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WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 4

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgt dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte.

KAPITEL 3 (SS.51-67)

Philosophische Wurzeln des Begriffs 'Menschenwürde' nach P.Tiedemann (2014), Kap.3
Philosophische Wurzeln des Begriffs ‚Menschenwürde‘ nach P.Tiedemann (2014), Kap.3

1. Bei der Lektüre diese Kapitels scheinen zwei Grundsätze leitend zu sein: (i) der juristische Begriff der ‚Menschenwürde‘ hat nach Paul Tiedemann innerhalb Europas eine philosophische Herkunft, und (ii) sofern der Jurist keine ‚Legaldefinitionen‘ vorfindet, die ihn binden, sollte er sich in seiner Auslegung der Bedeutung an diese philosophische Wurzeln halten. (vgl. S.51)

2. Dies könnte stutzig machen. Denn wenn (ii) stimmt, dann bedeutet dies, dass das Rechtssystem in einem Land die Autonomie besitzt, die Verwendung von Begriffen gegenüber der Vergangenheit zu ändern. Wenn dem so ist, dann erscheint die Rückfrage in eine mögliche philosophische Tradition nicht mehr zwingend. Warum sollte man dies tun?

3. Bejaht man (ii), dann erscheint (i) fraglich. Bejaht man die Notwendigkeit von (i), dann muss man (ii) zumindest mit einem Fragezeichen versehen. Ein Fragezeichen in dem Sinne, dass die ‚Legalität‘ als solche noch nichts über einen möglichen ‚Wahrheitsbezug‘ aussagt noch etwas über eine mögliche ’sachliche Angemessenheit‘. Wie die deutsche Geschichte (und nicht nur diese) zeigt, können legale Gesetze in hohem Maße unmenschliche, tödliche, und zerstörerische Handlungen decken.

4. Liest man das folgende dritte Kapitel, dann scheint der Autor Taul Tiedemann eher letzterer Interpretation zuzuneigen.

5. Bei seinem Ausflug in die Philosophiegeschichte folgt Paul Tiedemann dem zuvor eingeführten Begriffspaar ‚autonomisch‘ und ‚heteronomisch‘.

6. Bedenkt man, wie viele Schriften es gibt, erscheint der Aufweis von gerade mal jeweils drei Positionen für jede Richtung wenig, wenngleich die zitierten Positionen ’schwergewichtig‘ sind.

AUTONOMISCH

7. Nach dem zuvor entwickelten ‚Vorverständnis‘ basiert die ‚autonomische‘ Position auf einer Eigenschaft, die dem Menschen qua Menschen zukommt, vorab zu allen anderen Wertungspositionen und Rechtsansprüchen. Bei Augustinus und Pico della Mirandola ist es die grundlegende Fähigkeit zur Wahl, die als solche eine grundlegende Freiheit – und damit ‚Würde‘ – repräsentiert. Während Augustinus diese Wahl festschreibt als Wahl zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘, ist es bei Mirandola einfach die Freiheit, etwas ‚Neues‘ zu schaffen, was bislang noch nicht da war. Bei Kant radikalisiert sich diese Position durch sein erkenntniskritischen Sichtungen und er sieht dann nur noch das Faktum der Vernunft als solcher als Quelle möglicher nicht-kontingenter Erkenntnisse. Letztlich ist es dann auch diese Autonomie der Vernunft und ihre Entscheidungsfähigkeit, die allem anderen voraus liegt.

HETERONOMISCH

8. Nach dem bisherigen Vorverständnis definiert sich die heteronomische Position über eine Relativierung der individuellen Würde durch Rückbeziehung auf etwas ‚Anderes‘ (‚Heteronomes‘). In der Stoa ist es die vorgegebene Ordnung, die sich aus dem Logos ergibt und an der der menschliche Geist Anteil hat; diese soll gegenüber der Triebwelt umgesetzt werden.

9. In der christlichen Theologie (wie weit ist dies ‚philosophisch‘?) ist es ‚Gott‘, der mit den geoffenbarten ‚Geboten‘ eine Ordnung erkennen lässt, der sich der Mensch ‚anzugleichen‘ hat. Damit trägt der Mensch seiner Stellung als ‚Geschöpf‘ Rechnung: im rechten Gebrauch seiner Wahlfreiheit wird die ‚Ebenbildlichkeit‘ zu Gott real. Trotz geschenkter Gottesähnlichkeit darf der Mensch aber bestraft werden – bis hin zum Tode –, wenn er seine Wahlmöglichkeiten nicht in der rechten Weise wahrnimmt.

10. Im naturalistischen Naturrecht, das man als historische Antwort auf die vorausgehenden blutigen Religionskriege verstehen kann, wird die Würde zwar auch in der grundlegenden Wahlmöglichkeit des Menschen angesiedelt, aber anstatt diese Wahlmöglichkeit an einem göttlichen Gebot zu messen, wird dieses rückgebunden an die vorgegebene Gemeinschaft: zwar muss die Gemeinschaft das Individuum achten, aber das Individuum hat keine absoluten Rechte gegenüber der Gemeinschaft.

