Archiv der Kategorie: Apriorische Wissenschaft

WISSENSCHAFT IM ALLTAG. Popper 1989/1990

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 19.-21.Februar 2022, 14:05h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Vorbemerkung

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Fortsetzung der vorausgehenden Besprechung von Popper’s erstem Artikel „A World of Propensities“ (1988, 1990). In diesem neuen Post steht der zweite Artikel von Popper im Zentrum „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“ (1989,1990)[0]. Der Text von Popper geht zurück auf seine erste öffentliche Rede für die Alumni der London School of Economics 1989, 40 Jahre nach seiner Ernennung zum Professor für Logik und wissenschaftliche Methoden an der L.S.E. Der Text des Artikels wurde von ihm gegenüber der ursprünglichen Rede leicht erweitert.

Rückblick als Zusammenfassung

(Mit eigenen Worten …)

Im vorausgehenden Text hatte Popper sehr grundsätzlich die Idee entwickelt, dass in der Abfolge beobachtbarer Ereignisse mit möglichen Häufigkeiten ‚mehr enthalten‘ ist als bloß ein ‚wiederholtes Auftreten‘. Ereignisse in der uns umgebenden Ereigniswelt — mit unserem Körper ebenfalls als ein Ereignis darin — stehen nicht beziehungslos im Raum, sondern stehen in einem realen Zusammenhang mit allem anderen, kontinuierlich eingebettet in reale Wechselbeziehungen vielfältiger Art, und dieser Zusammenhang dauert an als ‚Gegenwart‘, in der sich diese realen Konstellationen in Form von ‚Wirkungen‘ manifestieren. Die Wirklichkeit erscheint in dieser Sicht als ein ‚Prozess‘, in dem alles mit allem verbunden ist und sich durch die kontinuierlichen ‚Wirkungen‘, die von den einzelnen Komponenten ausgehen, sich selbst kontinuierlich auch verändern kann. Eine Wirkung, die innerhalb solch eines dynamischen Prozesses als ‚Ereignis‘ beobachtbar (= messbar) wird, muss man daher als eine ‚Tendenz‘ (‚propensity‘) begreifen, die ‚vorkommt‘, weil es einen realen Zusammenhang gibt, der sie bedingt. Tendenzen kann man daher verstehen als ‚Geräusche des Daseins‘, ‚Mitteilungen des So-Seins‘, oder als ‚Sound der Welt‘. Man kann es beim bloßen Wahrnehmen, beim Sound als solchem, belassen, oder man kann den Sound als ‚Spur‘ sehen, als ‚Zeichen‘, als ‚Abdruck von etwas‘, das sich ‚mitteilt.

Popper legt Wert darauf, dass die einzelnen Töne des Sounds, die einzelnen Ereignisse, weder ‚deterministisch‘ sind noch ‚rein zufällig‘. Irgendetwas dazwischen. Das Auftreten dieser Töne kann ‚Muster‘ andeuten, ‚Regelhaftigkeiten‘, durch die unser Denken angeregt werden kann, zwischen aufeinander folgenden Ereignissen ‚Beziehungen‘ zu sehen, ‚Zusammenhänge‘, aber diese Beziehungen sind aufgrund der Art ihres Auftretens ‚fragil‘: sie können auftreten mit einer gewissen Häufigkeit, phasenweise vielleicht sogar mit einer gewissen ‚Konstanz der Häufigkeiten‘, aber es gibt ‚keine absoluten Garantien‘, dass dies immer so bleiben wird. Im Alltag neigen wir dazu, solche sich wiederholenden ‚Beziehungen‘ in ‚Hypothesen‘ umzuwandeln, an die wir die ‚Erwartung‘ knüpfen, dass sich ein solches hypothetische Muster reproduziert. Falls ja, fühlen wir uns ‚bestätigt‘; falls nein, steigen Zweifel auf, ob wir uns mit unserer Annahme geirrt haben. Im einen Grenzfall, wenn das Muster sich immer und immer wiederholt, neigen wir dazu es als ‚feste Regel‘, als ‚Gesetz‘ zu sehen. Im anderen Grenzfall, wenn das Muster sich trotz aller Versuche, es als Ereignis zu reproduzieren (Experiment, Test), nicht wieder einstellt, dann neigen wir dazu, unsere ‚Hypothese‘ wieder zu verwerfen. Doch zwischen ‚Annahme‘ eines Musters als ‚gesetzmäßig‘ und als ‚verworfen‘ liegt ein Raum voller Schattierungen. Der bekannte Spruch ‚Die Hoffnung stirbt zuletzt‘ kann andeuten, dass das ‚Verwerfen‘ einer Hypothese — je nach Art und Stärke der Erwartungen — sehr lange hinausgezögert werden kann … manche ‚glauben‘ auf jeden Fall, dass es irgendwie doch möglich sein kann, egal was passiert …

Diese Sichtweise Poppers deckt sich nicht mit einer theoretischen (mathematischen) Wahrscheinlichkeit, nicht mit einer rein subjektiven Wahrscheinlichkeit, auch nicht mit einer deskriptiven (empirischen) Wahrscheinlichkeit, selbst wenn es jeweils ‚Überschneidungen‘ gibt. Eher ist es eine Kombination von allen Dreien plus eine charakteristische Erweiterung:

  1. Wenn man beginnt, beobachtbare Ereignisse zu ’notieren‘, zu ‚protokollieren‘ und sie nach verschiedenen formalen Kriterien ‚anzuordnen‘ ohne weiter reichenden Interpretationen zu formulieren, dann bewegt man sich im Feld einer empirischen deskriptiven Wahrscheinlichkeit, die mit Häufigkeiten arbeitet. Damit würde auch Popper anfangen.
  2. Wenn man diese ‚empirischen Befunde‘ dann versucht in weiter reichende ‚Beziehungen‘ einzuordnen, dann braucht man eine theoretische Struktur. Eine solche bietet die theoretische Wahrscheinlichkeit. In ihr kann man beliebig viele Strukturen (= Modelle, Theorien) definieren und versuchsweise in Beziehung setzen zu empirischen Befunden. Je nach Modell kann man dann die empirischen Befunde unterschiedlich interpretieren und daraus unterschiedliche Voraussagen ableiten. Im Experiment kann man weiter versuchen, zu überprüfen, welches angenommene Modell sich ‚mehr‘ bestätigt als ein anderes.
  3. Jeder einzelne Mensch bildet im Alltag automatisch sein ’subjektives Modell‘ von Wahrscheinlichkeiten aufgrund seiner Alltagserfahrung. Dies kann sich auf Dauer als ‚mehr oder weniger zutreffend‘ erweisen. Würde jemand versuchen, seine Alltagserfahrung ‚wissenschaftlich zu analysieren‘ würde er sowohl eine ‚deskriptive‘ Wahrscheinlichkeit ausbilden können wie auch eine ‚theoretische‘ Wahrscheinlichkeit.
  4. Die Sichtweisen (1) – (3) zwingen nicht dazu, jenseits der beobachtbaren und klassifizierbaren Ereignisse eine ‚reale Welt von Kontexten (mit Situationen als Teilaspekten)‘ anzunehmen, deren reale Beschaffenheit so ist, dass von ihr ‚Wirkungen‘ ausgehen, die sich als ‚beobachtbare Ereignisse‘ manifestieren und die in ihrer zeitlich geordneten ‚Gesamtheit‘ dann als ‚Tendenzen‘ verstanden werden können, die ‚objektiv‘ sind, da sie mit realen Kontexten in einem unauflösbaren Zusammenhang stehen. Diese vierte Dimension der ‚objektiven Tendenzen‘ ist der ‚Mehrwert, den Popper in die Sicht der Dinge einbringt

Soweit die Kernthese von Popper zu ‚objektiven Tendenzen‘, zusammengefasst, nicht als 1-zu-1 Formulierung von Popper.

Ein wissender Körper

Im vorausgehenden Text hatte ich bei der Kommentierung von Poppers Text spontan an verschiedenen Stellen Überlegungen eingestreut, in denen ich weitergehende Annahmen über die Arbeitsweise unseres Körpers mit seinem Gehirn beschrieben habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich Poppers Beitrag zu einer evolutionären Theorie des Wissens noch nicht gelesen. Ich selbst hatte mich aber auch schon seit mindestens 30 Jahren mit der evolutionären Perspektive unserer körperlich-geistigen Existenz beschäftigt und erleben dürfen, dass erst mit Einbeziehung der evolutionären Perspektive viele grundlegenden Eigenschaften unser Daseins in einem rationalen Kontext (= Menge von Hypothesen) erscheinen, der ‚plausibel‘ wirkt (aber ‚auf Abruf‘; es kann sich ändern).

Mit Beginn der Lektüre des zweiten Artikels war ich daher nicht wenig (positive) überrascht, dass Popper der evolutionären Perspektive unseres wissenden Körpers so viel Gewicht beimaß. [0b]

Popper beginnt seinen Artikel mit der (Hypo-)These, dass Tiere Wissen (‚knowledge‘) besitzen.(vgl. S.30) Da wir als Menschen nicht direkt wissen können, was ‚Wissen‘ aus der Innensicht von Tieren ist sondern nur aus unserer ‚Selbsterfahrung‘ als Menschen, räumt Popper ein, dass die These „Tiere besitzen Wissen“ im ersten Augenblick ‚anthropomorph‘ klingt; das wäre dann eine bloße ‚Projektion‘ von menschlichen Eigenschaften auf Tiere; einer solchen Projektion käme dann zunächst kein weiterer empirischer Erkenntniswert zu. Aber Popper bleibt beharrlich und stellt fest, dass seine Rede nicht als „bloße Metapher“ gemeint sei. Darüber hinaus verteidigt er seine anthropomorphe Redeweise mit dem Argument, dass wir über biologische Phänomene gar nicht anders als anthropomorph reden könnten, da unser eigener Körper mit seinen Eigenschaften als (natürlicher) Referenzpunkt dient, über den wir einen ersten Zugang zu ‚homologen‘ (= strukturähnlichen, formähnlichen) Eigenschaften der anderen Lebensformen finden.(vgl. S.30) Und er wiederholt seine These, dass die ‚Formähnlichkeiten‘ zwischen menschlichem Körper (und Verhalten) mit nicht-menschlichen Körpern (und Verhalten) nicht rein äußerlich sei, sondern dass die formähnlichen Teile auch ähnliche Funktionen haben, z.B. die Annahme, dass das Gehirn eines Tieres auch irgendwie ‚Wissen‘ hat, erzeugt analog wie beim Menschen.(vgl.S.30f).

