu entdecken, die darauf hindeuteten, dass aktuelle Erdschichten ‚Ablagerungen‘ sind aus vorausgehenden Zeiten, und dass diese Ablagerungen mit ihren spezifischen Eigenschaften Hinweise enthalten auf die Besonderheiten dieser vorausgehenden Zeiten.
  4. So konnten die Geologen durch Vulkane der Gegenwart lernen, wie ihre Ablagerungen aussehen, und dadurch auf Vulkane der Vergangenheit schließen. Durch die Meere der Gegenwart konnte man auf Meere der Vergangenheit schließen, die oft da waren, wo heute Land ist oder gar Wüste. Und sie entdeckten, dass die heutigen Kontinente in Bewegung sind; dass sie vor vielen Millionen Jahren anders angeordnet waren. Dass sich das Klima im Laufe von vielen Milliarden Jahren mehrfach dramatisch geändert hatte; es gab allein in den letzten 2.5 Millionen Jahren abwechselnd 50 Kalt- und Warmzeiten, und insgesamt gab es viele große Eiszeiten mit Dauern von Millionen von Jahren. Dabei schwankte die ‚Höhe‘ des Meeresspiegels um viele hundert Meter. Und vieles mehr.
  5. Parallel zu den Geologen konnten dann auch die Biologen die Funde aus den verschiedenen Ablagerungen verschiedenen Zeiten zuordnen und so schrittweise entdecken, dass die Formen des Lebens sich seit mindestens 3.5 Milliarden Jahre beständig verändert haben. Von unfassbar klein und vielfältig bis immer komplexer, mit großen dramatischen Einbrüchen bedingt durch dramatische Veränderungen der Geologie und des Klimas (Supervulkanausbrüche, Asteroideneinfall auf der Erdoberfläche, lange Eiszeiten, Trockenheiten, …). Seit kurzem können die Biologen auch über die Struktur der Zellen und Moleküle Beziehungen zwischen den verschiedenen Lebensformen über ihre direkte biologische Abstammung aufgrund ihrer ‚Baupläne‘ untersuchen; vorher waren sie allein auf den Körperbau und das Aussehen (den Phänotyp) angewiesen.
  6. Und noch mehr. Parallel zu Geologie und Biologie haben auch die Physiker entdeckt, dass es in der Gegenwart des physikalischen Universums Hinweise auf eine mögliche Vergangenheit gibt. Und, wie so oft, wenn erst einmal eine Entdeckung gemacht wird, zieht diese viele weitere nach sich. Schrittweise konnte man rekonstruieren, dass das Universum sich immer noch ausdehnt, von daher zurück verweist auf einen physikalischen Anfangspunkt, den man ‚Big Bang‘ nannte, von dem aus sich Energie in Teilchen verwandelte, Atome, Moleküle, dazu gigantische Gaswolken, Sternenbildung, Bildung von Galaxien und Superclustern, Neuwerdung von Sternen, aber auch das Sterben von Sternen, Verschmelzung von Galaxien, und vieles mehr.
  7. Zu beachten ist hier, dass die subjektive Zeit des Erlebens und die Zeit der Physik zwei verschiedene Sachverhalte bezeichnen.

Technische Zeit: Uhren

  1. Die subjektive Zeit des Erlebens basiert auf der Erinnerung von vorausgehenden Augenblicken und erlaubt durch Vergleich von aktuellem Jetzt und erinnertem Jetzt eine ‚relative‘ Bestimmung von ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘. Dieses ‚Vorher-Nachher‘ lässt sich mit konkreten Objekten und deren Eigenschaften verknüpfen, z.B. auch mit periodischen Vorgängen in unserem Erlebnisraum wie ‚Wachen – Schlafen‘, ‚Tag und Nacht‘, ‚Jahreszeiten‘ oder auch Vorrichtungen zur künstlichen Erzeugung von periodischen Ereignissen, die wir ‚Uhren‘ nennen.
  2. In der Physik gibt es kein ’subjektives Erleben‘ (nur indirekt, über das Erleben der Physiker, das aber ausgeklammert werden soll). Wenn die Physik von ‚Zeit‘ spricht, dann nur als ein theoretischer Begriff innerhalb einer formalen Theorie, die sich mit einer definierten Messprozedur zur empirischen Welt in Beziehung setzen lässt. Und hier gibt es in der Physik mindestens zwei Szenarien.
  3. In dem einen Szenario hat die Physik z.B. die Zeitdauer von ‚1 Sekunde‘ an Eigenschaften einer technischen Vorrichtung gekoppelt, die man ‚Atomuhr‘ nennt. Innerhalb eines bestimmten Genauigkeitsgrades sind alle Atomuhren ‚gleich‘ (andererseits, wenn eine Atomuhr in Nordamerika steht, eine andere in Europa, wieder eine andere in Asien, usw., dann erfordert die Abstimmung der ‚Gleichzeitigkeit‘ eine Kommunikation zwischen den Betreibern der Atomuhren. Diese Kommunikation erfolgt mittels elektromagnetischer Wellen durch die Atmosphäre. Diese Kommunikation ist um Dimensionen langsamer und ungenauer als die Atomuhren selbst. Dennoch sprechen die zuständigen ‚Behörden für die Zeit‘ (meistens die nationalen metrologischen Institute) von einer gleichen Zeit. (Es ist eine interessante Aufgabe, zu verstehen, wie dies möglich ist). Ferner ist zu beachten, dass der Alltag der Menschen primär natürlich nicht von den Atomuhren bestimmt wird, sondern von den Tag-Nacht Perioden und den Jahreszeiten, auf die auch alle Kalender aufbauen. Die Physik muss also ihre Atomuhren-Zeit mit den Erdzeiten abgleichen. Da die Erdzeiten nicht vollständig exakt zu der Atomzeit passen, müssen immer wieder ‚Zeit-Ausgleiche‘ vorgenommen werden. Im Alltag haben wir die Kalender und unsere ‚Normaluhren‘, hinter der Oberfläche haben wir aber eine exakte Atomzeit, die den Physikern hilft, die Zeit des Alltags immer wieder auszutarieren.

Die Zeit des Lichts

  1. Mitten in einem schier unendlich erscheinenden Universums wird das Beobachten zu einem Problem: wenn alles in Bewegung ist, wo ist der gemeinsame, stabile Bezugspunkt? Im Alltag setzen wir voraus, dass die Situation, das Land, die Erde ’stabil‘ genug ist, so dass wir diese Umgebung als gemeinsamen Bezugspunkt benutzen können (Landkarten, Navis, …). Im Universum gibt es aber keinen festen Punkt; alles bewegt sich, auch der Beobachter auf der Erde, die sich um sich selbst dreht, die sich zur Sonne hin unterschiedlich neigt, die sich um die Sonne bewegt, und der Beobachter bewegt sich auf der Erde, vielleicht fliegt er mit einem Flugzeug, einem Raumschiff … Woran soll man sich hier noch festmachen?
  2. Glücklicherweise konnten die Physiker herausfinden, dass das Licht eine konstante Geschwindigkeit c hat (siehe: \url{https://de.wikipedia.org/wiki/Lichtgeschwindigkeit}). Je nach dem umgebenden Medium kann sich diese zwar verringern, aber man kann für jedes Medium ermitteln, wie stark das Licht verlangsamt wird, so dass man am Ende heraus rechnen kann, wie schnell das Licht unterwegs war und ist. Mit diesem Wissen kann man unter Berücksichtigung der verschiedenen Beobachter dann Entfernungen fixieren und eine Gleichzeitigkeit ermitteln. Im mathematischen Konzept der Raum-Zeit hat Einstein diesen Überlegungen mit seiner speziellen Relativitätstheorie (SRT) einen konzeptuellen Rahmen gegeben.
  3. Wie schon angemerkt, kann die Umgebung des Lichts dessen Geschwindigkeit verändern. Eine besondere Beeinflussung geschieht auch durch die sogenannte ‚Gravitation‘, die durch die Masse der Körper aufeinander stattfindet. Die Gravitation kann den Weg des Lichts im Raum beeinflussen, indem es dieses ‚ablenkt‘. Das Licht breitet sich dann nicht ‚gerade‘ aus, sondern wird ‚gebogen‘. Für einen Beobachter bewirkt dies, dass er die Lichtquelle (ein Stern) mit einer anderen Form/ Gestalt wahrnimmt, als sie tatsächlich hat. Um diese besondere Wirkung der Gravitation berücksichtigen zu können hat Einstein dann den begrifflichen Rahmen der speziellen Relativitätstheorie zur allgemeinen Relativitätstheorie (ART) erweitert.  Das Konzept der Raum-Zeit wurde durch den Aspekt der Raum-Zeit-Krümmung erweitert, d.h. man gab dem physikalischen Phänomen der Beeinflussung der Lichtbahn durch die Gravitation eine mathematische Deutung als ‚Krümmung‘ in einem geometrischen Modell.
  4. Obwohl mit der speziellen wie mit der allgemeinen Relativitätstheorie bislang sehr viele physikalische Phänomene ‚erklärt‘ werden konnten, indem man sagen konnte, dass das B, was man im aktuellen Augenblick beobachten kann, von einem vorausgehenden A kommt, und der Weg von A nach B durch die spezielle oder der allgemeinen Relativitätstheorie beschrieben werden kann, herrscht in der Physik die Überzeugung, dass man noch nicht am Ende der theoretischen Erklärungen angekommen sei, da eine Vereinigung der Quantenphysik und der allgemeinen Relativitätstheorie noch ausstehe.

UND WIR?

  1. Wenn man den Gesprächen der Physiker lauscht, dann kann man ergriffen werden von einem großen Wundern und Staunen über dieses Universum, seinen unfassbaren Dimensionen, die uns umgeben. Zugleich kann es auch nieder schmettern, das Gefühl einer tiefen Verlorenheit erzeugen, wir, auf dieser Erde, so winzig in einer Galaxie, diese so winzig in einem Meer von Galaxien, alles auseinander fliegend … und man selbst so klein, so endlich in der Zeit. Was sind schon 100 Jahre Lebenszeit angesichts dieser Millionen, ja Milliarden von Jahren?

Fortsetzung folgt.

Pausenmusik 🙂

KONTEXT BLOG

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MENSCHENBILD – VORGESCHICHTE BIS ZUM HOMO SAPIENS – Ergänzungen

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Übersicht
Im Folgenden einige Ergänzungen zu dem vorausgehenden Blogeintrag ’Menschenbild …’.

I. WARUM ERGÄNZUNGEN ?

In dem vorausgehenden Blogeintrag (siehe: [DH17d])
wurde in einem ersten Durchgang versucht, die großen
Linien der ’Menschwerdung des Menschen’ nachzuzeichnen.
Angesichts des Umfangs und der Komplexität
des Themas konnten viele wichtige Punkte nur grob
beschrieben werden. Hier einige ergänzende Nachträge.

