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ELSBERG – HELIX. Eine verspätete Notiz

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 10.Sept. 2019
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Hier eine kurze Rezension des Romans Helix – Sie werden uns ersetzen von Marc Elsberg. Vom Thema her passt es sehr gut in das Koordinatensystem dieses Blogs.

SPÄTZÜNDER

Das Buch ‚Helix‘ erschien am 31.Oktober 2016, wahrgenommen habe ich dieses Buch erstmals während zweier langer Autofahrten August/ September 2019 als Hörbuch. Als Text zum Nachschauen habe ich die kindle-Version zur Verfügung.

ENTTÄUSCHTE LESER

Obwohl das Buch laut Werbung ein ‚Spiegel Bestseller‘ ist, gibt es nicht wenige Leserreaktionen (u.a. bei amazon), die an der Sprache des Buches, an seiner Aufsplitterung in allzu viele kleine Kapitel, an der schwachen Schilderung von Personen verzweifeln, überhaupt keine Spannung erkennen können, die das Ganze als Flop betrachten.

BEGEISTERTE LESER

Doch gibt es auch die andere Gruppe der begeisterten Leser. Sie beziehen ihre Begeisterung aus dem Stoff des Buches, aus den Möglichkeiten der modernen Gentechnik und ihren potentiell umwälzenden Konsequenzen. Denn all das, was uns heute noch ’normal‘ erscheint im Bereich Pflanzen, Tiere, Menschen, all das lässt sich im Licht der modernen Gentechnik potentiell verändern, nicht nur partiell, sondern grundsätzlich.

SCIENCE FICTION

Versteht man unter Science Fiction Literatur gedankliche Übungen, die heute bekannten wissenschaftlichen Tatsachen aufzugreifen, und mit diesem Wissen mögliche Zukunftsszenarien ‚realistisch‘ durch zu spielen, dann ist das Buch ‚Helix‘ ein echtes Science Fiction Buch: ausgehend von heute schon bekannten Möglichkeiten der Gentechnik wird durchgespielt, was passieren könnte, wenn sich eine Forschergruppe berauscht von den gentechnischen Möglichkeiten ganz dem Experiment mit dem heute scheinbar Unmöglichen hingibt (was Forschung grundsätzlich tut).

PHILOSOPHISCHES MORGENGRAUEN

Die grundsätzlichste Weise, sich denkerisch mit der uns gegebenen Wirklichkeit auseinander zu setzen, ist die philosophische. Sie beschränkt sich nicht auf einzelne Aspekte, beschränkt sich nicht auf einzelne wissenschaftliche Disziplinen, sondern fragt nach dem großen Ganzen, dem Zusammenhang zwischen all den einzelnen Perspektiven. Und sie fragt auch sogar noch weiter: sie bezieht die Wissenschaftler, den jeweiligen wahrnehmenden, erlebenden und denkenden Menschen selbst mit ein: wie funktioniert unsere Wahrnehmung, unser Fühlen, unser Denken? Warum sehen wir die Dinge so, wie wir sie sehen und nicht anders? Ist dies alles eher beliebig oder steckt darin eine verborgene Struktur, eine verborgene Logik?

Viele Jahrtausende waren die Menschen in ihrem Denken quasi ‚gefangen‘, ‚eingesperrt‘: man dachte, wie man gewohnt war zu denken, und es war unvorstellbar, diesen vorgegebenen Rahmen irgendwie zu sprengen.

Als dann die Biologie, angestiftet von der Geologie, zu begreifen begann, dass die Gegenwart der Organismen – und damit auch des Menschen als homo sapiens selbst – kein statisches Gebilde ist, sondern das Produkt von vorausgehenden Prozessen (von denen die Evolution nur ein Teilprozess ist), da begann den Biologen, Psychologen und auch einigen ersten Philosophen zu dämmern, dass tatsächlich auch ihr eigenes Denken keineswegs auf ewigen, absoluten Strukturen beruht, sondern auf einem Gehirn, das sich im Laufe von vielen Millionen Jahren herausgebildet hat.

Allerdings bedeutet dies nicht – wie viele im ersten Überschwang zu verstehen meinten — eine ‚Banalisierung‘ des Denkens, des Verstehens, weil man plötzlich die Maschinerie des Denkens erfasst zu haben glaubt, sondern im Gegenteil, das, was sich im Denken ausdrückt, im Fühlen, im Wollen, wurde damit eigentlich noch unheimlicher, da die materiellen Bestandteile der Struktur und des Prozesses tatsächlich keinerlei Erklärung dafür liefern, was sie ermöglichen.

