Archiv der Kategorie: Wissen – empirisches

WARUM ES IMMER MEHR ALS EINE MEINUNG GIBT… Eine Notiz

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 13.April 2021
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

KONTEXT

Es ist schon immer eine Alltagserfahrung, dass es viele Sichtweisen zu ein und derselben Sache gibt. Dort, wo es ‚um nichts zu gehen scheint‘, da kann man mit einem Achselzucken, einem Lächeln, mit einer humorvollen Bemerkung den Unterschied kommentieren, überspielen, auf sich beruhen lassen.

Wenn es aber um etwas geht, gar um ‚Leben und Tod‘, ist das Lächeln und Wegschauen nicht mehr ganz so einfach. Dann werden viele Mitbürger aufgeregter, wütend, intoleranter, aggressiv, bis dahin, dass sie sich zu Gewaltakten hinreißen lassen.

CORONA TIMES

In Corona-Times ist dies nicht anders und die Gegensätze tendieren dazu, schroffer zu werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Vielzahl der Meinungen auf allen Ebenen gegenwärtig zu sein scheint: Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik erwecken nicht den Eindruck einer erleuchteten Gemeinschaft , die an einem Strang zieht; Medien liefern nur das ab, was die Gesellschaft selbst ist: ein vielfarbiges Bild an Meinungen, und die Wissenschaft, die in diesen Zeiten in einer Wiese zusammenarbeitet wie noch nie zuvor, bietet ‚per se‘ ein facettenreiches Bild, weil Wissenschaft ja gerade davon lebt, ungeklärte Fragen durch viele Experimente und Versuche schrittweise aufzuhellen; wäre alles von vornherein klar, dann bräuchte es keine Wissenschaft.

WISSENSCHAFT UND ALLTAG

Doch, hier gibt es einen qualitativen Unterschied, den die meisten, die mit Wissenschaft nicht vertraut sind, leicht übersehen: während die Wissenschaft methodisch geleitet versucht, in vielen kleinen Schritten und durch Vernetzung untereinander die vielen Puzzlesteine zusammen zu tragen, um zu einem zusammenhängenden Bild zu kommen, das immer wieder an einzelnen Stellen korrigiert wird, missverstehen viele Menschen diesen organisierten Such-, Kommunikations- und Korrekturprozess als ‚Nichtwissen‘, als ‚Beliebig‘. Und sie ziehen daraus den Schluss, dass es sowieso keine allgemeine Wahrheit gibt, also können sie ihre — meist sehr zufälligen — privaten Meinung als die neue Wahrheit in die Welt tragen.

WIR SIND DIE EINGEBORENEN

Diese heute sehr verbreitete Denkweise, fällt aber nicht irgendwie ‚vom Himmel‘. Sie ist vielmehr in jedem Menschen, in der Verstehensstruktur eines jeden Menschen angelegt, dort, wo unser Gehirn sitzt, das — ohne uns zu fragen, unbewusst, vollautomatisch — die Eindrücke der Welt (und des eigenen Körpers) ‚verarbeitet‘.

Eine Grundeigenschaft unseres Gehirns ist es, dass es aus der Vielzahl unserer Wahrnehmungen eine Struktur heraus lösen muss, die für das Verhalten im Alltag ‚brauchbar‘ ist, letztlich unser Überleben sichert. Und da das, was ein Gehirn wahrnimmt, durchgängig niemals ‚eindeutig‘ sondern ‚vieldeutig‘ ist, muss es ständig Entscheidungen fällen, was es denn gerade wahrnimmt. Bei diesen Entscheidungen spielt das ‚Vorwissen‘, die aktuellen ‚Bedürfnisse, Emotionen‘ usw. eine sehr große Rolle. Wer mit Sehschwächen ohne Brillen umher geht, vielleicht jogged, kann dies leicht testen: alles, was man nicht sofort klar erkennen kann, wird vom Gehirn automatisch ‚gedeutet‘. Fast nie erkennt das Gehirn das, was sich vor einem als undefiniertes Etwas zeigt, als das, was es wirklich ist. Im Alltag fällt einem das kaum auf. Einem möglichen Beobachter, der zuschaut, was wir tun, sehr wohl. Wir sind in der ‚Schleife unserer Voreinstellungen‘ gefangen.

WIR — UNSICHTBAR — VIELE

Wenn also verschiedene Personen in einer Situation aufeinander treffen, sieht erst einmal jeder, was ‚er/sie/x‘ gerade sieht, und das ist ’normal‘. Solange man sich dieser Sachverhalte nicht bewusst wird, kann dies aber sehr schnell zu Missverständnisse, Verdächtigungen, Beschimpfungen usw. führen: jeder glaubt halt an das, was in seinem Kopf ist, ohne sich klar zu machen, dass genau das, was in seinem Kopf ist, normalerweise weniger mit der Welt zu tun hat, die außerhalb des Kopfes ist, sondern mit der Welt, die das eigene Gehirn in großer Fleißarbeit in jeder Sekunde, ja Millisekunde, für uns ausrechnet.

UMGANG MIT VIELDEUTIGKEIT

Die große Errungenschaft der modernen Wissenschaft — nachdem es schon ca. 300.000 Jahre unsere Lebensform, den homo sapiens gegeben hat — besteht darin, diesen fundamentalen Sachverhalt auf pragmatischem Wege erkannt zu haben und seitdem versucht, durch systematisches Vorgehen, den eigenen — letztlich unentrinnbaren — Vorurteilen stückweise zu entkommen. Es zählt halt nur, was auch andere so wahrnehmen können wie ich; dass es nach bestimmten Verfahren reproduzierbar sein muss; dass die allgemeinen Aussagen, die man aufgrund von Einzelbeobachtungen als Arbeitshypothesen formuliert, sich dann auch im Einsatz nachprüfbar bewähren. Ein sehr mühsames Geschäft, aber doch seit gut 200 Jahren mit beeindruckenden Erfolgen.

WISSENSCHAFTSUNFÄHIG

Dass heute immer mehr Menschen — auch nicht wenige sogenannte ‚Akademiker‘ — dies nicht mehr verstehen, Wissenschaft gering schätzen, und lieber ihren ad-hoc Einbildungen vertrauen, ist ein gefährliches Verhaltensprogramm. Ein solches aus Dummheit geborenes Verhaltensprogramm kann alles an lebenswerten Strukturen zerstören, die mühsam im Laufe der letzten Jahrhunderte aufgebaut wurde. Es zeigt, wie fragil menschliche Kultur ist…

Wahrheit ist kein Selbstläufer. Eine eigene Meinung als solche ist weder wahr noch falsch. Qualität erfordert viel Wissen, viel Disziplin, ein geordnetes, koordiniertes Vorgehen von vielen Experten gleichzeitig über einen längeren Zeitraum. So etwas muss mühsam gelernt und eingeübt werden. Dafür braucht man ein sehr leistungsfähiges und lebensbejahendes Bildungssystem, das von allen geschätzt und mitgetragen wird …

EPILOG

Leben war noch nie einfach … bislang gibt es uns trotzdem …

DER AUTOR

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Brexit – Computerinterface – Zukunft. Wie hängt dies zusammen?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de
19.-20.Oktober 2019

Aktualisierung: 3.Nov.2019 auf dieser Seite

LEITGEDANKE

Wenn das, was wir nicht sehen, darüber entscheidet, was wir sehen,
dann lohnt es sich, für einen Moment inne zu halten, und sich darüber klar
zu werden, was wir tun, wenn wir versuchen, die Welt zu verstehen.

INHALT

1 Der Brexit als Lehrstück … 1
2 Das Unsichtbare in Allem 3
3 Computer-Interface als ein Stück Alltag 4
4 Wir als Teil von BIOM I und II 6
5 Homo Sapiens im Blindflug? 9
6 Epilog 11

DOKUMENT (PDF)

KURZKOMMENTAR

Der Text des Dokuments ist das Ergebnis von all den vorausgegangenen Blogeinträgen bis jetzt! Es ist die erste Zusammenschließung von verschiedenen großen Themen, die bislang im Blog getrennt diskutiert wurden. Es ist die große ‚Vereinheitlichung‘ von nahezu allem, was der Autor bislang kennt. Vielleicht gelingt es, dieser Grundintention folgend, diesen Ansatz weiter auszuarbeiten.

KURZKOMMENTAR II

Der Text ist aus philosophischer Perspektive geschrieben, scheut nicht die Politik, nimmt den Alltag ernst, nimmt sich die Digitalisierung vor, bringt die Evolutionbiologie zentral ins Spiel, und diagnostiziert, dass die aktuellen smarten Technologien, insbesondere die neuen Smart City Ansätze, schlicht zu wenig sind. Die ganzen nicht-rationalen Faktoren am Menchen werden nicht als lästiges Beiwerk abgeschüttelt, sondern sie werden als ein zentraler Faktor anerkannt, den wir bislang zu wenig im Griff haben.

ERGÄNZUNG 3.Nov.2019

In dem PDF-Dokument wird erwähnt, dass die Brexit-Entscheidung in England im Vorfeld massiv aus dubiosen Quellen beeinflusst worden ist. Im PDF-Dokument selbst habe ich keine weiteren Quellenangaben gemacht. Dies möcte ich hier nachholen, da es sich um einen explosiven Sachverhalt handelt, der alle noch bestehenden demokratischen Gesellschaft bedroht. Da ds ZDF und Phoenix die Angaben zu immer wieder neuen Terminen machen, sind die zugehörigen Links möglicherweise immer nur zeitlich begrenzt verfügbar.

Der Film „Angriff auf die Demokratie. Wurde der Brexit gekauft?“ von Dirk Laabs wird einmal in einem Text kurz beschrieben, und es wird ein Link auf youtube angegeben, wo man den Film als Video abrufen kann.

Hier aus dem Worlaut der Ankündigung:

„Die britische Wahlkommission ist überzeugt: Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass große Teile der Gelder für eine Kampagne vor dem Brexit-Referendum aus dubiosen Quellen stammen.

„Im Fokus steht der britische Geschäftsmann Arron Banks, Strippenzieher und enger Freund des ehemaligen Ukip-Anführers Nigel Farage. Über seine Offshore-Konten sollen fast neun Millionen Pfund Spenden geflossen sein.“

Die Recherchen des ZDF legen nahe, „dass Wähler verdeckt und so effektiv wie möglich beeinflusst werden sollten.“ Es werden nicht nur die Geldströme vefolgt, sondern der ZDFzoom-Autor Dirk Laabs „redet mit Insidern aus der Kampagne und konfrontiert ihren Kopf, den ehemaligen Chef der Ukip, Nigel Farage. Farage redet im Interview mit dem ZDF auch darüber, welchen Einfluss US-amerikanische Berater für die Kampagne hatten. Steve Bannon, früherer Berater von US-Präsident Trump, war einer der wichtigen Berater in diesem Spiel.“

„Konkret geht es um millionenschwere Kredite, die die Pro-Brexit-Kampagne von Banks erhalten haben soll. Demnach stammte das Geld möglicherweise nicht von ihm selbst, sondern von Firmen mit Sitz auf der Isle of Man und in Gibraltar, die sich damit in den Wahlkampf eingemischt hätten. Mittlerweile ermittelt die National Crime Agency. Sie soll die bislang verschleierte Kampagnen-Finanzierung offenlegen.“

„Nigel Farage spricht im Interview mit dem „ZDFzoom“-Autor Dirk Laabs ganz offen darüber, wie eng die Lager zusammengearbeitet haben und wie wichtig auch der ehemalige Trump-Berater Steve Bannon für die Kampagne in Großbritannien war“ … Ein Whistleblower, der für die Leave-Kampagne gearbeitet hat, ist überzeugt: „Die verschiedenen Brexit-Kampagnen brachen die Gesetze, griffen dabei auf ein ganzes Netzwerk von Firmen zurück, um mehr Geld ausgeben zu können. Ohne diese Betrügereien wäre das EU-Referendum anders ausgegangen.“

„ZDFzoom“-Autor Dirk Laabs geht in der Dokumentation den Fragen nach: „Mit welchen fragwürdigen Methoden wurde die Mehrheit der Briten vom Brexit überzeugt? Welche Interessen und Profiteure stecken dahinter? Und Laabs fragt bei Akteuren in Brüssel nach, welche Maßnahmen mit Blick auf die Europawahl ergriffen werden sollten und überhaupt könnten, um den Digital-Wahlkampf der Zukunft zu regulieren oder kontrollierbarer zu machen.“

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Relektüre von Edelman 1992: Welche Theorie von was?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 5.Dez. 2018
URL: cognitiveagent.org
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

 

DAS PROBLEM

Bei der Relektüre von Edelman (siehe Überblick über alle bisherigen Beiträge HIER) stellt sich die Frage, um welche Theorie es hier überhaupt geht?

Es ist ein großes Verdienst von Edelman, dass er versucht, die Gehirnforschung nicht isoliert zu betrachten, sondern sehr wohl im Kontext von Bewusstsein und Verhalten, sehr wohl auch im Kontext einer Evolution des Lebens bzw. auch im Kontext von ontogenetischen Wachstumsprozessen. Als wäre dies noch nicht genug, stellt er gelegentlich auch explizite philosophische Überlegungen an oder wagt sich vor in den Bereich des Engineering, insofern er konkrete materielle Modelle von Gehirnen baut (mittels künstlicher neuronaler Netze), um die Plausibilität seiner Überlegungen zum Gehirn zu überprüfen. Nimmt man all dies ernst, dann findet man sich unversehens in einer Situation wieder, wo man nicht mehr so richtig weiß, um ‚welche Theorie von was‘ es hier eigentlich geht.

PANORAMA VON PHÄNOMENEN

Vom BigBang zum homo sapiens, reflektiert in einer Vielzahl von Einzelwissenschaften
Vom BigBang zum homo sapiens, reflektiert in einer Vielzahl von Einzelwissenschaften

Versucht man die vielen Aspekte irgendwie zu ‚ordnen‘, die im Buch von Edelman aufscheinen, dann eröffnet sich ein breites Panorama von Phänomenen, die alle ineinander greifen (siehe Schaubild), und die – strenggenommen – auch genauso, in diesem dynamischen Zusammenhang, zu betrachten sind, will man die Eigenart dieser Phänomene ‚voll‘ erfassen.

Eigentlich geht es Edelman um ein besseres Verständnis des ‚Gehirns‘. Doch kommt das Gehirn ja schon im Ansatz nicht alleine, nicht isoliert vor, sondern als Teil eines übergeordneten ‚Körpers‘, der von außen betrachtet (Dritte-Person Perspektive) ein dynamisches ‚Verhalten‘ erkennen lässt. Dieses Verhalten ist – im Fall des homo sapiens, also in unserem Fall als Menschen – nicht isoliert, sondern ist sowohl durch ‚Kommunikation‘ mit anderen Menschen ‚vernetzt‘ als auch durch vielfältige Formen von Interaktionen mit einer Welt der Objekte, von Artefakten, von Maschinen, und heute sogar ‚programmierbaren Maschinen‘, wobei letztere ein Verhalten zeigen können, das zunehmend dem menschliche Verhalten ‚ähnelt‘. Ferner konstatieren wir im Fall des homo sapiens in der Ersten-Person Perspektive noch etwas, das wir ‚Bewusstsein‘ nennen, das sich aber nur schwer in seiner Beschaffenheit kommunizieren lässt.

WISSENSCHAFTLICHE DISZIPLINEN

Im Versuch, die Vielfalt der hier beobachtbaren Phänomene beschreiben zu können, hat sich eine Vielzahl von Disziplinen herausgebildet, die sich — neben der Sonderstellung der Philosophie — als ‚wissenschaftliche Disziplinen‘ bezeichnen. ‚Wissenschaftlich‘ heißt hier in erster Linie, dass man die Phänomene des Gegenstandsbereichs nach zuvor vereinbarten Standards reproduzierbar ‚misst‘ und man nur solche so vermessenen Phänomene als Basis weitergehender Überlegungen akzeptiert. Das Paradoxe an dieser Situation ist – was Edelman auf S.114 auch notiert –, dass sich dieses wissenschaftliche Paradigma nur umsetzen lässt, wenn man Beobachter mit Bewusstsein voraussetzt, dass man aber zugleich im Ergebnis der Messung und der Überlegungen von dem ermöglichenden Bewusstsein (samt Gehirn) abstrahiert.