II. ZEITMESSUNG

Für die Rekonstruktion der Entwicklung der
verschiedenen Menschenformen benötigt man eine
Einordnung der ’Formen’ in bestimmte Schemata,
ihre ’geologische’ Fixierung mit jeweiligen Kontexten,
sowie die Einordnung auf einer ’Zeitachse’, die einen
direkten Bezug zu den konkreten Substraten (Knochen,
Werkzeuge, …) aufweist.

Eine Einführung in diese Thematik findet sich in
dem Artikel von Günther A.Wagner [Wag07], der am
Beispiel der Zeitbestimmung des Fundes zum homo
heidelbergensis die allgemeine Problematik einer
Zeitbestimmung abhandelt.

A. Stratigraphie

Es war der Geologe Nicolaus Steno, der 1669
erkannt, dass sich die Veränderungen der Erde in
Sedimentablagerungen manifestierten, wobei die
unteren Schichten die Älteren sind. Es entstand daraus
generell die Stratigraphie die die Fossile registriert
(Biostratigraphie), ferner die Lithostratigraphie mit dem
Fokus auf dem Gestein, die Magnetostratigraphie
mit Fokus auf der Gesteinsmagnetisierung, sowie
die Klimastratigraphie, die nach Indikatoren für das
Klima sucht. In der Summe entstehen auf diese Weise
räumliche und zeitliche Netze, die man zu einer primären
geologischen zeitlichen Einteilung nutzen kann. (Siehe
dazu z.B. die Tabellen bei Wagner [Wag07]:SS.204ff)

B.Tertiär, Quartär

Die Zeit seit -2 Ma Jahren [‚Ma‘ := Millonen Jahre] wurde aufgrund der
Stratigraphie in die Abfolge der Systeme Tertiär bis -1.8
Ma Jahren und Quartär bis zur Gegenwart eingeteilt.

C. Pliozän, Pleistozän

Diese grobe Einteilung wurde anhand stratigraphischer
Kriterien weiter verfeinert in die Abteilungen Pliozän
(-2.0 bis -1.8 Ma), Altpleistozän (-1.8 bis -0.78 Ma),
Mittelpleistozän (-078 bis -0.128 Ma), Jungpleistozän
(-0.128 Ma bis -11.7 Ka) und Holozän (-11.7 Ka bis zur
Gegenwart).[‚Ka‘ := 1000 Jahre].

D. Paläolithikum

Eine andere Einteilung orientierte sich an dem
Merkmal Steinwerkzeuge . Erste Steinwerkzeuge lassen
sich in Afrika ab -2,5 Ma nachweisen, in Europa erst ab
-0.9 Ma (siehe: [WD17a]). Diese Zeit wird Altsteinzeit
(Alt-Paläolithikum) genannt, Dauer bis ca.-300.000/-
200.000. Wichtige Formfelder: Acheulien . Es folgt die
Mittelsteinzeit (Mittel-Paläolithikum) , die etwa um -40 Ka
endet. Wichtige Formfelder sind hier:die Moustérien , ca.
-200.000 bis -40.000; es handelt sich hier um sehr fein
gearbeitete Werkstücke in zahlreichen, auf die Funktion
hin gestalteten Formen. Typisch sind fein ausgebildete
Faustkeile. Micoquien (oder ”Keilmesser-Gruppen”),
ca. -130.000 bis -70.000. Hier findet man Keilmesser
Blattspitzen-Gruppen, die flache und ovale Werkzeuge
(Blattspitzen) nutzten. Ch âtelperronien bis ca. -34.000.
(regional eingeschränkt, Frankreich und Nordspanien).
Es folgt die Jungsteinzeit (Jung-Paläolithikum) die bis
zum Ende der letzten Kaltzeit dauert, die mit dem
Beginn des Holozäns zusammenfällt, etwa 11.7 Ka vor
dem Jahr 2000 (siehe dazu: [WD17d]). Der Beginn der
Jungsteinzeit fällt auch zusammen mit dem Auftauchen
des homo sapiens in Europa. Bei den Steinwerkzeugen
unterscheidet man die Formenwelt Aurignacien, ca.
40.000 bis ca. -28.000; sie markiert den Beginn der jungpaläolithischen
Kleinkunst in Europa, u.a. erste Felsbilder; Gravettien von ca.
-28.000 bis ca. -21.000, Zeithorizont der Venusfigurinen.
Solutréen von ca. -22.000 bis ca. -18.000; Magdalénien
von ca. -18.000 bis ca. -12.000.

E. Holozän

Der Beginn des Holozäns (-9.7 Ka oder ’11.7 Ka
vor dem Jahr 2000’) ist gekennzeichnet durch einen
starken Klimaanstieg, der zu starken Veränderungen
in Fauna und Flora geführt hat (man nennt es auch
’drastische ökologische Restrukturierungen’ (siehe
dazu: [WD17d])). Die Zeit -9.7 Ka bis -6 Ka nennt
man auch Alt-Holozän. Riesige Eismassen schmelzen
und die Erdoberfläche hebt sich um viele Meter. Im
nachfolgenden Mittelholozän (ca. -6 Ka bis -2.5 Ka)
gab es einerseits ein Klimaoptimum, das positive
Lebensräume schuf. In einem Klimapessimus (von
ca. -4.1 Ka bis -2.5 Ka) wurde es deutlich kühler und
trockener; viele Wüsten kehrten wieder zurück. Die
Menschen zogen sich in die Flussgebiete zurück, was
zur Ausbildung komplexer Ansiedlungen führte. Es kam
zu Zusammenbrüchen ganzer Kulturen, zu erzwungenen
Wanderungen sowie Eroberungen. Das anschließende
Jung-Holozän (von ca. -2.5 Ka bis heute) ist u.a.
durch einen Wechsel weiterer Kalt- und Warmzeiten
gekennzeichnet.

Innerhalb des Holozäns werden anhand spezieller
Kriterienbündel weitere Unterteilungen vorgenommen.

Epipaläolithikum, Mesolithikum, Neolithikum

Am Beispiel der Begriffe Epipaläolithikum, Mesolithikum,
Neolithikum wird deutlich, wie sich Kriterien, die im
Rahmen der Stratigraphie zur Anwendung kommen
können, aufgrund von Zeitverschiebungen zwischen
verschiedenen Regionen sowie durch parallele
Kriterienbündel überlappen können.

Die Bezeichnung Mesolithikum (Mittelsteinzeit) trifft
eigentlich nur auf das nacheiszeitliche Europa zu (siehe:
[WD17f]), während der Begriff Epipaläolithikum in er
gleichen Zeit angewendet wird, aber eher auf Regionen
die kaum bis gar nicht von nacheiszeitlichen Eiswechsel
betroffen waren (siehe [WD17c]).

2. Neolithikum

Dagegen bezieht sich der Begriff Neolithikum (Jungsteinzeit)
auf ein Bündel von Faktoren, die zusammen
den Charakter dieser Phase beschreiben: die Domestizierung
von Tieren und Pflanzen, die Sesshaftigkeit der
Bauern (Nomadismus auf Viehhaltung basierender Kulturen),
die Verbreitung geschliffener Steingeräte (Steinbeile,
Dexel), sowie Ausweitung des Gebrauchs von
Gefäßen aus Keramik (siehe [WD17e]). Eine Zuordnung
des Beginns dieser Phase in absoluten Zahlen ist aufgrund
der regionalen Zeitverschiebungen im Auftreten
der Phänomene schwankend, frühestens beginnend mit
ca. -11.5 Ka.

F. Anthropozän

Aufgrund der immer stärker werdenden Einwirkung
des Menschen auf die Lebensbedingungen der Erde,
wird diskutiert, ob man die Zeit ab der Englischen
Industriellen Revolution als Anthropozän bezeichnen
sollte (siehe: [WD17b]). Es gibt sehr viele Indikatoren,
die solch eine neue Gliederung nahe legen, allerdings
konnte man sich noch nicht auf einen Anfangszeitpunkt
einigen; mehrere Szenarien stehen zur Auswahl.

G. Chronometrie

Wie aus den vorausgehenden Abschnitten deutlich
werden kann, lassen sich mittels der Stratigraphie
und gut gewählter Kriterien räumlich und zeitlich
abgrenzbare Phasen/ Perioden herausheben, diese
dann benennen, um auf diese Weise eine erste
geologisch motivierte Struktur zu bekommen, an die
sich weitere archäologische Kriterien anbinden lassen.
Will man nun diese relativen Zuordnungen mit
absoluten Zeitangaben verknüpfen (Chronometrie),
dann benötigt man dazu einen Zeitstrahl, der Uhren
voraussetzt, d.h. Prozesse, die hinreichend regelmäßig
in gleichen Abständen Ereignisse erzeugen, die man
abzählen kann.

Wagner beschreibt eine Reihe von solchen ’Uhren’,
auf die die Archäologie zurückgreifen kann; manche
sind recht neuen Datums (siehe: [Wag07]:SS.207ff).
Anhaltspunkte sind z.B. jahreszeitliche Wechsel,
Klimaänderungen, Baumringe (Dendrologie),
Sedimentablagerungen (Warvenchronologie), Eiskerne,
astronomische gesteuerte Ereignisse (wie jene, die
durch die Milanković-Zyklen hervorgerufen werden), Magnetismus, und Eigenschaften der Radioaktivität.

Da die Energiebilanz auf der Erdoberfläche zu
mehr als 99.9% von der Sonneneinstrahlung gespeist
wird, kommt den Parametern Neigung der Erdachse,
Rotationsgeschwindigkeit sowie Erdumlaufbahn
eine fundamentale Bedeutung zu. Schon geringe
Schwankungen hier können zu weitreichenden
Klimaänderungen führen (Stichwort: Milanković-
Zyklen)(siehe: [Wag07]:S.216 und [WD17g]). Da sich die
astronomischen Verhältnisse ziemlich genau berechnen
lassen, kann man die Annahmen des Milanković-
Zusammenhangs direkt experimentell an messbaren
Energiesignalen in den Ablagerungen überprüfen. Die
Autoren Zöller, Urban und Hambach zeigen auf, wie man
die Klimasignale in Meeressedimenten, Lössschichten
und Eisbohrkernen mit den berechneten astronomischen
Parametern korrelieren kann (siehe: [ZUH07], hier z.B.
die Tabelle auf S.87). Auf der Basis dieser ca. 50
globalen Warm- und Kaltzeiten in der Zeit ab ca. -2.5
Ma kann man dann ein Gerüst aufbauen, das mit
absoluten Zahlen versehen werden kann (siehe aber
auch hier [WD17g]).

Aus Stratigraphie und Chronometrie
kommt man damit zu einer Chronologie (Terminologie
von Wagner [Wag07]:S.207). Zu den Forschungen
zur Chronometrisierung von Eiszeiten siehe auch den
ausführlichen Artikel von Masson et al. [MDSP10].