Er unterscheidet sehr schnell zwischen ‚Wissen‘ und dem ‚Wissen um Wissen‘ (‚being aware of‘) und meint, dass aus der Annahme von ‚Wissen‘ in nicht-menschlichen Lebensformen nicht unbedingt folgt, dass diese sich ihres Wissens ‚bewusst‘ seien noch ist auszuschließen, dass bei uns Menschen ‚Wissen‘ auch ‚unbewusst‘ (’not aware of‘, ‚unconscious‘) sein kann.(vgl. S.31) Bei Menschen manifestiert sich ‚unbewusstes Wissen‘ oft in Form von ‚Erwartungen‘, deren wir uns oft erst bewusst werden, wenn sie ‚enttäuscht‘ werden.(vgl. S.31)

Popper stellt dann eine Art Liste von Vermutungen zusammen, die sich aus der Eingangs-Annahme ergeben können, dass Tiere über Wissen verfügen (vgl. SS.32-39):

  1. ERWARTUNGEN: Wie schon zuvor erwähnt, zeigt sich Wissen in Form von ‚Erwartungen‘
  2. UNSICHERHEIT: Erwartungen sind objektiv unsicher; der jeweilige Akteur kann mit einer Erwartung aber so umgehen, als ob sie ’sicher‘ sei.
  3. HYPOTHESEN: Die überwiegende Menge an Wissen besteht aus Hypothesen.
  4. OBJEKTIV WAHR: Trotz eines hypothetischen Charakters kann Wissen ‚objektiv wahr‘ sein, weil es sich auf ‚objektive Fakten‘ (= reale Ereignisse) stützt.
  5. WAHR ≠ SICHER: Wahrheit und Sicherheit müssen klar unterschieden werden. In der Welt der realen Ereignisse kann etwas ‚wahr‘ und zugleich unsicher sein. In der Welt des abstrakten Denkens (z.B. Mathematik) kann es wahr und zugleich sicher sein.
  6. TESTEN: Wegen mangelnder Sicherheit in der realen Welt müssen wahre Aussagen immer wieder getestet werden, ob sie ’noch‘ zutreffen (weil die reale Welt sich in konstanter Veränderung befindet).
  7. Wie (4)
  8. FALSCHE SICHERHEIT: In der realen, sich ständig verändernden Welt, kann es keine absolute Sicherheit geben.
  9. WISSEN ÜBERALL: Verknüpft man ‚Wissen‘ an der Wurzel mit ‚Erwartungen‘, dann muss man allen biologischen Lebensformen ein Minimum an Wissen zusprechen.
  10. Erläuterung zu (9) mit Bäumen.
  11. Weitere Erläuterung zu (9) mit Bäumen.
  12. LANGZEIT und KURZZEIT EREIGNISSE: Reaktionen eines Organismus auf Kurzzeit Ereignisse setzten gewisse ‚Fähigkeiten‘ voraus, die sich über Generationen als ’strukturelle Eigenschaften‘ adaptiv herausgebildet haben müssen, damit sie als Basis des Reagierens verfügbar sind.
  13. Erläuterung zu (12) am Beispiel von Wildgänsen, die adaptiert sind, auf jagende Füchse zu reagieren.
  14. Erläuterung zu (12). Strukturelle Anpassungen setzen voraus, dass es Umweltbedingungen gibt, die über lange Zeit hinreichend konstant waren.
  15. ADAPTION und WISSEN mit ERWARTUNGEN durch VERSUCH & IRRTUM: Ein reales Ereignis wird nur dann für einen einzelnen Akteur zu einer ‚Sache‘ (zu einem ‚Fakt‘, zu einer ‚Information‘) wenn verfügbares Wissen das Ereignis entsprechend ‚einordnen‘ kann. Verfügbares Wissen entsteht aber nur durch einen individuellen ‚Lernprozess‘ bestehend aus vielen kleinen ‚Versuchen‘ mit Erwartung und nachfolgender Bestätigung/ Nicht-Bestätigung. Adaptierte Strukturen in einem Individuum in einer sich verändernden Welt mit partiell konstanten Mustern können nur über einen Prozess von vielen ‚Reproduktions-Versuchen‘ in einer Population entstehen, wenn’un-passende‘ Strukturen weniger leistungsfähig sind wie andere.
  16. LANGZEIT-/KURZZEIT ANPASSUNG/WISSEN: Kurzzeit-Wissen setzt Langzeit-Anpassung und darin kodiertes Wissen voraus. Sowohl Langzeit-Strukturen/Wissen als auch Kurzzeit-Wissen sind beide ‚hypothetisch‘: sie bilden sich anlässlich ‚realer Ereignisse‘, erben aber die Unsicherheit der Ereigniswelt als solcher.
  17. WISSEN IST ÜBERLEBENSORIENTIERT: Jede Form von Wissen in jedem biologischen Organismus (von der kleinsten Zelle bis zum Menschen) dient dazu, dem Menschen für sein Überleben zu dienen.
  18. ALTER DES WISSENS: Das Phänomen des Wissens begleitet das Leben von Anfang an.
  19. UNIVERSUM-LEBEN-WISSEN: Insofern das Leben mit dem ganzen Universum verknüpft ist (zu 100%!) ist auch das Wissen ein Aspekt des gesamten Universums.

Popper illustriert viele der in der Liste aufgeführten Punkte dann an der realen Geschichte der Evolution anhand konkreter Forschungen aus seiner Zeit. (vgl. SS.39 – 45) Der Grundtenor: Leben spielt sich primär in Form von chemischen Prozessen in jeweiligen Umgebungen ab. Die ‚Makro‘-Phänomene, die wir vom Leben aus dem ‚Alltag der Körper‘ kennen, sind im Sinne der Komplexität so ‚unfassbar weit‘ von diesen elementaren Prozessen entfernt, dass es für uns Menschen bis heute — trotz Wissenschaft — noch kaum möglich ist, alle diese Prozesse hinreichend zu verstehen. Speziell der Übergang vom Planeten Erde ‚vor‘ den Phänomenen einzelligen Lebens hin zu einzelligem Leben ist trotz mittlerweile vielfacher Versuche leider noch nicht wirklich klar.[5],[6]

Die wichtigsten Erkenntnisse aus alledem

An dieser Stelle stellt sich Popper selbst die Frage, was aus alledem jetzt folgt? („… the main lesson to be drawn …“(S.45)

Und mit all den ungeheuerlichen Geschehnissen der Evolution vor Augen fällt eines ganz klar auf: allein nur um zu wissen, was ‚um ihn herum‘ der Fall ist, benötigt der Organismus eine ‚Struktur‘, deren Eigenschaften den Organismus in die Lage versetzen, bestimmte Umweltereignisse zu ‚registrieren‘, dieses ‚Registrierte‘ in interne Zustände so zu ‚übersetzen‘, dass der Organismus darauf in einer Weise ‚reagieren‘ kann, die für sein Überleben zuträglich ist. Und da es neben den ‚Langzeit-Ereignissen‘ (Eigenschaften der Umgebung, die sich nur langfristig ändern), auch sehr viele ‚Kurzzeit-Ereignisse‘ gibt, die mal so oder mal so sind, benötigt der Organismus neben den ‚Strukturen‘ auch ‚flexible Prozesse‘ des ‚akuten Lernens‘, die aktuell, ‚on demand‘, Antworten ermöglichen, die jetzt gebraucht werden, nicht irgendwann.

Popper greift an dieser Stelle eine Terminologie von Kant [7] auf der zwischen ‚a priori‘ und ‚a posteriori‘ Wissen unterschieden hat. [6] Angewendet auf seine Untersuchungen interpretiert Popper das ‚Wissen a priori‘ als jenes Wissen, das schon da sein muss, damit ein konkretes Ereignis überhaupt ‚als irgendetwas‘ erkannt werden kann („to make sense of our sensations“, S.46). Und dieses ‚voraus zu setzende Wissen‘ sieht er als Wissen a priori‘, das sowohl als verfügbare Struktur (= Körper, Gehirn…) auftritt wie auch innerhalb dieser Struktur als ein ‚Wissen a posteriori‘, das ein Ereignis zu einem ‚irgendwie sinnhaften Ereignis‘ werden lassen kann.(„… without it, what our senses can tell us can make no sense.“ (S.46) Innerhalb dieses voraus zu setzenden Wissens müssen die grundsätzlichen Unterscheidungen zu ‚Raum‘, ‚Zeit‘ und ‚Kausalität‘ möglich sein. Und Popper meint, dass Kant mit seinen erkenntniskritischen Rekonstruktionen grundlegende Einsichten der Evolutionstheorie vorweg genommen habe.(vgl. S.46)

Und, indem Popper Kant so hoch lobt, geht er unmittelbar dazu über, ihn — auf seine Weise — gewissermaßen zu ‚transformieren‘, indem er sagt, dass der Anteil des ‚apriorischen Wissens‘ eher bei 99% liegt und der des ‚aposteriorischen Wissens‘ eher bei 1%. Diesen Schluss zieht er aus der Tatsache (= seine Interpretation von einer Sachlage!), dass die verschiedenen sensorischen Ereignisse im Körper eines Organismus als solche nur ‚Ja-Nein-Zustände‘ sind, die eine wie auch immer geartete ‚Bedeutung‘ nur bekommen, wenn es einen ‚Deutungsrahmen‘ gibt, mit Hilfe von dem ein sensorisches Ja-Nein als ‚Laut‘ oder als ‚Farbe‘ oder als ‚Geschmack‘ usw. ‚gedeutet‘ (abgebildet) werden kann. Dies heißt, dass generell Ereignisse nach einem Deutungsrahmen verlangen, der schon ‚da sein muss‘, damit er wirken kann. Und da ein Organismus primär aus chemischen Prozessen besteht, muss das ‚apriorische Wissen‘ in diesen chemischen Prozessen verfügbar sein („… inborn … in our chemical constitution“. (S.46)) Ferner kann das Verhältnis zwischen zu klassifizierenden sensorischen Daten und dem Wissen a priori nicht deterministisch sein, da diese Klassifikationen ‚falsch‘ sein können, sie partiell erst durch ‚Versuch und Irrtum‘ entstehen. Insgesamt ermöglicht das Wissen zudem ‚Erwartungen‘, aufgrund deren der Organismus handelt (und deshalb ‚irren‘ kann).

Hier deutet sich ein konstruktiver Konflikt an in der Annahme, dass es schon ein apriorisches Wissen geben muss, das zu Klassifikationsleistungen befähigt, und zugleich, dass solch ein apriorisches Wissen weder ‚vollständig‘ zu sein scheint (Poppers Beispiel: der Frosch, der zwar Fliegen erkennen kann als sein Futter, aber nur dann, wenn sie sich bewegen), noch ‚fertig im Detail‘, da ‚Irrtümer‘ auftreten können, aus denen ‚gelernt‘ werden kann. Dem Ganzen (Wissen) haftet etwas ‚prozesshaftes‘ an: es hat schon immer etwas, was ‚funktioniert‘, aber es kann sich selbst in Interaktion mit ‚dem Anderen‘ irgendwie immer weiter verändern.(vgl. S.47)

Das zugrunde liegende Schema könnte man vielleicht wie folgt formulieren: (i) ein Organismus braucht eine Struktur, die registrierte Ja-Nein-Ereignisse ‚Klassifizieren/ Deuten‘ kann, und parallel (ii) braucht es aufgrund des bisherigen Wissens eine ‚Erwartung‘, anhand deren eine aktuelle Deutung als ‚bestätigend‘ erscheint oder ’nicht-bestätigend‘. Aus dieser Differenz kann dann eine Veränderung des Verhaltens resultieren, das ‚versuchsweise‘ Ereignisse schafft, die dann ‚eher bestätigen‘ und ‚weniger enttäuschen (Irrtum, Fehler, …)‘. Das Ganze wird dadurch ‚komplex‘, dass für dieses Schema mindestens zwei Zeitschemata anzunehmen sind: (a) langfristige strukturelle Änderungen (’strukturelles Lernen‘) des gesamten Organismus über Reproduktion und ‚Erfolg‘ in der Population (wer überlebt besser), sowie (b) kurzfristige Änderungen (’situationsbezogenes Lernen‘), das in wechselnden ‚hypothetischen Bildern der Welt‘ beständig als Hypothese und Erwartung wirksam ist, die im Konfliktfall (keine Bestätigung) ‚modifiziert‘ werden können.

