Archiv für den Monat: September 2013

REVIEW: THE WORLD ACCORDING TO TOMDISPATCH – Teil 8

T.Engelhardt (ed), „The World Acording to TomDispatch. America in the New Age of Empire“, London-New York: Verso, 2008 (siehe auch die Webseite tomdisptach.com)

Diesem Text ging voraus: Teil 7.

ZWISCHENERGEBNISSE NACH Teilen 1-7

1) Fassen wir kurz zusammen, was sich bisher ergeben hat: ausgehend von den philosophischen Reflexionen zum Phänomen einer markanten emergenten Komplexität des biologischen Lebens zeigte sich Kommunikation und eine funktionierende Öffentlichkeit als zentrale Bedingungen für das Funktionieren dieser Komplexität. Um dies gesellschaftlich zu ermöglichen wurden Verfassungen in Form moderner Demokratien geschaffen, in denen weitgehende Freiheitsrechte zum Schutze des Individuums verankert wurden (z.B. USA, Deutschland). Begleitet von heftigen Diskussionen wurden in Deutschland unter speziellen Bedingungen (‚Lauschangriff‘) eine Aufhebung solcher Rechte durch Regierungsstellen erlaubt; in den USA gibt es eine lange Geschichte von Ausdeutungen zum vierten Zusatz der Verfassung, die Stand 2013 — zwar nicht dem Wortlaut nach, aber faktisch — einer fast vollständigen Aufhebung dieser Freiheitsrechte gleichkommt. Engelhardt skizziert in der Einleitung zu seinem Buch die Entwicklung in den USA nach 9/11 als dramatische Verstärkung von Geheimdiensten und Militär in einer ‚unipolaren Welt‘. Dies wird begleitet durch eine weitgehende Abschottung der Regierung nach außen. Im ersten Kapitel zeigt Engelhardt anhand konkreter Daten, wie die Ereignisse von 9/11 auf eine medial imprägnierte Öffentlichkeit treffen, die — geprägt von den tiefsitzenden Bildern der Medien der letzten Jahrzehnte — die Ereignisse in einer bevorzugten Weise deuten; in einer Weise, die von der Regierung mitgesteuert wird und für bestimmte Pläne ausgenutzt werden. Engelhardt kann dann anhand einiger Fakten zum neuen Ground-Zero Mahnmal aufzeigen, dass es hier nicht um ein ’normales‘ Denkmal geht, sondern dass das Gedenken an das Ereignis und die Toten von 9/11 für eine bestimmte Politik in einer Weise ‚instrumentalisiert‘, die viele ernste Fragen aufwirft. In dem nachfolgenden Kapitel mit dem Titel ‚The Empire that Fell as it Rose‘ gibt es einen Briefdialog zwischen Tom Engelhardt und Jonathan Schell, in dem Schell anhand der historischen Daten zu dem Schluss kommt, dass die USA sich nach dem zweiten Weltkrieg scheinbar unaufhaltsam in eine imperiale — alles beherrschende — Macht entwickelt haben. Dass die US-amerikanische Regierung sich, gestützt auf ein alle Maßen sprengendes Militär im Verein mit einem Netzwerk von nicht mehr kontrollierbaren Geheimdiensten, in ein imperiales Machtdenken hinein gesteigert haben, das für die Realität weitgehend ‚erblindet‘ ist. In seiner Antwort sagt Engelhardt, dass er die Einschätzung von Schell zwar als Nichthistoriker nicht historisch-wissenschaftlich verifizieren kann, dass aber sein Wissen um die aktuellen Fakten in den USA das Bild von Schell ohne weiteres stützt (es folgt eine Aufzählung von Fakten). So sehr viele sehen, dass der Weg des Imperialismus eigentlich kein brauchbares Konzept für die Zukunft ist, so sehr sind aber selbst die (amerikanischen?) Kritiker von diesem imperialen Denken ‚verseucht‘ (‚brainwashed‘), dass sie sich nicht vorstellen können, wie denn ein nicht-imperiales Modell real funktionieren kann. In dem folgenden Kapitel „No longer the ‚Lone‘ Superpower“ beschreibt dann Chalmers Johnson dass die USA faktisch nicht mehr die einzige Super Macht sind. Mit Blick auf die Vergangenheit stellt er die Frage, ob und wie es den USA gelingt, das neuerliche Erstarken Chinas (und einiger anderer potentieller Konkurrenten wie z.B. Russland, Indien, Brasilien) in einem friedlichen Prozess aufzufangen, oder ob es bei der konkreten Konfrontationen in Asien (speziell China – Japan) schließlich doch wieder zu einem Krieg der Machtinteressen kommt, der vieles zerstört und wenig aufbaut? Nach allen bekannten Fakten drängt sich der Eindruck auf, dass die USA alles dazu tun, dass sich Japan aus seiner Neutralitätsrolle heraus begeben hat und unter Erstarkung von nationalistischen Traditionen die Beziehung zu China eher verschärft denn beruhigt. Die zunehmende Loslösung Taiwans von Japan und USA und eine stärkere Hinwendung zum Festlandchina spricht eine eigene Sprache. Im folgenden Kapitel ‚THE WIDER WAR‘ beschreibt Greg Grandin wie das Pentagon ‚den wilden Westen‘ in Lateinamerika entdeckte. Während unter Clinton Lateinamerika noch äußerst positiv gesehen wurde, erweckte Lateinamerika zur Zeit der Bush-Administration höchsten Argwohn. Nicht nur Rumsfeld sieht in Südamerika ein Aufmarschgebiet von Terroristen, sondern der damalige Chef von ‚Southcom‘, dem US-amerikanischen Militärbezirk für Lateinamerika, General Bantz Craddock listete für Südamerika nahezu alle Schrecklichkeiten auf, die sich ein Geheimdienst vorstellen kann. Verstehen kann man dies nur mit Blick auf den Ideologiewechsel im Pentagon: nach Auffassung der Pentagonstrategen kann sich der internationale Terrorismus mittels jeder bekannten Form von (organisierter) Kriminalität finanzieren, daraus folgern die Pentagonstrategen, dass jede Form von Gesetzeslosigkeit und Unordnung eine potentielle Brutstätte für Unterstützung des Terrorismus sein kann. Dies impliziert dann, dass z.B. funktionierende Diktaturen einen höheren Wert besitzen (da sie ja eine gewisse Ordnung induzieren) als alle Formen von ‚Protesten‘, demokratischen Bewegungen, usw. Damit wird der US-amerikanische Krieg gegen den Terror zu einer Strategie globaler Kontrolle aller Nationen (ausgenommen vielleicht England und Frankreich?)?), aller gesellschaftlichen Bereiche, bis hin in die Niederungen des täglichen Lebens.