III. PALÄONTOLOGIE UND PALÄOBIOLOGIE

Während im vorigen Blogbeitrag [DH17d] auf eine
Vielfalt von Disziplinen hingewiesen worden ist, die bei
der Analyse der biologischen Entwicklungsprozesse
involviert sind, soll hier das Augenmerk nur auf die
beiden Disziplinen Paläontologie und Paläobiologie
gelegt werden.

Wie Robert Foley herausarbeitet (siehe: [Fol98]),
brauchen beide Disziplinen einander. Die Paläobiologie
kann mittels molekularbiologischer und genetischer
Methoden die Abhängigkeitsbeziehungen zwischen
verschiedenen Lebensformen immer genauer
bestimmen, so genau, wie es die Paläontologie niemals
kann, aber die Paläobiologie kann dafür nicht die
Kontexte der Gene, die begleitenden geologischen,
sozialen, technologischen und sonstigen Elemente
erfassen; dies kann nur die Paläontologie.

Dieses Zusammenspiel demonstriert Foley am
Beispiel der Diskussion um die Abstammungslinien
der Gattung homo. Während die Vielfalt der
paläontologischen Funde viele mögliche Hypothesen
über Abstammungsverhältnisse ermöglichten, konnten
paläobiologische Untersuchungen aufzeigen, dass es
(i) aufgrund der ersten Auswanderungswelle aus Afrika
(ab ca. -1.6 Ma) viele Besiedlungsprozesse in Europa
und Asien gab, dass aber (ii) diese Lebensformen
keine genetischen Austauschverhältnisse mit dem
homo sapiens eingegangen sind, der in einer zweiten
Auswanderungswelle ab ca. -100 Ka von Afrika aus
über Arabien ca. -70 Ka nach Asien vordrang und erst
ab ca. -40 Ka nach Europa kam. (iii) Speziell zum
Neandertaler, der seit ca. -200 Ka vor allem in Europa
auftrat lässt sich sagen, dass es keine nennenswerten
Genaustausch gab. Außerdem zeigte sich (iv), dass der
Genpool aller neuen Lebensformen außerhalb von Afrika
verglichen mit dem Genpool afrikanischer Lebensformen
sehr eng ist. Daraus wird gefolgert, dass alle bekannten
Lebensformen von einer sehr kleinen homo sapiens
Population in Afrika abstammen müssen.(Vgl. zu allem
[Fol98]).

IV. ABSTAMMUNGSLINIEN

Die von Foley angesprochene Methodenproblematik
der Paläontologie wird von den Autoren Hardt und Henke
in ihrer Untersuchung zur ”Stammesgeschichtlichen
Stellung des Homo heidelbergensis” (siehe: [HH07]) sehr
ausführlich am Beispiel der Klassifizierungsgeschichte
des Fundes homo heidelbergensis in Mauer diskutiert.
Die Paläontologischen Deutungsversuche waren bis
in die Mitte des 20.Jahrhunderts gekennzeichnet von
einer gewissen (unwissenschaftlichen) Beliebigkeit,
die keine wirklichen Prinzipien erkennen ließ.

Das Klassifizierungssystem von Carl von Linné (1707 –
1778) mit Art (species), Gattung (genus), Ordnung
(ordo) und Klasse (classis) ist rein begrifflich-logisch
eine Sache, diese Konzepte aber konsistent mit
empirischen Merkmalen zu assoziieren, eine andere.
Bis in die 60er und 70er Jahre des 20.Jahrhunderts
hielt man z.B. an der Interpretation fest, dass es eine
Abfolge gibt von h.africanus zu h.habilis zu h.erectus
zu h.sapiens (siehe: [HH07]:S.188). Die Vermehrung
der Funde weltweit, die Zunahme von Varianten,
das Feststellen von Ähnlichkeiten und Unterschieden
dort, wo sie nach den bisherigen Interpretationen
nicht hätten vorkommen sollen, die zunehmende
Verbesserungen der Methoden, die Steigerung der
Präzision, die Einbeziehung der Paläobiologie, dies alles (und mehr)
führte zu mehrfachen Erschütterungen der bisherigen
Interpretationsansätze. Eines der Ergebnisse war,
dass homo erectus keine valide europäische Spezies
(Art) war. (siehe: [HH07]:S.192). Auch wurde klar,
dass alle bekannten Arten sich auf einen Ursprung
in Afrika zurückführen lassen, wenngleich in zwei
unterschiedlichen Auswanderungswellen: eine um -1.8
Ma und eine viel spätere um -100 Ka mit dem homo
sapiens. Die Nachfahren der ersten Out-of-Afrika Welle
haben sich mit den Nachfahren der zweiten Out-of-Afrika
Welle genetisch nicht vermischt (siehe: [HH07]:S.192f).

Wie nun die modernen Einordnungsversuche zum
homo heidelbergensis zeigen (siehe den Überblick bei
[HH07]:SS.200ff)), gibt es bislang vier große Szenarien,
zwischen denen eindeutig zu entscheiden, noch nicht
mit letzter Eindeutigkeit möglich ist.

Das Thema der wachsenden Vielfalt (Diversität)
der entdeckten Lebensformen und das Problem ihrer
Einordnung wird bei Foley intensiv diskutiert (siehe
[Fol10]). Angesichts der Zunahme der Funde zum
Stamm der hominini (Pan (Schimpansen) und homo
(Menschen)) thematisiert Foley gezielt das Problem
der Klassifizierung von Funden mit dem Modell der
’Art’ (Spezies), da die Vielfalt der möglichen Kriterien
einerseits und der bisweilen fließende Übergang von
Formen im Rahmen einer evolutiven Entwicklung klare
Grenzziehungen schwer bis unmöglich machen. Foley
plädiert daher dafür, den Art-Begriff nicht absolut
zu sehen sondern als ein analytisches Werkzeug
[Fol10]:S.71.

Eine Grundeinsicht in all der aktuellen Vielfalt ist allerdings
(sowohl im Licht der Paläontologie wie auch der
Paläobiologie), dass nicht nur der Stamm der hominini
auf einen rein afrikanischen Ursprung hindeutet, sondern
auch die überwältigende Mehrheit der Primatengattungen
[Fol10]:S.69.

V. GEHIRNVOLUMEN

Anwachsen der Gehirnvolumen mit Daten vonStorch et.al sowie Foley
Bild 1: Anwachsen der Gehirnvolumen (cm^3) mit Daten von Storch et.al (2013) sowie Foley (2010)

Ein interessantes Detail ist der Zuwachs des Gehirnvolumens
von ca. 320 – 380 cm^3 bis dann ca. 1000 –
1700 cm^3 im Zeitraum von ca. -7.2 Ma bis zu ersten
Funden des homo sapiens (siehe: [SWW13]:S.474). Man
beachte dabei, dass die Gehirnvolumina in der Auflistung
von [SWW13]:S.474 nicht relativ zum Körpergewicht
gewichtet sind. Für die Zeitachse wurden außerdem nicht alle
verfügbaren Daten aufgetragen, sondern anhand der
Liste von Foley [Fol10]:S.70f nur jeweils das zeitlich
erste Auftreten. Die Kurve im Bild 1 zeigt, wie das
Gehirnvolumen immer steiler ansteigt (bisher). Diese Volumenangaben
streuen jedoch sehr stark (bis zu 50% Abweichung vom Mittelwert).

VI. WISSENSCHAFTSPHILOSOPHISCHES

Wie sich in den vorausgehenden Diskussionen andeutet,
repräsentieren die Paradigmen von Paläontologie
und Paläobiologie zwei eigenständige Methodenbündel,
die ihre volle Leistung aber erst in einem gemeinsamen
Rahmen entfalten, in dem ihre individuellen
Daten in einen übergeordneten Zusammenhang – auf
einer Metaebene – zusammengebaut werden. Weder die
Paläontologie für sich noch die Paläobiologie für sich
bieten solch eine Metaebene explizit an. Im Interesse
der Sache wäre es aber gut, wenn das Zusammenspiel
beider Methodenbündel in einem gemeinsamen theoretischen
Rahmen explizit möglich wäre. Wie könnte dies
geschehen?

A. Ein Theorieschema für Paläontologie mit Paläobiologie

Im Rahmen eines Theorieprojektes, bei dem cagent
beteiligt ist (siehe: [DH17b]) wird gezeigt, wie man
im Rahmen der Vorgehensweise des allgemeinen
Systems Engineerings das Verhalten von Menschen in
Aufgabenkontexten theoretisch beschreiben kann. Die
Details finden sich in dem Abschnitt, der üblicherweise
als ’Mensch-Maschine Interaktion’ bezeichnet wird (EN:
’Human-Machine Interaction (HMI)) (siehe: [DH17a]).

Die beiden Grundkonzepte dort sind ’Userstory
(US)’ und ’Usermodel (UM)’. In der Userstory wird das
Verhalten von Akteuren beschrieben (Menschen oder
geeignete Maschinen (Roboter…), die eine Reihe von
Aufgaben in einer definierten Umgebung abarbeiten.
Diese Darstellung ist rein ’beobachtend’, sprich: wird
aus einer ’Dritten-Person-Perspektive’ (EN: ’3rd Person
View’) vorgenommen. Die inneren Zustände der
beteiligten Personen bleiben unbekannt (Akteure als
’black boxes’). Will man innere Zustände dieser Akteure
beschreiben, dann bedeutet dies, dass man Annahmen
(Hypothesen) über die inneren Zustände samt ihren
Wechselwirkungen treffen muss. Dies entspricht der
Konstruktion einer Verhaltensfunktion Φ#, die beschreibt,
wie die angenommenen ’Input-Ereignisse (I)’ des
Akteurs in die angenommenen ’Output-Ereignisse (O)’
des Akteurs abgebildet werden, also # Φ: I O.
Solch eine hypothetische Verhaltensfunktion ist Teil
einer umfassenden Struktur <I, O, Φ>. Diese Struktur
stellt einen minimalen Theoriekern dar, in den die
hypothetische Verhaltensfunktion Φ eingebettet ist. Wie
man diesen Theoriekern mit der Verhaltensfunktion im
einzelnen ausfüllt, ist im allgemeinen Fall beliebig. Die
einzige Anforderung, die erfüllt werden muss, besteht
darin, dass die Abfolge der Input-Output-Ereignisse
{(i1; o1), …} der Theorie mit der vorgegebenen Userstory
übereinstimmen muss. Darin drückt sich aus, dass die
Userstory aus Sicht des Usermodells den vorgegebene
Kontext darstellt, analog zur Erde als vorgegebenem
Kontext zu den biologischen Systemen.