Popper zieht in diesem Kontext eine Parallele zum modernen Begriff einer Theorie, die als Hypothese versucht, hilfreiche Deutungen zu liefern, und die in Konfrontation mit der Ereigniswelt (über Experimente) bestätigt oder nicht bestätigt wird. Im Prozess des Erwartens und Korrigierens vollzieht sich eine Form der ‚Anpassung‘ des menschlichen Denkens an jene Ereigniswelt (die wir ‚Welt‘ nennen, ‚Natur‘, ‚Universum‘, …), in der wir uns — ungefragt — vorfinden, in der wir versuchen, zu überleben. (vgl. S.48f) Popper äußert dann noch eine Analogie der Art, dass der Unterschied zwischen der hochentwickelten Wissenskultur eines einzelnen Homo sapiens und jener eines einzelnen Bakteriums letztlich nur graduell ist; grundsätzlich hat ein Bakterium, ein Einzeller, schon alle Merkmale, über die höher entwickelte biologische Lebensformen verfügen.(vgl. S.49f) Insbesondere sieht Popper in jedem lernfähigen Organismus auch — mindestens implizit — ‚Werte‘ in Aktion, nämlich überall dort, wo ‚entschieden‘ werden muss, welche der möglichen Optionen ausgewählt werden soll. In einfachen Organismen geschieht dies weitgehend strukturell-apriorisch; im Fall komplexer Lebewesen mit elaborierten Nervensystemen kann es zusätzlich künstlich eingeführte ‚Regelsysteme‘ geben — wie z.B. ‚gesellschaftliche Normen‘, ‚Konventionen‘, ‚Sitten und Gebräuche‘, ‚Vereinbarte Gesetze‘ usw. –, die auf einen individuellen Entscheidungsprozess einwirken können, ohne den individuellen Entscheidungsprozess dabei ganz außer Kraft zu setzen.(vgl. S.50f)

Nachbemerkung – Epilog

Nimmt man beide Beiträge als eine mögliche Einheit, dann entsteht ein spannender Zusammenhang, eine spannende Gesamt-Hypothese über die Natur der uns umgebenden Ereigniswelt mit uns selbst (über unseren Körper) als Teil davon.

Mit unserem Körper erleben wir interne Ereignisse in Form angeborener und angelernter gedeuteter Strukturen, die uns ein ‚Bild von der Welt mit uns als Teil‘ liefern, mit ‚Erwartungen‘, die in uns entstehen, mit Bestätigungen und Mangel an Bestätigungen, mit der Möglichkeit eines Handelns, das die Struktur der Ereignisse um uns herum — und uns selbst — verändern kann.

Die Welt ist ein dynamisches, changierendes Etwas, ein Gesamtprozess, dessen endgültige Gestalt, dessen inneren ‚Antriebskräfte‘ schwer fassbar sind, ist doch jedes Lebewesen — nicht nur wir Menschen — Teil davon.

Im Versuch dieses dynamische Etwas ‚zu fassen‘, ‚dingfest‘ zu machen, bleiben uns nur einzelne Ereignisse, hier und jetzt, und immer wieder neue Ereignisse im hier und jetzt; abstrakte Bilder (Schatten der Erinnerung), in denen einige häufiger vorkommen als andere. Bisweilen haben wir das Gefühl, dass sich ‚Regeln‘ andeuten, ‚Muster‘, aber sie sind niemals ‚100-prozentig stabil‘ (‚deterministisch‘), aber auch niemals nur ‚rein zufällig‘, sondern irgendwie genau dazwischen. Was ist das? Der Sound des Lebens? Wir sind Teil dieses Sounds. Verstehen wir uns selbst? Verstehen wir die große Partitur, in der wir vorkommen? Alles deutet darauf hin, dass das Gesamtereignis ’sich selbst komponiert‘! Im Kern aller Ereignisse findet man eine große ‚Freiheit‘, die sich im ‚Kleid der Optionen‘ eine Gestalt sucht, eine Gestalt die vorweg niemand kennen kann, und die doch nicht beliebig sein wird…

Im Alltagsgeschäft der heutigen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen — die absolut notwendig sind; ohne die geht gar nichts — findet man von diesem erfrischenden Hauch einer super-lebendigen Singularität nicht viel. Jeder ist mit dem Auszählen seiner Einzelexperimente beschäftigt. Im Mainstream träumt man von sogenannter Künstlicher Intelligenz, die alle unsere Problem überwinden wird; welch absolut schrottige Idee. Der ‚Supercomputer‘ des Lebens auf diesem Planeten ist davon mehrfache Galaxien weit entfernt.

Anmerkungen

[0] Karl Popper, „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“, Vortrag 1989, erweiterter Text in: Karl Popper, „A World of Propensities“, Thoemmes Press, Bristol, (1990, repr. 1995)

[0b] Die Einbeziehung der Erkenntnisse der Evolutionsbiologie in eine philosophische Gesamtsicht findet sich nicht nur bei Popper. Schon der Verhaltensforscher und Philosoph Konrad Lorenz [2] hatte in einem Aufsatz 1941 [2b]einen Zusammenhang zwischen der Erkenntnistheorie von Kant und den Erkenntnissen der Biologie hergestellt. Dies wird bei Lorenz dann 1973 in sein Hauptwerk „Die Rückseite des Spiegels …“ zu einer großen Gesamtschau ausgeweitet, in dem er explizit eine Verbindung zieht zwischen der morphologischen Entwicklung in der Evolution und den Formen der Erkenntnis. [2c]. Ein anderer starker Denker im Spannungsfeld von Biologie und Philosophie war Humberto Maturana [3], der in den Jahren 1968 – 1978 viele grundlegende Beiträge zum Thema verfasst hat.[2b] In Deutschland ist u.a. noch zu nennen Gerhard Vollmer mit seinem Buch Evolutionäre Erkenntnistheorie‘ von 1975.

[1] Evolutionäre Erkenntnistheorie in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Evolution%C3%A4re_Erkenntnistheorie //* Dieser Artikel ist nicht besonders gut *//

[1b] Evolutionary Epistemology in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Evolutionary_epistemology //* Dieser Artikel ist nicht besonders gut *//

[2] Konrad Lorenz in wkp-ed: https://en.wikipedia.org/wiki/Konrad_Lorenz und in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Konrad_Lorenz

[2b] K. Lorenz: Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie. In: Blätter für Deutsche Philosophie. Band 15, 1941, S. 94–125

[2c] K.Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens (1973), in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_R%C3%BCckseite_des_Spiegels

[3] Humberto Maturana in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Humberto_Maturana

[3b] Humberto R.Maturana, Erkennen; Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Friedr.Viehweg & Sohn, Braunschweig – Wiesbaden, 1982 (Enthält von Maturana autorisiert in deutscher Übersetzung Arbeiten aus den Jahren 1968 – 1978).

[4] Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie. Angeborene Erkenntnisstrukturen im Kontext von Biologie, Psychologie, Linguistik, Philosophie und Wissenschaftstheorie. S. Hirzel, Stuttgart 1975. Zu Vollmer in der wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Vollmer

[5] Evolution in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Evolution

[6] Hans R.Kricheldorf, Leben durch chemische Evolution?, Springer-Verlag, 2019, ISBN: 978-3-662-57978-7

[7] A priori in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/A_priori

[8] Immanuel Kant in wpd-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Immanuel_Kant

[9] Die hier benutzten anthropomorphen Begriffe sind als ‚Hilfsbegriffe‘ zu betrachten, da eine ‚präzisere‘ Begrifflichkeit einen ausgearbeiteten begrifflichen Rahmen (Modell, Theorie) voraussetzen würde, die erst dann möglich ist, wenn man sich über die grundsätzlichen Sachverhalte besser verständigt hat.

Fortsetzung

Es gibt einen dritten Artikel von Popper, der in diesen Zusammenhang gehört. Eine Besprechung findet sich HIER.

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

MASLOW UND DIE NEUE WISSENSCHAFT. Nachbemerkung zu Maslow (1966)

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Datum: 21.Juni 2020 (Korrekturen: 24.Juni 2020)

KONTEXT

Wenn man sich nicht nur wundern will, warum das Phänomen von ‚Fake News‘ oder ‚Verschwörungstheorien‘ so verbreitet ist und selbst vor akademischer Bildung nicht Halt macht, dann muss man versuchen, den Mechanismus zu verstehen, der diesem Phänomen zugrunde liegt. Von den vielen Zugängen zu dieser Frage finde ich das Buch von Maslow (1966) The Psychology of Science besonders aufschlussreich.

VERLUST DES PHÄNOMENS

Maslow erlebte seine Arbeit als Psychotherapeut im Spannungsfeld zur damaligen experimentellen verhaltensorientierten Psychologie im Stil von Watson. Während er als Psychotherapeut versuchte, die ganze Bandbreite der Phänomene ernst zu nehmen, die sich in der Begegnung mit konkreten Menschen ereignet, gehörte es zum damaligen Programm einer empirischen Verhaltens-Psychologie, die Phänomene im Kontext von Menschen auf beobachtbares Verhalten zu beschränken, und hier auch nur auf solche Phänomene, die sich in (damals sehr einfachen) experimentellen Anordnungen reproduzieren lassen. Außerdem galt das Erkenntnisinteresse nicht den individuellen Besonderheiten, sondern allgemeinen Strukturen, die sich zwischen allen Menschen zeigen.

Maslow verallgemeinert die Betrachtung dahingehend, dass er die Einschränkung der Phänomene aus Sicht einer bestimmten Disziplin als Charakteristisch für die Wissenschaft seiner Zeit diagnostiziert. Er meinte in dieser Ausklammerung von Phänomenen eine tiefer liegende Tendenz zu erkennen, in der letztlich die Methode über das Phänomen gestellt wird: wehe dem Phänomen, wenn es nicht zu den vereinbarten Methoden passt; es hat hier nichts zu suchen. In dem Moment, in dem die Wissenschaft von sich aus entscheiden darf, was als Phänomen gelten darf und was nicht, gerät sie in Gefahr, ein Spielball von psychologischen und anderen Dynamiken und Interessen zu werden, die sich hinter der scheinbaren Rationalität von Wissenschaft leicht verstecken können. Aus der scheinbar so rationalen Wissenschaft wird verdeckt eine irrationale Unternehmung, die sich selbst immunisiert, weil sie ja alle Phänomene ausklammern kann, die ihr nicht passen.