IRAN – JE NACH DEM, WIE MAN SCHAUT

2) Im Buch gibt es zwei unterschiedliche Berichte zu Iran. Einer stammt von Behzad Yaghmaian mit dem Titel ‚Will American Bombs Kill My Iranian Dreams?‘, der andere von Noam Chomsky mit dem Titel ‚What If Iran had Invaded Mexico?‘. Der Beitrag von Yaghmaian schildert die Sicht eines Betroffenen, eines Iraners, der aus dem Iran fliehen musste, US-Amerikaner wurde, als Wissenschaftler und Journalist aber immer wieder im Iran war und sich mit dem Iran auseinandersetzte. Noam Chomsky, US-Amerikaner, bekannter Wissenschaftler und politischer Schriftsteller, reflektiert auf das Verhalten der US-Regierung gegenüber dem Irak und auf das zugrundeliegende Denken.

IRAN – EIN BISSCHEN GESCHICHTE

3) Beide Beiträge beginnen ihre Überlegungen ohne ausdrückliche Erwähnung der Vorgeschichte zum Heute, wobei speziell die Sicht der Beziehung USA-Iran interessiert. Ich selbst bin kein Historiker, folgende Fakten sind mir in dem Wikipedia-Beitrag aufgefallen. Ursprünglich war die Rolle der USA gegenüber dem Iran ’neutral‘ bzw. waren es sogar Amerikaner, die der persischen Verfassungsbewegung im Rahmen der Persische Verfassungsrevolution 1905-1907 Unterstützung zukommen ließen, dies gegen die erklärten Interessen Russlands und Englands. Diese bekämpften die Verfassungsbewegung massiv, da sie den wirtschaftlichen Interessen dieser Länder zuwider lief. Als das Iranisches Parlament den Amerikaner Morgan Shuster als General Schatzmeister (‚treasurer general‘) von Persien 1911 ernannte, musste dieser unter dem Druck der Briten und der Russen sein Amt bald wieder niederlegen. Details zu den massiven politischen Einflussnahmen Englands und Russlands in dieser Zeit finden sich in dem Buch von Schuster ‚The Strangling of Persia‘. Letztlich setzte sich die Monarchie wieder durch. Zunächst Schah Reza Shah Pahlavi (15 Dezember 1925 – 16 September 1941), dann sein Sohn Mohammad Rezā Shāh Pahlavī (16 September 1941 – 11 Februar 1979). Letzter kam zur Macht während des 2.Weltkriegs nach einer Englisch-Russischen Invasion, die die Abdankung seines Vaters erzwungen hatte. Während seiner Herrschaft kam es zu einer Erstarkung der demokratischen Bewegung, die zur demokratischen Wahl von Mohammad Mosaddegh (oder Mosaddeq) (zum Premierminister von Iran 1951-1953) führte. Während dieser Zeit wurde die iranische Ölindustrie kurzfristig verstaatlicht, bis ein Staatsstreich (unterstützt von der US-Regierung (und ohne Wissen der US-amerikanischen Bevölkerung?)) die alten Verhältnisse wieder herstellte und den ausländischen Firmen ihre Rechte zurückgab. Trotz vieler Reformen seitens des Shah vermochte er es nicht, die unterschiedlichen Strömungen im Iran zu integrieren, was im Januar 1979 zu einer Revolution führte, die formell in einer islamischen Republik unter Führung des Ayatollah Khomeini endete.
4) Schon dieses grobe Bild zeigt, dass die ‚moralische‘ Ausgangsposition von Rußland, England und den USA nicht gerade die beste ist. Wobei sich schon hier die Frage nach der ‚richtigen Moral‘ stellt. Faktisch, in der Geschichte, war die Moral immer auf der Seite des ‚Stärkeren‘. Jede Regierung beansprucht ’seine‘ Moral, sei es z.B. China, Rußland, die USA, der Iran, usw. Schwieriger wird es, wenn Regierungen über den Text der Verfassung Bezug nehmen auf eine ‚übergeordnete‘ Moral, z.B. zu den Menschenrechten, zu einer bestimmten Religion oder zu einem bestimmten Parteiprogramm. Dann ist die betreffende Regierung dazu herausgefordert, ihr Handeln in einen Kontext zu stellen. Doch wie die Geschichte zeigt, schafft es fast jede Regierung, die jeweiligen Verfassungen in ihrem Sinne zu ‚interpretieren‘. Regierungen mit ‚kommunistischen‘ Programmen hatten keine Hemmungen, Millionen von Menschen im Namen ihres Programms umzubringen; das gleiche gilt für Regierungen mit Bezug auf eine Religion: eine Religion als solche schützt nicht vor Unmenschlichkeiten durch ihre Vertreter. Und auch die Bezugnahme auf ‚Menschenrechte‘ hinderte die verschiedenen US-Regierungen nicht daran, grausame Kriege zu führen, Gesellschaften zu zerstören, demokratische Bewegungen zu bekämpfen, Foltergefängnisse zu führen, und vieles mehr.