PHILOSOPHIE FÜR DEN ‚REST‘

Eine Konsequenz dieser ‚Abstraktion von den Voraussetzungen‘ ist, dass ein Wissenschaftler letztlich keine Möglichkeit hat, in ‚offizieller‘ Weise, über sich selbst, über sein  Tun, und speziell auch nicht über die Voraussetzungen seines Tuns, zu sprechen. Ein solches sich selbst reflektierende Denken und Sprechen bleibt damit der Philosophie überlassen, die als solche bei der Entstehung der empirischen Wissenschaften offiziell vom Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen wurde. Als Wissenschaftsphilosophie hat die Philosophie zwar immer wieder versucht, sich dem empirischen Wissenschaftsbetrieb offiziell anzunähern, aber bis heute ist das Verhältnis von empirischen Wissenschaften und (Wissenschafts-)Philosophie aus Sicht der empirischen Wissenschaften ungeklärt. Für die empirischen Wissenschaften wundert dies nicht, da sie sich von ihrem methodischen Selbstverständnis her auf ihre isolierte Betrachtungsweisen verpflichtet haben und von diesem Selbstverständnis her sich jeder Möglichkeit beraubt haben, diese Isolation mit den typischen wissenschaftlichen Bordmitteln aufzubrechen. Allerdings produziert dieses ’selbst isolierende Paradigma‘ immer mehr Einzeldisziplinen ohne erkennbaren Zusammenhang! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wann sich diese Explosion der nicht-integrierten Einzelbilder selbst zerstört.

ANSPRUCH, ALLES ZU ERKLÄREN

Die Wissenschaften selbst, allen voran die Physik, kennen sehr wohl den Anspruch, mit ihrer Arbeit letztlich ‚alles aus einer Hand‘ zu erklären (z.B. formuliert als ‚Theory of Everything (ToE)‘ oder mit dem Begriff der ‚Weltformel‘), doch sowohl die konkrete Realität als auch grundlegende philosophische und meta-theoretische Untersuchungen legen eher den Schluss nahe, dass dies vom Standpunkt einer einzelnen empirischen Wissenschaft aus, nicht möglich ist.

VISION EINES RATIONALEN GESAMT-RAHMENS

Um also die Vielfalt der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen zu bewahren, mehr noch, um sie in ihren inhaltlichen und methodischen Beschränkungen untereinander transparent und verständlich zu machen, wird man die (philosophische) Arbeitshypothese aufstellen müssen, dass die Rationalität der Einzelwissenschaften letztlich nur aufrecht erhalten werden kann, wenn man sowohl für jede Einzelwissenschaft wie auch für ihr Zusammenspiel eine rationale Begründung sichtbar machen kann, die für alle ‚gilt‘. Ein solcher Rationalitätsanspruch ist nicht zu verwechsel mit der alten Idee einer einzelwissenschaftlichen ‚Weltformel‘ oder einer einzelwissenschaftlichen ‚Theory of Everything‘. Eher eignet sich hier das Paradigma einer kritischen Philosophie von Kant, die nach der Voraussetzung für den Wahrheitsanspruch einer Theorie fragt. Während Kant allerdings die Frage nach den Voraussetzungen bei den Grenzen des Bewusstseins mangels verfügbarem Wissens enden lassen musste, können wir heute – auch Dank der Arbeiten von Edelman und anderen – diese Grenzen weiter hinausschieben, indem wir die Voraussetzungen des Bewusstseins einbeziehen. Eine solche bewusste Erweiterung der philosophischen Frage nach den Voraussetzungen des menschlichen Erkennens über die Grenzen des Bewusstseins hinaus führt dann nicht nur zum ermöglichenden Gehirn und dem zugehörigen Körper, sondern geht dann weiter zur umgebenden Welt und ihrer Dynamik, die sich im Evolutionsgeschehen und in der Entstehung des bekannten Universums zeigt.

PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFTEN

Die schon immer nicht leichte Aufgabe des philosophischen Denkens wird mit diesen methodischen Erweiterungen keinesfalls einfacher, sondern erheblich schwieriger. Andererseits muss die Philosophie diese Reflexionsarbeit nicht mehr alleine leisten, sondern sie kann die ganze Fülle der einzelwissenschaftlichen Arbeiten aufgreifen, um sie dann in einem gemeinsamen Rationalitätsrahmen neu anzuordnen.

Beispiele für Integrationsbemühungen gibt es sogar seitens der Einzelwissenschaften, wenngleich meistens methodisch wenig überzeugend. So versuchen Gehirnforscher schon seit vielen Jahren Zusammenhänge zwischen messbaren Aktivitäten des Gehirns und des beobachtbaren Verhaltens (unter dem Label ‚Neuropsychologie‘) oder zwischen messbaren Aktivitäten des Gehirns und Erlebnissen des Bewusstseins (kein wirkliches Label; man würde ‚Neurophänomenologie‘ erwarten) heraus zu finden. Bislang mit begrenztem Erfolg.

Bei aller Problematik im Detail kann es aber nur darum gehen, die ungeheure Vielfalt der Phänomene, wie sie die Einzelwissenschaften bislang zutage gefördert haben, vor-sortiert in einer Vielzahl von Arbeitshypothesen, Modellen und Theoriefragmenten, in einen von allen akzeptierbaren Rationalitätsrahmen einordnen zu können, der eine Gesamt-Theorie reflektiert, die als solche möglicherweise immer unvollendet bleiben wird

WOMIT FANGEN WIR AN?

Damit stellt sich ganz praktisch die Frage, wo und wie soll man anfangen? Das Buch von Edelman kann erste Hinweise liefern.

  1. KEINE WISSENSINSELN: Am Beispiel des homo sapiens wird deutlich, dass ein Verständnis von Bewusstsein, Gehirn, Körper, Verhalten und hier insbesondere die symbolische Kommunikation je für sich nicht gelingen kann. Und Edelman demonstriert eindrücklich, dass man zusätzlich die ontogenetische und evolutive Dimension einbeziehen muss, will man zu einem befriedigenden Verständnis kommen.
  2. INTEGRATION VON EINZELWISSEN: Man muss also Wege finden, wie man diese verschiedenen Aspekte in einem gemeinsamen Rationalitätsrahmen so anordnen kann, dass sowohl die einzelwissenschaftliche Methodik gewahrt bleibt, wie auch eine ‚Integration‘ all dieser Aspekte auf einer ‚gemeinsamen Ebene‘ möglich wird, die dabei von den Einzelwissenschaften nicht ‚isoliert‘ ist.
  3. META-WISSEN ALS LEITFADEN: Das geforderte Vorgehen betrachtet die konkreten einzelwissenschaftlichen Erklärungsansätze als einen ‚Gegenstand sui generis‘, macht also die Einzelwissenschaften zu ‚Untersuchungsgegenständen‘. Dies entspricht dem Paradigma der Wissenschaftsphilosophie.
  4. NEUE WISSENSCHAFTSPHILOSOPHIE: Mit Blick auf die Geschichte der modernen Wissenschaftsphilosophie (etwa seit dem Wiener Kreis) muss man dafür offen sein, dass das Paradigma der Wissenschaftsphilosophie für diese Aufgabenstellung möglicherweise neu zu formatieren ist.
  5. KOMMUNIKATIONSPROZESS ALS RAHMEN: So liegt es nahe, zu sagen, es gehe nicht primär um einen isolierten Theoriebegriff, sondern um einen Kommunikationsprozess, der Kommunikationsinhalte generiert, die im Rahmen des Kommunikationsprozesses ‚verstehbar‘ sein sollen.
  6. SYSTEMS-ENGINEERING ALS BEISPIEL: Ein modernes Beispiel für einen problemorientierten Kommunikationsprozess findet sich im Paradigma des modernen Systems-Engineering. Auslöser des Kommunikationsprozesses ist eine ‚Frage‘ oder eine ‚Problemstellung‘, und der Kommunikationsprozess versucht nun durch Ausnutzung des Wissens und der Erfahrungen von allen Beteiligten einen gemeinsames Bild von möglichen Lösungen zu generieren. Zu Beginn werden alle Kriterien kenntlich gemacht, die für die intendierte Lösung berücksichtigt werden sollen.
  7. EINBEZIEHUNG AUTOMATISIERTEN WISSENS: Insbesondere soll der Kommunikationsprozess so ausgelegt sein, dass er den Einsatz moderner Wissenstechnologien wie z.B.. ‚Interaktive Simulationen‘, ‚Kommunikationstests‘, ‚benutzerzentrierte künstliche Intelligenz‘, sowie automatisierte ‚Simulationsbibliotheken‘ erlaubt.

Dies ist nur eine erste, noch sehr vage Formulierung. Es wird notwendig sein, diese anhand von vielen Beispielen weiter zu konkretisieren und zu verfeinern.

 

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OBJEKTIVE WERTE? Diskussion von Stace’s ’Religion and the Modern Mind’ Kap.5, Teil 4

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
2.Juli 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

ÜBERSICHT

In Fortsetzung der vorausgehenden Teile 1   sowie 2  und 3  wird in diesem vierten Teil das Kap.5 von Stace besprochen. Im Kapitel 5 beschreibt Stace die direkten Auswirkungen des neuzeitlichen wissenschaftlichen Weltbildes auf den bisherigen christlichen Gottesglauben. Dazu die verschiedenen Versuche, diesen Gottesglauben gegenüber dem modernen Weltbild zu bewahren samt jenen Argumenten, die das alte Bild des christlichen Gottesglaubens vor dem 18.Jahrhundert zu entkräften versuchen.

KAPITEL 5

Stace (1952) Kap.5 - Gedankenskizze
Stace (1952) Kap.5 – Gedankenskizze

 

Das Christliche Weltbild

Um die allmählich eintretende Wirkung des neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffs zu verdeutlichen benutzt Stace eine kompakte Formel (vgl. S.84), um die Gestalt des christlichen Weltbildes zu umreißen:

1) Ein göttliches Wesen hat das Universum erschaffen.

2) Es gibt eine umfassende Absicht im ganzen Universum.

3) Die Welt repräsentiert eine moralische Ordnung.

4) Gott ist den Menschen nah.

Dieses grundsätzliche Bild wurde noch ergänzt um spezielle kosmologische Annahmen wie (vgl. S.83):

1) Die Sonne bewegt sich um die Erde

2) Die Planetenbahnen sind kreisförmig

3) Die Bewegung der Körper kommt mit der Zeit zur Ruhe

4) Eine Anziehungskraft (Gravitation) war nicht bekannt.

Obwohl die speziellen kosmologischen Annahmen nicht direkt aus den christlichen Glaubenssätzen folgten, waren sie zu jener Zeit eine derart starke Verbindung mit dem christlichen Kernglauben eingegangen, dass sie für die damaligen Menschen wie ’natürliche Bestandteile’ des christlichen Glaubens erschienen, deren Infragestellung mit einer Infragestellung des christlichen Glaubens selbst gleichgesetzt werden konnte.

Das Neue wissenschaftliche Weltbild

Mit der Entstehung des neuen wissenschaftlichen Weltbildes (siehe die Besprechung in Teil 3) kam es zunächst zu einer direkten Entgegensetzung von christlichen Annahmen über den Kosmos und dem neuen wissenschaftlichen Weltbild (vgl. S.83):

1) Die Sonne bewegt sich um die Erde < −− > Die Erde bewegt sich um die Sonne.

2) Die Planetenbahnen sind kreisförmig < −− > Die Planetenbahnen sind ellipsenförmig.

3) Die Bewegung der Körper kommt mit der Zeit zur Ruhe < −− > Die Bewegung der Körper setzt sich unverändert fort solange keine zusätzliche Kraft einwirkt.

4) Eine Anziehungskraft (Gravitation) war nicht bekannt. < −− > Neue Gravitationsgesetze.

Diese letztlich nicht-theologischen Erkenntnisse wurde von der Kirche dennoch zunächst als bedrohlich für den Glauben empfunden, als ketzerisch eingestuft und dementsprechend bekämpft. Zugleich provozierten diese Einsichten den Gottesglauben auch der Wissenschaftler und Philosophen. Während Denker wie Newton und Berkeley meinten, den Gottesglauben auf unterschiedliche Weise verteidigen zu müssen, gab es andere Denker wie z.B. Laplace, die versuchten, weitere Argumente zu finden, warum man die Annahme Gottes im Verständnis der natürlichen Welt nicht brauchen würde.

Rettungsversuch Mit Design-Begriff

Eine beliebte Denkfigur (bis in unsere Gegenwart hinein), um die Begrenztheit der naturwissenschaftlichen Erklärungsansätze mit einem expliziten Gottesbegriff für die Natur zu retten, ist der sogenannte Design Ansatz: der Aufweis der großen Komplexität der bedingenden Faktoren sowie die daraus resultierende immense Unwahrscheinlichkeit, dass in solch einer Situation die bekannten Lösungen ’einfach so’ entstehen konnten, wird als Argument dafür benutzt, dass es hinter allem einen planenden, absichtsvollen Geist geben muss, eben einen Schöpfer, den christlichen Gott (vgl. SS.74ff).

Diese Argumentation erweist sich als schwierig und wenig plausibel. Einmal zeigt der Gang der Wissenschaftsgeschichte, dass der Begriff der Komplexität sehr relativ ist: was in einer bestimmten Zeit als ’komplex’ und ’unerklärbar’ erscheint, findet zu anderen Zeiten einfache und elegante Erklärungen. Zum anderen erklären die Designansätze in der Regel zwar die ’schönen’ Fälle, in denen es für die beteiligten Geschöpfe ’gut’ ausgeht, sie könne aber nicht mit den unzähligen Fällen des Scheiterns und des Elends umgehen. Ein Zufalls-basierter Ansatz mag zwar vielfach ’unwahrscheinlich’ erscheinen, aber das Auftreten von Varianten, von Scheitern, von Übel ist im Rahmen einer vom Zufall bestimmten Entwicklung eingeschlossen. (Anmerkung: Im weiteren Gang der modernen Wissenschaften  wurde die Annahme einer Zufalls-basierten Entwicklung um weitere Faktoren ergänzt. So sind bei der Entwicklung von biologischen Systemen begrenzende Faktoren unterschiedlicher Art anzunehmen, die die Zufallsräume deutlich einschränken!)

Rettungsversuch mit Bewusstseins-Ansatz

Einen für seine Zeit sehr originellen Rettungsversuch startete George Berkeley (1685 – 1753) mit seiner Schrift ”A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge” (1910) [1], [2]. Zunächst arbeitete er heraus, dass unser gesamtes aktuelles Weltwissen primär im Bewusstsein stattfindet (was heute die Neurowissenschaften umfassend bestätigen konnten), was Berkeley dann zum Anlass nahm, anzunehmen, dass all das, was man gemeinhin materielle Objekte nennt, aus Sicht des Bewusstseins nicht wirklich existiert. Berkeley leitete aus dieser Situation die Hypothese ab, dass man für die Existenz der materiellen Welt außerhalb des Bewusstseins generell die Hypothese eines Schöpfers benötigt, der all dies bereitstellt und verwaltet.

Die modernen Naturwissenschaften konnten daher nach Berkeley die Existenz Gottes gar nicht in Frage stellen, da sie sich sowieso nur auf die Phänomene des Bewusstseins und ihre impliziten Gesetzen berufen.

Das Problem der Wissensgrenze

Was sich hier am Beispiel des Design-Begriffs oder der neuen Erkenntnistheorie von Berkeley andeutet, das sind Beispiele für das allgemeine Problem, wenn Menschen mit ihrem Wissen W auf Phänomene stoßen, die nicht so recht oder überhaupt nicht mit dem bisherige Wissen W übereinzustimmen scheinen.

In der Tat ist es ein grundlegendes und ungelöstes Problem, was Wissensgrenzen grundsätzlich bedeuten. Im Normalfall benutzt man sein eigenes Wissen W wie eine Art ’Werkzeug’, um die Wahrnehmung der Welt und von sich selbst ’im Lichte dieses Wissens W’ zu ’deuten’. In diesem Fall ist man ’in’ diesem Wissen drin, man setzt das Wissen W voraus.

Auf der anderen Seite verfügen wir – zumindest ansatzweise, in bestimmten Situationen – über die Fähigkeit, die ’Übereinstimmung’ unseres Wissens W mit wahrnehmbaren Phänomenen zu überprüfen. In diesem speziellen Fall verhalten wir uns zu unserem Wissen W als ob dieses Wissen W für uns ein ’Gegenstand’ ist, ’über’ den wir urteilen können. Und wir wissen aus der Wissenschaftsphilosophie, dass man jedes Wissen W, das in Form einer expliziten formalen symbolischen Theorie T W vorliegt, beschreiben und abändern können.

Letzteres folgt auch alleine schon aus dem Umstand, dass alles Wissen bzw. dann auch alle Theorien von den Autoren ’geschaffen’ werden, indem angesichts von Phänomenen (Daten) nach’ möglichen Beziehungen’ und ’Regeln’ gesucht wird, die diese Daten ’in einen Zusammenhang’ bringen können. In diesen Such- und Konstruktionsprozess können viele logische und nicht-logische Faktoren einfließen. Und es sollte von daher klar sein, dass Wissen bzw. strukturierte Formen von Wissen in Form von symbolischen Theorien grundsätzlich ’dynamische Größen’ darstellen, die im ’Fluss der Zeit’ unterschiedliche Formen annehmen können.