VERLUST DER EINHEIT

Zu der verdeckten Selbstimmunisierung von wissenschaftlichen Disziplinen kommt erschwerend hinzu, dass die vielen einzelnen Wissenschaften weder begrifflich noch prozedural auf eine Integration, auf eine potentielle Einheit hin ausgelegt sind. Dies hier nicht verstanden als eine weitere Immunisierungsstrategie, sondern als notwendiger Prozess der Integration vieler Einzelaspekte zu einem möglichen hypothetischen Ganzen. Ohne solche übergreifenden Perspektiven können viele Phänomene und daran anknüpfende einzelwissenschaftliche Erkenntnisse keine weiterreichende Deutung erfahren. Sie sind wie einzelne Findlinge, deren Fremdheit zu ihrem Erkennungszeichen wird.

SUBJEKTIV – OBJEKTIV

In der orthodoxen Wissenschaft, wie Maslow die rigorosen empirischen Wissensschaften nennt, wird ein Begriff von empirisch, von objektiv vorausgesetzt, der den Anspruch erhebt, die reale Welt unabhängig von den internen Zuständen eines Menschen zu vermessen. Dies geht einher mit der Ausklammerung der Subjektivität, weil diese als Quelle allen Übels in den früheren Erkenntnistätigkeiten des Menschen diagnostiziert wurde. Mit der Ausklammerung der Subjektivität verschwindet aber tatsächlich auch der Mensch als entscheidender Akteur. Zwar bleibt der Mensch Beobachter, Experimentator und Theoriemacher, aber nur in einem sehr abstrakten Sinne. Die inneren Zustände eines Menschen bleiben in diesem Schema außen vor, sind quasi geächtet und verboten.

Diese Sehweise ist selbst im eingeschränkten Bild der empirischen Wissenschaften heute durch die empirischen Wissenschaften selbst grundlegend in Frage gestellt. Gerade die empirischen Wissenschaften machen deutlich, dass unser Bewusstsein, unser Wissen, unser Fühlen funktional an das Gehirn gebunden sind. Dieses Gehirn sitzt aber im Körper. Es hat keinen direkten Kontakt mit der Welt außerhalb des Körpers. Dies gilt auch für die Gehirne von Beobachtern, Experimentatoren und Theoriekonstrukteuren. Keiner von ihnen sieht die Welt außerhalb des Körpers, wie sie ist! Sie alle leben von dem, was das Gehirn aufgrund zahlloser Signalwege von Sensoren an der Körperoberfläche oder im Körper einsammelt und daraus quasi in Echtzeit ein dreidimensionales Bild der unterstellten Welt da draußen mit dem eigenen Körper als Teil dieser Welt errechnet. Dies bedeutet, dass alles, was wir bewusst wahrnehmen, ein internes, subjektives Modell ist, eine Menge von subjektiven Ereignissen (oft Phänomene genannt, oder Qualia), von denen einige über Wahrnehmungsprozesse mit externen Ursachen verknüpft sind, die dann bei allen Menschen in der gleichen Situation sehr ähnliche interne Wahrnehmungsereignisse erzeugen. Diese Wahrnehmungen nennen wir objektiv, sie sind aber nur sekundär objektiv; primär sind sie interne, subjektive Wahrnehmungen. Die Selbstbeschränkung der sogenannten empirischen Wissenschaften auf solche subjektiven Phänomene, die zeitgleich mit Gegebenheiten außerhalb des Körpers korrelieren, hat zwar einen gewissen praktischen Vorteil, aber der Preis, den die sogenannten empirischen Wissenschaften dafür zahlen, ist schlicht zu hoch. Sie opfern die interessantesten Phänomene im heute bekannten Universum nur, um damit ihre einfachen, schlichten Theorien formulieren zu können.

In ihrer Entstehungszeit — so im Umfeld der Zeit von Galilelo Galilei — war es eine der Motivationen der empirischen Wissenschaften gewesen, sich gegen die schwer kontrollierbaren Thesen einer metaphysischen Philosophie als Überbau der Wissenschaften zu wehren. Die Kritik an der damaligen Metaphysik war sicher gerechtfertigt. Aber In der Gegenbewegung hat die empirische Wissenschaft gleichsam — um ein Bild zu benutzen — das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: durch die extreme Reduktion der Phänomene auf jene, die besonders einfach sind und durch das Fehlen eines klaren Kriteriums, wie man der Gefahr entgeht, wichtige Phänomene schon im Vorfeld auszugrenzen, wurde die moderne empirische Wissenschaft selbst zu einer irrationalen dogmatischen Veranstaltung.

Es ist bezeichnend, dass die modernen empirischen Wissenschaften über keinerlei methodischen Überbau verfügen, ihre eigene Position, ihr eigenes Vorgehen rational und transparent zu diskutieren. Durch die vollständige Absage an Philosophie, Erkenntnistheorie, Wissenschaftsphilosophie — oder wie man die Disziplinen nennen will, die sich genau mit diesen Fragen beschäftigen — hat sich die empirische Wissenschaft der Neuzeit einer nachhaltigen Rationalität beraubt. Eine falsche Metaphysik zu kritisieren ist eines, aber sich selbst angemessen zu reflektieren, ein anderes. Und hier muss man ein Komplettversagen der modernen empirischen Wissenschaften konstatieren, was Maslow in seinem Buch über viele Kapitel, mit vielen Detailbeobachtungen aufzeigt.

DAS GANZE IST EIN DYNAMISCHES ETWAS

Würden die empirischen Wissenschaften irgendwann doch zur Besinnung kommen und ihren Blick nicht vor der ganzen Breite und Vielfalt der Phänomene verschließen, dann würden sie feststellen können, dass jeder Beobachter, Experimentator, Theoriemacher — und natürlich alle Menschen um sie herum — über ein reiches Innenleben mit einer spezifischen Dynamik verfügen, die kontinuierlich darauf einwirkt, was und wie wir denken, warum, wozu usw. Man würde feststellen, dass das Bewusstsein nur ein winziger Teil eines Wissens ist, das weitgehend in dem um ein Vielfaches größeren Unbewusstsein verortet ist, das unabhängig von unserem Bewusstsein funktioniert, kontinuierlich arbeitet, all unsere Wahrnehmung, unser Erinnern, unser Denken usw. prägt, das angereichert ist mit einer ganzen Bandbreite von Bedürfnissen und Emotionen, über deren Status und deren funktionale Bedeutung für den Menschen wir bislang noch kaum etwas wissen (zum Glück gab und gibt es Wissenschaften, die sich mit diesen Phänomenen beschäftigen, wenngleich mit großen Einschränkungen).

Und dann zeigt sich immer mehr, dass wir Menschen vollständig Teil eines größeren BIOMs sind, das eine dynamische Geschichte hinter sich hat in einem Universum, das auch eine Geschichte hinter sich hat. Alle diese Phänomene hängen unmittelbar untereinander zusammen, was bislang aber noch kaum thematisiert wird.

Das Erarbeiten einer Theorie wird zu einem dynamischen Prozess mit vielen Faktoren. Bei diesem Prozess kann man weder die primäre Wahrnehmung gegen konzeptuelle Modelle ausspielen, noch konzeptuelle Modelle gegen primäre Wahrnehmung, noch kann man die unterschiedlichen internen Dynamiken völlig ausklammern. Außerdem muss der Theoriebildungsprozess als gesellschaftlicher Prozess gesehen werden. Was nützt eine elitäre Wissenschaft, wenn der allgemeine Bildungsstand derart ist, dass Verschwörungstheorien als ’normal‘ gelten und ‚wissenschaftliche Theorien‘ als solche gar nicht mehr erkannt werden können? Wie soll Wissenschaft einer Gesellschaft helfen, wenn die Gesellschaft Wissenschaft nicht versteht, Angst vor Wissenschaft hat und die Wissenschaft ihrer eigenen Gesellschaft entfremdet ist?

BOTSCHAFT AN SICH SELBST?

Das biologische Leben ist das komplexeste Phänomen, das im bislang bekannten Universum vorkommt (daran ändert zunächst auch nicht, dass man mathematisch mit Wahrscheinlichkeiten herumspielt, dass es doch irgendwo im Universum etwas Ähnliches geben sollte). Es ist ein dynamischer Prozess, dessen Manifestationen man zwar beobachten kann, dessen treibende Dynamik hinter den Manifestationen aber — wie generell mit Naturgesetzen — nicht direkt beobachtet werden kann. Fasst man die Gesamtheit der beobachtbaren Manifestationen als Elemente einer Sprache auf, dann kann diese Sprache möglicherweise eine Botschaft enthalten. Mit dem Auftreten des homo sapiens als Teil des BIOMs ist der frühest mögliche Zeitpunkt erreicht, an dem das Leben ‚mit sich selbst‘ sprechen kann. Möglicherweise geht es gerade nicht um den einzelnen, wenngleich der einzelne im Ganzen eine ungewöhnlich prominente Stellung einnimmt. Vielleicht fängt die neue Wissenschaft gerade erst an. In der neuen Wissenschaft haben alle Phänomene ihre Rechte und es gibt keine Einzelwissenschaften mehr; es gibt nur noch die Wissenschaft von allen für alles ….

KONTEXT ARTIKEL

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OBJEKTIVE WERTE? Diskussion von Stace’s ’Religion and the Modern Mind’, Teil 3: Kap.4

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
17.Juni 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

ÜBERSICHT

In Fortsetzung der vorausgehenden Teile 1 und 2 wird hier das Kap.4 besprochen. In ihm beschreibt Stace die Entstehung des modernen wissenschaftlichen Weltbildes am Beispiel der Astronomie. Bei genauerem Hinsehen kann man schon hier die ’Bruchstelle’ erkennen, wo heute (mehr als 60 Jahre nach Staces Buch) eine ’Wiedervereinigung’ von Wissenschaft und ’Moral’ (oder gar ’Religion’) nicht nur möglich, sondern geradezu ’notwendig’ erscheint.

I. KAPITEL 4

Gedankenskizze zu Staces Kap.4: Entstehung des neuzeitliches wissenschaftlichen Weltbildes
Gedankenskizze zu Staces Kap.4: Entstehung des neuzeitliches wissenschaftlichen Weltbildes

Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft

Die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft ist eine langwierige und – wenn man sie voll aufschreiben wollte – eine komplexe Geschichte, die sich, je mehr man sich der Gegenwart nähert, in immer mehr Verfeinerungen aufspaltet und heute den Charakter einer ’großen Unübersichtlichkeit’ hat. Stace konzentriert sich auf ein Thema, lange Zeit das Hauptthema schlechthin, die ’Astronomie’, die Himmelskunde, und entwirft anhand der führenden Wissenschaftler dieser Zeit (15.Jh bis 20.Jh, kleine Rückblicke bis in die klassische Griechische Periode) holzschnittartig ein Bild der Entstehung des Neuen.