DAS IRAN YAGHMAIANS

5) Die Geschichte von Yaghmaian beginnt mit dem Sturz der demokratischen Regierung Irans 1953 durch einen Staatsstreich, vorbereitet und durchgeführt mit Hilfe der US-amerikanischen CIA. Der CIA hatte die späteren Folterer des so gefürchteten und brutalen iranischen Geheimdienst Savak‘ trainiert und ausgebildet, hatte den Shah beraten und hatte dann weg geschaut bei dem, was dann in den Gefängnissen der Savak an Greueltaten geschah. Alle Shah Gegner wurden verfolgt, viele ins Gefängnis geschmissen, viele — speziell auch junge Männer und Frauen — brutal gefoltert. (vgl.S.184f)
6) Yaghmaian schilderte seine Schüler- und Studentenzeit, den Studentenaufstand gegen die Fahrpreiserhöhungen und die Allgegenwart des Geheimdienstes Savak, der immer wieder Studierenden für Wochen oder Monate ‚verschwinden‘ lies; wenn sie dann wieder auftauchten, redeten sie in der Regel nicht mehr. 1976 konnte Yaghmaian als Student in die USA reisen. Dort erlebte er den Umsturz von Februar 1979. Der Shah wurde abgesetzt. Doch die Begeisterung verflog schnell. Als er im Sommer nach Teheran zurückkehrte waren die Anzeichen eines ‚repressiven theokratischen Staates‘ schon erkennbar. (vgl. S.186-188)
7) Die Gefängnisse des Shah füllten sich wieder, ironischerweise vielfach genau mit denen, die vorher die Gefängnisse gestürmt hatten. Die Freiheitsliebenden, die vorher gegen die USA als Freunden des Shahs protestiert hatten, wurden über Nach zu Feinden des repressiven theokratischen Regimes; dieses erklärte alle Regimefeinde zu ‚Freunden der USA‘. Wieder einmal mehr wird politische Rhetorik als Waffe benutzt, um Sachverhalte anders erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich waren [Anmerkung: eine Form von Propaganda, Indoktrination, Gehirnwäsche durch Manipulation der Sprache].(vgl.S.188)
8) Während so die Bevölkerung zwischen die Mühlsteine eines repressiven Regimes geriet, erlebte Yaghmaian, wie sich die Stimmung auch in den USA umkehrte: die vormaligen Freunde der USA wurden nun zu Feinden, und damit potentiell jeder Iraner, auch er selbst. Nach der Besetzung der US-amerikanischen Botschaft in Teheran nannte Präsident Reagen die Iraner ‚Barbaren‘. Studierende an der Fordham Universität rollten Banner aus mit der Aufschrift: ‚Rettet das Öl, verbrennt die Iraner‘ [Anmerkung: Niht-Amerikaner sind keine Menschen?].(vgl. S.188f)
9) Ein Versuch Yaghmaians, in einem Interview Verständnis für die iranische Situation zu schaffen, führte zu persönlichen Angriffen und Verurteilungen. Die Anfeindungen gegenüber Iranern in den USA nahmen deutlich zu.(vgl. S.189)
10) Der Krieg der Worte wurde dann ergänzt um die Kriegserklärung des Irak gegen den Iran 1980, was zu einem 8-jährigen blutigen grausamen Krieg führte, in dem es letztlich keine wirklichen Sieger gab.(vgl.S.189)