Angewendet auf den Ausgangsfall Paläontologie und
Paläobiologie bedeutet dies, man kann die Paläontologie
aus Sicht einer Metatheorie verstehen als eine Userstory,
in der alle Rahmenbedingungen fixiert werden, die man
empirisch fassen kann; die verschiedenen biologischen
Systeme sind dann die identifizierten Akteure, für
die man jeweils Usermodelle konstruieren könnte,
die das Verhalten dieser Akteure in der definierten
Userstory beschreiben. Hier käme die Paläobiologie
ins Spiel, die durch Annahmen über das Genom
und Annahmen über ursächliche Zusammenhänge
zwischen Genom einerseits und Körperbau und
Verhalten andererseits, Beiträge für eine mögliche
Verhaltensfunktion leisten kann. Dazu kämen auch noch
die Vergleiche zwischen den verschiedenen Genomen
bzw. zwischen den verschiedenen Verhaltensfunktionen,
die auf Abhängigkeitsbeziehungen schließen lassen
würden.

Aufgrund der großen Komplexität sowohl bei der
Erstellung der Userstory wie auch der verschiedenen
Usermodelle werden alle dieser Modelle natürlich nur
Annäherungen sein können. Die heute angewendeten Modelle
sind allerdings auch nur Annäherungen, ihnen fehlen
allerdings nahezu alle formalen Eigenschaften, die sie
zu theoretischen Strukturen im Sinne einer empirischen
Theorie machen würden.

B. Simulationsmodelle für Paläontologie mit Paläobiologie

Sofern man sich auf das obige wissenschaftsphilosophisch
motivierte Theorieparadigma einlassen würde, würde sich
relativ schnell ein rein praktisches
Problem ergeben. Schon das Hinschreiben einfacher
Userstories und insbesondere Usermodelle führt sehr
schnell zu einem großen Schreibaufwand. Dieser
immer größere Schreib- und dann auch Lese- und
Ausführungsaufwand verlangt ziemlich direkt nach
computergestützten Verfahren der Simulation.
Dazu bräuchte man mindestens zwei Computerprogramme:
eines, durch das die Eigenschaften und die
Dynamik der Userstory simuliert würden, ein anderes
für die verschiedenen Usermodelle.
Ganz konkret bieten sich für diese Anforderungen
eine Unzahl möglicher Softwareumgebungen an. Für
den Neustart des ’Emerging Mind Projektes’ des INM
ab September 2017 (siehe: [DH17c]) wird zur Zeit mit
folgender Software und Hardware geplant:

  1. Für schnelle, kleine Modellierung wird sowohl das
    freie Mathematikpaket ’scilab’ benutzt (scilab.org)
    wie auch das freie Kreativprogramm ’processing’
    (processing.org).
  2. Für komplexe Anwendung mit Anspruch auf einen
    realistischen Einsatz auch in der realen Welt mit
    realen Robotern wird das Betriebssystem ’ubuntu’
    (ubuntu.com) benutzt und dazu die Middleware
    ’ROS (:= Robotic Operating System)(ros.org).
  3. Als Hardware kann dazu nahezu alles benutzt werden,
    was es gibt, auch eher ältere Geräte. Dies ist
    für Anwendungen im Bereich Schulen (und auch
    Hochschulen) sehr günstig, da es hier meist an
    Geld mangelt (trotz aller Schönwetterparolen der
    Deutschen Politiker).

REFERENCES

  • [DH17a] Gerd Doeben-Henisch. Approaching Hmi. Pages 1–nn, July 2017. Journal: UFFMM, URL: https://uffmm.org/2017/08/03/approaching-hmi/.
  • [DH17b] Gerd Doeben-Henisch. Bootstrapping main concepts, pages 1–nn, July 2017. Journal: UFFMM , URL: uffmm.org.
  • [DH17c] Gerd Doeben-Henisch. Emerging Mind Projekt, pages 1–nn, Sept 2017. Project: INM-EMP, URL: https://www.emerging-mind.org.
  • [DH17d] Gerd Doeben-Henisch. Menschenbild. Vorgeschichte bis zum homo sapiens. Überlegungen Philosophie Jetzt, ISSN 2365-5062, URL: cognitiveagent.org.
  • [Fol98] Robert Foley. The context of human genetic evolution, (8):339–347, 1998. Journal: Genom Research (GR).
  • [Fol10] Robert Foley. Species diversity in human evolution: challenges and opportunities, (60):62–72, 2010. Journal: Transactions of the Royal Society of South Africa, URL: http://dx.doi.org/10.1080/00359190509520479.
  • [HH07] Thorolf Hardt and Winfried Henke. Zur stammesgeschichtlichen Stellung des Homo heidelbergensis, In Günther A. Wagner, Hermann Rieder, Ludwig Zöller, Erich Mick (Hg.), Homo heidelbergensis. Schlüsselfund der Menschheitsgeschichte, SS. 184–202. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart, 2007.
  • [MDSP10] V. Masson-Delmotte, B. Stenni, K. et.al., Pol. Epica dome c record of glacial and interglacial intensities, (29):113–128, 2010. Journal: Quaternary Science Reviews, URL: doi:10.1016/j.quascirev.2009.09.030.
  • [SWW13] Volker Storch, Ulrich Welsch, Michael Wink, (Hg.) Evolutionsbiologie, Springer-Verlag, Berlin – Heidelberg, 3.Aufl., 2013.
  • [Wag07] Günther A. Wagner. Altersbestimmung: Der lange Atem der Menschwerdung, In Günther A. Wagner, Hermann Rieder, Ludwig Zöller, Erich Mick (Hg.), Homo heidelbergensis. Schlüsselfund der Menschheitsgeschichte, SS. 203 -225. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart, 2007.
  • [WD17a] Wikipedia-DE. Altpaläolithikum. 2017.
  • [WD17b] Wikipedia-DE. AnthropozÄn. 2017.
  • [WD17c] Wikipedia-DE. Epipaläolithikum. 2017.
  • [WD17d] Wikipedia-DE. HolozÄn. 2017.
  • [WD17e] Wikipedia-DE. Jungsteinzeit. 2017.
  • [WD17f] Wikipedia-DE. Mesolithikum. 2017.
  • [WD17g] Wikipedia-DE. Milanković-Zyklen. 2017.
  • [ZUH07] Ludwig Zöller, Brigitte Urban, Ulrich Hambach. Klima und Umweltveränderungen während des Eiszeitalters, In Günther A. Wagner, Hermann Rieder, Ludwig Zöller, Erich Mick (Hg.), Homo heidelbergensis. Schlüsselfund der Menschheitsgeschichte, SS. 84–112. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart, 2007.

KONTEXT BLOG

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EARTH 2117 – ERDE 2117 – Erste Gedanken – Simupedia für alle?

KONTEXT

  1. Wie man als Leser des Blogs bemerken kann, fokussiert sich der Blog zur Zeit hauptsächlich auf drei Themenfelder: (i) Die Frage nach der technischen Superintelligenz (TSI); (ii) die Frage nach dem, was der Mensch ist bzw. werden kann, mit der speziellen Teilfrage nach der mystischen Erfahrung (gibt es die? Was sagt dies über den Menschen und die Welt?); sowie (iii) die Frage nach dem möglichen Zustand der Erde im Jahr 2117. Die Zahl 2117 ergab sich u.a. aus den aktuellen Prognosen, zu welchem Zeitpunkt Experten das Auftreten einer technischen Superintelligenz für hoch wahrscheinlich halten. Zu diesen drei Themenfeldern kommen dann noch die möglichen Wechselwirkungen zwischen (i), (ii) und (iii). Andere Themen sind grundsätzlich nicht ausgeschlossen, sind aber bis auf weiteres Nebenthemen.

PROGNOSEN GENERELL

  1. Die Frage nach dem möglichen Zustand der Erde setzt voraus, dass wir den Zustand der Erde als veränderlich ansehen, dass es ein Jetzt gibt, und dass es im jeweiligen Jetzt die Möglichkeit gibt, dass sich Eigenschaften der Erde im Jetzt so verändern, dass es zu einem nachfolgenden Jetzt andere Eigenschaften gibt als beim vorausgehenden Jetzt.

DER MENSCH UND DIE ZEIT

  1. Auf Seiten des Menschen ist es die Erinnerungsfähigkeit, die den Menschen in die Lage versetzt, zwischen einem aktuellen Jetzt und einem vorausgehenden Jetzt zu unterscheiden. Auf Seiten des Menschen sind es weitere kognitive Fähigkeiten, die den Menschen in die Lage versetzen, am Wahrgenommenen und Erinnerten kognitive Eigenschaften zu erfassen (durch Abstrahieren, Klassifizieren, Vergleichen usw.) mit denen sich kognitiv Veränderungen identifizieren lassen. Mittels solcher identifizierten kognitiven Konzepten der Veränderung kann der Mensch von angenommenen (kognitiven) Zuständen auf mögliche (kognitive) Zustände mittels der angenommenen Veränderungskonzepte schließen. Der Mensch ist also grundsätzlich in der Lage, aufgrund von Erfahrungen aus der Vergangenheit im Vergleich zur Gegenwart mögliche Veränderungen zu erschließen, die dann wiederum genutzt werden können, mögliche Zukünfte zu denken.
  2. Natürlich hängt die Qualität solche Hochrechnungen entscheidend davon ab, wie wirklichkeitsnah die Erfahrungen aus der Vergangenheit sind, die Art der Erinnerungen, die möglichen Denkoperationen des Selektierens, Abstrahierens, Vergleichens usw. Wie gut mögliche Veränderungen erfasst wurden, einschließlich der möglichen Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Faktoren.

TECHNISCHE HILFSMITTEL: COMPUTER

  1. Wie der Gang der Wissenschaften und der Technologie uns zeigen kann, können solche möglichen Hochrechnungen deutlich verbessert werden, wenn der Mensch für diese (kognitiven) Denkleistungen als Hilfsmittel formalisierte Sprachen benutzt und Computer, die mittels Algorithmen bestimmte Denkoperationen des Menschen modellhaft nachvollziehen können. Statt also per Hand auf dem Papier umfangreiche Rechnungen viele tausend Male selbst vorzunehmen (wozu in der Realität dann sehr schnell einfach die Zeit und Arbeitskraft fehlt), schreibt man einen Algorithmus (= Programm, Software), der diese Rechnungen für das Arbeiten eines Computers übersetzt und die Maschine dann die Rechnungen automatisch (= maschinell) machen lässt.

BEGRIFF DER ZEIT

  1. Ein nicht unwesentlicher Faktor in diesen Überlegungen zu möglichen Zukünften ist der Begriff der Zeit.
  2. Der Begriff der Zeit ist viel schillernd und je nach Kontext kann er etwas ganz Verschiedenes bedeuten.
  3. Im Kontext des menschlichen Denkens haben wir die grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem aktuellen Jetzt und dem vorausgehenden Jetzt in Form von verfügbaren Erinnerungen. Dazu kommen dann mögliche Jetzte aufgrund der Möglichkeit, im (kognitiven) Denken mittels dem (kognitiven) Konzept von Veränderung, aus der Vergangenheit und der Gegenwart denkbare (= mögliche) neue Zustände zu berechnen (zu denken, vorzustellen, …). Im Denken sind diese möglichen Zustände rein gedacht (virtuell), aber, sofern sie genügend nahe an der empirischen Wirklichkeit sind, könnten diese möglichen Zustände real werden, d.h. Zu einem neuen aktuellen Jetzt.