Ein Hauptcharakteristikum des neuen wissenschaftlichen Weltbildes ist der Übergang vom dominierenden ’geozentrischen Weltbild’ (die Erde als Mittelpunkt von allem) zum ’heliozentrischen Weltbild’ (die Erde dreht sich um die Sonne; die Sonne ist nicht mehr der einzige Bezugspunkt).

Vorgeschichten sind üblich

Für den Charakter von Weltbildern, die eine Kultur, eine ganze Epoche beherrschen, ist es bezeichnend, dass viele der wichtigen Grundüberzeugungen nicht einfach so ’vom Himmel gefallen sind’, sondern einen meist viele hundert Jahre andauernden ’Vorlauf’ haben, bisweilen tausende von Jahren. So auch im Fall der Diskussion ob ’geozentrisch’ oder ’heliozentrisch’. Schon lange vor dem Beginn der modernen Diskussion um ’geozentrisch’ oder ’heliozentrisch’, nämlich ca. 1800 Jahre (!) vor Kopernikus, gab es zwei griechische Mathematiker und Astronomen (Aristarch von Samos (um -310 bis um -230) und Seleukos von Seleukia (um -190 bis vor -135) ) die aufgrund ihrer Beobachtungen und Berechnungen ein klares heliozentrisches Weltbild vertraten. Für den damaligen ’Main Stream’ war das aber so ’unglaubwürdig’, dass Aristarch in die Rolle eines ’Ketzers’ gerückt worden sein soll, den man wegen ’Gottlosigkeit’ anklagen müsse.

Die Wiederkehr dieses Musters im Fall von Galileo Galilei und noch lange nach ihm (in manchen Teilen von religiösen Strömungen bis in die Gegenwart) mag als Indiz dafür gesehen werden, dass ’herrschende Weltanschauungen’ in ihrem eigenen Selbstverständnis, in ihrer Selbstbegründung, die Tendenz haben, sich ohne wirkliche Begründung ’absolut zu setzen’. Auf den ersten Blick erscheint solch ein Verhalten als ’Schutz der bestehenden Ordnung’, aber bei längerer Betrachtung ist dies ein gefährliches Spiel mit der Wahrheit, das eine ganze Kultur in die Irre und dann in den Abgrund führen kann. ’Sicherheit’ ist kein Ersatz für ’Freiheit’ und ’Wahrheit’.

Die Theoretiker

Bezeichnend für die Entwicklung von etwas Neuem ist auch, dass es letztlich nicht die ’Praktiker’ waren, nicht die ’Datensammler’, durch die das ’Neue’ sichtbar wurde, sondern eher die ’Theoretiker’, also jene Menschen, die über all die vielen ’Phänomene’ ’nachgedacht’ haben, nach irgendwelchen ’Regelhaftigkeiten’, ’Muster’ Ausschau gehalten haben, und die dies letztlich auch nur geschafft haben, weil sie in der Lage waren, die wichtigste Sprache der Menschheit zu benutzen, die es gibt, die Sprache der Mathematik. Kopernikus, Kepler, Galileo, Descartes, Huygens, Newton, Laplace – dies waren Menschen mit einer starken, primären Bildung in Mathematik. Ohne die mathematischen Kenntnisse hätten sie niemals die neue Sicht der Welt entwickeln können.

Andererseits, das gilt auch, ohne die Daten eines Tycho Brahe oder ohne bessere Messgeräte (z.B.Fernrohr), die Handwerker (und heute Ingenieure) bauen und gebaut haben, gäbe es auch nicht die Daten, die Fakten, anhand deren die Theoretiker jene Muster herauslesen konnten, die sie dann in der Sprache der Mathematik soweit ’idealisieren’, ’veredeln’ konnten, dass daraus die neuen unfassbaren Sichten entstanden, mit denen wir auch heute noch die Wirklichkeit um uns herum, das ’Rauschender Phänomene’ gedanklich sortieren, filtern, so neu anordnen können, dass wir darin und dadurch weitreichende Strukturen und Dynamiken erkennen können, die Jahrtausende unsichtbar waren, obwohl sie schon Milliarden Jahre da waren und wirkten.

Politisch Inkorrekt …

Während Kopernikus Zeit seines Lebens nur Ausschnitte aus seinem Hauptwerk ’De revolutionibus orbium coelestium’ veröffentlichte, da er damit rechnen konnte, von der Kirche als Ketzer angeklagt zu werden (der volle Text also erst 1543 erschien), legte sich Galileo Galilei (1564 – 1642) schon zu Lebzeiten mit den Vertretern der Kirche an und bewegte sich immer nah vor einer vollen Verurteilung als Ketzer mit dem dazugehörigen Tod durch Verbrennen.

Theoriebildung – Ein Muster

An der Theoriebildung von Galileo wird eine Eigenschaft sichtbar, die sich auch bei allen späteren wissenschaftlichen Theorien finden wird. Es ist das Moment der ’kreativen Irrationalität’, wie ich es mal nennen möchte. Dieses Moment findet sich in jeder wissenschaftlichen Theorie, und zwar notwendigerweise (Was heute gerne übersehen oder verschwiegen wird.). Seine Experimente zur Bewegung mit Körpern führten ihn zur Formulierung seines ersten Bewegungsgesetzes (das sich später auch in Newtons Hauptwerk ”Philosophiae Naturalis Principia Mathematica” als Teil seiner Mechanik findet) . Es besagt letztlich, dass kräftefreie Körper entweder in Ruhe bleiben oder sich geradlinig mit konstanter Bewegung bewegen (vgl. Stace (1952) [1]:64ff). Als ’Gesetz’ kann man diese Aussage nicht beweisen, man kann nur aufgrund von ’endlichen Daten’ eine ’Vermutung’ äußern, eine ’Hypothese’ formulieren, dass die bekannten Beispiele einen ’Wirkzusammenhang’ nahelegen, der sich eben auf die zuvor formulierte Weise beschreiben lässt. Solange dieser ’hypothetische Wirkzusammenhang’ sich im Experiment ’bestätigt’, so lange ist dieses Gesetz ’gültig’. Es kann im Laufe der Zeit aber auch durch neue, bisweilen ’feinere’ Beobachtungen, in ’Frage gestellt’ werden und dann –was oft geschehen ist – durch neue Formulierungen abgelöst werden.

Wichtig ist die grundlegende Figur, die sich hier zeigt: (i) Es gibt aktuell Phänomene (meistens aus der Vergangenheit), die man ’erklären möchte. Noch fehlen passende ’Regeln’. (ii) Aufgrund eines kreativen, irrationalen Denkprozesses entstehen ’Bilder von möglichen Mustern/ Regeln’, die mit den bekannten Phänomenen so ’passen’, dass man mit diesen Regeln das Auftreten der Phänomene so ’erklären’ kann, dass man ’zukünftige Phänomene’ voraussagen kann. (iii) Man erhebt diese kreativ gewonnenen Regeln in den Status von offiziellen ’Arbeitshypothesen’. (iv) Man macht Experimente mit diesen Arbeitshypothesen und ’überprüft’, ob die Arbeitshypothesen auch bei neuen, zukünftigen Phänomenen ’gültig’ bleiben. (v) Solange sich keine’ widersprüchlichen Befunde’ ergeben, gelten die Arbeitshypothesen als akzeptierte Regel.

Kreativität ist Fundamental – Logik Sekundär

Anders formuliert, mittels eines ’kreativen irrationalen’ Denkprozesses gewinnt man aus gegebenen Phänomenen ’induktiv’/ ’bottom-up’ mögliche ’erklärende Hypothesen’. Sofern man diese hat, kann man ’deduktiv’/ ’top-down’ gezielt Experimente durchführen, um die ’Gültigkeit’ dieser Arbeitshypothese zu überprüfen. Arbeitshypothesen kann man aber ’nicht logisch beweisen’, da dies voraussetzen würde, dass man  über eine noch ’allgemeinere’ Hypothese verfügt, aus der man eine ’speziellere’ Hypothese ableiten kann (So hat sich gezeigt, dass man z.B. die drei Planetengesetze von Kepler durch das spätere Gravitationsgesetz von Newton
als ’Spezialfall’ ’ableiten’ kann). Das menschliche Gehirn verfügt aber als solches nicht ’von vornherein’ (nicht ’a priori’) über irgendwelche allgemeinen Gesetze. Das Gehirn scheint aber sehr wohl in der Lage zu sein, anscheinend beliebig viele (genauer Umfang ist unbekannt) ’Regelmäßigkeiten’, sofern sie sich anhand von Phänomenen zeigen, zu erkennen und weiter zu ’verallgemeinern’. Die Geschichte zeigt, dass das ’Zusammenwirken’ von vielen Gehirnen einerseits den einzelnen bei weitem übertreffen kann, ohne allerdings — andererseits — die kreativ-irrationale Kraft des einzelnen dadurch zu ersetzen. Es bleibt immer ein spannungsvolles Wechselspiel von individueller Kreativität und kulturellem Main-Stream. Individuelle Abweichungen werden eher nicht toleriert, werden eher an die Seite gedrückt. Der ’aktuelle’ Erfolg wirkt stärker als der ’vermeintliche’. Insofern sind Kulturen große ’Echokammern’, die beständig in Gefahr sind, sich selbst zu lähmen.

Entzauberung – Entmystifizierung

Kopernikus, Galileos Fernrohr und Bewegungsgesetze, Keplers Planetengesetze, Newtons Mechanik samt dem Gravitationsgesetz, dies alles verhalf dem Denken durch neue Erklärungsmuster und unter Einsatz der mathematischen Sprache, zu einer Sicht der Dinge, die ein direktes Eingreifen ’anderer Mächte’ oder ’Gottes’ überflüssig erscheinen liesen. Im Fall von Newton ist aber zu beobachten, dass er trotz so großartiger Erklärungserfolge ’in seinem Innern’ noch eine Vorstellung von ’Gott’ hatte, die ihn dazu verleitete, einige Unregelmäßigkeiten bei den Planetenbahnen, die er nicht mit seinen Formeln erklären konnte, dann doch einem ’direkten Wirken Gottes’ zuzuschreiben. (vgl. Stace (1952) [1]:69ff) Es war dann Laplace, der die Unregelmäßigkeiten mathematisch einordnen konnte und der mit einer eigenen Theorie zur Entstehung der Sterne (bekannt als ’Nebularhypothese’) sogar meinte, er habe damit die Annahme Gottes als notwendiger erster Ursache ’erledigt’.

QUELLEN
[1] W. Stace, Religion and the Modern Mind, 1st ed. Westport (Connecticut): Greenwood Press, Publishers, 1952, reprint 1980
from Lippincott and Crowell, Publishers.