11) Yaghmaian berichtet, dass die USA (zusammen mit Saudi Arabien und den arabischen) den Irak damals massiv unterstützt haben: mit Geld, mit Ausrüstung, mit militärischer Aufklärung, und den Einsatz chemischer Kampfmittel zumindest geduldet, wenn nicht sogar befördert haben.(vgl. S.189)
12) [Anmerkung: Wenn man weiß, wie später die US-Regierung den Irak in der Öffentlichkeit verteufelt und dann sogar mit zwei zwei aufwendigen Kriegen bekämpft hat, dann stellt sich wiederholt die Frage, welche Art von ‚Moral‘ eine US-Regierung eigentlich repräsentiert? Dies gilt insbesondere für den Widerspruch, dass ein US-Präsident im Jahr 2013 verkündet, dass mit dem Einsatz von chemischen Kampfmitteln eine rote Linie überschritten sei, die zu einem militärischen Eingreifen in Syrien berechtigen würde, dass die USA im Falle des Irak-Iran Krieges aber den Einsatz chemischer Kampfstoffe mindestens geduldet hat (da es ihnen ’nützte‘ …). Andere Quellen deuten sogar an, dass die USA möglicherweise sogar selbst die chemischen Kampfmittel geliefert haben sollen (konnte dies noch nicht verifizieren). Die Moral der US-Regierung erscheint wiederholt sehr ‚opportunistisch’… ]
13) Yaghmaian schildert dann, wie er 1995, nachdem er zuvor die amerikanische Staatsbürgerschaft erworben hatte, erstmalig wieder nach Iran einreiste. Äußerlich war das Teheran von damals verändert, hinter den Fassaden aber gab es ein aufgeklärtes, stark amerikaorientiertes Leben. Hinter den Fassaden waren westliche Pop- und Rockmusik populär, dazu westliche Kleidung. Insgesamt gab es ab 1997 mit dem reformerischen Präsidenten Khatami eine Art Reformbewegung, die viele Bereiche des Iran erfasste, 1999 aber, als die Reformbewegung zu stark wurde, brutal niedergeschlagen wurde. Yaghmaian musste Hals über Kopf fliehen, nachdem er zuvor schon Bekanntschaft mit einem iranischen Gefängnis machen musste.(vgl. SS.190-194)
14) Der neue iranische Präsident Ahmadinejad half, alle Reformansätze zurück zu schrauben. Zugleich herrschte in den USA mit Reagan und dann Bush eine eher fundamentalistische Weltsicht. Nach 9/11 2001 erklärte Bush den Iran 2002 zugehörig zur ‚Achse des Bösen‘ und die politische Rhetorik war stark ausgerichtet auf Konfrontation bis hin zu einem möglichen Krieg gegen den Iran.(vgl. S.196f)
15) [Anmerkung: die Iran-USA„>Wikipedia-Übersicht zum Verhältnis USA-Iran lässt sicher noch viele Wünsche offen, man kann aber trotzdem erkennen, dass die US-Regierung nicht zimperlich war, ihren Anti-Iran-Kurs zu verfolgen. So z.B. ihre Unterstützung von Terrorgruppen (die letztlich auch gegen die USA arbeiten) und besonders die Erstürmung der iranischen Botschaft im Irak samt Gefangennahme der Botschaftsmitglieder sprengt alle internationale Normen (Recht gibt es nur für die USA, nämlich ihr eigenes, das der Geheimdienste ohne die Bürger?).]