Wenn also im historischen Prozess bestimmte Wissensformen plötzlich Probleme haben, dann ist dies von der Natur des Wissens her eigentlich kein Problem, wohl aber für solche Menschen, die offensichtlich glauben, dass ein bestimmtes Wissen W zu einem bestimmten Zeitpunkt für immer ’fest’ sei, quasi ’absolut’. In diesen Fällen wäre es sehr irreführend, von den Erklärungsproblemen dieser Theorien auf ein Problem in der Welt der Phänomene zu schließen; viel mehr sollten diese Menschen ihr eigenes Verhältnis zu ihrem Wissen problematisieren und überprüfen. Dies ist im Kern die Aufgabe der Philosophie, heute zusätzlich unterstützt von vielen Spezialdisziplinen wie z.B. Psychologie und Neuropsychologie.

Wissenschaftliche Theorie und Glaube

Ein anderer Aspekt, der oft übersehen wird, den Stace aber explizit benennt (siehe z.B. p.96), das ist das Moment des ’Glaubens’ im Kontext von wissenschaftlichen Theorien.

Die Wurzel für diese Form von ’wissenschaftlichem Glauben’ liegt einmal in der Art, wie wissenschaftliche Theorien entstehen (siehe Abschnitt zuvor), zum anderen in der Art ihrer Nutzung.

Bei der Konstruktion von wissenschaftlichen Theorien müssen Forscher grundsätzlich über die endliche Menge von isolierten Datenpunkten ’hinaus’ gehen und explizit ’Vermutungen über Zusammenhänge’ äußern, d.h. was ’glauben’ sie, welche Art von Zusammenhängen ’da draußen’ existieren, aufgrund deren Wirken die beobachteten Phänomene (gemessene Daten) auftreten. Und wenn sie dann ihre Vermutungen, ihren Glauben, niedergeschrieben haben, dann stehen die benutzen theoretischen Terme für genau diese Vermutungen, für den so artikulierten Glauben als mögliche Zusammenhänge.

In der normalen Physik gibt es viele Beispiele für solche Terme, deren ’Bedeutung’, deren ’Extension’ nicht direkt beobachtet werde kann, sondern nur ihre ’Wirkung’, die als ’Hinweis auf ihre Existenz’ angenommen (geglaubt) wird.

So kann man das ’Gewicht’ eines Körpers nicht direkt sehen, sondern nur die Auswirkung des Gewichts im Rahmen eines Messvorgangs, entsprechend mit der Anziehungskraft von Körpern aufgrund der postulierten Gravitation. Wenn also — das wäre der Analogieschluss — das mit der Wortmarke ’Gott’ Gemeine nicht direkt mit normalen Sinnesorganen punktuell beobachtet werden kann, so würde daraus nicht notwendigerweise der Schluss folgen, dass diese Wortmarke keine Extension besitzt. Tausende von menschlichen Zeugnissen deuten in die Richtung, dass ’das mit Gott Gemeinte’ sich auf vielfache Weise in Form von Zeitreihen zeigen kann, die unterschiedliche Randbedingungen aufweisen können. Darauf aufbauende ’Überzeugungen= Wissensformen’ gehen dann über den Augenblick hinaus (analog zu empirischen Theorien) und ermöglichen ein  ’erfahrungsbasiertes Handeln’, das entweder weitere ’Bestätigungen’ zulässt oder nicht. Abänderungen solcher Überzeugungen im Kontext von Erfahrungen ist möglich und üblich.

QUELLEN

[1] G. Berkeley, A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge, 1st ed. Skinner Row (Dublin): Jeremy Pepyat, Bookseller, 1710.

[2] ——, A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge. Three Dialogues, 1st ed., R. Woolhouse, Ed. London:Penguin Books, 1988.

KONTEXT BLOG

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MEDITATION IN EINER TECHNISCHEN UND WISSENSCHAFTLICHEN WELT? Versuch einer philosophischen Verortung

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
7.Mai 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: doeben@fb2.fra-uas.de

 

ÜBERSICHT

I Fragmentierung der Welt als Dauerentfremdung

II Philosophie und Wissenschaft (Idealbild)

II-A Alltagserfahrung – Oberflächen .

II-B Jenseits des Alltags – Wissenschaft

II-C Homo Sapiens Heute – Digitale Versklavung beginnt

II-D Selbstvergewisserung – Speziell durch Meditation?

III Erst Reaktionen

III-A Erosion der Wissenschaft ’von innen’

III-B ’Digitalisierung’ als ’hypnotischer Zustand’? .

III-C Meditationserfahrung gegen Reflexion?

Quellen

IDEE

In diesem Text wird aufgezeigt, wie das Phänomen der Meditation im Koordinatensystem der modernen Philosophie und der empirischen Wissenschaften in einer mittlerweile hochtechnisierten Welt verortet werden kann. Ein Deutungsversuch. Er wurde provoziert durch ein Experiment an der Frankfurt University of Applied Sciences, an der seit dem Sommersemester 2017 das Thema ’Meditation’ als offizielles Fach Für alle Bachelor-Studierende der Universität angeboten wird.

I. FRAGMENTIERUNG DER WELT ALS DAUERENTFREMDUNG

In ihren Bachelorstudiengängen erwerben die Studierende grundlegende Kenntnisse über viele verschiedene Einzeldisziplinen. Wieweit diese Disziplinen eher als ’empirische wissenschaftliche Disziplinen’ daherkommen oder doch mehr als ein ’ingenieurmäßiges Anwendungsfeld’ hängt stark vom Charakter der einzelnen Disziplin ab. Sicher ist nur, diese Einzeldisziplinen vermitteln keine ’Gesamtsicht’ der Welt oder des Menschen in der Welt. Ein ’Betriebswirtschaftler’ pflegt einen ganz anderen Zugang zur Welt als ein ’Architekt’, eine ’Case-Managerin’ ist keine ’Elektrotechnikerin’, usw.

Vorab zu allen möglichen Spezialisierungen ist ein Studierender aber primär ein ’Mensch’, ein weltoffenes Wesen, das eine Orientierung im Ganzen sucht, mit einem Körper, der eines der größten Wunderwerke der biologischen Evolution darstellt. Gesellschaftliche Teilhabe, Kommunikation, Verstehen sind wichtige Facetten in einer menschlichen Existenz. Historische Kontexte, Kultur, Werte, eigene Lernprozesse, das eigene Erleben und Lernen, dies alles gehört wesentlich zum Menschsein.

In einer einzelnen Disziplin kommt all dies nicht vor. Wer sich voll in einer bestimmten Disziplin engagiert ist damit nur zu einem kleinen Teil seines Menschseins ’versorgt’. Es klaffen große Lücken. In diesem Kontext ein Modul ’Meditation als kulturelle Praxis’ anzubieten, adressiert ein paar zusätzliche Teilaspekte des studentischen Lebens. Es spricht den persönlichen Umgang mit dem eigenen Körper an, mit spezifischen Körpererfahrungen, die eine feste erlebnismäßige Basis im Strom der Alltagsereignisse bieten können. Damit diese konkrete Praxis nicht ’ir-rational’ daherkommt, werden Teile des kulturellen Kontextes, aus der Geschichte, aus dem heutigen Weltbild, mit erzählt. Wie verstehen Menschen das ’Meditieren’ zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Kulturen, heute?

II. PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT (IDEALBILD)

Zwei besonders wichtige Blickweisen in der europäischen Kultur werden durch die modernen empirischen Wissenschaften und durch die moderne Philosophie repräsentiert. Beide entwickelten sich in enger Wechselwirkung seit dem 17.Jahrhundert; sie schufen die Grundlage für moderne Technologien, Gesellschafts- und Wertesysteme. Auch legten sie die Basis für einen Blick auf das Universum, das Leben im Universum, wie auch auf das menschliche Erkennen, wie es in der bisherigen Geschichte des Lebens einmalig ist.

Nun ist der Umfang dieses wissenschaftlichen und philosophischen Wissens zu groß, um es hier auch nur ansatzweise ausbreiten zu können. Es soll aber versucht werden, ausgehend von der Alltagserfahrung und der Praxis der Meditation anzudeuten, wie sich dieses aus Sicht der Philosophie und der empirischen Wissenschaften darstellt.

A. Alltagserfahrung

Oberflächen In seinem Alltag erlebt sich der Mensch mit seinem ’Körper’, der in einem räumlichen Miteinander mit anderen Körpern und Objekten vorkommt. Er erlebt Veränderungen, Verhaltensweisen, asynchron und synchron: Menschen auf einer Straße können wild durcheinander laufen, sie können aber auch gemeinsam diszipliniert in einer Warteschlange stehen, sich im gemeinsamen Tanz bewegen, oder im direkten Gespräch ihr individuelles Verstehen miteinander verschränken.

Zugleich lernt jeder von früh an, dass es ’hinter der Oberfläche’, ’im’ Körper, eine Vielfalt von Ereignissen gibt, subjektive Erlebnisse, die das ’Innere’ eines Menschen charakterisieren. Einiges von diesen Vorgängen ist ’bewusst’, bildet das ’Bewusstsein’ des Menschen. Wir wissen aber heute, dass vieles im Inneren eines Körpers, eigentlich das meiste, ’nicht bewusst’ ist! So sind die ’Inhalte’ unseres ’Gedächtnisses’ normalerweise nicht bewusst; sie können aber bewusst werden, wenn bestimmte Ereignisse uns an etwas erinnern, und herausfordern. Solche Erinnerungen können wie eine Kettenreaktion wirken: eine Erinnerung aktiviert die nächste.

B. Jenseits des Alltags

Wissenschaft Mittlerweile wurde der menschliche Körper, seine Bauweise, viele seiner Funktionen, durch die Biologie, die Physiologie, die Psychologie und durch viele weitere Wissenschaften untersucht und partiell ’erklärt’, dazu auch das Miteinander mit anderen Menschen in seinen vielfältigen Formen.

Wir wissen, dass die ’innere Verarbeitung’ des Menschen die äußeren und die körperinternen Reize nach festen Verfahren zu allgemeinen Strukturen zusammenführt (’Cluster’, ’Kategorien’), diese untereinander vielfach vernetzt, und automatisch in einer Raumstruktur aufbereitet. Zugleich erlaubt das Gedächtnis jede aktuelle Gegenwart mit gespeicherten ’alten Gegenwarten’ zu vergleichen, was ein ’vorher/nachher’ ermöglicht, der Ausgangspunkt für ein Konzept von ’Zeit’. Dazu kommt die besondere Fähigkeit des Menschen, die Ausdrücke einer Sprache mit seinen ’inneren Zuständen’ ’verzahnen’ zu können. Ein Ausdruck wie ’Es ist 7 Uhr auf meiner Uhr’ können wir in Beziehung setzen zu unserer Wahrnehmung eines Gegenstandes am angesprochenen Arm.

Ein wichtiges Charakteristikum biologischer Körper ist auch ihre grundlegende ’Nicht-Determiniertheit’, eine grundlegende Voraussetzung für ’Freiheit’.

Dass diese komplexen inneren Mechanismen des menschlichen Körpers so scheinbar mühelos mit den Gegebenheiten der Körperwelt ’harmonieren’, kommt nicht von ungefähr. Die moderne Biologie mit Spezialgebieten  wie z.B. der ’Mikrobiologie’, der ’Evolutionsbiologie’, der ’Paläobiologie’, der ’Astrobiologie’ 1 zusätzlich vereint mit Disziplinen wie der Geologie, Archäologie, der Klimatologie samt vielen Subdisziplinen der Physik und der Chemie; diese alle haben in über 100 Jahren konzertierter Arbeit die Geschichte der Lebensformen auf der Erde samt den parallelen Veränderungen der Erde mit ihrem Klima häppchenweise entschlüsselt, entziffert, dekodiert und immer wieder neu zu einem Gesamtbild zusammen gefügt. Das Bild, das sich daraus bis heute ergeben hat, zeigt eine ungeheure Vielfalt, eine bisweilen große Dramatik, vor allem aber das erstaunliche Phänomen, wie sich ’biologisches Leben’ anschickt, die freien Energiereserven des Universums ’anzuzapfen’, sie für sich ’nutzbar zu machen’, um damit immer komplexere Strukturen zu schaffen, die über einfache erste Zellen von vor ca. 3.8 Mrd. Jahren zu komplexen (’eukaryotischen’) Zellen führten, zu Zellverbänden, zu Pflanzen, zu Tieren und dann, sehr spät, ’erst vor kurzem’, zu einer Lebensform, die wir ’homo sapiens’ nennen, die sich von Ostafrika aus kommend, in ca. 45.000 Jahren über die ganze bekannte Erde ausgebreitet hat. Das sind wir.

Nimmt man die Erkenntnisse der Astrobiologie hinzu, dann wird deutlich, dass unser Planet Erde bisher eine äußerst ’lebensfreundliche’ Position in unserem Sonnensystem inne hatte; unser Sonnensystem wiederum befindet sich in einem sehr lebensfreundlichen Bereich unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße mit ihren ca. 200 – 400 Mrd. Sternen; erst in ein paar Mrd. Jahren wird die Milchstraße – nach heutigem Kenntnisstand – mit der Andromeda- Galaxie kollidieren, die ca. 1 Bio. Sterne zählt.

C. Homo Sapiens Heute – Digitale Versklavung beginnt

Verglichen mit den langen Zeiträumen der Entwicklung des bekannten Universums (vor ca. 13.8 Mrd. Jahren), unserer Erde (vor ca. 4.5 Mrd. Jahren), des biologischen Lebens selbst (vor ca. 3.8 Mrd. Jahren) ist das Auftreten des homo sapiens (vor ca. 200.000 Jahre) verschwindend kurz. Betrachtet man nur die Zeit seit der Gründung der ersten Städte (vor ca. 11.000 Jahren), seit dem ersten Computer (vor ca. 88 Jahren), seit dem Internet (vor ca. 48 Jahren), dann muss man sagen, dass wir Menschen uns seit kurzem mitten in einer Revolution befinden, in der digitalen Revolution, die das Zeug dazu hat, die bisherige Lebensweise des homo sapiens so nachhaltig zu verändern, wie vielleicht vergleichbar mit der frühen Seßhaftwerdung des homo sapiens.

Ein Grundzug der Digitalisierung des menschlichen Lebens ist der Aufbau einer parallelen, einer digitalen Welt, in der ungeheure Datenmengen eingelagert werden können, riesige Datenströme schneller als menschliche Gedanken von überall nach überall hin und her strömen können, Daten, die partiell Abbilder, Kopien, Modelle der realen Welt darstellen, in denen Computerprogramme diese Datenberge geräuschlos verwalten, verarbeiten und in Maßnahmen umsetzen können.

Der homo sapiens mit seinem Körper für die Außenwelt und seinen bewussten kognitiven Prozessen in der ’Innenwelt’, wird über Schnittstellen mit der digitalen Welt verkoppelt und lebt immer mehr nur durch das Medium des Digitalen. Sein Körper, die Vorgänge in der Außenwelt, verlieren an Bedeutung. Die wahrgenommene Außenwelt wird zu einem immer kleiner werdenden Segment der subjektiv gedachten und digital aufbereiteten Welt. Falls der homo sapiens die Nutzung der digitalen Welt in der Zukunft nicht grundlegend anders organisiert, wird das einzelne, individuelle Gehirn zu einem bloßen Anhängsel einer neuen digitalen Galaxie, deren Beherrschung und Steuerung sich allen bekannten Kategorien aus der Außenwelt entzieht. Alle bekannten rechtliche, soziale und politische Kategorien werden nicht mehr gelten. Ganze Staaten verlieren ihren Halt, weil ihre Bürger in einer digitalen Welt leben, die von globalen anonymen Kräften beherrscht werden. Bürger mutieren zu ’Realwelt-Zombies’, deren Inneres zum Bestandteil über-individueller globaler Algorithmen geworden ist, die alle individuellen Regungen automatisch beobachten, und nach partiellen ökonomischen Interessen global steuern.

Noch ist diese Vision nicht vollständig wahr, aber doch schon soweit, dass es uns erschrecken sollte. Ist es das, was wir wollen, was wir wollen sollten?

D. Selbstvergewisserung – Speziell durch Meditation?

Eines der wichtigsten Themen der Philosophie war und ist zu allen Zeiten das Thema der ’Selbstvergewisserung’: wer bin ich, der ich wahrnehme, empfinde, denke, und handle? Bin ich das, was ich wahrnehme, empfinde etc. oder bin ich etwas davon ’Verschiedenes’, oder die ’Synthese’ aus all dem, oder etwas noch ganz anderes?

Die Palette der Antworten ist so breit, wie die Zeit lang ist. Jeder Philosoph hat das Thema irgendwie neu moduliert; bis heute gibt es nicht ’die’ Antwort.