UHREN-MASCHINEN

  1. Um das Reden über diese unterschiedliche Formen von Jetzten zu vereinfachen, wurde sehr früh das Hilfsmittel der Uhr eingeführt: die Uhr ist eine Maschine, die periodisch Uhren-Ereignisse erzeugt, denen man Zahlzeichen zuordnen kann, also z.B. 1, 2, 3, … Es hat sich dann eingebürgert, ein Zeitsystem zu vereinbaren, bei dem man Jahre unterscheidet, darin 12 Monate, darin Wochen, darin 7 Wochentage, darin 24 Stunden pro Tag, darin 60 Minuten pro Stunde, darin 60 Sekunden pro Minute, und noch feinere Unterteilungen.
  2. Nimmt man an, dass eine Uhren-Maschine periodisch Sekunden erzeugt, dann würde jede Sekunde ein Ereignis angezeigt, dem dann nach 60 Sekunden eine Minute entsprechend würde, 60 Minuten dann eine Stunde, usw.
  3. Sofern man dann noch das praktische Problem lösen kann, wie die Uhren-Maschinen überall auf der Erde die gleiche Zeit anzeigen, und man einen gemeinsamen Referenzpunkt für den Beginn der Zeitrechnung hat, dann könnten alle Menschen nach der gleichen Zeitgebung leben.
  4. Unter Voraussetzung solcher einer Technologie der Zeiterzeugung könnte man dann abstrakt immer von definierten Zeitpunkten in diesem vereinbarten Zeitsystem sprechen.

(TECHNISCHE) SIMULATION

  1. Verfügt man über Computer und Zeit-Maschinen, dann kann man den Computer dazu nutzen, im Raum von definierten Zeitpunkten Hochrechnungen vorzunehmen. Man definiert Ausgangssituationen zu bestimmten Zeitpunkten (die Startzeit), man definiert angenommene mögliche Veränderungen in der Zeit, die man dann in Form eines Algorithmus aufschreibt, und dann lässt man den Computer für einen gewünschten Zeitraum ausrechnen, welche Veränderungen sich ergeben.
  2. Will man z.B. errechnen, wie sich die Bevölkerungszahl in einer bestimmten Population im Laufe von 10 Jahren berechnen, und man weiß aufgrund der Vergangenheit, wie hoch die durchschnittlichen Geburten- und Sterberaten für ein Jahr waren, dann kann man die Veränderungen von Jahr 1 zu Jahr 2 berechnen, dann wieder von Jahr 2 zu Jahr 3, usw. bis man das Zieljahr erreicht hat.
  3. Diese Rechnungen sind natürlich nur solange genau, wie sich die Geburten- und Sterberaten in diesem angenommenen Zeitraum nicht verändern. Wie wir aus der Geschichte wissen können, gibt es zahllose Faktoren, die auftreten können (Hunger, Krankheit, Kriege, …), die eine Veränderung mit sich bringen würden.
  4. Ferner sind Populationen immer seltener isoliert. Der Austausch zwischen Populationen nimmt heute immer mehr zu. Eine ganz normale Gemeinde im Kreis Offenbach (Land Hessen, Deutschland) kann z.B. eine Migrationsrate von 15% pro Jahr haben (Menschen die wegziehen oder herziehen), bei einer Geburtenrate von 0,7% und einer Sterberate von 0,8%. Die Größe einer Population hängt dann weniger vom Geborenwerden und Sterben ab, sondern von Standortfaktoren wie Verfügbarkeit von Arbeit, Höhe der Mietpreise, Verkehrsanbindung, Qualität der Schulen, ärztliche Versorgung usw.

DIE ERDE

  1. Will man nun die Erde als ganze betrachten, und hat man sowohl ein vereinbartes Zeitsystem zur Verfügung basierend auf einer gemeinsamen globalen Uhren-Technologie, wie auch Computer, die geeignete Algorithmen ausführen können, dann braucht man ’nur noch‘ (i) hinreichend gute Beschreibungen des Zustands der Erde jetzt, (Daten IST) (ii) von möglichst vielen Zuständen in der Vergangenheit (DATEN VORHER), und (iii) von möglichst allen wichtigen wirkenden Veränderungen zwischen diesen Zuständen (VREGELN). Unter der Annahme, dass alle diese Daten und Veränderungsregeln hinreichend realistisch sind, kann man dann Hochrechnungen für angenommene Zeiträume machen. In unserem Fall von 2017 bis 2117.
  2. Da schon das kleine Beispiel einer winzigen Gemeinde in Deutschland leicht erkennen lässt, wie fragil viele erkannten Veränderungsregeln sind, kann man vermuten, dass dies auf ein so komplexes System wie die ganze Erde sicher auch zutreffen wird.
  3. Betrachten wir ein paar (stark vereinfachte, idealisierte) Beispiele.
  4. Ganz allgemein gehen wir aus von einer globalen Veränderungsregel V_erde für die Erde, die den Zustand der Erde im Jahr 2017 (ERDE_2017) hochrechnen soll auf den Zustand der Erde im Jahr 2117 (ERDE_2117), als Abbildung geschrieben: V_erde : ERDE_2017 —> ERDE_2117.
  5. Der Zustand der Erde im Jahr 2017 (ERDE_2017) setzt sich zusammen aus einer ganzen Menge von Eigenschaften, die den Zustand charakterisieren. Abstrakt könnten wir sagen, die Erde besteht zu jedem Zeitpunkt aus einer Menge charakteristischer Eigenschaften Ei (ERDE_Zeit = <E1, E2, …, En>), und je nachdem, welche Veränderungen zwischen zwei Zeitpunkten stattgefunden haben, verändern sich in dieser Zeitspanne bestimmte Eigenschaften Ei.
  6. Beispiele für solche charakteristischen Eigenschaften Ei könnten sein das Klima (E_Klima), das wiederum selbst in unterscheidbare Eigenschaften zerfällt wie z.B. die durchschnittliche Sonneneinstrahlung, Beschaffenheit der Atmosphäre, Niederschlagsmenge, Wassertemperatur der Ozeane, Verdunstungsgrad des Wassers, usw. Zusammenhängend damit kann von Bedeutung sein die Bodenbeschaffenheit, verfügbare Anbauflächen, Pflanzenwachstum, mögliche Ernten, usw. Dazu wichtig die Verteilung der biologischen Populationen, deren Nahrungsbedarf, die Wechselwirkung zwischen Populationen und Pflanzenwachstum, usw. Hier fällt einem sofort auch die Frage der Lagerung von Nahrungsmitteln auf, deren Verarbeitung und Transport, deren Verteilung und deren Marktpreise.
  7. Schon diese sehr kleine Liste von Eigenschaften und angedeuteten Wechselwirkungen lassen erahnen, wie unterschiedlich mögliche Verläufe der Veränderungen in der Zukunft sein können. Von Heute aus gesehen gibt es also nie nur eine Zukunft, sondern sehr, sehr viele mögliche Zukünfte. Welche der vielen möglichen Zukünfte tatsächlich eintreten wird, hängt von vielen Faktoren ab, nicht zuletzt auch vom Verhalten der Menschen selbst, also von uns, von jedem von uns. (An diesem Punkt lügt die deutsche Sprache! Sie spricht nur von einer Zukunft im Singular (in der Einzahl), in Wahrheit sind es sehr viele und wir können mit bewirken, welche der vielen Zukünfte eintreten wird).

WARUM ÜBER ZUKUNFT SPEKULIEREN?

  1. Angesichts so vieler Unwägbarkeiten hört man oft von Menschen (speziell auch von Politikern!), dass Versuche der Hochrechnungen (= Simulation) auf mögliche Zukünfte sinnlos seien; eine unnötige Verschwendung von Zeit und damit Ressourcen.
  2. Auf den ersten Blick mag dies tatsächlich so erscheinen. Aber nur auf den ersten Blick.
  3. Der Wert von solchen Modellrechnungen über mögliche Zukünfte liegt weniger im Detail der Endergebnisse, sondern im Erkenntniswert, der dadurch entsteht, dass man überhaupt versucht, wirkende Faktoren und deren Wechselwirkungen mit Blick auf mögliche Veränderungen zu erfassen.
  4. Wie oft hört man Klagen von Menschen und Politikern über mögliche gesellschaftliche Missstände (keine Maßnahmen gegen Autoabgase, falsche Finanzsysteme, falsche Verkehrspolitik, falsche Steuerpolitik, falsche Entwicklungspolitik, fragwürdige Arzneimittelmärkte, …). Vom Klagen alleine ändert sich aber nichts. Durch bloßes Klagen entsteht nicht automatisch ein besseres Verständnis der Zusammenhänge, der Wechselwirkungen. Durch bloßes Klagen gelangt man nicht zu verbesserten Modellvorstellungen, wie es denn überhaupt anders aussehen könnte.

SIMUPEDIA FÜR ALLE

  1. Was die Not zumindest ein wenig lindern könnte, das wären systematische (wissenschaftliche) Recherchen über alle Disziplinen hinweg, die in formalen Modellen aufbereitet werden und dann mittels Algorithmen getestet werden: Was wäre, wenn wir die Eigenschaften E1, …, En einfach mal ändern und hier und dort neue Wirkmechanismen (durch Bildung, durch Gesetze, …) ermöglichen würden? Das Ganze natürlich transparent, öffentlich nachvollziehbar, interaktiv für alle. Nicht nur ein ‚Wikipedia‘ der Texte, sondern zusätzlich  eine Art ‚Simupedia‘ der Simulationen für alle.

Interessante  Ergänzung zu diesen ersten Überlegungen finden sich in den folgenden Beiträgen:  EIN HOMO SAPIENS – VIELE BILDER. Welches ist wahr? ,   WAHRHEIT ALS UNABDINGBARER ROHSTOFF EINER KULTUR DER ZUKUNFTWENN PHILOSOPHISCHE SACHVERHALTE POLITISCH RELEVANT WERDEN  sowie ‚Informelle Kosmologie‘; hier der erste Teil mit einer Fortsetzung Teil 2 .

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DENKEN UND WERTE – DER TREIBSATZ FÜR ZUKÜNFTIGE WELTEN (Teil 1)

  1. In dem Beitrag Digitalisierung und die Religionen vom 9.März 2016 gibt es neben vielen anderen Motiven zwei Motive, die besonders hervortreten: einmal das Momentum (i) kombinatorischer Räume, die gefüllt werden können, und zum anderen (ii) das Momentum der Auswahl, welche Teilräume wie gefüllt werden sollen.