CHOMSKY: IRAN ALS PROPAGANDA KRIEG

16) Für Noam Chomsky (vgl. SS.71-76) ist die Art und Weise, wie die US-Regierung mit dem Thema Iran umgeht, eine gezielte Propaganda, um den Krieg vom Irak in den Iran zu tragen. Der Kongress kann hier wenig verhindern, da die aktuelle Verfassung der Regierung ein breites Spektrum an Möglichkeiten eröffnet, legal kriegsähnliche Aktionen ausführen zu können, ohne den Kongress fragen zu müssen.
17) Chomsky erlaubt sich das interessante Gedankenspiel, wenn der Iran all das gegenüber den USA getan hätte, was die USA gegenüber dem Iran getan haben und tun, was dann wohl die US-Amerikaner fühlen und denken würden. (vgl. S.73f) Da wird schnell klar, dass selbst ein ’normaler‘ Staat mehr als entsetzt und aggressiv reagieren würde. Das Auftreten der US-amerikanischen Regierung ist in der Art und Weise dermaßen abnorm, monströs und menschenverachtend, dass jedes Land darauf nur mit Abscheu und Entsetzen reagieren kann. Dass das repressive theokratische Regime in Teheran (speziell auch mit dem Nuklearprogramm) in sich — von demokratischer Seite — viele Kritikpunkte aufweist, auch solche, die ein explizites Verhalten verlangen, ist davon unberührt.
18) Chomsky sieht den primären Ansatzpunkt zu einer deutlichen Verbesserung der Lage in der Forderung nach mehr Demokratie in den USA. Solange die US-amerikanische Bevölkerung mit ihren demokratischen Standardinstitutionen per Gesetzt praktisch abgeschnitten ist von der Exekutive, solange kann diese im Verein mit Geheimdiensten, Militär und den unterstützenden Firmen praktisch nach Belieben Kriege führen und die Bevölkerung mit ihrer gewaltigen Propagandamaschine nach Belieben zu jeweiligen Entscheidungen puschen. Ein realer Ausdruck von mehr Demokratie bestünde z.B. darin, den Haushalt so zu gestalten, dass Teile des Verteidigungshaushaltes in konstruktivere Bereich umgewidmet würden. Oder darin, dass die USA endlich die UN real anerkennt, die internationalen Gesetze achtet, und z.B. das Veto im Sicherheitsrat demokratisiert. Ferner wäre die Blockade gegenüber Kuba aufzugeben und z.B. das Verhalten im Konflikt Israel-Palästina dahingehend zu ändern, dass beide Staaten gleichermaßen gefördert werden, aber nur insoweit, als sie real auf eine Zwei-Staaten-Lösung hinarbeiten.(vgl.S.74-76)
19) [Anmerkung: leicht vereinfachend könnte man sagen, dass man aus all diesen Fakten ein Muster herauslesen kann, nach dem die USA gewissermaßen aus zwei Staaten bestehen: aus der demokratischen Fassade (Kongress, Senat), und einer totalitären Exekutive, die weitgehend unbehelligt von der amerikanischen Bevölkerung weltweit Krieg nach eigenem Gustus führt. Irgendwelche Werte, die diese totalitäre Exekutive mit irgendwelchen Nichtamerikanern verlässlich teilen würde, sind nicht erkennbar. ]

Fortsetzung folgt

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

REVIEW: THE WORLD ACCORDING TO TOMDISPATCH – Teil 7

T.Engelhardt (ed), „The World Acording to TomDispatch. America in the New Age of Empire“, London-New York: Verso, 2008

Diesem Text ging voraus: Teil 6.