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WO IST DER STANDPUNKT VON JEDEM EINZELNEN? Eine Notiz

ANGEREGT VON

  1. Angeregt von dem Buch von Matt Ridley Ehe Evolution of Everything. How small Changes Transform our World (2015) ergaben sich viele interessante Fragen. Eine ausführlichere Diskussion des Buches wird im Blog noch erfolgen. Vorab aber erste Impressionen zu der speziellen Frage, die sich mir stellte, ob sich für jeden Menschen skizzieren lässt, was eigentlich der individuelle Ausgangspunkt für den gesamten Weltbezug ist (eine Abstimmung dieser Überlegungen mit den vielen vorausgehenden Beiträgen im Blog könnte zusätzlich hilfreich sein).

ALLGEMEINE BEDEINGUNGEN FÜR LEBEN

Verhältnis der Zeitdauer zwischen Alter des Universums (physikalische Natur) mit ca. 13.8 Mrd. Jahren, dem Auftreten biologschen Lebens seit ca. 3.8 Mrd, dem Auftreten von menschlichen Gesellschaften (homo sapiens sapiens) mit ca. 200.000 Jahren sowie der Lebenszeit eines einzelnen Menschen (hier optimistisch auf 100 Jahre gesetzt)
Verhältnis der Zeitdauer zwischen Alter des Universums (physikalische Natur) mit ca. 13.8 Mrd. Jahren, dem Auftreten biologschen Lebens seit ca. 3.8 Mrd, dem Auftreten von menschlichen Gesellschaften (homo sapiens sapiens) mit ca. 200.000 Jahren sowie der Lebenszeit eines einzelnen Menschen (hier optimistisch auf 100 Jahre gesetzt)

  1. Im Lichte des verfügbaren empirischen Wissens könnte man versucht sein, vier Dimensionen aufzuspannen:
  2. Den allgemeinsten Rahmen gibt die Naturgeschichte des Universums mit ca. 13.8 Mrd Jahren bislang, durch die die allgemeinsten Rahmenbedingungen festgelegt werden. Ohne diese zu verstehen kann man eigentlich gar nichts verstehen (Übergang von Energie in den Zustand von Materie mit Bewegung und Raum, Bildung von Atomen, Molekülen im Kontext von Gas- und Sonnenbildungen, Galaxien, usw.).
  3. Innerhalb dieses Rahmens haben sich seit ca. 3.8 Mrd Jahren biologische Strukturen herausgebildet, die unter Beachtung der allgemeinen physikalischen Gesetze eine Eigendynamik entwickelt haben, die sich deutlich von den allgemeinen physikalischen Gesetzen abheben.
  4. Sehr spät – also ca. ab 200.000 Jahren vor unserer Zeit – kann man innerhalb der biologischen Strukturen ein Phänomen beobachten, das mit Populationen des homo sapiens sapiens nur sehr unzulänglich beschrieben ist. Populationen des homo sapiens sapiens (hier abgekürzt hss-Populationen) zeigen eine Dynamik, die sich von der allgemein biologischen Dynamik nochmals deutlich abhebt.
  5. Dies neue Art von hss-Dynamik wird initiiert von jedem einzelnen Mitglied einer hss-Population, also von jedem einzelnen Exemplar eines homo sapiens sapiens; diese hss-Exemplare sollen hier Menschen genannt werden.
  6. Jeder einzelne Mensch (kurz für hss-Exemplar) zeigt spezifische Dynamiken im Vergleich zu allen anderen biologischen Individuen, setzt aber alle allgemeinen biologischen und physikalischen Gesetze voraus. Ohne diese kann man ihn nicht verstehen. Zusätzlich zeigt der Mensch aber besondere Dynamiken, die im Wechselspiel mit anderen Menschen im Rahmen von jeweiligen Gesellschaftssystemen zu immer wieder neuen Konstellationen führen können.
  7. Soweit eine erste Sichtweise aus der Sicht der empirischen Wissenschaften. Bei dieser Sichtweise wird vorausgesetzt, dass es eine Menge von wissenschaftlichen Beobachtern OBS gibt, die alle in gleicher Weise diese empirischen Phänomene sehen und beurteilen können.

EMPIRISCHER BEOBACHTER UNVOLLSTÄNDIG

  1. Wie wir aber heute wissen (können) (Anmerkung: siehe z.B. die 9 Blogeinträge HIER; es gab dazu noch viele weitere Blogeinträge), ist der von den empirischen Wissenschaften unterstellte homogene Beobachter eine starke Idealisierung. Diese Idealisierung ermöglicht zwar die Erklärung vieler Begriffe im Kontext der empirischen Wissenschaften, verdeckt aber die ganze komplexe Maschinerie, die notwendig ist, dass der idealisierte empirische Beobachter überhaupt funktionieren kann.
  2. Bezieht man diese komplexe Maschinerie ein, dann betritt man das aufregende unbekannte Land der aktuellen Forschungen, in denen von der einen Seite aus die empirischen Wissenschaften versuchen, das faszinierende Phänomen des Menschen mit empirischen Mitteln aufzuhellen, auf der anderen Seit die sogenannten Geisteswissenschaften, mit zusätzlichen, nicht-empirischen Methoden. Leider herrscht in diesem Forschungsgebiet des Phänomens Mensch eine große Unübersichtlichkeit, wechselseitig viel Unverständnis und unnötige Verteufelungen, natürlich auch schlichte Abgrenzungskämpfe um selbst möglich viel von den knappen Forschungsgeldern zu bekommen. Das interessanteste Phänomen des bekannten Universums, der Mensch, wird also vielfach zerrieben zwischen den Kämpfen der beteiligten Disziplinen.
  3. Ein beliebter Konfliktpunkt im Wechselspiel der vielen beteiligten Disziplinen ist die grobe Unterscheidung zwischen dem empirischen Standpunkt des Beobachters aus der sogenannten 3.Person-Perspektive und und dem subjektiven, introspektiven Standpunkt des Beobachters (als Selbstbeobachter) aus der sogenannten 1.Person-Perspektive.
  4. Die Kritik der empirischen Disziplinen an Untersuchungen im introspektiven Modus ist natürlich berechtigt, da introspektive Untersuchungen sich interaktiv nur sehr schwer (bis gar nicht) zweifelsfrei kommunizieren und überprüfen lassen.
  5. Auf der anderen Seite kulminiert das Besondere des Phänomens Mensch gerade in der Fähigkeit, auf der Basis seines Körpers mit dem Gehirn eine Art Innensicht des Systems genannt Bewusstsein auszubilden, das den Menschen in die Lage versetzt, genau diese Besonderheit an Dynamik zu entwickeln, die Populationen von Menschen deutlich abhebt von anderen biologischen Populationen. Außerdem besteht zwischen der 3.Person-Perspektive und der 1.Person-Perspektive kein absoluter Gegensatz. Die sogenannte 3.Person-Perspektive ist genuiner Teil des Bewusstseins, also der 1.Person-Perspektive. Mathematisch kann man davon sprechen, dass die Perspektive des empirischen Beobachters eine echte Teilmenge der Perspektive der 1.Person ist. Zum vollen Verständnis des empirischen Beobachters muss man letztlich sogar von dieser Teilmengeneigenschaft Gebrauch machen, sonst kann man das Funktionieren des empirischen Beobachters gar nicht erklären.
  6. Dieses spezifische Abhängigkeitsverhältnis des empirischen Beobachters von dem introspektiven Beobachter wurde bislang in den Wissenschaften kaum (oder gar nicht?) tiefer gehender diskutiert und untersucht. Man belässt es gerne bei der Abgrenzung.

SPEZIFISCHE DYNAMIK DES BIOLOGISCHEN

  1. Kommen wir nochmals zurück zur Behauptung, dass sich die biologischen Strukturen von den allgemeinen physikalischen Strukturen durch eine spezifische Dynamik auszeichnen und innerhalb der biologischen Strukturen sich die menschliche Population auch nochmals durch eine spezifische Dynamik auszeichnet. Viele (die meisten?) Wissenschaftler würden solche Feststellungen eher ablehnen. Die Grundtendenz ist (nachvollziehbar und bis zu einem gewissen Grad angemessen), die Vielfalt der Phänomene auf möglichst wenig Grundprinzipien zurück zu führen. Das ist das Erfolgsprinzip der empirischen Wissenschaften bis heute. Allerdings zeigt die Geschichte der Wissenschaften, dass gerade aufgrund dieses Prinzips nicht alles zu einem Einheitsbrei zusammen gedampft wurde, sondern dass gerade im Versuch der Vereinfachung sich auch Besonderheiten gezeigt haben. Die Vielfalt der heute bekannten Materieteilchen (subatomar, atomar, molekular…) kann man zwar auf allgemeine Prinzipien zurückführen, die schließlich alle im Superbegriff der Energie versinken, aber die Vielfalt der Phänomene im Universum allgemein wie speziell auch auf der Erde mit den biologischen Strukturen kann man nicht erklären, indem man im abstraktesten Allgemeinen verweilt.
  2. Ein Charles Darwin hat (im Kontext vieler anderer Denker, die damals ähnliche Phänomene untersuchten) zwar einerseits die Vielfalt biologischer Phänomene auf einige wenige Prinzipien der möglichen Entstehung zurückgeführt, aber diese Rückführung führte nicht zur Aufhebung der Vielfalt selbst. Nein, die Vielfalt blieb erhalten und es kamen Ideen auf, wie nicht nur diese Vielfalt sondern noch ganze andere Vielfalte entstehen könnten. In gewisser Weise erschien die beobachtbare Vielfalt als Manifestation eines Prinzips, das offensichtlich wirkte und genau durch die wechselnden Vielfalte sichtbar wurde. Dass dieses Prinzip dann den Namen Evolution bekam ist fast nebensächlich, Wichtig ist nur, dass überhaupt ein Prinzip entdeckt werden konnte, das mathematisch als Funktion, Abbildung interpretierbar ist:
  3. evol: BIOL x ENV —> ENV x BIOL
  4. Etwa umschreibar mit: gegebene biologische Systeme (BIOL) in bestimmten Umgebungen (ENV) können neue biologische Systeme hervorbringen und dabei zugleich verändernd auf die Umgebung einwirken. Die spezifischen Aktivitäten, Veränderungen dieser vielfältigen Formen werden hier allgemein als Dynamik bezeichnet.
  5. In dieser Allgemeinheit lässt das Evolutionskonzept noch nahezu nichts Konkretes erkennen, fokussiert aber den Blick darauf, dass der kontinuierliche Strom der Formen nicht rein zufällig stattfindet, sondern von Bedingungen abhängt, die nach einem bestimmten Muster neue Formen hervorbringt. Diese Dynamik deutet damit auf eine bestimmte Prozessstruktur hin, auf eine bestimmte mathematisch beschreibbare Logik des Geschehens, die sich nicht in der Beschreibung der einzelnen Teile erschöpft, sondern nur und gerade in der Beschreibung von Abfolgen und Zusammenhängen, durch die sich diese unterstellte Logik manifestiert.
  6. Der Begriff der Emergenz, der in diesem Zusammenhang oft und gerne benutzt wird, erscheint dem Autor dieser Zeilen zu schwach, um der Konkretheit dieser Logik und ihrer massiven Wirkung gerecht zu werden.
  7. Nach Darwin konnte das postulierte Prinzip der Evolution schrittweise immer weiter konkretisiert werden. Mit der Entdeckung von Zellstrukturen, von Molekülen, speziell dem DNA-Molekül, dem Reproduktionsmechanismus der Zellen mit Hilfe von DNA- und anderen Molekülen, dem epizyklischen Geschehen und vielem mehr konnte man die postulierte Logik des Geschehens an immer konkreteren Strukturen festmachen und damit die unterstellte Prozessstruktur verfeinern. Mittlerweile gibt es sogar weitreichende Modelle, die sogar die Entstehung der komplexen Zellen selbst aus einfacheren Bestandteilen unter bestimmten Umgebungsbedingungen plausibel machen können. Auch hier handelt es sich letztlich mathematisch um Abbildungsprozesse, die die Genese/ Konstruktion von komplexen Strukturen aus einfacheren Elementen unter Beteiligung von Wirkprinzipien andeuten. Die Wirkprinzipien selbst jenseits der beteiligten materiellen Komponenten sind nicht direkt beschreibbar, nur in ihren Wirkungen (so wie auch z.B. die Gravitation sich nur indirekt durch das Verhalten der beobachtbaren Materiekonstellationen erschließen lässt).
  8. Die entscheidend Botschaft ist hier also, dass sich in der Dynamik biologischer Strukturen Wirkprinzipien manifestieren, die charakteristisch für das Biologische sind, die auf implizite Eigenschaften der beteiligten Komponenten hinweisen, die sich nur in bestimmten Konstellationen zeigen. Letztlich sind es Eigenschaften der Materie, die sich überall im Universum zeigen können, wenn entsprechende Bedingungen gegeben sind.