Irgendwie beginnt das Verstehen zu verstehen, dass es tatsächlich geworden ist (evolutiv), aber dass es dann doch nicht ist, was es zu sein scheint. Was ist es dann?

BIOM ALS MEGA-COMPUTER

Das biologische Leben begann mit den ersten Zellen vor mindestens 3.5 Milliarden Jahren. Eines ihrer Merkmale war (und ist), dass sie quasi ihren eigenen ‚Bauplan‘ mit sich herum tragen, diesen nach Bedarf als eine neue Zelle ‚reproduzieren‘ und dabei Abweichungen, Varianten einfließen. Diese Änderungen geschehen zwischen zwei aufeinander folgenden Generationen. Allerdings explodierten diese Zellen nicht nur in alle Richtungen, innerhalb der Meere, viele Kilometer in das Erdinnere, später auch auf das Land und viele Kilometer über die Erde. Sie erschufen für sich eine Sauerstoffatmosphäre um energetisch leistungsfähigere Zellen zu bauen, und – sie tauschten Teile ihrer Baupläne untereinander aus, kontinuierlich. Besteht schon ein einzelner menschlicher Körper aus ca. 138 Billionen (10^12) Zellen, die miteinander kooperieren (was in etwa 450 Galaxien im Format der Milchstraße entspricht), dann kann man erahnen welche unfassbare Zahl an Zellen seit vielen Milliarden Jahren miteinander Bauplananteile untereinander austauschen. Nennt man alle biologische Zellen zusammen das ‚Biom‘, dann entspricht das Biom einem Supercomputer universellen Ausmaßes, der jede Vorstellungskraft übersteigt. Das reale Universum mit seinen scheinbar unfassbaren Dimension ist verglichen damit etwas sehr Einfaches.

Das Bild eines Super-Computers ist auch deswegen angemessen, da schon jede Zelle alle Grundmerkmale besitzt, die im 20.Jahrhundert für die Definition eines Computers herangezogen wurden. Unsere modernen Computer sind daher keine wirklich neue Erfindung; sie reproduzieren die molekülbasierten Architekturen auf Siliziumbasis mit anderen physikalischen Mitteln, leisten aber nichts Neues. Mathematisch unterscheidet sich der molekülbasierte Computer in nichts vom dem siliziumbasierten Computer.

Wenn nun also der BIOM-Super-Computer gut 3 Milliarden Jahre gebraucht hat, um jene Formen zu finden, die spätere komplexere Zellstrukturen und damit sogenannte höhere Lebensformen (Pflanzen, Tiere, homo spaiens…) repräsentieren, dann darf man vermuten, dass die Erschaffung von neuen Menschen mit überragend neuen Fähigkeiten möglicherweise keine ganz kleine Aufgabe ist, zumindest keine, die die steinzeitlich anmutenden Supercomputer der Gegenwart sehr schnell und überwältigend lösen werden.

ELSBERGS VISION

Obwohl Elsberg in seinem Buch eher zeigen möchte, was sich an Neuem heranbilden kann, wenn man anfängt, die Baupläne des BIOMs mit aktuellen technischen Hilfsmitteln zu verändern, zeigt er doch tatsächlich etwas ganz anderes (vielleicht unbeabsichtigt): er zeigt, wie unbeholfen, wie beschränkt, wie dumm die aktuelle Menschheit ist, mit dem ungeheuren Schatz des gewordenen BIOMs umzugehen.

Globale Konzerne sperren die Forschung ein, nur damit sie ihren eigenen wirtschaftlichen Vorteil ziehen können gegen die Interessen der restlichen Menschheit; sie scheuen nicht einmal davor zurück, unersetzbar wertvolle Bestandteile des BIOMs ersatzlos zu vernichten.

Regierungen von Nationen, die weitgehend schon alle eher autokratisch sind als demokratisch, eher menschenverachtend als Menschen schätzend, setzen alle ihre Macht ein – unter dem Mantra der ’nationalen Sicherheit‘ – um das wenige Wissen, was einzelne Forscher erarbeitet haben, für sich zu beschlagnahmen. Statt Wissen für alle nutzbar zu machen – das Ideal von Wissenschaft und einer freien Gesellschaft – wird Wissen ‚eingefangen‘, ‚verheimlicht‘, ‚eingesperrt‘, um es für eigene, sehr elitäre und eher dumme Anwendungen zu horten.