Schon mittendrin in der digitalen Revolution, schon jetzt fast mehr im ’digitalen’ Raum als im ’realen Körperraum’, verschärft sich diese philosophische Fragestellung weiter: wenn das, was ich wahrnehme, immer weniger direkt mit der realen Körperwelt korrespondiert, dafür immer mehr mit digital aufbereiteten Objekten, deren Herkunft zu bestimmen immer schwieriger wird, dann kann es passieren, dass sich das individuelle erkennende Subjekt über eine (digitale) Objektwelt definiert, die weitgehend ein Fake ist, einzig dazu da, den Einzelnen zu manipulieren, ihn zu einem ferngesteuerten ’Diener des Systems’ zu machen, besser: zu einem ’digitalen Sklaven’.

Würde man die aktuelle Entwicklungstendenz der digitalen Revolution so fort schreiben, wie sie aktuell formatiert ist, dann würde dies zur totalen Auslöschung eines freien, kreativen Individuums führen. Denn selbst ein Individuum, das vom Ansatz her ein ’freies’ Individuum ist, würde durch eine reale Lebensform der manifesten digitalen Sklaverei jeglichen Ansatzpunkt verlieren, die Freiheit zu ’materialisieren’.

Um eine solche digitale Sklaverei zu verhindern, kann und muss man die aktuelle digitale Revolution ’um- formatieren’. Statt den menschlichen Benutzer zu einem vollständig manipulierten Bestandteil einer Population von wertfreien Algorithmen zu machen, die von einzelnen narzisstischen, macht-hungrigen und menschenverachtenden Menschen global gesteuert werden, sollte man den digitalen Raum neu, von ’unten-nach-oben’ organisieren. Der einzelne Mensch muss wieder zum Taktgeber werden, die individuelle Freiheit, Kreativität und in Freiheit geborenen Werte müssen in einer freien Gesellschaft wieder ins Zentrum gerückt werden, und die diversen Algorithmen und Datengebirge müssen diesen individuellen Freiheiten in einer demokratischen Gesellschaft ’dienen’!

Eine Grundvoraussetzung für solch eine neue ’Selbstvergewisserung’ von ’Freiheit’ ist eine radikale, authentische Selbstwahrnehmung des ganzen individuellen Daseins, weit-möglichst frei von manipulierten und gefakten Fakten. Natürlich kann dies nicht bedeuten, dass der Mensch sich all seiner Erfahrungen, all seines Wissens ’entleert’, das wäre die andere Form von Versklavung in der Dunkelheit eines radikalen ’Nicht-Wissens’. Aber in all seinen Erfahrungen, in all seinem Wissen, braucht es die Erfahrung ’seiner selbst’, wie man ’faktisch ist’, man ’selbst’, mit seinem ’Körper’, in einer Erfahrungswelt, die dem menschlichen Tun ’vorgelagert’ ist als das, was wir ’Natur’ nennen, die ’aus sich heraus gewordene und werdende Wirklichkeit’ der Erde im Universum, des Lebens auf der Erde, von dem wir ein Teil sind.

Natürlich, und das wissen wir mittlerweile, gerade auch durch das philosophische Denken im Einklang mit den empirischen Wissenschaften, haben wir Menschen niemals einen völlig authentischen, einen völlig ’ungefilterten’ Zugang zur ’Natur’. Einmal nicht, weil das menschliche Vermögen des Wahrnehmens und Verstehens aus sich heraus ’konstruktiv’ ist und wir die ’Außenwelt’ grundsätzlich nur im Modus unserer ’Innenwelt’ ’haben’, zum anderen nicht, weil wir selbst Teil dieser Natur sind und durch unsere Aktivitäten diese Natur mit verändern. Die erlebbare Natur ist von daher immer schon eine ’vom Menschen mit-gestaltete Natur’! Je mehr wir dies tun, je mehr wir selbst als Teil der Natur die Natur verändern, umso weniger können wir die Natur ’vor’ oder ’ohne’ den Menschen erleben.

Dennoch, bei aller ’Verwicklung’ des Menschen mit der umgebenden Natur, und heute noch zusätzlich mit der selbst geschaffenen digitalen Wirklichkeit, gibt es keine Alternative zu einer praktizierten Selbstvergewisserung mit vollem Körpereinsatz. Dies können intensive Formen körperlicher Aktivitäten sein – wie z.B. Gehen, Laufen, Fahrrad fahren, Mannschaftssport, Tanzen, Musizieren, … –, dies kann aber auch das ’Meditieren’ sein. Im Meditieren, mit dem Atmen als ’Referenzpunkt’, kann sich der einzelne mit all seinen Befindlichkeiten als ’Ganzes’ erleben, als direkt Gegebenes, mit einem ungefilterten Erleben, mit einer Feinheit des Erlebens, die nicht durch Alltagsrauschen ’überdeckt’, ’maskiert’ wird, und der einzelne kann darin nicht nur ’physiologische Entspannung’ finden, sondern auch – über die Zeit – durch seine erweiterte Wahrnehmung zu neuen, differenzierteren ’Bildern seiner selbst’ kommen, zum ’Entdecken’ von ’Mustern’ des Daseins, die über den aktuellen Moment hinaus auf Wirkzusammenhänge verweisen, die im Alltagsrauschen normalerweise völlig untergehen. Darüber hinaus können sich – meist auf Dauer – Erlebnisse, Erfahrungen einstellen, die sich in spezifischer Weise ’wohltuend’ auf das gesamte Lebensgefühl eines einzelnen auswirken, die einen ’gefühlten Zusammenhang mit Allem’ ermöglichen, der das ’Gefühl für das Ganze’ deutlich verändert. Dieses ’Wohlfühlen’ ist ’mehr’ als physiologische Entspannung, es sind ’Gefühle eines komplexen Existierens’, zu dem nur biologische Systeme fähig sind, deren Körper aufgrund ihrer quanten-physikalischen Offenheit in allen Richtungen Wirklichkeit ’registrieren’ können. Auch das Thema sogenannter ’mystischer’ Erfahrungen gehört in diesen Kontext. Leider gibt es dazu kaum wissenschaftliche Forschungen, aber viele Phänomene, die der Erklärung harren.

III. ERST REAKTIONEN

Obwohl dieser Text erst wenige Tage alt ist, kam es schon zu interessanten Rückmeldungen. Einige davon seien hier ausdrücklich genannt, da sie helfen können, den Kern der Aussage noch weiter zu konturieren.

A. Erosion der Wissenschaft ’von innen’

Wenn im vorausgehenden Text von ’Wissenschaft’ die Rede ist, dann wurde in diesem Text ein Idealbild von Wissenschaft unterstellt, das es so heute ansatzweise gar nicht mehr gibt, und das tendenziell dabei ist, sicher weiter zu verwischen. Für das Projekt einer Zukunft mit dem homo sapiens als aktivem Teilnehmer ist dies brandgefährlich!

Für eine ausführliche Beschreibung dieser beginnenden Erosion von Wissenschaft bräuchte es einen längeren Text. Hier zwei Beispiele, die als erste ’Indikatoren’ dienen mögen.

Vor wenigen Tagen hatte ich Gelegenheit, im Rahmen eines sogenannten ’Graduiertenkollegs’ mit Studierenden von 6 verschiedenen Universitäten mit 7 verschiedenen akademischen Profilen arbeiten zu können; alle waren DoktorandenInnen.

Wir nahmen uns zu Beginn die Zeit, mittels einfacher Zettel, mal zusammen zu stellen, was jedem von ihnen zum Thema ’Wissenschaft’ einfällt. Das Ergebnis war erschreckend. Kein einziger war in der Lage, ein auch nur annähernd ’korrektes’ Bild dessen zu zeichnen, was ’standardmäßig’ unter dem Begriff ’Wissenschaft’ zu verstehen ist; keiner. Nachdem wir dann in Ruhe alle Beiträge gemeinsam diskutiert und in einen Gesamtzusammenhang eingeordnet hatten (mit vielen Ergänzungen), war die einhellige Reaktion, dass sie dieses in ihrem ganzen Studium noch nie gehört hätten, und dass sie ein großes Interesse hätten, dazu mehr zu erfahren.

Also, eine Zufallsauswahl von jungen Menschen, die eine Doktorarbeit schreiben wollen, war nicht in der Lage, ein belastbares Konzept von ’Wissenschaft’ zu kommunizieren, und das nach ca. 5-6 Jahren Studien an 6 verschiedenen Universitäten in 7 verschiedenen Fachprofilen.

Wer diesen Befund jetzt mit dem Hinweis wegwischen möchte, dass dies auf keinen Fall repräsentativ sei, dem möchte ich ein neueres Handbuch der Wissenschaftsphilosophie zu den Philosophien der Einzelwissenschaften zur Lektüre empfehlen (siehe: [LR17]). In diesem Buch von 2017 wird von Experten der Wissenschaftsphilosophie in 22 Kapiteln sehr kenntnisreich, mit umfänglichen Literatursammlungen, dargelegt, was heute die großen Strömungen im Verständnis von Wissenschaft sind. Was man in diesen Texten nicht findet – ich konnte bislang 6 von 22 Kapiteln lesen –, ist ein klares Konzept, was dann heute unter ’Wissenschaft’ verstanden wird oder verstanden werden sollte. Wenn mir beispielsweise für die Disziplinen Mathematik, Philosophie, Ingenieurwissenschaften und Psychologie – ohne Zweifel sehr kenntnisreich – allerlei Strömungen und Problemdiskussionen präsentiert werden, das Fach selbst samt Wissenschaftsbegriff aber nicht zuvor geklärt wird, dann ist die Aufzählung von all den interessanten Aspekten wenig hilfreich. Alles verschwimmt in einem großen Brei. Und die Studierenden (siehe das Beispiel oben) durchlaufen den Wissenschaftsbetrieb und wissen nachher eigentlich nicht, was man unter ’Wissenschaft’ versteht bzw. verstehen sollte.

Das meine ich mit ’innerer Erosion’ von Wissenschaft: der Wissenschaftsbetrieb als ganzer weist heute riesige, komplexe Organisationsformen auf, verschlingt riesige Geldsummen, aber keiner scheint mehr zu wissen, was es eigentlich ist, was man da macht.

B. ’Digitalisierung’ als ’hypnotischer Zustand’?

Ein ähnliches Phänomen kann man im Umfeld des Phänomens der ’Digitalisierung von Gesellschaft’ beobachten. Mittlerweile vergeht nicht ein Tag, an dem nicht in Zeitungen, im Fernsehen, in Fachartikeln, in Romanen das Phänomen der Digitalisierung beschworen wird. Zumeist hält man sich bei einigen Auswirkungen auf, die in der Tat bedrohlich erscheinen oder sogar sind, aber fast nirgends findet man fundierte Analysen von jenen Technologien, die ’hinter’ den Phänomenen tatsächlich am Werk sind. Am schlimmsten ist das Wort ’Künstliche Intelligenz’. Obwohl es bis heute keine wirklich akzeptierte Definition gibt, jeder damit etwas anderes meint (Anmerkung: Eines der am häufigsten zitierten Lehrbücher zur künstlichen Intelligenz enthält über viele hundert Seiten unzählige Beispiele von einzelnen mathematischen Konzepten (und Algorithmen), aber eine klare Definition wird man nicht finden, auch keine klare Einordnung in das Gesamt von Wissenschaft; siehe [RN10] )  wird so getan, als ob klar ist, was es ist, als ob es so einfach wäre, dass künstliche Intelligenz sich verselbständigen könnte und die ’Herrschaft über die Menschen’ übernehmen wird. Zeitgleich fällt das Bild vom Menschen in ein schwarzes Loch des Nichtwissens, aus dem es kein Entrinnen gibt, um der umfassenden gesellschaftlichen ’Hypnose’ der Digitalisierung ein paar vernünftige Gedanken entgegen zu setzen. Eine der wenigen kritische, dekonstruierende Stellungnahme ist für mich ein Artikel von Sarah Spiekermann (siehe [Spi18]), in dem sie die ernüchternde Schwachheit des ganzen Big-Data-Ansatzes klar ausspricht und welche Gefahren gerade dadurch für uns als Gesellschaft davon ausgehen. Nicht die ’Stärke’ dieser Algorithmen bildet eine Gefahr, sondern ihre grandiose Schwäche, durch welche die Komplexität der Gegenwart und die noch größeren Komplexität der noch unbekannten Zukunft vor unserem geistigen Auge verdeckt wird.

C. Meditationserfahrung gegen Reflexion?

Einen anderen interessanten Reflex durfte ich erfahren (nicht unbedingt erst seit diesem Text): diejenigen, die Meditation schon für ihr Leben entdeckt haben, es bisweilen viele Jahre oder gar schon Jahrzehnte, praktizieren, reagieren spontan mit Abwehr auf die ’Vereinnahmung’ von Meditation durch Reflexion, durch Wissen, was sie als ’Quelle von Störungen’ erfahren, als Hindernis zur tieferen, inneren Erkenntnis und Erfahrung.

Kommunikation in diesem Kontext wird dadurch erschwert, dass das Phänomen ’Meditation’ ja nicht nur über tausende von Jahren in unterschiedlichen kulturellen Kontexten praktiziert und interpretiert wurde (und niemand beherrscht rein wissensmäßig alle diese Traditionen), sondern die Meditationserfahrung selbst spielt sich in jenen inneren Bereichen des Körpers ab, die sich einem direkten ’Zugriff von außen’ entziehen und die von daher schwer bis gar nicht mit ’klaren sprachlichen Ausdrücken’ kommunizierbar sind. Jeder muss immer unterstellen, dass der andere ’das Gleiche’ meint, wie man selbst, ohne es wirklich kontrollieren zu können. Auch die modernen Verfahren der Hirnforschung bieten hier nur sehr abstrakte, äußerliche Kriterien zu irgendwelchen physiologischen Parametern, die keinen direkten Schluss auf die tatsächlichen internen Prozesse zulassen (dazu: Jonas/ Kording (2017) [JK17]).

Zu diesen objektiven Schwierigkeiten kommt aber dann eine verbreitete subjektive Abwehr von Reflexion in meditativen Kontexten, da es sowohl dominante Tendenzen in den verschiedenen Traditionen gibt, die diese ’inneren Prozesse/ Zustände/ Erlebensformen…’ im direkten Gegensatz zu ’diskursiven Tätigkeiten’ sehen, wie auch durch die Tatsache bedingt, dass die ’alten Traditionen’ die modernen (wissenschaftlichen und philosophischen) Sichtweisen in keinster Weise kannten. Obwohl also einerseits die Meditation selbst ’diskursfrei’ gesehen wird, wird ihre ’Einbettung in den gesellschaftlichen Kontext’ mit einem begrifflichen Rahmen ’verpackt’, ’interpretiert’, der von modernen Erkenntnissen ’unberührt’ ist.

Es wäre schon viel gewonnen, wenn man zwischen dem ’inneren meditativen Erfahrungsraum’ und den sekundären begrifflichen Erklärungsmustern klar unterscheiden würde. Egal ob ein Buddhist, eine Jude, ein Christ oder ein Muslim – oder wer auch immer – etwas zu Meditation sagt, das ’Reden über Meditation’ ist nicht gleichzusetzen mit dem Meditieren selbst und den hier stattfindenden Ereignissen. Wie eine Reihe von Untersuchungen nahelegen (z.B. Stace (1960) [Sta60]), kann der gleiche Sachverhalt, je nach kulturellem Vor- Wissen, ganz unterschiedliche interpretiert werden.

Von daher kann es sehr wohl sein – und der Autor dieser Zeilen geht davon aus – dass der ’Innenraum’ des Meditierens im ’Lichte’ der Erkenntnisse der neueren Philosophie(en) und Wissenschaften eine ganz neue Deutung finden kann. Insofern das Meditieren im Grundansatz an den Phänomenen des ’Innenraums’ orientiert ist (die nichts mit den Phänomenen des ’Außenraums’ zu tun haben müssen!), hat Meditation eine an ’Erfahrung’ orientierte Ausrichtung, die von allen, die sich ’in gleicher Weise’ verhalten, ’im Prinzip reproduzierbar’ ist. Bezieht man die aktuellen empirischen Wissenschaften mit ihren reproduzierbaren Messprozessen auf die ’intersubjektiven Phänomene’ des ’Körperraums’, dann weisen die meditativen Erfahrungen hin auf einen ’erweiterten Erfahrungsraum’, der sich bislang nur durch den vollen Körpereinsatz unter Einbeziehung der ’Phänomene des Innenraums’ manifestiert, und der ansatzweise erfahrungsmäßig reproduzierbar ist.

Während der Innenraum der Meditation im Prinzip versucht, reflektierende Prozesse ’raus zu halten’, kann die begleitende Reflexion vorher und nachher sehr wohl versuchen, das Getane und Erlebte mit dem verfügbaren Wissen zu vernetzten und damit in bekannte Zusammenhänge einzuordnen. Genauso wenig aber, wie aus empirischen Messwerten ’rein automatisch’ Modelle oder Theorien folgen, genauso wenig folgen aus meditativen ’Erlebnissen/ Erfahrungen…’ irgendwelche Modelle oder Theorien. Jede Art von übergreifendem Zusammenhang ist die kreative Eigenleistung eines Individuums und muss sich vor dem Gesamtheit der Erfahrung und im Experiment ’bewähren’.