KOMBINATORISCHER RAUM BIOLOGISCHE ZELLE

  1. Im Rahmen der biologischen Evolution auf Zellebene z.B. eröffnet sich der kombinatorische Raum an verschiedenen Stellen. Eine ist jene, wo das Übersetzungsmolekül (das Ribosom) von den gespeicherten potentiellen Informationen (DNA mit ihren Abwandlungen) eine Transformation in andere Moleküle (Proteine) überleitet , mit denen sich neue Zellstrukturen aufbauen lassen. Die Verfügbarkeit dieser Proteine, ihre chemischen Eigenschaften und die Umgebungseigenschaften definieren einen potentiellen kombinatorischen Raum, von dem im konkreten Übersetzungsprozess dann ein bestimmter Teilraum ausgewählt wird.
  2. Aber auch schon der potentielle Informationsspeicher (realisiert mittels DNA-Molekülen) selbst, wie auch seine verschiedenen Transformationsprozesse bis zum Übersetzungsprozess in Proteine repräsentieren ebenfalls kombinatorische Räume, deren Realisierung viel Spielraum zulässt.
  3. Man könnte diese molekülbasierte Informationsspeicherung, diese Transformationen der Moleküle, als eine Urform des Denkens ansehen: Moleküle fungieren als Repräsentanten möglicher Konstruktionsprozesse, und diese Repräsentanten können verändert, rekombiniert werden zu neuen Strukturen, die dann zu neuen Konstruktionsprozessen führen. Man hat also – vereinfacht – ein Funktion der Art repr: M_inf x M_tr x MMprot —> Z, d.h. die Reproduktionsfunktion repr die mittels Molekülen, die als Informationsträger fungieren (M_inf), mittels Molekülen (M_tr), die als Übersetzer fungieren und Molekülen (MM_prot), die als Proteine fungieren können, daraus neue Zellstrukturen entstehen lassen kann.

GELIEHENE PRÄFERENZEN

  1. So wundersam diese Urform des Denkens immer neue kombinatorische Räume strukturell aufspannen und dann im Reproduktionsprozess als reales Strukturen konkretisieren kann, so hilflos und arm ist dieser Mechanismus bei der Beurteilung, Bewertung, welche der möglichen Teilräume denn bevorzugt vor anderen realisiert werden sollten. Soll das Fell weiß oder schwarz sein? Benötigt man überhaupt Zähne? Wozu so komplizierte Hand- und Fingergelenke? Warum tausende Kilometer reisen, um zu brüten? … Die Urform des Denkens ist unfähig, ihre potentielle innere Vielfalt selbständig zu bewerten. Man kann auch sagen, die Urform des Denkens kann zwar kombinieren, ist aber blind wenn es darum geht, gezielt Teilräume auszuwählen, die sich als interessante Kandidaten für das Leben anbieten.
  2. Dabei ist schon die Wortwahl ‚interessante Kandidaten für das Leben‘ problematisch, da der Begriff Leben eine Schöpfung von Lebewesen ist, die viele Milliarden Jahre später erst auftreten und die versuchen im Nachhinein, von außen, durchtränkt von neuen Bedingungen, die zunächst bedeutungsleere Wortmarke Leben mit Bedeutung zu füllen. Die Urform des Denkens verfügt über keinen externen Begriff von Leben und es gibt keine Ingenieure, die der Urform des Denkens zuflüstern können, was sie tun sollen.

MOLEKÜLE ALS INFORMATIONSSPEICHER IMPLIZITE PRÄFERENZEN

  1. Allerdings beinhaltet schon die Urform des Denkens über ein Moment, das außerordentlich ist: jene Moleküle (DNA), die als Speicher potentieller Informationen dienen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt repräsentieren diese Informations-Moleküle einen eng umgrenzten Teilraum eines kombinatorischen Raumes und wirken für den Übersetzungsprozess wie eine Art Anweisung in Form eines Bauplans. Gemessen an dem theoretisch möglichen kombinatorischen Raum stellt der Plan des Informationsmoleküls eine Auswahl dar, eine Selektion und damit zeigt sich hier eine indirekte Präferenz für die Informationen auf dem Molekül vor allen anderen möglichen Informationen. Die Urform des Denkens kann zwar im Prinzip einen riesigen potentiellen kombinatorischen Raum repräsentieren und transformieren, die konkrete Zelle aber repräsentiert in diesem riesigen Raum einen winzigen Teilbereich, mit einem aktuellen Ausgangspunkt – gegeben durch die aktuellen Informationen auf dem Informationsmolekül M_inf – und potentiellen Veränderungsrichtungen – gegeben durch die Transformationsprozesse einschließlich der verfügbaren Materialien und Pannen im Prozess. Anders formuliert, die Informationsmoleküle repräsentieren eine komplexe Koordinate (KK) im kombinatorischen Raum und die Transformationsprozesse (einschließlich Pannen und Materialien) repräsentieren eine Menge von möglichen Veränderungsrichtungen (DD), an deren Endpunkten dann jeweils neue komplexe Koordinaten KK_neu_1, …, KK_neu_n liegen.
  2. Wichtig: eine Zelle enthält über die Informationsmoleküle zwar implizite Präferenzen/ Werte, die die Urform des Denkens steuern, diese Präferenzen werden aber nicht von der Zelle selbst generiert, sondern entstehen aus einem Wechselspiel/ aus einer Interaktion mit der Umgebung! Biologische Strukturen (bis heute nur bekannt auf dem Planeten Erde in unserem Sonnensystem in einem geschützten Bereich der Galaxie Milchstraße des uns bekannten Universums) kommen nie isoliert vor, sondern als Teil einer Umgebung, die über sogenannte freie Energie verfügt.

OHNE ENERGIE GEHT NICHTS

  1. Biologische Zellen sind Gebilde, die für ihre Konstruktion und für ihr Funktionieren solche freie Energie brauchen. Der Umfang ihrer Strukturen wie auch die Dauer ihres Funktionierens hängt direkt und ausschließlich von der Verfügbarkeit solcher freien Energie ab. Bezogen auf den kombinatorischen Raum, der durch die Kombination (Informationsmoleküle, Transformationsmolekül, Bausteine) potentiell gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der notwendigen Fähigkeit zum Finden und Verarbeiten von freier Energie nicht neutral! Definieren wir den potentiellen kombinatorischen Raum PKK für biologische Zellen als Raum für mögliche komplexe Koordination KK (also KK in PKK), dann sind im potentiellen kombinatorischen Raum nur jene Teilräume von Interesse, in denen die biologische Zelle über hinreichende Fähigkeiten verfügt, freie Energie zu finden und zu nutzen. Nennen wir die Gesamtheit dieser interessanten Teilräume PKK+, mit PKK+ subset PKK.

GEBORGTE PRÄFERENZEN

  1. Da die individuelle biologische Zelle selbst über keinerlei explizite Informationen verfügt, wo überall im potentiell kombinatorischen Raum PKK die interessanten Teilräume PKK+ liegen, stellt sie – trotz ihrer eigenen Reproduktionstätigkeit – eher ein passives Element dar, das sich mit geborgten Präferenzen im potentiellen kombinatorischen Raum PKK bewegt, ohne explizit wissen zu können, ob es auf seinem Weg durch den potentiellen kombinatorischen Raum PKK auch tatsächlich auf solche komplexen Koordinaten KK+ stößt, die ihr eine minimale Lebensfähigkeit erlauben.
  2. Da wir vom Jahr 2016 rückwärts blickend wissen, dass diese passiven Elemente es in ca. 4 Mrd Jahren geschafft haben, komplexe Strukturen unvorstellbaren Ausmaßes zu generieren (ein Exemplar des homo sapiens soll z.B. ca. 37 Billionen Körperzellen haben (davon ca. 100 Mrd als Gehirnzellen), dazu ca. 200 Billionen Bakterien in seinem Körper plus ca. 220 Milliarden auf seiner Haut (siehe dazu Kegel-Review Doeben-Henisch), muss man konstatieren, dass die permanente Interaktion zwischen biologischer Zelle und ihrer Umgebung offensichtlich in der Lage war, all diese wichtigen Informationen PKK+ im potentiellen kombinatorischen Raum PKK zu finden und zu nutzen!
  3. Für die Frage der potentiellen Präferenzen/ Werte gilt für diesen gesamten Zeitraum, dass sich die implizit gespeicherten Präferenzen nur dadurch bilden konnten, dass bestimmte generierte Strukturen (M_inf, M_tr, MM_prot) sich immer von einer positiven komplexen Koordinate zur nächsten positiven Koordinate bewegen konnten. Dadurch konnten die gespeicherten Informationen kumulieren. Aus der Evolutionsgeschichte wissen wir, dass ein Exemplar des homo sapiens im Jahr 2016 eine Erfolgsspur von fast 4 Mrd Jahren repräsentiert, während in diesem Zeitraum eine unfassbar große Zahl von zig Mrd anderen generierte Strukturen (M_inf, M_tr, MM_prot) irgendwann auf eine negative komplexe Koordinate KK- geraten sind. Das war ihr Ende.

ERHÖHUNG DER ERFOLGSWAHRSCHEINLICHKEIT

  1. Für den Zeitraum bis zum Auftreten des homo sapiens müssen wir konstatieren, dass es Präferenzen/ Werte für ein biologisches System nur implizit geben konnte, als Erinnerung an einen erreichten Erfolg im Kampf um freie Energie. Unter Voraussetzung, dass die umgebende Erde einigermaßen konstant war, war die Wahrscheinlichkeit, von einer positiven Koordinate KK+ zu einer weiteren komplexen Koordinate KK+ zu kommen um ein Vielfaches höher als wenn das biologische System nur rein zufällig hätte suchen müssen. Die gespeicherten Informationen in den Informationsmolekülen M_inf stellen somit sowohl erste Abstraktionen von potentiellen Eigenschaften wie auch von Prozessen dar. Damit war es Anfangshaft möglich, die impliziten Gesetzmäßigkeiten der umgebenden Welt zu erkennen und zu nutzen.

URSPRUNG VON WERTEN

  1. Es fragt sich, ob man damit einen ersten Ort, einen ersten Ursprung potentieller Werte identifizieren kann.
  2. Vom Ergebnis her, von den überlebensfähigen biologischen Strukturen her, repräsentieren diese einen partiellen Erfolg von Energienutzung entgegen der Entropie, ein Erfolg, der sich in der Existenz von Populationen von solchen erfolgreichen Strukturen als eine Erfolgsspur darstellt. Aber sie alleine bilden nur die halbe Geschichte. Ohne die umgebende Erde (im Sonnensystem, in der Galaxie…), wäre dieser Erfolg nicht möglich. Andererseits, die umgebende Erde ohne die biologischen Strukturen lässt aus sich heraus nicht erkennen, dass solche biologische Strukturen möglich noch wahrscheinlich sind. Bis heute ist die Physik mehr oder weniger sprachlos, wirkt sie wie paralysiert, da sie mit ihren bisherigen (trotz aller mathematischen Komplexität weitgehend naiven) Modellen nicht einmal ansatzweise in der Lage ist, die Entstehung dieser biologischen Strukturen zu erklären. Von daher müssen wir fordern, dass die umgebende Erde — letztlich aber das gesamte bekannte Universum — die andere Hälfte des Erfolgs darstellt; nur beide zusammen geben das ganze Phänomen. In diesem Fall würde ein reduktiver Ansatz nicht vereinfachen, sondern das Phänomen selbst zerstören!