Die einzelnen Menschen in diesem Geschehen – als Kinder, als Eltern, als Beamte, … — sind eigentlich alle ausnahmslos ‚Betroffene‘, die nicht wissen, wie ihnen geschieht. Sowohl der Egoismus der Konzerne wie auch die jeweiligen Regierungen halten von der Bevölkerung — und damit von jedem einzelnen – jede wichtige Information fern. Desinformation als Standardfall der Information.

Der Umgang der politisch Verantwortlichen mit den Eltern und Mitarbeitern in dem abgeschlossenen Wohnviertel ‚New Garden‘ nach der Besetzung ist eines von vielen Beispielen, wie man Menschen nicht als Bürger ernst nimmt, sondern sie von vornherein erst einmal zum potentiellen Feind erklärt, ohne zu bedenken, dass es gerade diese Menschen sind, wegen denen man als politisch Verantwortlicher da ist und die man vor möglichen Bedrohungen schützen will. Informiert werden sie nicht, nicht einmal des-informiert, sie werden in ein Informations-Vakuum gestoßen, das jeder Menschenwürde und jeder Freiheit Hohn spricht.

In einem solchen durchgehend menschenverachtenden, gewalttätigen Klima muss das Aufbrechen neuer Lebensformen, neuer Potentiale gebunden an einzelne Körper, neue Menschen, in allen Bereichen zu Verwerfungen, Unruhen und Konflikten führen. Die neuen Kinder finden nicht die Umgebung, die sie eigentlich bräuchten. Die neuen Eltern sind isoliert, unter-informiert und weitgehend hilflos, und die wirtschaftlich oder politisch Verantwortlichen tragen viel zu enge Denkvorstellungen in ihren Köpfen und haben diese in Ihren Firmen bzw. staatlichen Institutionen implementiert, dass sie auf dieses wirklich Neue gar nicht angemessen reagieren können. Neue Menschen als Minderheit in einer weitgehend deformierten Gesellschaft, das kann nicht gut gehen.

Im Handlungsstrang von Elsbergs Buch entwickeln sich die Dinge dann ja auch genau entlang den strukturellen Vorgaben der deformierten Gesellschaft, die er zeichnet. Die ersten neuen Menschen, altersmäßig noch Kinder, geraten in einen Konflikt nach den anderen, dazu noch in emotionale Konflikte untereinander, für deren Lösung Intelligenz als solche wenig beitragen kann.

Dramaturgisch ist interessant, dass Elsberg die einzigen positiven Visionen einer menschlicheren Gesellschaft in einem der neuen Kinder verortet, das seine Intelligenz dazu nutzen möchte – und auch nutzt –, um eine moderne Landwirtschaft für alle Menschen zu entwickeln, dazu ein Eugenikprogramm für alle Menschen, nicht nur für Privilegierte. Und es entspricht eigentlich der klassischen griechischen Tragödie, dass die Unlösbarkeit der emotionalen Konfliktlage zwischen den Kindern – und dem ganzen Rest der Menschheit – die wunderbare Kraft des Denkens schließlich im zerstörerischen Chaos der Emotionen versenkt.

EPILOG

Hier könnte der eigentliche Roman beginnen, aber da endet er.

Das ist ehrlich.

Ist es doch genau das, was wir als Menschheit sind: ein universaler Hoffnungsträger, der aber noch hoffnungslos verstrickt ist in seinem eigenen Chaos.

Aber immerhin: aus dem reinen Nichts ein BIOM erstehen zu lassen, darin als Teil den homo sapiens, das muss man erst einmal schaffen. Die Physik steht ratlos daneben, und nicht nur diese.

Man kann gespannt sein, wie es weitergeht, im realen Leben, dem eigentlichen Roman …

BUCHANGABEN

Marc Elsberg – Helix. Sie werden uns ersetzen.

Erscheinungsdatum: 31. Oktober 2016
Format: Gebundene Ausgabe
Verlag: blanvalet Verlag
Seiten: 648

ISBN: 978-3-7645-0564-6

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