Vor diesem Hintergrund kann keine Zeit für sich einen absoluten Interpretationsanspruch zum Phänomen der Meditation beanspruchen! Im Gegenteil, jede neue Zeit ist herausgefordert, bisherige Interpretationen im Lichte neuer Erfahrungen, neuer Experimente, immer wieder zu überprüfen.

LITERATUR

[JK17] E. Jonas and K.P. Kording. Could a neuroscientist understand a microprocessor? PLoS Comput Biol, 13(1):1–24, January 2017.

[LR17] Simon Lohse and Thomas Reydon. Grundriss Wissenschaftsphilosophie. Die Philosophien der Einzelwissenschaften. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt (Germany), 1 edition, 2017.

[RN10] Stuart Russel and Peter Norvig. Artificial Intelligence. A Modern Approach. Universe Books, 3 edition, 2010.

[Spi18] Sarah Spiekermann. Die große big-data-illusion. FAZ, (96):13, 25.April 2018.

[Sta60] W.T. Stace. Mysticism and Philosophy. Jeremy P.Tarcher, Inc., Lo Angeles (CA), 1 edition, 1960.

KONTEXT BLOG

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DER VERSTECKTE BEOBACHTER UND AKTEUR. Wo Denken sich verabschiedet. Notiz

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
12.April 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: cagent

Philosophie des Beobachters - Vogelperspektive
Philosophie des Beobachters – Vogelperspektive

DER  BEOBACHTER

In den Wissenschaften ist klar, dass es ohne einen Beobachter nichts gibt: keine Experimente mit Messungen, die Daten generieren, und keine Modelle, Theorien, die Daten in Zusammenhänge setzen und damit Deutungs- oder gar Erklärungshypothesen liefern.

Weniger klar ist, dass und wieweit der Beobachter konstitutiv in eine Theorie eingeht und dass eine ’normale‘ Theorie nicht in der Lage ist, ihren eigenen Beobachter zu thematisieren.

Besonders krass ist der Fall in der Physik. Die standardisierten physikalischen Messeinheiten erlauben interessante Modellbildungen zu Strukturen und Dynamiken der realen Welt, es ist mit diesen Daten und Modellen jedoch nicht möglich, den physik- spezifischen Beobachter angemessen zu beschreiben.

Andere Disziplinen wie z.B. die Biologie, die Psychologie oder die Soziologie kommen den komplexen Phänomenen eines Beobachters zwar ’näher‘, aber auch diese – wenn sie denn als empirische Wissenschaften arbeiten – können ihre jeweiligen spezifischen Beobachter nicht mir eigenen ‚Bordmitteln‘ erschöpfend beschreiben. Würden sie es tun, würden sie ihr Wissenschaftsparadigma sprengen; dann müssten sie aufhören, empirische Wissenschaften zu sein.

IRREFÜHRUNG INTERDISZIPLINARITÄT

Im übrigen muss man auch fragen, ob nicht alle Disziplinen auf ihre spezifische Weise Sichten zum Beobachter entwickeln, die  jeweils spezifisch  ‚Recht‘ haben. Nur eine Zusammenschau aller dieser verschiedenen Sichten würde dem komplexen Phänomen ‚Beobachter‘ gerecht, wenngleich prinzipiell unvollständig. Allerdings wäre keine der einzelnen Disziplinen je für sich in der Lage, eine ‚Gesamtschau‘ zu organisieren. Das gibt der normale Theoriebegriff nicht her. Das Reden vom ‚Interdisziplinären‘ ist insofern eine Farce. Hier wird eine Disziplinen-Übergreifende Einheit angedeutet, die es zwischen Einzeldisziplinen prinzipiell nicht geben kann (und auch in der Praxis nie erreicht wird; das scheitert schon an den verschiedenen Sprachen der Disziplinen).

ROLLEN

In der Praxis der Gesellschaft und der Industrie manifestiert sich das Dilemma des versteckten Beobachters im Phänomen der unterschiedlichen Rollen. An einem Systems-Engineering Prozess (SEP) kann man dies verdeutlichen.

Die Manager eines SEP legen Rahmenbedingungen fest, geben Ziele vor, überwachen den Ablauf. Der Prozess selbst wird von unterschiedlichen Experten (Akteuren) gelebt. Diese Experten setzen den ‚durch die Manager gesetzten Rahmen‘ für die Dauer des Prozesses voraus, als gültiges Referenzsystem, innerhalb dessen sie ihre Problemlösung in Kooperation mit anderen Akteuren ‚leben‘.

Innerhalb eines SEP gibt es Akteure , z.B. die Mensch-Maschine Interaktions (MMI) Experten, heute auch schon Akteur-Akteur-Interaktions (AAI) Experten genannt (Akteure können Menschen (biologische Systeme) oder auch mittlerweile Roboter (nicht-biologische Systeme) sein. ‚Cyborgs‘ bilden neuartige ‚Zwitterwesen‘, wo noch nicht ganz klar ist, ob es ‚erweiterte biologische Systeme‘ sind oder es sich hier um eine neue hybride Lebensform als Ergebnis der Evolution handelt). Die MMI oder AAI Experten entwickeln Konzepte für ‚potentielle Benutzer (User)‘, also ‚andere Akteure‘, die in ‚angedachten Abläufen‘ mit ‚angedachten neuen Schnittstellen (Interface)‘ aktiv werden sollen. Werden die Pläne der AAI Experten akzeptiert und realisiert, entstehen für die angedachten Abläufe neue Schnittstellen, mit denen dann andere – dann ‚reale‘ – Akteure‘ arbeiten werden. Tritt dieser Fall ein, dann übernehmen die ‚Anwender (User)‘ einen ‚von anderen Akteuren gesetzten‘ Rahmen für ihr Handeln.

Vom Auftraggeber (Ebene 1) zum Manager eines SEP (Ebene 2) zu den Experten des SEP (Ebene 3) zu den intendierten Anwendern (Ebene 4). Wie sich dies dann wieder auf die umgebende Gesellschaft (Ebene 5) auswirkt, die sowohl Auftraggeber (Ebene 1) als auch Manager von Prozessen (Ebene 2) als auch die verschiedenen Experten (Ebene 3) beeinflussen kann, ist im Normalfall weitgehend unklar. Zu vielfältig sind hier die möglichen Verflechtungen.

Andere Querbeziehungen in einen SEP hinein (kleine Auswahl) treten dort auf, wo z.B. die AAI Experten andere Wissenschaften zu Rate ziehen, entweder über deren ‚Produkte‘ (Artikel, Bücher, Verfahren) oder direkt durch Einbeziehung der Akteure (Psychologie, Psychologen, Soziologie, Soziologen, usw.).

An keiner Stelle in diesem überaus komplexen Rollengeflecht gibt es normalerweise eine Rolle, die offiziell sowohl die spezifischen Aufgaben ‚innerhalb‘ einer Rolle wie auch die ‚Rolle selbst‘ beobachtet, protokolliert, untersucht. Eine solche Rolle würde jeweils vorgegebene Rollen ‚durchbrechen‘, ‚aufbrechen‘, ‚verletzten‘. Das verwirrt, schafft Unruhe, erzeugt Ängste und Abwehr.

HOFNARREN, PHILOSOPHEN

Andererseits gibt es historisch diese Formen in allen Zeiten. In der einen Form ist es der ‚Hofnarr‘, der kraft seiner Rolle grundsätzlich anders sein darf, dadurch feste Muster, Klischees durchbrechen darf, bis zum gewissen Grad wird dies auch erwartet, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Unterschwellige Machtstrukturen dürfen in der Regel nicht angetastet werden.

In der anderen Rolle haben wir die Philosophen. Das philosophische Denken kann das einzelwissenschaftliche Denken ‚imitieren‘, es kann aber jederzeit aus diesem Muster ausbrechen und nach den Voraussetzungen des einzelwissenschaftlichen Denkens fragen. Ein Philosoph kann — von seinem Denken her — die immer und überall wirksamen ‚Voraussetzungen‘ von Verhalten und Denken ‚hinterfragen‘, ‚thematisieren‘ und auf diese Weise einer expliziten Reflexion und sogar bis zu einem gewissen Grade einer Theoriebildung zugänglich machen. Der Philosoph als Teil einer Gesellschaft mit seiner Nähe zum ‚Hofnarren‘ darf meistens aber nur soviel anders sein (Schulphilosophie), die die Gesellschaft ihm zugesteht. Vom Standpunkt eines philosophischen Denkens aus kann man unterschiedliche einzelwissenschaftliche Modelle und Theorien ‚als Objekte‘ untersuchen, vergleichen, formalisieren und man kann auf einer ‚Metaebene‘ zu den Einzelwissenschaften ‚integrierte Theorien‘ schaffen; nur so. Interdisziplinarität ist von hier aus betrachtet eine Form von Ideologie, die genau solche Integrationen  verhindert.

WISSENSCHAFTLICHE EINZELSTAATEREI

Der Versuch der Einzelwissenschaften, sich der ‚Gängelei‘ eines philosophischen Denkens zu entziehen, führt bei aller Positivität der einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse zu dem großen Wirrwarr, das wir heute um uns herum beobachten können. Ein komplexes Phänomen wie der Homo sapiens wird zwischen den einzelwissenschaftlichen Mühlsteinen zu Sand zerrieben; übrig bleibt nichts. Die verschiedenen biologischen, psychologischen, neurologischen, soziologischen usw. ‚Substrate‘ bilden unterschiedliche Zerrformen, die in keinem Gesamtbild integriert sind. Das kommt einer Abschaffung des Menschen durch den Wissenschaftsbetrieb gleich. Dies erinnert ein wenig an den kleinstaatlichen Flickenteppich, bevor Deutschland ein integrierter Staat wurde; jeder war sein eigener Fürst; sehr schön; komplexere Einheit fand nicht statt. Das menschliche Gehirn bevorzugt Vereinfachungen, und das subjektive Machtgefühl eines jeden fühlt sich geschmeichelt, wenn es sich als (wenn auch kleiner und beschränkter) ‚Fürst‘ fühlen kann.

INFORMELLE KOSMOLOGIE. Teil 3a. Evolution – Wahrheit – Gesellschaft. Synopse der bisherigen Beiträge zur Wahrheit in diesem Blog

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
20.März 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Abstract

Auf der Suche nach dem Neuen Menschenbild im Spannungsfeld von Philosophie, empirischen Wissenschaften und Computertechnologie schält sich heraus, dass ein Bindeglied in allem das Wechselspiel von Akteuren in Umgebungen ist, die sich mittels Kommunikation koordinieren. Die Anzahl hier relevanter Artikel und Bücher geht in die Hunderte, wenn nicht in die Tausende. Interessanterweise scheint der oft geschundene, vielfach wegdiskutierte Begriff der ’Wahrheit’ hier eine neue Bedeutung zu gewinnen. Die Arbeitshypothese lautet: Wahrheit ist ein unabdingbarer Rohstoff jeder nachhaltigen Gesellschaft. Diese These soll in folgenden Szenarien ’getestet’ werden: (i) Evolutionäre Zubereitung bisher; (ii) Individuum und Gesellschaft; (iii) Die Mensch-Maschine Superintelligenz. Diese Artikelserie beginnt mit einer kurzen Zusammenschau der bisherigen Artikel im Blog seit 2011, die das Thema ’Wahrheit’ im Titel hatten.
So unterschiedlich diese Artikel sind, sie sind die ’Vorboten’ einer neuen Sicht auf das Ganze, in der der einzelne gleichberechtigt ist mit dem Ganzen: das Ganze ohne den einzelnen ist Nichts, und der einzelne ohne das Ganze ist ’fast nichts’.

I. ÄLTERE BEITRÄGE ZUM WAHRHEITSBEGRIFF

Hier die Blogbeiträge, die sich in den letzten Jahren explizit mit der Bedeutung und der Rolle von ’Wahrheit’ beschäftigt hatten:

1) Nr.32 vom Juli 2011: Wahrheit im Alltag . Hier die Idee, dass die Wahrheit einerseits zwar in den Strukturen der Welt fundiert ist, andererseits dem einzelnen aber nur im Modus seines Bewusstseins zugänglich ist. Im Bewusstsein können diese Strukturen starke Modifikationen erfahren.

2) Nr.76 vom April 2012: WAHRHEIT ALS UEBERLEBENSNOTWENDIGKEIT; WEISHEIT ALS STRATEGIE
Fortführung der Idee, dass die Strukturen der Welt sich in unterschiedlichen Bildern (Modellen) im Kopf eines Menschen niederschlagen können. Durch die reale Interaktion mit seiner Umgebung wirken dann diese Modelle über das Verhalten in die Welt hinein. Wenn sie unangemessen oder ’falsch’ sind, kann dies entsprechende Folgen haben.

3) Nr.82 vom August 2012: DIE WAHRHEIT IST GANZ UND GAR NICHT KÄUFLICH Hier wird der gleitende Übergang von biologischen Systemen ohne Bewusstsein zu Systemen mit Bewusstsein angesprochen. Auch Systeme ohne Bewusstsein verfügen über Verhaltensmuster, die sich an aktuellen Sinnesreizen orientieren, die von der Umgebung ausgelöst werden. Ein Muster ist dann ’passend’, wenn es zu den Auslösereizen ’gehört’. Mit der Herausbildung von Nervensystemen nimmt die Möglichkeit zu, verschiedene Handlungsalternativen für eine Situation ’auszuwählen’. Wichtig ist hier, dass das ’Passende’, die ’Wahrheit’ als Referenzpunkt die
jeweilige Umgebung hat, die dem einzelnen System ’voraus liegt’; sie ist in diesem Sinne ’nicht käuflich’.

4) Nr.108 vom Januar 2013: EINSCHUB: WAHRHEIT vs. KAPITAL  Die schon früher angesprochene Interaktion des einzelnen Systems mit seiner Umgebung und die innerhalb dieser Aktionen sich realisierende Wahrheit kann dadurch in Abhängigkeiten
von Rahmenbedingungen geraten, die für die Gewinnung von ’wahren Bildern/ Modellen’ ’abträglich’ ist. So haben z.B. Firmen sehr harte Überlebensregeln, die den Handlungsraum für ’wahre Modelle’ meistens sehr einschränken; das Gleiche gilt für allerlei Behörden und für die unterschiedlichen politischen Systeme.

5) Nr.168 vom Oktober 2013: DIE WAHRHEIT  ERSCHEINT IM BETRACHTER – Oder: WARUM WIR NUR GEMEINSAM DAS ZIEL ERREICHEN KÖNNEN  Hier
wird der Aspekt der Abhängigkeit des einzelnen in seinem Erkennen von der Welt von seiner Geschichte und seiner Umgebung herausgestellt. Ferner die wechselseitige Beeinflussung untereinander über die aktuellen Weltbilder. Dazu der Aspekt, dass es für die Erkenntnis der Wahrheit nicht ausreicht, einzelne Augenblicke zur Kenntnis zu nehmen, sondern man kann ’Zusammenhänge’ und ’Regelhaftigkeiten’ nur durch
Zusammenschau vieler einzelner Augenblicke erfassen. Das Erkennen der ’Wahrheit’ muss ein Projekt von allen sein. Unsere subjektive ’Falschheit’ hebt die ’objektive’ Wahrheit nicht notwendigerweise auf, kann sie aber für das erkennende Subjekt ’unsichtbar’ machen.

6) Nr. 202 vom März 2014: DIE WAHRHEIT BEGINNT IM CHAOS  Da wir jenseits unserer eigenen Wahrheit die ’wahre Wahrheit’ der Welt nicht kennen, können wir auch nicht definitiv sagen, ob die Welt ein Chaos ist oder irgendeine Ordnung. Zu Beginn
ist alles erst mal Chaos. Von daher beginnt die Erkenntnis der Wahrheit im Chaos. Das jeweilige Wissen ist eine Momentaufnahme einer unbekannten Vorgabe, und muss daher grundsätzlich als versuchsweise Annäherung begriffen werden. Die scheinbare Ordnung eines Wissens kann ein Artefakt der Weltfremdheit sein.

7) Nr. 223 vom August 2014: WIEDER TRITT FINDEN – Nach einer längeren Pause
– WAHRHEIT, DEMOKRATIE, RELIGION(en)
Eine wichtige Grundeinsicht: die einzig ’wirklichen’ und ’wahrheitsfähigen’ Erkenntnisse finden sich nicht schon  in den primären Ereignissendes Alltags, sondern erst und einzig im ’verarbeitenden Denken’, in den Aktivitäten der individuellen Gehirne,
soweit diese in der Lage sind, solche allgemeinen Muster zu erzeugen und damit weiter zu arbeiten. Die bisherige Geschichte hat keine funktionierende und allgemeine Wahrheitstheorie hervorgebracht. Starke Widerstände für eine moderne Sicht der Wahrheit kam von allen Religionen. Das juristische Denken ist auch wenig geeignet, Erkenntnis von Wahrheit zu fördern.