ONTOLOGISCHE GELTUNG VON BEZIEHUNGEN

  1. Dies führt zu einem bis heute ungeklärten philosophischen Problem der ontologischen Geltung von Funktionen. In der Mathematik sind Funktionen die Grundbausteine von allem, und alle Naturwissenschaften wären ohne den Funktionsbegriff aufgeschmissen. Eine Funktion beschreibt eine Beziehung zwischen unterschiedlichen Elementen. In der Mathematik gehören diese Elemente in der Regel irgendwelchen Mengen an, die einfach unterstellt werden. Wendet man das mathematische Konzept Funktion auf die empirische Wirklichkeit an, dann kann man damit wunderbar Beziehungen beschreiben, hat aber ein Problem, die in der Mathematik unterstellten Mengen in der Realität direkt erkennen zu können; man muss sie hypothetisch unterstellen. Was man direkt beobachten und messen kann sind nicht die funktionalen Beziehungen selbst, sondern nur isolierte Ereignisse in der Zeit, die der Beobachter in seinem Kopf (Gehirn, Gehirnzellen…) verknüpft zu potentiellen Beziehungen, die dann, wenn sie sich hinreichend oft wiederholen, als gegebener empirischer Zusammenhang angenommen werden. Was ist jetzt empirisch real: nur die auslösenden konkreten individuellen Ereignisse oder das in der Zeit geordnete Nacheinander dieser Ereignisse? Da wir ja die einzelnen Ereignisse protokollieren können, können wir sagen, dass auch das Auftreten in der Zeit selbst empirisch ist. Nicht empirisch ist die Zuordnung dieser protokollierten Ereignisse zu einem bestimmten gedachten Muster/ Schema/ Modell, das wir zur gedanklichen Interpretation benutzen. Die gleichen Ereignisse lassen in der Regel eine Vielzahl von unterschiedlichen Mustern zu. Einigen wir uns kurzfristig mal auf ein bestimmtes Muster, auf den Zusammenhang R(X, …, Z), d.h. zwischen den Ereignissen X, …, Z gibt es eine Beziehung R.
  2. Biologische Systeme ohne Gehirn konnten solche Relationen in ihrem Informations-Moleküle zwar speichern, aber nicht gedanklich variieren. Wenn die Beziehung R stimmen würde, dann würde sie zur nächsten positiven komplexen Koordinate KK+ führen, was R im Nachhinein bestätigen würde; wenn R aber zu einer negativen komplexen Koordinate KK- führen würde, dann war dies im Nachhinein eine Widerlegung, die nicht mehr korrigierbar ist, weil das System selbst verschwunden (ausgestorben) ist.
  3. Im Gehirn des homo sapiens können wir ein Beziehungsmuster R(X, …, Z) denken und können es praktisch ausprobieren. In vielen Fällen kann solch ein Interpretationsversuch scheitern, weil das Muster sich nicht reproduzieren lässt, und in den meisten solchen Fällen stirbt der Beobachter nicht, sondern hat die Chance, andere Muster R‘ auszuprobieren. Über Versuch und Irrtum kann er so – möglicherweise irgendwann – jene Beziehung R+ finden, die sich hinreichend bestätigt.
  4. Wenn wir solch ein positiv bestätigtes Beziehungsmuster R+ haben, was ist dann? Können wir dann sagen, dass nicht nur die beteiligten empirischen Ereignisse empirisch real sind, sondern auch das Beziehungsmuster R+ selbst? Tatsächlich ist es ja so, dass es nicht die einzelnen empirischen Ereignisse als solche sind, die wir interessant finden, sondern nur und ausschließlich die Beziehungsmuster R+, innerhalb deren sie uns erscheinen.
  5. In der Wechselwirkung zwischen umgebender Erde und den Molekülen ergab sich ein Beziehungsmuster R+_zelle, das wir biologische Zelle nennen. Die einzelnen Elemente des Musters sind nicht uninteressant, aber das wirklich frappierende ist das Beziehungsmuster selbst, die Art und Weise, wie die Elemente kooperieren. Will man dieses Beziehungsmuster nicht wegreden, dann manifestiert sich in diesem Beziehungsmuster R+_zelle ein Stück möglicher und realer empirisches Wirklichkeit, das sich nicht auf seine Bestandteile reduzieren lässt. Es ist genau umgekehrt, man versteht die Bestandteile (die vielen Milliarden Moleküle) eigentlich nur dadurch, dass man sieht, in welchen Beziehungsmustern sie auftreten können.
  6. Vor diesem Hintergrund plädiere ich hier dafür, die empirisch validierten Beziehungsmuster als eigenständige empirische Objekte zu betrachten, sozusagen Objekte einer höheren Ordnung, denen damit eine ontologische Geltung zukommt und die damit etwas über die Struktur der Welt aussagen.
  7. Zurück zur Frage der Präferenzen/ Werte bedeutet dies, dass man weder an der Welt als solcher ohne die biologischen Systeme noch an den biologischen Strukturen als solche ohne die Welt irgendwelche Präferenzen erkennen kann. In der Wechselwirkung zwischen Erde und biologischen Strukturen unter Einbeziehung einer Irreversibilität (Zeit) werden aber indirekt Präferenzen sichtbar als jener Pfad im potentiellen Möglichkeitsraum der komplexen Koordinaten KK, der die Existenz biologischer Systeme bislang gesichert hat.
  8. Dieser Sachverhalt ist für einen potentiellen Beobachter unaufdringlich. Wenn der Beobachter nicht hinschauen will, wenn er wegschaut, kann er diesen Zusammenhang nicht erkennen. Wenn der Beobachter aber hinschaut und anfängt, die einzelnen Ereignisse zu sortieren und versucht, aktiv Beziehungsmuster am Beispiel der beobachteten Ereignispunkte auszuprobieren (was z.B. die Evolutionsbiologie tut), dann kann man diese Strukturen und Prozesse erkennen, und dann kann man als Beobachter Anfangshaft begreifen, dass hier ein Beziehungsmuster R+_zelle vorliegt, das etwas ganz Außerordentliches, ja Einzigartiges im ganzen bekannten Universum darstellt.

Keine direkte, aber eine indirekte, Fortsetzung könnte man in diesem Beitrag sehen.

Einen Überblick von allen Beiträgen des Autors cagent in diese Blog nach Titeln findet sich HIER.

PHILOSOPHIESOMMER 2016 IN DER DENKBAR FRANKFURT

Alltag, Visionen der Wissenschaft, und die antike Philosophie: müssen hier Köpfe rollen oder gibt es neue gedankliche Fusion?

Sind Sie neugierig, oder meinen Sie, etwas beitragen zu können?

Kommen Sie dazu.

Geben Sie ihrer Eitelkeit drei Stunden Urlaub und lassen Sie zu, dass Sie in der Andersartigkeit vielleicht etwas Neues entdecken.

ORT:

DENKBAR Frankfurt
Spohrstrasse 46a

(Achtung: Parken schwierig! Man muss wirklich im Umfeld suchen)

PROGRAMMFORMAT

Moderation: Gerd Doeben-Henisch

16:00 Begrüßung

16:05 Kleine Performance aus dem PHILOSOPHY-IN-CONCERT Experiment

16:15 Eingangsüberlegungen

16:30 Erste offene Gesprächsrunde (simultan Erstellung eines Begriffsnetzwerkes)

17:30 Blubberpause (Jeder kann mit jedem reden; Essen und Trinken)

18:00 Zweite offene Gesprächsrunde (simultan Erstellung eines Begriffsnetzwerkes)

18:45 Schlussstatements

19:00 Ende

Langsames Wegdiffundieren der Teilnehmer ….

ERINNERUNGEN…

In der Regel erscheint im Anschluss an eine Sitzung ein Bericht im Blog cognitiveagent.org, der auch Gelegenheit bietet, sich durch Kommentare oder eigene Beiträge an der Diskussion zu beteiligen.

INHALTLICHE LINIE

Da der Gesprächsprozess – abhängig von den Teilnehmern! – seine eigene Dynamik gewinnt, lässt sich keine genaue Prognose für alle kommenden Themen geben.

Das Rezept für den Start orientiert sich einmal an unseren alltäglichen Erfahrung einer Menschheit im Fiebertaumel zwischen Gewalt, Krieg, Katastrophen auf der einen Seite, eingespannt in ein umfassendes Räderwerk von Wirtschaft, Verwaltungen, Medienströmen, Politikbetrieb, Anwachsen von ‚tiefem Staat‘ mit mittlerweile grenzenloser Überwachung andererseits; dazu eine scheinbar entfesselte Wissenschaft, die – abgeschottet von der Öffentlichkeit – immer neue Details der Materie enthüllt, den Menschen als biochemische Masse sieht, deren Tage gezählt sind, und in automatisierten Produktionsprozessen denkt, die mit bekannten Wertesystemen kaum noch etwas zu tun haben. Und dann, man wagt es kaum zu sagen, gab es einen alten, sehr alten Philosophen, der mindestens 1800 Jahre lang das Denken In ganz Europa (Westen wie Osten; christliche Theologie genauso wie die islamische Theologie!) geprägt hat, Aristoteles, der heute auf allen Gebieten als abgeschrieben gelten kann. Und doch, schaut man sich die großen Lücken an, die die moderne Wissenschaft mit sich herumschleppt, kann man ins Grübeln kommen. Die Zukunft ist niemals einfach nur die Wiederholung des Gestern. Aber sie ist auch niemals das total ganz andere. Die biologische Evolution praktiziert das Modell der Zähmung des Zufalls durch Erinnerung; das Ergebnis nach ca. 4 Mrd Jahren sind u.a. wir, der homo sapiens. Es ist schwer zu verstehen, bis heute. Manche wollen es auch gar nicht verstehen…

ARCHIV

Wer sich für die bisherigen philosophischen Gespräche unter der Überschrift ‚Philosophiewerkstatt‘ interessiert, ist eingeladen, die Erinnerungsseite zu besuchen. Hier gibt es Berichte von den zurückliegenden Diskursen.

K.G.DENBIGH: AN INVENTIVE UNIVERSE – Relektüre – Teil 1b – Homo sapiens als Zeitmaschine

K.G.Denbigh (1975), „An Inventive Universe“, London: Hutchinson & Co.

RÜCKBLICK

1. Dies ist eine direkte Fortsetzung von Teil 1 der Relektüre von Kenneth George Denbighs Buch „An Inventive Universe“.

2. Wie jeder sofort feststellen kann, der das erste Kapitel von diesem Buch direkt liest, habe ich bislang eigentlich weniger die Position von Denbigh selbst dargestellt als vielmehr meine eigenen Gedanken, die die Lektüre in mir angestoßen hatten. Daher soll hier, der Vollständigkeit halbe, eine Skizze der Position von Denbigh nachgeholt werden.