ZWISCHENERGEBNISSE NACH Teilen 1-6

1) Fassen wir kurz zusammen, was sich bisher ergeben hat: ausgehend von den philosophischen Reflexionen zum Phänomen einer markanten emergenten Komplexität des biologischen Lebens zeigte sich Kommunikation und eine funktionierende Öffentlichkeit als zentrale Bedingungen für das Funktionieren dieser Komplexität. Um dies gesellschaftlich zu ermöglichen wurden Verfassungen in Form moderner Demokratien geschaffen, in denen weitgehende Freiheitsrechte zum Schutze des Individuums verankert wurden (z.B. USA, Deutschland). Begleitet von heftigen Diskussionen wurden in Deutschland unter speziellen Bedingungen (‚Lauschangriff‘) eine Aufhebung solcher Rechte durch Regierungsstellen erlaubt; in den USA gibt es eine lange Geschichte von Ausdeutungen zum vierten Zusatz der Verfassung, die Stand 2013 — zwar nicht dem Wortlaut nach, aber faktisch — einer fast vollständigen Aufhebung dieser Freiheitsrechte gleichkommt. Engelhardt skizziert in der Einleitung zu seinem Buch die Entwicklung in den USA nach 9/11 als dramatische Verstärkung von Geheimdiensten und Militär in einer ‚unipolaren Welt‘. Dies wird begleitet durch eine weitgehende Abschottung der Regierung nach außen. Im ersten Kapitel zeigt Engelhardt anhand konkreter Daten auf, wie die Ereignisse von 9/11 auf eine medial imprägnierte Öffentlichkeit treffen, die — geprägt von den tiefsitzenden Bildern der Medien der letzten Jahrzehnte — die Ereignisse in einer bevorzugten Weise deuten; in einer Weise, die von der Regierung mitgesteuert wird und für bestimmte Pläne ausgenutzt werden. Engelhardt kann dann anhand einiger Fakten zum neuen Ground-Zero Mahnmal aufzeigen, dass es hier nicht um ein ’normales‘ Denkmal geht, sondern dass das Gedenken an das Ereignis und die Toten von 9/11 für eine bestimmte Politik in einer Weise ‚instrumentalisiert‘, die viele ernste Fragen aufwirft. In dem nachfolgenden Kapitel mit dem Titel ‚The Empire that Fell as it Rose‘ gibt es einen Briefdialog zwischen Tom Engelhardt und Jonathan Schell, in dem Schell anhand der historischen Daten zu dem Schluss kommt, dass die USA sich nach dem zweiten Weltkrieg scheinbar unaufhaltsam in eine imperiale — alles beherrschende — Macht entwickelt haben. Dass die US-amerikanische Regierung sich, gestützt auf ein alle Maßen sprengendes Militär im Verein mit einem Netzwerk von nicht mehr kontrollierbaren Geheimdiensten, in ein imperiales Machtdenken hinein gesteigert haben, das für die Realität weitgehend ‚erblindet‘ ist. In seiner Antwort sagt Engelhardt, dass er die Einschätzung von Schell zwar als Nichthistoriker nicht historisch-wissenschaftlich verifizieren kann, dass aber sein Wissen um die aktuellen Fakten in den USA das Bild von Schell ohne weiteres stützt (es folgt eine Aufzählung von Fakten). So sehr viele sehen, dass der Weg des Imperialismus eigentlich kein brauchbares Konzept für die Zukunft ist, so sehr sind aber selbst die (amerikanischen?) Kritiker von diesem imperialen Denken ‚verseucht‘ (‚brainwashed‘), dass sie sich nicht vorstellen können, wie denn ein nicht-imperiales Modell real funktionieren kann. In dem folgenden Kapitel „No longer the ‚Lone‘ Superpower“ beschreibt dann Chalmers Johnson dass die USA faktisch nicht mehr die einzige Super Power sind. Aber mehr noch, mit Blick auf die Vergangenheit, stellt er die Frage, ob und wie es den USA gelingt, das neuerliche Erstarken Chinas (und einiger anderer potentieller Konkurrenten wie z.B. Russland, Indien, Brasilien) in einem friedlichen Prozess aufzufangen, oder ob es bei der konkreten Konfrontationen in Asien (speziell China – Japan) schließlich doch wieder zu einem Krieg der Machtinteressen kommt, der vieles zerstört und wenig aufbaut? Nach allen bekannten Fakten drängt sich der Eindruck auf, dass die USA alles dazu tun, dass sich Japan aus seiner Neutralitätsrolle heraus begeben hat und unter Erstarkung von nationalistischen Traditionen die Beziehung zu China eher verschärft denn beruhigt. Die zunehmende Loslösung Taiwans von Japan und USA und eine stärkere Hinwendung zum Festlandchina spricht eine eigene Sprache.