8) Nr. 263 vom Januar 2015: HYSTERIE: NEIN, SOLIDARITÄT: JA – DAHINTER WARTET DIE WAHRHEIT
Das alltägliche Überleben erzwingt Vereinfachungen im Weltverstehen; dies kann kontraproduktiv werden. Förderliche Faktoren für wahres Wissen können sein: reale Toleranz, Rechtssicherheit, umfassende Bildung, funktionierende Infrastrukturen, darin eingebettet Handel und Wirtschaft. ’Wahrheit’ und ’Falschheit’ sind entscheidbare Sachverhalte, die die Basis für unsere Weltbetrachtung bilden sollten. ’Gut’ und ’Böse’ sind hingegen ’Wertvorstellungen’ von sozialen Gruppen, die – sofern sie verstehbar sind – dazu verwendet werden können, innerhalb einer sozialen Gruppe das gemeinsame Verhalten zu ’regeln’. Eine rationale Anwendung von Gut-Böse-Regeln setzt die Möglichkeit der Wahrheitsfindung voraus. Im Konzept der religionsfreien Wissenschaft wurden die Regelsysteme ’zurückgeholt’ aus der Sphäre der Unkontrollierbarkeit und im Hier und Jetzt verankert. Damit die Menschen wieder Herr ihrer eigenen Regeln sein können, wurden Regeln ’kritisierbar’, konnte man menschlich aufgestellte Regeln ändern, wenn die Wirklichkeit ihnen entgegen stand.

9) Nr. 395 vom Juli 2017: DAS NEUE ALS PROBLEM DER WAHRHEIT – Zwischenbemerkung
Es gibt viele Gründe in der Gegenwart, warum selbst angestammte Bereiche der Wahrheit wie die empirischen Wissenschaften, Erosionserscheinungen aufweisen; … Dennoch können all diese Verformungen und Entartungen nicht gänzlich darüber hinwegtäuschen, dass – selbst wenn traditionelle Wahrheits-Begriffe möglicherweise korrigiert, justiert werden müssen (im öffentlichen Bewusstsein) – die grundlegenden
Sachverhalte der Übereinstimmung unseres virtuellen Denkens mit einer jenseits dieses Denkens unterstellten objektiven Wirklichkeit weiterhin von grundlegender Bedeutung und lebenswichtig sind… Nach dem Aufwachen folgen viele, viele Stunden von Verhaltensweisen, die sich beständig dadurch speisen, dass man Wissen über eine Welt hat, die sich in den konkreten Handlungen dann auch bestätigen. Das ist unser primärer, alltäglicher Wahrheitsbegriff: Es verhält sich im Handeln so, wie wir in unserem Denken annehmen… Zu dieser Alltagserfahrung gehört auch, dass wir uns manchmal irren…Alle diese Irrtumserfahrungen lassen uns aber nicht grundsätzlich an unserer Fähigkeit zweifeln, dass wir ein handlungstaugliches Bild von der Welt haben können. Dieses Bild, sofern es funktioniert, nennen wir ’wahr’…. ’Neues’ definiert sich … dadurch, dass es mit dem bisher Bekannten nichts oder nur wenig zu tun hat. Wirklich ’Neues’ lässt ein Stück Wirklichkeit aufbrechen, das wir so bislang nicht kennen… Innovation als Kern des biologischen Lebens…

10) Nr. 396 im Juli 2017: WAHRHEIT CONTRA WAHRHEIT. Notiz
In diesem Beitrag wird die mögliche Bedeutung des Begriffs ’Wahrheit’ sehr vielschichtig  betrachtet. Nach Kapiteln mit den Überschriften ARBEITSDEFINITION VON WAHRHEIT, WAHRHEIT UND LEBENSFORM sowie GEDANKE UND REALE WELT folgt ein Schlusskapitel mit der Überschrift EINE KULTUR DER WAHRHEIT? In diesem finden sich folgende Thesen:
a) Wenn man sieht wie unglaublich stark die Tendenz unter uns Menschen ist, aktuelle, partielle Wahrheiten (die aus Sicht des einzelnen nicht partiell, sondern universell sind) mit einer bestimmten Alltagspraxis zu verknüpfen und diese fest zu schreiben, dann könnte man auf die Idee kommen, zu fragen, was wir als Menschen tun können, um dieser starken Tendenz ein natürliches Gegengewicht gegenüber zu stellen, das dem Trieb zu partiellen Wahrheit entgegenwirken könnte.
b) Innerhalb der Rechtsgeschichte kann man beobachten, wie im Laufe von Jahrtausenden das Recht des Angeklagten häppchenweise soweit gestärkt wurde, dass es in modernen Staaten mit einem funktionieren Rechtssystem üblich geworden ist, jemanden erst dann tatsächlich zu verurteilen, nachdem in nachvollziehbaren, transparenten Verfahren die Schuld bzw. Unschuld objektiv festgestellt worden ist.
Dennoch kann man sehen, dass gerade in der Gegenwart in vielen Staaten wieder eine umgekehrte Entwicklung um sich greift: der methodische Respekt vor der Gefahr partieller Wahrheiten wird einfach über Bord geworfen und Menschen werden allein aufgrund ihrer Andersartigkeit und eines blinden Verdachts vor-verurteilt, gefoltert, und aus ihren gesellschaftlichen Stellungen verjagt.
c) Innerhalb der Welt der Ideen gab es eine ähnliche Entwicklung wie im Rechtssystem: mit dem Aufkommen der empirischen experimentellen Wissenschaften in Kooperation mit mathematischen Strukturen konnte das Reden über Sachverhalte, über mögliche Entstehungsprozesse und über mögliche Entwicklungen auf ganz neue Weise transparent gemacht werden, nachvollziehbar, überprüfbar, wiederholbar, unabhängig von dem Fühlen und Meinen eines einzelnen – Anmerkung: Allerdings nicht ganz! –. Diese Art von Wissenschaft kann großartige Erfolge aufweisen, ohne die das heutige Leben gar nicht vorstellbar wäre. Doch auch hier können wir heute beobachten, wie selbst in den Ländern mit einem entwickelten Wissenschaftssystem die wissenschaftlichen Prinzipien zunehmen kurzfristigen politischen
und ökonomischen Interessen geopfert werden, die jeweils auf den partiellen Wahrheiten der Akteure beruhen.

d) Es drängt sich dann die Frage auf, ob der Zustand der vielen (partiellen) Wahrheiten generell vermeidbar wäre bzw. wie man ihn konstruktiv nutzen könnte, um auf der Basis der partiellen Wahrheiten zu einer umfassenderen Wahrheit zu kommen.
e) Die Alternative ist die berühmte offene Gesellschaft, in der eine Vielfalt von partiellen Wahrheiten möglich ist, verbunden mit dem Vertrauen, dass die Vielfalt zu entsprechend vielen neuen erweiterten partiellen Wahrheiten führen kann (nicht muss!). Hier gibt es – im Idealfall – eine Fülle unterschiedlicher Medien und keine Zensur. Entsprechend wären auch alle Lern- und Erziehungsprozesse nicht an einem Drill, einer autoritären Abrichtung der Kinder und Jugendlichen orientiert, sondern an offenen, kreativen Lernprozessen, mit viel Austausch, mit vielen Experimenten.
f) Allerdings kann man beobachten, dass viele Menschen nicht von vornherein solche offenen, kreativen Lernprozesse gut finden oder unterstützen, weil sie viel anstrengender sind als einfach einer autoritären Vorgabe zu folgen. Und es ist ein historisches Faktum, dass partielle Wahrheitsmodelle bei geeigneter Propaganda und gesellschaftlichen Druck eine große Anhängerschaft finden können. Dies war und ist eine große Versuchung für alle narzisstischen und machtorientierten Menschen. Das scheinbar Einfachere und Bequemere wird damit sprichwörtlich zum ’highway to hell’.
g) Für eine offene Gesellschaft als natürlicher Entwicklungsumgebung für das Entstehen immer allgemeinerer Wahrheiten sowohl in den Beteiligten wie auch im Alltag scheinen von daher geeignete Bildungsprozesse sowie freie, unzensierte Medien (dazu gehört heute auch das Internet) eine grundlegende Voraussetzung zu sein. Die Verfügbarkeit solcher Prozesse und Medien kann zwar keine bessere gedachte und gelebte Wahrheit garantieren, sie sind allerdings notwendige Voraussetzungen, für eine umfassendere Kultur der Wahrheit. (Anmerkung: Natürlich braucht es noch mehr Elemente, um einen einigermaßen freien Raum für mögliche übergreifende Wahrheiten zu ermöglichen.)
h) Vor diesem Hintergrund ist die weltweit zu beobachtende Erosion von freien Medien und einer offenen, kreativen Bildung ein deutliches Alarmsignal, das wir Menschen offensichtlich dabei sind, den Weg in ein wahrheitsfähige Zukunft immer mehr zu blockieren. Letztlich blockieren wir uns als Menschen damit nur selbst. Allerdings, aus der kritischen Beobachtung alleine folgen keine wirkenden konkreten Verbesserungen. Ohne eine bessere Vision von Wahrheit ist auch kein alternatives Handeln möglich.
Deswegen versuchen ja autoritäre Regierungen immer, zu zensieren und mit Propaganda und Fake-News die Öffentlichkeit zu verwirren.

11) Nr. 409 vom Oktober 2017: EIN HOMO SAPIENS – VIELE BILDER. Welches ist wahr? .
Ein sehr intensiver Artikel. Nach Kapiteln wie ’Vielfalt trotz Einheit’, ’Wahrheit, die ich meine’, ’Wahrheitsmechanismen’, ’Gegenwart, Gestern, Morgen’, ’Eigener Lebensraum, ganz woanders’, ’Interpretierte Wahrnehmung’, ’Erfahrung liefert Bilder’, ”Wie das ’Richtige’ Lernen?”, ’Mengenbegrenzungen’, ’Mustererkennen’, ’Spezialisierungen’, ’Wechselwirkungen aufdecken’, ’Geeignete Wissensformen’, ’Verloren im Fragment’, ’Fehlende Präferenzen’ sowie ’Menschenbilder’ fragt der Schlussabschnitt: ’Was Tun?’ Dort kann man lesen:

Es ist eines, einen Sachverhalt zu diagnostizieren. Es ist eine ganz andere Frage, ob man aus solch einer Diagnose irgendeinen Handlungsvorschlag generieren kann, der eine deutliche Verbesserung mit sich bringen würde.

Angesichts der zentralen Bedeutung des Wissens für das Verhalten des Menschen eingebettet in Präferenz/ Bewertungsstrukturen, die in einem Lernprozess verfügbar sein müssen, bei gleichzeitiger Berücksichtigung der quantitativen Beschränkungen des biologischen Systems bräuchte es neue Lernräume, die solch ein verbessertes Lernen unterstützen. Ganz wichtig wäre es dabei, das Wissen nicht nur ’jenseits des Individuums’ zu kumulieren (die Cloud für alle und alles), sondern den einzelnen als einzelnen zu stärken, auch als soziales Wesen. Dazu braucht es eine grundlegende Re-Analyse dessen, wie der Mensch mittels neuer digitaler und Cyber-Technologien sowie Humantechnologie seinen Möglichkeitsraum vergrößern kann. Dies wiederum setzt voraus, dass es eine Vision von Gesellschaft der Zukunft gibt, in der der homo sapiens überhaupt noch eine Rolle spielt.

Dies wird gerade von elitären Machtgruppen immer mehr in Frage gestellt.

Wo gibt es ernsthafte Visionen für humane Gesellschaften für Morgen?

Diese Aufgabenstellung ist nichts für einen allein; hier sind alle, jeder auf seine Weise, gefragt.

12) Nr. 411 vom November 2017: WAHRHEIT ALS UNABDINGBARER ROHSTOFF EINER KULTUR DER ZUKUNFT
Hier wird aufgezeigt, dass eine Kultur der Zukunft ohne Wahrheit unmöglich ist. Wahrheit ist der entscheidende, absolut unabdingbare Rohstoff für eine Kultur der Zukunft… die zentrale Bedeutung von Kommunikationsprozessen …Diese sollten so sein, dass alle Beteiligten des politischen Diskurses in der Lage sind, die möglichen Ziele und Argumente dafür und dagegen, die sie sprachlich austauschen, auf ihren Sachgehalt hin soweit klären zu können, dass alle Beteiligten nachvollziehen könnten, was damit gemeint ist und warum diese Maßnahmen mit Blick auf die Zukunft Sinn machen. … besondere Rolle des homo sapiens in der Evolution…

13) Nr. 416 vom Januar 2018: WENN PHILOSOPHISCHE SACHVERHALTE POLITISCH RELEVANT WERDEN...
Die Freilegung von Wahrheit durch philosophisches Denken bleibt wirkungslos, wenn das Alltagsdenken – und die Politik gehört dazu – sich der Wahrheit verweigert. … … Zu internen Bildern von der Welt zu kommen, die angemessen sind, die wahr sind, ist zwar nicht einfach, verlangt einen großen gemeinschaftlichen Aufwand, ist aber grundsätzlich bei aller bleibenden Vorläufigkeit möglich. Zugleich wurde auch klar, wie leicht das Erarbeiten von angemessenen Weltbildern von einer Vielzahl von Faktoren im individuellen wie auch im gemeinschaftlichen Einflussbereich gestört werden kann, so massiv, dass die Bilder unangemessen/ falsch werden können. … Obwohl Philosophen in vielen Jahrtausenden und Kulturen sich daran versucht haben, das Phänomen der Wahrheit zu fassen, gibt es bis heute kein philosophisches Konzept der Wahrheit, das in allen philosophischen Schulen, in allen Kulturen einheitlich verstanden und akzeptiert ist. Man hat eher den Eindruck, dass gerade die neuere Philosophie – sagen wir seit Ludwig Wittgenstein, um mal einen Referenzpunkt zu nennen – das Konzept von Wahrheit eher wieder aufgegeben hat…

Szenenwechsel: Demokratie in den USA: nicht die demokratischen Strukturen versagen, sondern die Akteure, die diese demokratische Strukturen leben, diese haben Weltbildern in ihren Köpfen, die hochgradig falsch erscheinen gemessen an dem Wissen, das wir heute über unsere Welt und unsere Prozesse haben können. Und von den vielen potentiellen Wählern, die durch ihre Wahlentscheidung mit entscheiden, welche Akteure zu den zeitlich begrenzten politischen Verantwortlichen werden können, scheint eine hinreichend große Menge an diesen falschen Weltbildern zu partizipieren…. die Ungleichzeitigkeit von unterschiedlichen Weltbildern, Spielmasse für Demagogen… …

Moderne, wahrheitsfähige Wissensformen entstehen zu einem großen Teil – idealerweise – in Schulen und Hochschulen. Wissen, das hier nicht vermittelt wird, wirkt sich mit seinem Fehlen oder mit seinen falschen Formaten unmittelbar auf die gesamte Gesellschaft aus. … Obwohl der Homo sapiens die erste Lebensform im beobachtbaren Universum ist, die überhaupt wahrheitsfähig ist, ringt dieser Homo sapiens bis heute damit, wie er seine Wahrheitsfähigkeit im komplexen Geflecht einer immer dichteren Weltgesellschaft mit so vielen unterschiedlichen Kulturen und der immer größeren Beschleunigung in der Technologieentwicklung erhalten, bewahren und weiter entwickeln kann. Die Besonderheit dieser Situation liegt darin, dass sich dieses Problem nicht im Alleingang lösen lässt.

Wahrheit ist ein kognitives Gebilde in einem Individuum, das mit der umgebenden Welt und den kognitiven Gebilden der anderen Individuen koordiniert werden muss…

14) Nr. 418 vom Februar 2018: INFORMELLE KOSMOLOGIE – Und die Mensch-Maschine Frage
Man kommt nicht umhin sich Klarheit darüber zu verschaffen, was einerseits mit dem Begriff ’Mensch’ gemeint ist und andererseits mit dem Begriff ’intelligente Maschine’… Menschliches Denken sammelt Eindrücke der Welt ein, Kombiniert sie, und handelt danach, das kann schief gehen…. Zerklüftete Wissenschaften, Erfindung neuer Sprachen, insbesondere Mathematik, Schaubild Weltstruktur (Ontologie!)… Die Abfolge der Entstehung von Komplexitätsebenen geschieht NICHT rein zufällig…

Zauberwort ’Kooperation’… Werkzeuge, Technologie, Computer … Kognitive und emotionale Grenzen des Menschen … Welche Ziele – Präferenzen – Werte? Woher? Jenseits von Mutter Erde…

15) Nr. 419 vom Februar 2018: INFORMELLE KOSMOLOGIE. Teil 2. Homo Sapiens und Milchstraße Komplexität des menschlichen Körpers im Vergleich zur Milchstraße … Zusammenhang durch Funktionen… Gehirn so winzig… Bewusstsein: Paradox Physiologie – Qualia; Freier Wille und Freiheit.