MULTIDISZIPLINÄR

3. Das Faszinierende an diesem ersten Kapitel mit dem Titel ‚Konstruktion der Zeit‘ ist, dass Denbigh als Theoretiker der Thermodynamik hier auch Erfahrungsbereiche zu Wort kommen lässt, die abseits der Physik liegen: Alltagserfahrung, Entwicklungspsychologie und Philosophie. Diese setzt er dann mit den Erkenntnissen der Physik in Beziehung.

ALLTAGSERFAHRUNG

4. Im Komplex Alltagserfahrung, der sich mit den philosophischen Erkenntnissen überlappt, geht es um Phänomene wie ‚Konstanz‘, ‚durchhaltende Identität‘ (’sameness‘), ’sukzessiver Charakter‘ der Ereignisse, ’nicht umkehrbar‘, ‚Vorher – Nachher‘, ‚Erinnerbarkeit‘ sowie ‚Gegenwart (= Jetzt), Vergangenheit, Zukunft‘.

5. Vor diesem Hintergrund erscheint die Wirklichkeit veränderlich, mit einer Richtung, die nicht umkehrbar ist. Was immer einmal passiert ist, gegenwärtig ist, jetzt präsent ist, es wird im Gedächtnis aufbewahrt als ’schon mal passiert‘ und damit als ‚vergangen‘. Das ‚Vergangene‘ ist das ‚Erinnerbare‘, ‚Vorstellbare‘, das gedachte Virtuelle, und das ‚Jetzt‘ ist das qualitativ andere, besondere, gegenwärtig Reale. Obwohl der Augenblick als solcher ‚ewig‘ und ‚unendlich‘ erscheint, ist er mit Bezug auf das Erinnerbare punktuell, begrenzt, endlich.

6. Schwierig ist zu sagen, was das ‚Zukünftige‘ ist: sofern es noch nicht passiert ist, ist es nicht erinnerbar, aber auch nicht gegenwärtig.

ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGIE

7. Aus Sicht der Entwicklungspsychologie (er erwähntJean Piaget (1896 – 1980)) sind die Zeitbegriffe nicht von Anfang an für einen Menschen verfügbar. Er muss sie lernen. Dazu gehört die Erfahrung der ‚Ko-Existenz‘ von Objekten, ihre ‚Fortdauer‘, die Asymmetrie und Transitivität von Vorher- und Nachher-Beziehungen oder der interpretative Charakter von Beziehungen zwischen A und B: verursacht A das B oder umgekehrt?

PHILOSOPHIE

8. In der Philosophie identifiziert er zwei Meinungsgruppen: die A-Theoretiker (erwähnt werden C.D.Broad, A.N.Prior) benutzen als Basis die Begriffe ‚Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft‘ mit der Zusatzannahme, dass sich diese Begriffe dynamisch verschieben, da sich die Gegenwart verschiebt. Was gerade noch Gegenwart war, das ist jetzt Vergangenheit.

9. Die B-Thoretiker (erwähnt werden H.Weyl, B.Russel, A.Grünbaum, J.J.C.Smart) benutzen die Beziehung ‚Vorher-Nachher‘ und gehen davon aus, dass alle Ereignisse ‚gleich real‘ sind; unabhängig vom Bewusstsein gibt es keine Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Diese Position erscheint damit bezüglich der Zeit als ’statisch‘.

PHYSIK

10. Diese philosophischen Positionen spiegeln auch ein wenig die Positionen in der Physik wieder: einerseits gibt es Theorien (Newtonsche Mechanik, Quantenmechanik, Elektromagnetismus), die invariant sind bezüglich der Zeit (Prozesse sind umkehrbar; die Zeit-variable kann ohne Einschränkung als ‚+t‘ oder als ‚-t‘ benutzt werden); dann gibt es aber auch Theorien (Thermodynamik, statistische Thermodynamik, Wellentheorie), die sich auf Prozesse beziehen, die nicht invariant sind bezüglich der Zeit, da sie (nach bisherigen empirischen Feststellungen) unumkehrbar sind.

11. Was ist jetzt wahr? Gibt es unterschiedliche physikalische Wahrheiten?

GERICHTETHEIT DER ZEIT

12. Denbigh bietet folgende Gedanken an: Da es ja tatsächlich empirische Prozesse gibt (im kleinen wie auch im kosmischen Maßstab), die nicht zeitinvariant sind, können die zeitinvarianten Theorien nicht allgemeingültig sein. Tatsächlich ist es auch so, dass bei Anwendung von zeitinvarianten Modellen jeweilige Startbedingungen (Anwendungsbedingungen, ‚boundary conditions‘) berücksichtigt werden müssen. Damit eine Folge von Zuständen (S0, …, Si, …, Sn) in beide Richtungen gerechnet werden kann, müssen bestimmte Annahmen gemacht werden. Und er vermutet, dass es diese Annahmen sind, die die Invarianz soweit modifizieren, dass sie letztlich aufgehoben ist. Er sieht hier einen ‚Mangel an Symmetrie‘ (‚lack of symmetry‘), was dann auf ein Argument für die ‚Gerichtetheit der Zeit‘ hinausläuft.

13. Vor diesem Hintergrund sieht es Denbigh auch als ein indirektes Argument für die Gerichtetheit der Naturprozesse an, dass die komplexe menschliche Zeitwahrnehmung (Zusammenspiel von aktueller Wahrnehmung und Gedächtnis für Vergangenes) ja nicht aus dem Nichts kommt, sondern ein Produkt der biologischen Evolution ist, die speziell jene Eigenschaften in einem biologischen Organismus fördert, die den Eigenschaften des Naturprozesses möglichst nahe kommen. In der menschlichen Wahrnehmung gibt es eine quasi eingebaute Richtung in den Ereignissen. Dazu kommt, dass biologische Prozesse auf allen Ebenen (phylogenetisch, ontogenetisch und als Erhaltung des Gleichgewichts) gerichtete Prozesse sind.

14. Für Denbigh ist das Phänomen des Bewusstseins in diesem Kontext eindeutig ein natürliches Phänomen, ein Teil der Natur. (vgl. S.43,44)

DISKUSSION

15. Am Ende des ersten Kapitels zur ‚Konstruktion der Zeit‘ überwiegen die Argumente (subjektiv wie objektiv), dass die zeitliche Dimension als ‚gerichtet‘ erscheint, als ’nicht umkehrbar‘.

Physikalisch gibt es keine Zeit

16. Ferner ist auch deutlich, dass es wenig Sinn macht, unabhängig vom Menschen über Zeit zu sprechen, da Zeit nicht als direktes physikalisches Objekt vorkommt. Physikalisch gesehen ‚existiert‘ die Zeit nicht, sie kommt nicht vor, sie ist letztlich nicht messbar. Was wir messen sind unsere eigenen ‚Uhren‘, die wir gebaut haben, um Ereignissen Uhrenereignisse zuzuordnen, mit deren Hilfe wir indirekt Naturvorgänge ‚messen‘. Weder die Uhrenereignisse als solche noch das, was wir da messen, ist ein originärer physikalischer Gegenstand.

17. Mindestens der homo sapiens als biologisches Wesen wurde im Laufe von vielen Milliarden Jahren Entwicklungszeit so ‚ausgelegt‘, dass er die aktuelle Wahrnehmung (Jetzt, Gegenwart) mit Hilfe eines verbundenen Gedächtnisses ‚übersteigen’/ ‚überwinden’/ ‚transzendieren‘ kann, indem er aktuelle Ereignisse ’speichern‘ und dann wieder ‚aufrufen’/ ‚erinnern‘ kann. Damit wird die aktuelle Gegenwart sichtbar als das ‚Element‘ einer ‚Folge‘ von Ereignissen‘, die sich idealisiert als eine ‚Vorher-Nachher‘ Folge konstruieren lässt. Alles, was nicht Gegenwart ist, ist Vergangenheit. Mit dem Vorher-Nachher ist die Folge gerichtet. Das biologische System homo-sapiens ist also so gebaut, dass es alle Ereignisse als ‚gerichtet‘ wahrnimmt.

Homo sapiens als Zeitmaschine

18. Man kann also sagen, dass mindestens das biologische System Homo sapiens insofern eine ‚Zeitmaschine‘ ist: der Homo sapiens transformiert die Naturereignisse ‚automatisch’/ ‚unbewusst‘, ‚vor-bewusst‘ in eine gerichtete Ordnung, die er dann als ‚Zeit‘ ‚empfindet’/ ‚wahrnimmt‘. So gesehen gibt es Zeit nicht in der Natur als solcher sondern erst in der ‚Zeitmaschine‘ Homo sapiens, die wie ein spezieller komplexer Sensor für ‚Gerichtetheit der Ereignisse‘ wirkt. Ohne den Homo sapiens gibt es keine Zeit; es gibt nur Prozesse, die man physikalisch als ‚physikalisch gerichtet‘ charakterisieren könnte. Die Ereignisse selbst haben aber keine ‚Zeitwahrnehmung‘ und unabhängig von diesen Prozessen gibt es keine Instanz, die sich explizit mit dieser ‚Gerichtetheit‘ beschäftigt. Die Gerichtetheit liegt ‚im Prozess‘, nicht mehr.

19. Tatsächlich kommt beim Homo sapiens als Zeitmaschine noch ein weiteres Moment hinzu, das wichtig ist. Mit der aktuellen Wahrnehmung und dem Gedächtnis für vergangenes Aktuelles ist zwar das ‚Fundament‘ für eine Wahrnehmung von ‚Zeit‘ gegeben, aber erst mit der zusätzlichen ’symbolischen Repräsentation‘ von aktuellen wie erinnerten Ereignissen gewinnt diese grundlegende Fähigkeit ihre volle Bedeutung. Aufgrund des sehr beschränkten Arbeitsgedächtnisses des Homo sapiens kann er komplexere Sachverhalte nur dann sichtbar machen, erkennen und denken, wenn er es schafft, diese mit Hilfe einer Sprache (Zeichen, Gesten, Symbole, …) für sich selbst und für andere zu repräsentieren. Allein schon die Einführung von Zahlzeichen für größere Mengen von Gegenständen war eine deutliche Erweiterung seiner Erkenntnis- und Kommunikationsfähigkeit.

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QUELLEN

1. Kenneth George Denbigh (1965 – 2004), Mitglied der Royal Society London seit 1965 (siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Fellows_of_the_Royal_Society_D,E,F). Er war Professor an verschiedenen Universitäten (Cambridge, Edinburgh, London); sein Hauptgebet war die Thermodynamik. Neben vielen Fachartikeln u.a. Bücher mit den Themen ‚Principles of Chemical Equilibrium, ‚Thermodynamics of th Steady State‘ sowie ‚An Inventive Universe‘.

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