ENDLICHE UNENDLICHKEIT

  1. Während ein einzelner Mensch am Beispiel seines Körpers mit dem klaren Beginn (Geburt) und dem klaren Ende (Tod) das Modell eines endlichen Prozesses am eigenen Leib erleben kann (und natürlich vielfältig im Laufe seines Lebens mit anderen Phänomenen), gibt es aus Sicht eines Menschen aber Phänomene, die sein Leben überdauern, die länger als 100 Jahre andauern. Die Endlichkeit wird damit immer ungreifbarer, erscheint immer mehr wie eine quasi Unendlichkeit. Und im Denken kann ein Mensch den Begriff der Unendlichkeit formen als Gegensatz zur Endlichkeit. Es bleibt zwar offen, ob und wieweit dem der gedanklichen Unendlichkeit irgendeine Realität entspricht, aber zumindest gibt es ein Etwas, ein Gedachtes, als Gegensatz zur konkreten Endlichkeit.

UNTERBRECHUNG

  1. Mit diesem angedeuteten Koordinatensystem kann man nun viele bekannte Phänomene diskutieren und zueinander in Beziehung setzen. Vielleicht geschieht dies mit weiteren Blogeinträgen.

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CARTESIANISCHE MEDITATIONEN III, Teil 8

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 26.Dezember 2011
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

(114) Den rote Faden der Rationalität, der die ‚universale Philosophie‘ mit den ‚Tatsachenwissenschaften‘ verbindet, formuliert Husserl an einer Stelle auch wie folgt: ‚Alle Rationalität des Faktums liegt ja im Apriori. Apriorische Wissenschaft ist Wissenschaft von dem Prinzipiellen, auf das Tatsachenwissenschaft rekurrieren muss, um letztlich, eben prinzipiell begründet zu werden…‘ (vgl. CM2, S.38, Z28f) Dies klingt auf den ersten Blick so klar. Doch lässt man sich auf die Magie der Worte ein, dann können sich zuvorderst erscheinende Strukturen verschieben, und in der Folge weiteren Nachdenkens können Strukturen sichtbar werden, die einfach anders sind.

(115) Beginnen wir mit den Begriffen ‚Apriorische Wissenschaft‘ und ‚Tatsachenwissenschaft‘. Wie so oft, ist der Begriff der ‚Tatsache‘ nicht wirklich definiert. Aus dem Kontext können wir nur erschließen, dass Husserl jene Gegebenheiten meint, die die empirischen Wissenschaften als ‚gültig‘ beschreiben. Aus Sicht der Phänomenologie sind diese als ‚Tatsachen‘ bezeichneten Gegebenheiten zunächst einmal Phänomene wie alle anderen Phänomene auch. Aus Sicht der Phänomenologie gibt es nur die Menge der Phänomene [Ph], wie sie im Bewusstsein erscheinen unabghängig davon, wie eine bestimme Denkdisziplin eine mögliche Teilmenge von diesen darüber hinaus bezeichnet. Wenn also die empirischen Wissenschaften darüber überein gekommen ist, innerhalb der Menge der Phänomene Ph eine bestimmte Teilmenge auszuzeichnen und dieser Teilmenge den Namen ‚empirische Phänomene [Ph_emp]‘ verleihen, dann kann man dies tun; die Menge der empirischen Phänomene Ph_emp bleibt damit aber dennoch primär eine Menge von Phänomenen Ph, also Ph_emp subset Ph.

(116) Husserl charakterisiert den Übergang vom ’naiven‘ Alltagsbewusstsein zum ’nicht-naiven‘ –sprich ‚kritischen‘– philosophischen (phänomenologischen) Bewusstsein   zuvor durch die Reduktion mittels Epoché, durch die Bewusstwerdung davon, dass alles –insbesondere das Weltliche– nur etwas ist im Bewusstsein, als Gegebenes des transzendentalen ego. (vgl. z.B. CM2, S8f) Damit verschwinden keine Phänomene, auch nicht die, die ‚empirisch‘ genannt werden, es wird nur ihre ‚Interpretation‘ als etwas, das  ein ausserhalb des Bewusstsein Liegendes sei (z.B. der Außenraum, das Andere, die Welt), eingeklammert und aller Sinn beschränkt auf jenen Sinn, der sich aus der Unhintergehbarkeit des ‚Im-Wissen-des-Wissens-um-sich-Selbst-und-seiner-Gegebenheiten‘ (zuvor schon abkürzend transzendentales Subjekt trlS bezeichnet) ergibt.

(117) Folgt man diesem Gedanken, stellt sich nur die Frage, wie ein so transzendental bezogenes Gegebenes jemals wieder als ‚Bote einer anderen Welt‘, und zwar wenigstens hypothetisch, gedacht werden kann? Wie kann ein trlS ‚in sich‘ bzw. ‚aus sich heraus‘ jenes ‚Andere‘ erkennen, das von ihm weg auf etwas anderes verweist, ohne dabei das Gegebensein im trlS zu verlieren? Sofern ein bestimmtes Gegebenes nicht im Kontext von speziellen Eigenschaften W  vorkommt, die das trlS dazu ‚berechtigen‘, auf ein ‚jenseits von ihm selbst‘ (ein Transzendentes) verweisen zu können, wird man die Frage negativ bescheiden müssen. Und die vorausgehenden Reflexionen zum husserlschen transzendentalen ego haben ja gerade zum Konzept des trlS geführt, weil im tiefsten Innern des Transzendentalen, in seinem ‚Kern‘, in seiner ‚Wurzel‘,…. das ‚Andere‘ schon immer da ist. Nur weil das ‚Wissen um sich selbst‘ als dieses  spezielle Wissen das im Wissen als etwas Gegebenes als ‚etwas von dem Wissen Verschiedenes‘, als ein ‚wesentlich Anderes‘ schon immer denknotwendig vorfindet, kann das trlS sowohl den Begriff des Anderen denken wie auch den Begriff des ‚für sich Seins‘ eines Anderen. Da dieses Andere in vielfältigen Eigenschaftskombination sowie in mannigfaltigen dynamischen Abläufen auftritt, zeigt sich das Andere nicht nur mit einem ‚Gesicht‘; es kann sehr viele verschiedene Namen bekommen.

(118) Wenn also in der Epoché die ‚Weltgeltung‘ bestimmter Phänomene innerhalb des Wissens um sich selbst thematisiert wird und damit dieses Wissen sich seiner ‚kritischen Funktion‘ bewusst wird, ermöglicht sich zwar auf der einen Seite ein spezieller reflektierender Umgang mit diesen Phänomenen, durch diesen reflektierenden Umgang wird aber die jeweilige ‚phänomenologische Qualität‘, die jeweilige Mischung von Eigenschaften, die ein Phänomen konstituieren, nicht ausgelöscht; diese Eigenschaften bleiben, wie sie sind. Die grundsätzliche (transzendentale!) Andersartigkeit jeden Phänomens bleibt erhalten und innerhalb dieser unhintergehbaren Andersartigkeit deutet sich in vielen Phänomenen samt ihrem Kontext ein ‚Jenseits‘, eine ‚Transzendenz‘ an, die den Phänomenen und der Art ihres Erscheinens ‚innewohnt‘. In diesem Sinne muss man sagen, dass der transzendentale Charakter des ‚Anderem im für uns sein‘ ergänzt werden muss um die Eigenschaft der ‚Transzendenz‘ als etwas dem Anderen wesentlich Zukommendes.

(119) Das Wissen um sich ‚besitzt‘ das andere ’nicht‘, sondern es ‚empfängt‘ es. Anders gewendet, im kontinuierlichen Empfangen des transzendental Anderen ‚zeigt sich‘ (revelare, revelatio, Offenbarung) etwas ganz anderes als wesentlicher Teil unseres für uns Seins. Und da dieses sich kontinuierlich Zeigen (Offenbaren) aufgrund der Endlichkeit jeden einzelnen Phänomens im Kommen und Gehen und ‚zusammenbindenden Erinnern‘ eine ’nicht abschließbare Endlichkeit‘ ist, eine ‚unendliche Endlichkeit‘, verweist jedes konkrete Phänomen durch diese ‚gewusste Nichtabschließbarkeit‘ auf ein ‚Jenseits‘ des aktuell Gegebenen, manifestiert sich eine ‚Transzendenz‘, die im Wissen um sich und für sich zu einem ‚Faktum‘ wird, dessen kontinuierliche Endlichkeit ein Begreifen, ein ‚Gefasstwerden‘, einen Abschluss, eine Einheit, eine …. herausfordert.

(120) Innerhalb der allgemeinen Menge der Phänomene Ph  eine spezielle Menge der empirischen Phänomene Ph_emp aussondern zu können setzt somit voraus, dass diesen ausgesonderten Phänomenen qua Phänomene etwas zukommt, das diese Aussonderung rechtfertigt. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass bis auf jene Menschen, die als ‚psychisch gestört‘ klassifiziert werden, zwischen Menschen immer eine Einigung darüber möglich ist, ob ein bestimmtes Phänomen ein empirisches Phänomen x in Ph_emp ist oder nicht x -in Ph_emp. Diese Praxis ist möglich, weil es vorab zu dieser Praxis als notwendige Eigenschaften der empirischen Phänomene etwas gibt, was sie von anderen abhebt und aufgrund deren Gegebenheit Menschen diese Unterscheidung treffen können. Die empirischen Wissenschaften, die sich auf diese Teilmenge Ph_emp der allgemeinen Phänomene Ph berufen, sind in dieser Berufung noch nicht verschieden von der allgemeinen phänomenologischen Philosophie. Die Phänomene als Phänomene sind reell, sind gegeben, unabhängig davon, wie ich sie darüber hinaus ‚interpretiere‘, ob ’naiv‘ hinnehmend oder ‚kritisch‘ einordnend.