WAHRHEIT ALS UNABDINGBARER ROHSTOFF EINER KULTUR DER ZUKUNFT

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 20.Nov. 2017
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: cagent
Email: cagent@cognitiveagent.org

ÜBERSICHT


I Zukunft als Politischer Zankapfel 1
II Wahrheit als Chance 2
III Wahrheit als Betriebssystem einer Kultur  2
III-A Überwindung des Augenblicks . . . .2
III-B Das ’Äußere’ als ’Inneres’ . . . . . .2
III-C Das ’Innere’ als ’Außen’ und als ’Innen’ 3
III-D Fähigkeit zur Wahrheit . . . . . . . . 3
III-E Bindeglied Sprache . . . . . . . . . . 4
IV Wahrheit durch Sprache? 4
V Wahrheit in Freiheit 5
VI Energie 5
VII Wahrheit durch Spiritualität 6
VIII Intelligente Maschinen 7
IX Der homo sapiens im Stress-Test 8
X ’Heilige’ Roboter 8
XI Singularität(en) 9
XII Vollendung der Wissenschaften 10
Quellen: 11

 

ZUSAMMENFASSUNG

Nachdem es in diesem Blog schon zahlreiche
Blogbeiträge zum Thema Wahrheit gab, geht es in diesem
Beitrag um die wichtige Ergänzung, wie Wahrheit mit einer
Kultur der Zukunft zusammenspielt. Hier wird aufgezeigt,
dass eine Kultur der Zukunft ohne Wahrheit unmöglich
ist. Wahrheit ist der entscheidende, absolut unabdingbare
Rohstoff für eine Kultur der Zukunft.

Für den vollständigen Text siehe das PDF-Dokument.

KONTEXT BLOG

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DIE NATUR DER ERKLÄRUNG – Kenneth Craig – Diskussion

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ÜBERBLICK

Craik führt in diesem Buch eine breit angelegte Diskussion im Spannungsfeld von Philosophie, Psychologie, Physiologie, Physik und Technik, die einige Hauptthemen erkennen lässt: ein Plädoyer für ein kausales Verständnis der realen Welt, für die Rekonstruktion von Bewusstsein durch Rückgriff auf das Nervensystem, für die zentrale Rolle mentaler Modelle, sowie für die wichtige Rolle von Sprache in allem Erklären.

I. KONTEXT

Alle Themen, die Craik in seinem Buch ”The Nature of Explanation” [Cra43] anspricht, sind Themen, die in verschiedenen Blogeinträgen schon zur Sprache gekommen sind. Das Buch wird daher etwas intensiver diskutiert, um damit die Position des Blogs weiter zu klären. Dabei ist zu beachten, dass Craik nicht nur eine große Linie verfolgt, sondern im Verlauf des Textes viele andere Themen anspricht, die irgendwie auch mit der großen Linie zusammenhängen. Dies macht die Lektüre manchmal etwas mühsam, wenngleich immer interessant. Dem Interesse des Blogs folgend werden daher nur einige Hauptthemen hier weiter diskutiert. Eine Lektüre dieser Themen ersetzt nicht die eigene Lektüre seines Buches.

II. ERKLÄRUNG DURCH KAUSALITÄT

K.Craik - Stichworte aus Kap.1-4
K.Craik – Stichworte aus Kap.1-4

Das Schaubild 1 enthält nur einige der einschlägigen Stichworte von Craig aus den ersten vier Kapiteln, und auch nur kursorisch.

Aus den vielen Argumenten, die gegen die Möglichkeit einer Erklärung durch Kausalität sprechen, stammt das prominenteste von David Hume (1711 – 1776), für den die Beschaffenheit der sinnlichen Wahrnehmung keinen direkten Schluss auf eine kausaler Beziehung der Art ’B ist da durch A’ zulässt. Zu einem bestimmten Augenblick
haben wir einen Momenteindruck, beim nächsten Augenblick auch. Zwischen verschiedenen Augenblicken kann es zwar Unterschiede geben, aber diese lassen nicht zwingend eine Interpretation in Richtung einer kausalen Beziehung zu.

Neben sehr vielen anderen Positionen bespricht Craik auch die Position der modernen Physik sofern sie quantenmechanische Modelle benutzt. Angesichts einer prinzipiellen Messungenauigkeit (Heisenberg, Unschärferelation) und unbeobachtbaren Objekten soll eine direkte kausale Zuschreibung nicht mehr möglich sein. Es gibt nur noch
Regelmäßigkeiten in Form von statistischen Tendenzen. Craik kritisiert in diesem Zusammenhang, dass man aus den Grenzen der Beobachtbarkeit nicht notwendigerweise darauf schließen kann, dass es deswegen grundsätzlich
keine Kausalität mehr gäbe. Ferner weist er anhand vieler Beispiele darauf hin, dass die Theorien der Wahrscheinlichkeit als Theorien starke implizite Annahmen über die vorausgesetzten Ereignismengen machen, die grundlegende Wechselwirkungen, auch in Form kausaler Beziehungen, voraussetzen.

Aus der Sicht Craiks ist die Position Humes nicht ganz korrekt, da das sinnliche Material immer schon in eine Raumstruktur eingebettet ist, die implizite Wechselbeziehungen realisiert (zwei gleichartige Objekte können nicht zugleich auf ein und derselben Raumstelle sein); ferner gehört die Zeitstruktur zur Wahrnehmung (darin über die
rein sinnlichen Anteile hinausgehend), die zumindest potentielle Abfolgen erkennen lassen (B folgt auf A in der Zeit). Dies impliziert zwar nicht unmittelbar eine kausale Beziehung, bietet aber einen Anknüpfungspunkt für eine Hypothese und Experimente. Im Rahmen der Zeitstruktur kann man z.B. allerlei Veränderungen beobachten, z.B.
auch eine Veränderung von Energieleveln. Diese bieten Ansatzpunkte für Hypothesen und Experimente.

Für Craik realisiert sich empirische Wissenschaft durch das Ernst nehmen von vorfindlichen Gegebenheiten, von Fakten, bezogen auf die man Hypothesen bzgl. möglicher Zusammenhänge formulieren kann. Diese Hypothesen kann man dann in Experimenten überprüfen. Sofern sich die Hypothesen bestätigen lassen, soll dies eine gewisse Zufriedenheit auslösen. Geprüfte Zusammenhänge ermöglichen Verstehen, Einsicht, erlauben Voraussagen, mit Voraussagen kann man zukünftige Situationen vorweg nehmen, um sich dadurch auf kommende Situation einzustellen.
Ferner erlaubten geprüfte Zusammenhänge auch unterschiedliche praktische Nutzungen.
Fehlen geprüfte Zusammenhänge, dann kann dies zu Enttäuschungen, ja zu Frustrationen führen. Man kann dann nichts ableiten, nichts voraus sagen, nicht wirklich planen; auch eine praktische Nutzung ist nicht möglich. Man versteht das auslösende Phänomen dann nicht wirklich.

III. DENKEN UND NERVENSYSTEM

K.Craik - Die Erkennungsleistung des Systems Mensch
K.Craik – Die Erkennungsleistung des Systems Mensch

Nach zahlreichen vorausgehenden kritischen Anmerkungen zu unterschiedlichen Positionen in der Philosophie und in den Wissenschaften, geht Craik davon aus, dass der Mensch in einer realen Welt vorkommt. Einige der Ereignisse in dieser Welt können von Sinnesorganen beobachtet werden. Beobachten heißt hier, dass diese Ereignisse sowohl
in interne neuronale Ereignisse übersetzt werden, zusätzlich aber auch in eine symbolischer Sprache  mittels der Bezug genommen werden kann auf viele interne Gegebenheiten, Ereignisse und Prozesse. Das Andere der Symbole ist dann ihre Bedeutung (’meaning’). Was immer auch intern im einzelnen geschieht, es gibt unterschiedliche Prozesse, die abstrakt als Denken, Schlüsse ziehen, Voraussagen machen beschrieben werden. Ein wesentliches Element dieser Prozesse ist das Generieren von internen, mentalen Modellen, deren Analogien mit der realen
Außenwelt so groß sind, dass wichtige Eigenschaften und Prozesse der Außenwelt in ihren kausalen Beziehungen so nachgebildet werden können, dass auf ihrer Basis einigermaßen zuverlässige Voraussagen über die Zukunft gemacht werden können, die sich überprüfen lassen.

Craik wirft auch die Frage auf, welche Eigenschaften am Nervensystem es wohl sind, die alle diese Leistungen ermöglichen? Anhand verschiedener Verhaltensphänomene (visueller Reiz, Retina, Adaption, Differenzierung, Ähnlichkeit, bewusst – unbewusst, Reflexe, Zahlen und deren Nutzung, Gedächtnis, Lernen, Gefühle, …) diskutiert er
dann die Anforderungen, die an das System gestellt werden und überlegt, ob und wie diese Anforderungen rein technisch bzw. mittels des Nervensystems eingelöst werden könnten. Diese Überlegungen sind in ihrem grundsätzlichen Charakter interessant, aber der Stand des Wissens in seiner Zeit zum Nervensystem und zu neuronalen Modellen
war nicht ausreichend, um alle diese Phänomene verbindlich diskutieren zu können.
Immer wieder stellt er die zentrale Rolle der symbolischen Sprache heraus, mittels der sich komplexe Strukturen und Modelle generieren lassen, mit denen Erklärungen möglich werden, Voraussagen und auch die Koordinierung zwischen den Gehirnen.

Bei seiner Beschreibung der realen Welt fällt auf, dass er stark fixiert ist auf einfache physikalische Strukturen; die Besonderheit und Komplexität biologischer Systeme tritt wenig hervor. Dies obgleich er ja die komplexen Strukturen von Menschen sehr wohl diskutiert.

Er sieht allerdings schon ein Eigengewicht der mentalen logischen Strukturen gegenüber der ’reinen Maschinerie’ des Nervensystems, insofern das Nervensystem als solches funktioniert unabhängig von Logik und Bedeutung. In wissenschaftlichen Kontexten aber muss auch Logik und Bedeutung stimmen, andernfalls gelingt die Argumentation
nicht. Allerdings, auch hier gilt, dass auch eine Logik und mögliche Bedeutungen im mentalen Bereich ebenfalls Leistungen des Nervensystems sind. Das gerade ist das Besondere. Reine Introspektion kann zwar die phänomenale Seite des Geistes enthüllen, nicht aber seine neuronale Seite. Dazu bedarf es mehr als Introspektion.

Craik postuliert auch den Faktor der Gefühle (’feelings’) und der Emotionen (’emotions’) als grundlegend für das Verhalten. Zufriedenheit und Unglücklich sein sind starke Motive für das gesamte Verhalten. Wissenschaft lebt davon, Kunst, aber auch viele psychische Krankheiten scheinen mit einem Missmanagement der Gefühle zu tun zu haben.
Das Wechselspiel zwischen Gefühlen und dem gesamten Lebensprozess umschließt nach Craik viele Faktoren, viele dabei oft unbewusst, so dass das Erkennen der Zusammenhänge in der Regel nicht einfach ist. Klassische Ethik und Moral dagegen tendieren zu Vereinfachungen, die dann sachlich unangemessen sind.

IV. DISKURS

Die vorgestellten Gedanken von Craik sind, wohlgemerkt, nur eine Art Extrakt, viele interessante Details bleiben ungesagt. Für das Anliegen des Blogs kann dies aber u.U. genügen.

Das Thema empirische Wissenschaft, Messen, Erklären usw. steht in Übereinstimmung mit dem, was bislang angenommen wurde. Craik ist sehr bemüht, die Perspektive der Introspektion zu übersteigen, da er zu Recht erkennt, dass diese allein nicht ausreicht. Zugleich sieht er sehr wohl eine gewisse Eigenständigkeit der introspektiven Dimension. Was er aber nicht leistet, das ist ein Aufweis, wie man methodisch sauber beide Dimensionen kombiniert [Anmerkung: Dass eine empirischer Herangehensweise allein die Gesamtheit des Phänomens aber auch nicht erreichen kann, dies spricht Craik nicht
an. Letztlich haben wir es hier mit einem methodischen Deadlock zu tun: Introspektion benötigt zusätzlich empirische Methoden, empirische Methoden benötigen zusätzlich sehr dringend Introspektion. Dieses methodische Problem ist bis heute nicht befriedigend gelöst.] Im Blog gab es dazu zumindest einige Versuche.

Die gezielte Nachfrage danach, wie man welche der introspektiv und im Verhalten zugänglichen Eigenschaften des Menschen mittels neuronaler Mechanismen modellieren könnte, wurde hier im Blog noch nicht diskutiert. Es gibt dazu einige Skript aus Vorlesungen, die aber bislang keinen Eingang in den Blog gefunden haben [Anmerkung: Dazu findet sich mehr in dem korrespondierenden Blog uffmm.org.4].  Die Frage
ist aber tatsächlich philosophisch relevant. Die Frage wurde vom Autor cagent bislang deswegen in diesem Blog kaum diskutiert, weil er der Frage nachging, ob und wieweit man neuronale Netze durch andere mathematisch äquivalente Mechanismen ersetzen kann um dann die Fragen nach der Substitution dann mit diesen anderen Strukturen zu untersuchen. In den letzten Jahren sind neuronale Netze so populär geworden, dass sich kaum jemand noch dafür interessiert, ob und welche alternativen Formalismen es auch tun würden und möglicherweise einfacher. Grundsätzlich ist seit langem bekannt, dass neuronalen Netze nicht mehr können als im Konzept der Turingmaschine definiert ist. Man muss also aus theoretischen Gründen keine Neuronalen Netze benutzen, wenn
sie denn nicht speziell besondere Vorteile bieten.

Die Lektüre von Craik hat allerdings dazu ermutigt, die Idee der parallelen Analyse von Verhalten, Introspektiv zugänglichem Bewusstseinsraum, sowie Physiologie des Gehirns im Körper weiter Raum zu geben, immer natürlich auch mit Blick auf evolutionäre Entwicklungen unter Einschluss der Kultur. Ferner sollte dabei die parallele Entwicklung intelligenter Maschinen mit reflektiert werden, sehr wohl in Bezugssetzung zu den biologischen Systemen.

Vor lauter Faszination durch die moderne Technik geht vielfach unter, dass die Naturwissenschaften in den letzten 10 Jahren ungeheuerlich interessante Aspekte des biologischen Lebens (und der umgebenden Welt) zutage gefördert haben, die das Bild vom Menschen im Universum eigentlich radikal verändern könnten. Obwohl die Roboter und die KI-Programme vergleichsweise simple Strukturen darstellen, die jeder intelligente Schüler verstehen könnte, wenn man es ihm denn erzählen würde, stoßen wir im biologischen Leben auf immer unfassbare Komplexitäten und Verschiebungen von Perspektiven, die eigentlich alle Aufmerksamkeit erfordern würden.

QUELLEN
[Cra43] Kenneth Craik. The Nature of Explanation. Cambridge University Press, Cambridge (UK), 1 edition, 1943.

FORTSETZUNG

Für eine Fortsetzung der Diskussion siehe HIER.

 KONTEXTE

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WAHRHEIT CONTRA WAHRHEIT. Notiz

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Worum es geht

Im Zeitalter von Fake News (manche sprechen schon vom postfaktischen Zeitalter ) scheint der Begriff der Wahrheit abhanden gekommen zu sein. Dies trifft aber nicht zu. Die folgenden Zeilen kann man als Fortsetzung des vorausgehenden Beitrags lesen.

I. ARBEITSDEFINITION VON WAHRHEIT

1) In dem vorausgehenden Beitrag wurde angenommen, dass Wahrheit zunächst einmal die Gesamtheit des Wissens, der Erfahrungen und der Emotionen ist, die einer einzelnen Person zum aktuellen Zeitpunkt zur Verfügung steht. Was immer geschrieben, gedacht, gesagt usw. wird, jeder einzelne versteht und handelt auf
der Basis dessen, was er zu diesem Zeitpunkt in sich angesammelt hat.

2) Eine zentrale Einsicht ist dabei, dass unser Gehirn die aktuellen sensorischen Daten – externe wie interne– sofort, und automatisch, mit dem abgleicht, was bisher zu diesem Zeitpunkt im Gedächtnis verfügbar ist. Dadurch erleben wir alles, was uns begegnet, im Lichte des bislang Bekannten. Unsere Wahrnehmung ist eine unausweichlich interpretierte Wahrnehmung.