NEGATIVE SCHLUSSFOLGERUNGEN VON PAUL TIEDEMANN

11. Bedenkt man, dass der Ausflug in die philosophische Vergangenheit des Begriffs ‚Menschenwürde‘ von Paul Tiedemann damit motiviert worden war, dass die aktuelle Diskussion mit ihren unterschiedlichen Interpretationsstandpunkten widersprüchlich, verwirrend erscheint, so wird man zusammen mit ihm auch enttäuscht sein können, dass auch dieser Ausflug mit einer Verwirrtheit endet: für Paul Tiedemann erscheint eine Verknüpfung zwischen der autonomischen und der heteronomischen Position zu einer einzigen Position ‚unmöglich‘. „Beide Konzepte stehen zueinander im Widerspruch“. (S.66)

12. Tiedemann diagnostiziert, dass der Begriff der ‚Menschenwürde‘ nicht ‚ambivalent‘ sei, sondern ‚mehrdeutig‘, und in dieser Mehrdeutigkeit stehen sie ‚unversöhnlich nebeneinander‘. (vgl. S.66)

DISKUSSION

13. Eine umfassendere Diskussion soll zwar erst es am Schluss dieser reflektierenden Lektüre erfolgen, doch hier wiederum ein paar erste Gedanken.

14. Für mich ist die Abgrenzung von einer ‚ambivalenten‘ Bedeutung zu einer ‚mehrdeutigen, widersprüchlichen‘ Bedeutung nicht zwingend; aber vielleicht ist dies hier auch nicht so wichtig. Entscheidend erscheint jedenfalls für Paul Tiedemann das Faktum zu sein, dass die von ihm identifizierten ‚Bedeutungen‘ widersprüchlich sind.

15. Dieser identifizierte Widerspruch wird darin lokalisiert, dass die autonomische Position auf eine allgemeine Eigenschaft des Menschen rekurriert, die ihm als Mensch zukommt, vor allem anderen und die ‚aus sich heraus‘ eine Würde konstituiert, die durch nichts anderes in Frage gestellt werden kann.

16. Demgegenüber sieht die heteronomische Position im Kontext des Individuums eine Ordnung, die zum Individuum mindestens gleichwertig ist und die aus diesem Grund eine Beachtung verlangt. Die ‚wahre Sittlichkeit‘ zeigt sich dann daran, dass das Individuum seine grundlegende Wahlmöglichkeit im ‚Einklang‘ mit dieser vorfindlichen Ordnung ausübt.

17. Aus Sicht der autonomen Position bietet die Anerkennung einer verbindlichen Ordnung im Kontext des Individuums die Gefahr, dass die grundlegende Wahlfreiheit zerstört wird (falls die erkannte Ordnung ‚falsch‘ sein sollte). Aus Sicht der heteronomischen Position hingegen bietet die autonomische Position die Gefahr, dass die Willkürlichkeit (= Wahl ohne Verpflichtung) jedwede bestehende Ordnung zerstören kann.

18. Bei Mirandola gibt es den Hinweis auf das ‚Neue‘, was jeder Mensch schaffen kann, etwas, das es bislang noch nicht gegeben hat. Und die Geschichte der letzten Jahrtausende – sofern sie uns bekannt wurde – legt den Schluss nahe, dass nicht nur die Natur als Ganze (letztlich das ganze bekannte Universum) ‚im Werden‘ begriffen ist, d.h. beständig ‚Altes vergeht‘, ‚Altes zerstört wird‘, damit das ‚Neue‘, das ‚Leben‘ entstehen konnte und entsteht. Zwar spricht man auch oft von ‚der Ordnung der Natur‘, diese ‚Ordnung‘ ist aber keine ’statische‘ Ordnung sondern – wie wir heute wissen können – ein dynamischer Prozess, dessen ‚Gesetze‘ das ‚Unvorhersehbare‘ mit einschließen.

19. Bedenkt man nun, dass das menschliche Individuum ja ein ‚Teil‘ dieses Prozesses ist, und zwar ein ‚gewordener‘ Teil, ein ’noch nicht abgeschlossener‘ Teil, dann fällt es schwer, nachzuvollziehen, warum eine – historisch – punktuelle Eigenschaft an einem einzelnen Individuum einen ‚absoluten‘ Wert haben soll. Ohne ‚Kontext‘ gibt es dieses Individuum überhaupt nicht und ohne Kontext ist dieses Individuum gar nicht verständlich. Wie wir wissen können, besteht ein sogenanntes Individuum aus mehr als 4 Billionen Zellen, die permanent mit weiteren zig Billionen anderen Zellen kooperieren, die wiederum eingebettet sind in diesen gigantischen Prozess genannt Natur, so dass es fast willkürlich erscheint, einem winzigen Ausschnitt aus diesem ganzen ‚Wunderwerk‘ eine spezielle abgehobene Stellung zuzusprechen.

20. Allerdings, und dieser Punkt wird sehr selten beachtet, folgt aus dieser scheinbaren ‚Einebnung‘ eines menschlichen Individuums NICHT – wie Kant und viele andere es unterstellen –, dass dies auf eine Beliebigkeit hinauslaufe, die ein ernsthaftes sittliches Verhalten unmöglich mache. Das Gegenteil ist richtig. Aber schauen wir erst einmal, was die weitere Lektüre an Einsichten bringen wird.

Fortsetzung von Teil 4 findet sich HIER

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