(121) Das übliche Kriterium in den empirischen Wissenschaften, mittels dessen die empirischen Phänomene Ph_emp von der allgemeinen Menge der Phänomene Ph ‚ausgesondert‘ wird, ist das ‚Experiment‘. Ein Experiment ist eine Ereignis- bzw. Handlungsfolge,  deren Kennzeichen ist, dass sie jederzeit von jedem wiederholbar sein müssen und dass bei gleichen Ausgangsbedingungen die gleichen (Mess-)Ereignisse  auftreten. Eine detaillierte phänomenologische Beschreibung wäre etwas umfangreicher. An dieser Stelle sollen nur die Kernaussagen festgehalten werden. Dazu bezeichnen wir alle Phänomene, die im Kontext eines Experimentes auftreten, als Ph_exp. Das Experiment als solches ist nicht notwendig, sondern ‚kontingent‘. Man kann ein Experiment durchführen, aber man muss nicht. Allerdings, wenn man ein Experiment durchführt, dann gilt, dass das das zu messende Phänomen Ph_emp  mit ‚Notwendigkeit‘ immer auftritt. Man kann also sagen, die empirischen Phänomene sind eine Schnittmenge aus den allgemeinen Phänomenen und den experimentellen Phänomenen Ph_emp = Ph cut Ph_exp. Mit all diesen Besonderheiten bleiben sie aber genuine Phänomene und fallen nicht aus dem Bereich einer phänomenologischen Reflexion heraus. Ein phänomenologischer Philosoph kann die experimentellen empirischen Phänomne betrachten wie er alle anderen Phänomene auch betrachtet.

(122) Das einzelne empirische Phänomen als solches besagt aber so gut wie nichts. Es gewinnt einen möglichen ‚Sinn‘ erst durch die zusätzliche Eigenschaft, dass es nicht nur ‚kontingent‘ im Sinne von ‚regellos‘, ‚zufällig‘ ist, sondern dass es im Zusammenhang mit anderen empirischen Phänomenen etwas ‚Nicht-Kontingentes‘, etwas ‚Nicht-Zufälliges‘  erkennen läßt. Diese Beschreibung schließt mit ein, dass man sagen kann, wie genau die Eigenschaft ‚Zufällig-Sein‘ (Kontingent-Sein) definiert wird. Wir setzen an dieser Stelle einfach mal voraus, dass dies geht (was alles andere als ‚trivial‘ ist!). Nicht-Zufälliges kann z.B. auftreten in Form von Zufallsverteilungen oder aber sogar bisweilen in Gestalt eines ‚gesetzmäßigen Zusammenhangs‘, dass immer wenn ein Phänomen p_i auftritt, ein anderes Phänomen p_j zugleich mit auftritt oder dem Phänomen p_i ‚folgt‘. In diesem Sinne gibt es im Bereich der Phänomene ’notwendige Zusammenhänge‘, die das Denken im Anderen  ‚vorfindet‘. Wichtig ist aber, dass es sich hier um Eigenschaften handelt, die den Phänomenen als Phänomenen zukommen, die nicht aus dem phänomenologischen Denken herausfallen. Ja, mehr noch, es geht hier nicht um ‚primäre‘ Eigenschaften der Phänomene, sondern um ‚phänomenübersteigende‘ Eigenschaften, die auf Zusammenhänge verweisen, die nicht dem einzelnen Phänomen als solchen zukommen, sondern sie verweisen auf ‚Formen des dynamischen Erscheinens‘ von Phänomenen.

(123) Diese ‚das einzelne Phänomen übersteigende Eigenschaften‘ setzen eine Erinnerungsfähigkeit voraus, die aktuell Gegebenes (Aktuales) ‚im nächsten Moment‘ nicht vollständig vergisst, sondern in der Lage ist, ‚Vorher Aktuales‘ wieder zu ‚erinnern‘ und es darüber hinaus noch mit dem ‚jetzt Aktualen‘ in Beziehung zu setzen, z.B. in einem ‚Vergleich‘. Diese Fähigkeit des impliziten Erinnerns gehört unserem Denken zu, ist eine dem Denken inhärierende Eigenschaft, ohne die wir keinen einzigen Zusammenhang denken könnten. In diesem Sinne ist das Erinnern und aus der Erinnerung heraus ‚Beziehen‘ können denknotwendig, transzendental.

(124) Durch Experimente kann das phänomenologische Denken allerdings ermitteln, dass das, was erinnert wird  [Ph_mem]  mit dem ‚ursprünglich Wahrgenommenen‘ [Ph_aktual] nicht identisch sein muss und in der Regel auch nicht identisch ist. Also  Ph_mem = Erinnern(Ph_aktual) & Ph_mem != Ph_aktual. D.h. das Erinnern ist keine 1-zu-1 Kopie des vorausgehenden Aktualen sondern –im Normalfall– eine ‚Modifikation des Originals‘. Es ist eine eigene Wissenschaft, zu erforschen, ob und in welchem Umfang diese Modifikationen selbst ‚gesetzmäßig‘ sind. Wichtig an dieser Stelle ist nur, dass man sich bewusst ist, dass das dem Denken transzendental innewohnende Erinnern im Normalfall eine Form von ‚Transformation‘ darstellt, die dem Denken zwar ’neue‘ Eigenschaften des Anderen aufscheinen lässt, aber diese ’neuen‘ Eigenschaften resultieren aus dem Denken selbst. Das ‚Einordnen‘ von Phänomenen in einen ‚gedachten Zusammenhang‘ ist primär ein Akt des Denkens und damit genuin phänomenologisch. Gedachte Zusammenhänge sind aber  als ‚gedachte‘ keine ‚primäre‘  Phänomene sondern ‚abgeleitete‘, ’sekundäre‘ Phänomene. Als ‚gewusste‘ sind sie ‚evident‘, in ihrem möglichen Bezug zu primären Phänomenen können sie ‚divergieren‘, ‚abweichen‘, sich ‚unterscheiden‘.

(125) Das, was sich im Denken zeigt, sind die Phänomene. Sehr verbreitet ist die Redeweise, in der bestimmte Phänomenkomplexe in besonderer Weise als ‚Objekte‘ [Obj] aufgefasst werden. Diese können als Wahrnehmungsobjekte [Obj_perc] auftreten, als  Erinnerungsobjekte [Obj_mem] oder als Denkobjekte [Obj_cog]. In aller Spezifikation bleiben sie Phänomene und gehören zum phänomenologischen Denken. Auch die empirischen Wissenschaften benutzen solche speziellen Objektkonzepte wie ‚Atom‘, ‚chemische Verknüpfungen‘ usw.

(126) Charakteristisch für empirische Theorien ist aber letztlich, dass die gefundenen Zusammenhänge zusätzlich  in einem System von Zeichen (Sprache) so abgebildet werden können, dass sich auf der Basis solcher symbolischer Darstellungen sowohl ein Bezug zu den primären Phänomenen herstellen läßt wie auch, dass sich unter Hinzuziehung eines Folgerungsbegriffs   logische Schlüsse ziehen lassen.

(127) Hierzu müsste man erklären, wie man innerhalb einer phänomenologischen Theorie den Begriff des Zeichens einführen kann.  Dies soll an dieser Stelle nicht geschehen. Husserl selbst lässt diesen zentralen Punkt ganz beiseite. Wir halten hier nur fest, dass an dieser Stelle solch eine Einführung stattfinden müsste; ohne sie wäre das Konzept einer (empirischen) wissenschaftlichen Theorie wesentlich unvollständig.

(128) Blicken wir nochmals zurück. Erinnern wir die Feststellung Husserls ‚Apriorische Wissenschaft ist Wissenschaft von dem Prinzipiellen, auf das Tatsachenwissenschaft rekurrieren muss, um letztlich, eben prinzipiell begründet zu werden…‘ (vgl. CM2, S.38, Z28f)  Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass die empirischen Wissenschaften sich zunächst nicht von der phänomenologischen Philosophie unterscheiden. Sie basieren auf den gleichen Phänomenen und sie benutzen das gleiche Denken. Insofern die empirischen Wissenschaften versuchen, im Raum der Phänomene Zusammenhänge aufzuspüren, Regelhaftigkeiten, müssen sie auf allgemeine Eigenschaften des Anderen rekurrieren, indem sie sich dieser Zusammenhänge ‚bewusst werden‘ und diese als ‚denknotwendige Zusammenhänge‘ explizit machen, bewusst machen, und dann konzeptuell und semiotisch benennen. Empirische Wissenschaften tun dies ‚phänomengeleitet‘, aber auch bestimmten Methoden folgend, die ein Minimum an ‚Wissen um‘ Phänomene und allgemeine Eigenschaften des Denkens einschließt.

(129) Eine klare Abgrenzung zu einer phänomenologischen Philosophie dürfte letztendlich schwierig sein, da ja auch ein phänomenologischer Philosoph nie in jedem Augenblick ‚das Ganze‘ denken kann, sondern immer nur schrittweise  Teilaspekte reflektiert, die er dann ebenso schrittweise zu größeren Perspektiven ‚zusammenfügen‘ kann. Mir scheinen vor diesem Hintergrund die eher zur Gegenübersetzung von Philosophie und empirischer Wissenschaft anregenden Formulierungen von Husserl nicht so geeignet zu sein. Stattdessen würde ich eher den ‚inklusiven‘ Charakter betonen. Empirische Wissenschaft ist grundsätzlich ein Denkgeschehen, was ‚innerhalb‘ des phänomenologischen Denkens stattfindet. Empirisches Denken stellt insoweit eine ‚Teilmenge‘ des phänomenologisch-philosophischen Denkens dar, insoweit das empirische wissenschaftliche Denken (i) einmal die Menge der zu betrachtenden Phänomene mittels eines überprüfbaren Kriteriums ‚beschränkt‘ und (ii) bei den reflektierenden Betrachtungen nicht alles reflektiert, was man reflektieren könnte, sondern sich auf jene Aspekte beschränkt, die notwendig sind, um die empirisch motivierten Zusammenhänge angemessen zu denken.  Wie die fortschreitende Entwicklung der empirischen Wissenschaften zeigt, können sich die Grenzen empirisch-wissenschaftlicher Reflexion beständig verschieben in Richtung solcher Inhalte, die traditionellerweise nur in der Philosophie zu finden waren. Dass heutzutage Ingenieure über die Konstruktion eines ‚künstlichen‘ Bewusstseins grübeln, kann sehr wohl geschehen im Einklang einer genuinen phänomenologisch-philosophischen Reflektion aller Gegebenheiten eines transzendentalen Subjekts.

Fortsetzung folgt.

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