3) Ein Beispiel: Wenn jemand gefragt wird, ’ist dies dein Kugelschreiber?’, und dieser jemand antwortet mit ’Ja’, dann nimmt er einen Gegenstand wahr (als Ereignis seines Bewusstseins) und dieser jemand stellt zugleich fest, dass sein Gedächtnis in ihm eine Konzept aktiviert hat, bezogen auf das er diesen Gegenstand als seinen Kugelschreiber interpretieren kann. Für diesen jemand ist Wahrheit dann die Übereinstimmung zwischen (i) einer Wahrnehmung als einem Ereignis ’Kugelschreiber’ in seinem Bewusstsein, (ii) einem zugleich aktivierten Konstrukt aus dem Gedächtnis  ’mein Kugelschreiber’, sowie (iii) der Fähigkeit, erkennen zu können, dass das Wahrnehmungsereignis ’Kugelschreiber’ eine mögliche Instanz des Erinnerungsereignisses ’mein Kugelschreiber’ ist. Das Erinnerungsereignis ’mein Kugelschreiber’ repräsentiert (iv) zudem den Bedeutungsanteil des sprachlichen Ausdrucks ’dein Kugelschreiber’. Letzteres setzt voraus, dass der Frager und der Antwortende (v) beide die gleiche Sprache  gelernt haben und der Ausdruck ’dein Kugelschreiber’ aus Sicht des Fragenden und ’mein Kugelschreiber’ aus Sicht des Antwortenden von beiden (vi) in gleicher Weise interpretiert wird.

4) Anzumerken ist hier, dass jene Ereignisse, die ihm Bewusstsein als Wahrnehmungen aufschlagen können, unterschiedlich leicht zwischen zwei Teilnehmern des Gesprächs identifiziert werden können. Einmal können Aussagen über die empirische Welt sehr viele komplizierte Zusammenhänge implizieren, die nicht sofort erkennbar sind (wie funktioniert ein Fernseher, ein Computer, ein Smartphone…), zum anderen kann es
sein, dass die beiden Gesprächsteilnehmer die benutzte Sprache sehr unterschiedlich gelernt haben können (Fachausdrücke, spezielle Redewendungen, Art der Bedeutungszuschreibung, usw). Obwohl der Sachverhalt vielleicht im Prinzip erklärbar wäre, kann es sein, dass beide Gesprächsteilnehmer im Moment des Gesprächs
damit überfordert sind.

5) Ferner kann man sich durch dieses Beispiel nochmals deutlich machen, dass die Bezeichnung der Gesamtheit des Wissens, der Erfahrung und der Emotionen eines Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt als der subjektiven Wahrheit dieses Menschen ihren Sinn darin besitzt, dass dieser Mensch in dem Moment, wo er gefragt wird, ob es sich SO verhält, nur dann ’Ja’ sagen wird, wenn der gefragte Mensch in seiner subjektiven Wahrheit Elemente findet, die diesem So-sein entsprechen. Das ’So-sein’ aus der Frage muss ein Bestandteil der subjektiven Wahrheit sein und nur dann kann ein Mensch auf eine Anfrage hin sagen, ja, das wahrgenommene So-sein findet in der subjektiven Wahrheit eine Entsprechung. Die Fähigkeit zur Wahrheit erscheint somit primär in der subjektiven Wahrheit eines Menschen begründet zu sein.

II. WAHRHEIT UND LEBENSFORM

1) Ergänzend zu diesem geschilderten grundsätzlichem Zusammenhang wissen wir, dass die subjektive Wahrheit nicht unabhängig ist von dem Lebensprozess des jeweiligen Menschen. Alles, was ein Mensch erlebt, was auf ihn einwirkt, kann in diesem Menschen als Ereignis erlebbar werden, kann ihn beeinflussen, kann ihn
verändern. Dazu gehört natürlich auch das eigene Tun. Wenn jemand durch den Wald läuft und merkt, dass er laufen kann, wie sich das Laufen anfühlt, wie sich dies langfristig auf seinen Körperzustand auswirkt, dann beeinflusst dies auch das individuelle Erkennen von Welt und von sich selbst, als jemand, der laufen und
Fühlen kann. Wenn stattdessen Kinder in Kobaldminen arbeiten müssen statt zu lernen,  sich vielfältig neu entdecken zu können, dann wird diesen Kinder mit der Vorenthaltung einer Lebenspraxis zugleich ihr Inneres zerstört; es kann nur ein verzerrter Aufbau von Persönlichkeit stattfinden. Wir schwärmen derweil von den angeblich umweltfreundlichen Elektroautos, die wir fahren sollen. Oder: wenn Kinder im Dauerhagel von Granaten und Bomben aufwachsen müssen, um sich herum Verwundete und Tote erleben müssen, dann werden sie sich selbst entfremdet, weil verschiedene Machthaber ihre Macht in Stellvertreterkriegen meinen, ausagieren zu müssen.

2) Aufgrund der so unendlich verschiedenen Lebensprozesse auf dieser Erde können sich in den Menschen, die von ihrer Natur aus weitgehend strukturgleich sind,  ganz unterschiedliche subjektive Wahrheiten ansammeln. Derselbe Mensch sieht dann die Welt anders, handelt anders, fühlt anders. Es ist dann nahezu unausweichlich, dass sich bei der Begegnung von zwei Menschen zwei verschiedene Wahrheiten begegnen. Je nachdem, wie ähnlich oder unähnlich die Lebensprozesse dieser Menschen sind, sind auch die subjektiven Wahrheiten eher ähnlich oder unähnlich.

3) Wie man beobachten kann, tendieren Menschen dazu, sich vorzugsweise mit solchen Menschen zu treffen, mit ihnen zu reden, mit ihnen zusammen etwas tun, die mit ihnen bezüglich ihrer subjektiven Wahrheiten möglichst ähnlich sind. Manche meinen, solche selbstbezügliche Gruppen (’Echokammer’, ’Filterblase’) auch
im Internet, in den sozialen Netzwerken entdecken zu können. Obwohl das Internet im Prinzip die ganze Welt zugänglich macht [Anmerkung: Allerdings nicht in Ländern, in denen der Zugang zum Internet kontrolliert wird, wie z.B. massiv in China.], treffen sich Menschen vorzugsweise mit denen, die sie kennen, und mit denen sie eine ähnliche Meinung teilen. Man muss aber dazu gar nicht ins Internet schauen. Auch im Alltag kann man beobachten, dass jeder einzelne Mitglied unterschiedlicher sozialer Gruppen ist, in denen er sich wohl fühlt, weil man dort zu bestimmten Themen eine gleiche Anschauung vorfindet. An meiner Hochschule, an der Studierende aus mehr als 100 Ländern vertreten sind, kann man beobachten, dass die Studierenden
vorzugsweise unter sich bleiben statt die Vielfalt zu nutzen. Und die vielfältigen Beziehungskonflikte, die sich zwischen Nachbarn, Freunden, Lebenspartnern, Mitarbeitern usw. finden, sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie real  unterschiedlich subjektive Wahrheiten im Alltag sind. [Anmerkung: Allerdings ist diese Aufsplitterung in viele kleine Gruppen von ‚Gleichgesinnten‘ nicht notwendigerweise nur negativ; die Kultivierung von Vielfalt braucht eine natürliche Umgebung, in der Vielfalt möglich ist und geschätzt wird.]

4) Obwohl also der Mechanismus der subjektiven Wahrheitsbildung grob betrachtet einfach erscheint, hat man den Eindruck, dass wir Menschen uns dieses Sachverhaltes im Alltag nicht  wirklich bewusst sind. Wie schnell fühlt sich jemand beleidigt, verletzt, oder gar angegriffen, nur weil jemand sich anders verhält, als man es im Lichte seiner subjektiven Wahrheit erwartet. Wie schnell neigen wir dazu, uns von anderen abzugrenzen, sie abzustempeln als krank, verrückt, oder böse zu erklären, nur weil sie anders sind als wir selbst.

III. GEDANKE UND REALE WELT

1) Bis hierher konnte man den Eindruck gewinnen, als ob die subjektive Wahrheit ein rein gedankliches, theoretisches Etwas ist, das sich allerdings im Handeln bemerkbar machen kann. Doch schon durch die Erwähnung des Lebensprozesses, innerhalb dessen sich die subjektive Wahrheit bildet, konnte man ahnen, dass die konkreten Umstände ein wichtiges Moment an der subjektiven Wahrheit spielen. Dies bedeutet z.B., dass wir die Welt nicht nur in einer bestimmten Weise sehen, sondern wir verhalten uns ganz konkret in dieser Welt aufgrund unserer subjektiven Wahrheit (= Weltsicht), wir leben unseren Alltag mit ganz konkreten Objekten, Besitztümern und Gewohnheiten. Eine andere subjektive Wahrheit (bzw. Weltsicht) ist daher in der
Regel nicht nur ein bloßer abstrakter Gedanke, sondern kann zugleich reale, konkrete Veränderungen des eigenen Alltags implizieren. Da aber schrecken wir alle (verständlicherweise?) sofort zurück, blitzartig, vielleicht sogar unbewusst. Über die Wahrheit reden mag grundsätzlich chic sein, aber wenn die zur Sprache kommenden
Wahrheit anders ist als die eigene Wahrheit, dann zucken wir zurück. Dann wird es unheimlich, ungemütlich; dann können allerlei Ängste aufsteigen: was ist das für eine Welt, die anders wäre als die Welt, die wir kennen? Der verinnerlichten Welt korrespondiert immer auch eine reale Alltagswelt. [Anmerkung: In diesen Kontext passt vielleicht das paradoxe Beispiel, das Jesus von Nazareth in den Mund gelegt wird mit dem Bild, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen würde, als dass ein Reicher in den Himmel gelangen könnte. Eine Deutung wäre, dass jemand der als Reicher
(unterstellt: auf Kosten anderer) in einer Wirklichkeitsblase lebt, die angenehm ist, und er als Reicher wenig Motive hat, dies zu ändern. Allerdings, was man gerne
übersieht, ein solches Verhaftetsein mit der aktuellen Situation, die als angenehm gilt, gilt in vielen Abstufungen für jeden Menschen. In den Apartheitsgefängnissen von Südafrika (heute als Museum zu besichtigen) gab es z.B. unter den Gefangenen eine klare Hierarchie: die Bosse, die Helfer der Bosse, und der Rest. Kein Boss wäre auf die Idee gekommen, seine relativen Vorteile zu Gunsten von allen aufzugeben.]

2) In der Struktur der gesellschaftliche Wirklichkeit kann man den Mechanismus der parzellierten Wahrheiten wiederfinden. Eine Gesellschaft ist mit unzähligen Rollen durchsetzt, mit Ämtern, Amtsbezeichnungen, Institutionen usw.. Dazu kommen in vielen Ländern Abgrenzungen von unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Weiter gibt es Nationalstaaten, die ihre eigenen Wahrheiten pflegen. Die Tendenz, das Andere, die Anderen negativ zu belegen, um seinen eigenen Status dadurch indirekt zu sichern, findet sich zwischenstaatlich auch wieder. [Anmerkung: Gut zu erkennen in dem Erstarken von nationalistisch-populistischen Doktrinen in leider immer mehr Ländern der Erde.] Eine unkritische Ausübung gewachsener partieller Wahrheiten kann Unterschiede dann nur zementieren oder gar vergrößern, anstatt sie zu überbrücken und zu allgemeineren Wahrheitsbegriffen zu kommen.

IV. EINE KULTUR DER WAHRHEIT?

1) Wenn man sieht wie unglaublich stark die Tendenz unter uns Menschen ist, aktuelle, partielle Wahrheiten (die aus Sicht des einzelnen nicht partiell, sondern universell sind) mit einer bestimmten Alltagspraxis zu verknüpfen und diese fest zu schreiben, dann könnte man auf die Idee kommen, zu fragen, was wir als Menschen tun können, um dieser starken Tendenz ein natürliches Gegengewicht gegenüber zu stellen, das
dem Trieb zu partiellen Wahrheit entgegenwirken könnte.

2) Innerhalb der Rechtsgeschichte kann man beobachten, wie im Laufe von Jahrtausenden das Recht des Angeklagten häppchenweise soweit gestärkt wurde, dass es in modernen Staaten mit einem funktionieren Rechtssystem üblich geworden ist, jemanden erst dann tatsächlich zu verurteilen, nachdem in nachvollziehbaren, transparenten Verfahren die Schuld bzw. Unschuld objektiv festgestellt worden ist. Dennoch kann man sehen, dass gerade in der Gegenwart in vielen Staaten wieder eine umgekehrte Entwicklung um sich greift: der methodische Respekt vor der Gefahr partieller Wahrheiten wird einfachüber Bord geworfen und Menschen werden allein aufgrund ihrer Andersheit und eines blinden Verdachts vorverurteilt, gefoltert, und
aus ihren gesellschaftlichen Stellungen verjagt.

3) Innerhalb der Welt der Ideen gab es eine ähnliche Entwicklung wie im Rechtssystem: mit dem Aufkommen der empirischen experimentellen Wissenschaften in Kooperation mit Mathematischen Strukturen konnte das Reden über Sachverhalte, über mögliche Entstehungsprozesse und über mögliche Entwicklungen auf ganz neue Weise transparent gemacht werden, nachvollziehbar, überprüfbar, wiederholbar, unabhängig von dem Fühlen und Meinen eines einzelnen [Anmerkung: Allerdings nicht ganz!].  Diese Art von Wissenschaft kann großartige Erfolge aufweisen, ohne die das heutige
Leben gar nicht vorstellbar wäre. Doch auch hier können wir heute beobachten, wie selbst in den Ländern mit einem entwickelten Wissenschaftssystem die wissenschaftlichen Prinzipien zunehmen kurzfristigen politischen
und ökonomischen Interessen geopfert werden, die jeweils auf den partiellen Wahrheiten der Akteure beruhen.

4) Es drängt sich dann die Frage auf, ob der Zustand der vielen (partiellen) Wahrheiten generell vermeidbar wäre bzw. wie man ihn konstruktiv nutzen könnte, um auf der Basis der partiellen Wahrheiten zu einer umfassenderen weniger partiellen Wahrheit zu kommen.

5) Eine beliebte Lösungsstrategie ist ein autoritär-diktatorisches Gesellschaftssystem, das überhaupt nur noch eine partielle Wahrheit zulässt. Dies kennen wir aus der Geschichte und leider auch aus der Gegenwart: Gleichschaltung von Presse, Medien; Zensur; nur noch eine Meinung zählt.

6) Die Alternative ist die berühmte offene Gesellschaft, in der eine Vielfalt von partiellen Wahrheiten möglich ist, verbunden mit dem Vertrauen, dass die Vielfalt zu entsprechend vielen neuen erweiterten partiellen Wahrheiten führen kann (nicht muss!). Hier gibt es – im Idealfall – eine Fülle unterschiedlicher Medien und keine Zensur. Entsprechend wären auch alle Lern- und Erziehungsprozesse nicht an einem Drill, einer
autoritären Abrichtung der Kinder und Jugendlichen orientiert, sondern an offenen, kreativen Lernprozessen, mit viel Austausch, mit vielen Experimenten.

7) Allerdings kann man beobachten kann, dass viele Menschen nicht von vornherein solche offenen, kreativen Lernprozesse gut finden oder unterstützen, weil sie viel anstrengender sind als einfach einer autoritären Vorgabe zu folgen. Und es ist ein historisches Faktum, dass partielle Wahrheitsmodelle bei geeigneter Propaganda und gesellschaftlichen Druck eine große Anhängerschaft finden können.  Dies war und ist eine große Versuchung für alle narzisstischen und machtorientierte Menschen. Das scheinbar Einfachere und Bequemere wird damit sprichwörtlich zum ’highway to hell’.

8) Für eine offene Gesellschaft als natürlicher Entwicklungsumgebung für das Entstehen immer allgemeinerer Wahrheiten sowohl in den Beteiligten wie auch im Alltag scheinen von daher geeignete Bildungsprozesse sowie freie, unzensierte Medien (dazu gehört heute auch das Internet) eine grundlegende Voraussetzung zu
sein. Die Verfügbarkeit solcher Prozesse und Medien kann zwar keine bessere gedachte und gelebte Wahrheit garantieren, sie sind allerdings notwendige Voraussetzungen, für eine umfassendere Kultur der Wahrheit. [Anmerkung: Natürlich braucht es noch mehr Elemente, um einen einigermaßen freien Raum für möglicheübergreifende Wahrheiten zu ermöglichen.]

9) Vor diesem Hintergrund ist die weltweit zu beobachtende Erosion von freien Medien und einer offenen, kreativen Bildung ein deutliches Alarmsignal, das wir Menschen offensichtlich dabei sind, den Weg in ein wahrheitsfähige Zukunft immer mehr zu blockieren. Letztlich blockieren wir uns als Menschen damit nur selbst. Allerdings,
aus der kritischen Beobachtung alleine folgen keine wirkenden konkreten Verbesserungen. Ohne eine bessere Vision von Wahrheit ist auch kein alternatives Handeln möglich. Deswegen versuchen ja autoritäre Regierungen immer, zu zensieren und mit Propaganda und Fake-News die Öffentlichkeit zu verwirren.

V. KONTEXTE

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