SCHRANKENLOSER KRIEG ALS NEUER HEILSWEG

2) Im folgenden Kapitel ‚THE WIDER WAR‘ beschreibt Greg Grandin wie das Pentagon ‚den wilden Westen‘ in Lateinamerika entdeckte. Während unter Clinton Lateinamerika noch äußerst positiv gesehen wurde, erweckte die neue Politikergeneration in Lateinamerika zur Zeit der Bush-Administration höchsten Argwohn. Nicht nur Rumsfeld sieht in Südamerika ein Aufmarschgebiet von Terroristen, sondern der damalige Chef von ‚Southcom‘, dem US-amerikanischen Militärbezirk für Lateinamerika, General Bantz Craddock listete für Südamerika nahezu alle Schrecklichkeiten auf, die sich ein Geheimdienst vorstellen kann.(vgl. S.59)
3) Verstehen kann man dies nur mit Blick auf den Ideologiewechsel im Pentagon: da der internationale Terrorismus [Anmerkung: ein Gegner, den man sich beliebig ‚zurecht definieren kann] nach Auffassung der Pentagonstrategen sich selbst mittels jeder bekannten Form von (organisierter) Kriminalität finanziert, folgern die Pentagonstrategen, dass jede Form von Gesetzeslosigkeit und Unordnung eine potentielle Brutstätte für Unterstützung des Terrorismus sein kann. Dies impliziert dann, dass z.B. funktionierende Diktaturen einen höheren Wert besitzen (da sie ja eine gewisse Ordnung induzieren) als alle Formen von ‚Protesten‘, demokratischen Bewegungen, usw. Damit wird der US-amerikanische Krieg gegen den Terror zu einer Strategie globaler Kontrolle aller Nationen (ausgenommen vielleicht England und Frankreich?)?), aller gesellschaftlichen Bereiche, bis hin in die Niederungen des täglichen Lebens. (vgl.S.60f)
4) Grandin beschreibt am Beispiel der paraguayanischen Stadt ‚Ciudad del Este‘ im Dreiländereck von Paraguay, Argentinien und Brasilien welch sonderbare Blüten Pentagon Ideologien treiben können. Aus Sicht des Pentagons ist die Stadt eine Brutstätte für Terroristen und die Pentagonstrategen scheuen dabei selbst vor den abenteuerlichsten Spekulationen nicht zurück, obgleich die Geheimdienste dieser Ländern mehrfach bezeugen, dass es dort keine Terroristen gibt.(vgl. S.61-63)
5) [Anmerkung. ‚Überschießende Interpretationen‘ sind normalerweise ein Anzeichen für eine gestörte Psyche, für Ideologien, für instrumentalisierte Interessen. Wenn eine Institution wie das Pentagon solche Verhaltensauffälligkeiten zeigt, dann drängt sich der Verdacht auf, dass das Pentagon entweder keine interne Kritikfähigkeit besitzt (was durch die autoritären Strukturen stark begünstigt wird), oder aber tatsächlich von undemokratischen Interessengruppen kontrolliert wird, oder beides. ]
6) Um diesen globalen Krieg gegen die ‚Unordnung‘ als Hort allen Terrorismus führen zu können, ist es günstig, bürokratische Hemmnisse zwischen Polizei und Militär aufzuheben. Dafür wirbt Verteidigungsminister Rumsfeld ganz offen. In Kolumbien hatte er damit Erfolg. Der Krieg gegen die Drogen wird zugleich auch als Krieg gegen die linken Rebellen geführt.(vgl. S.63-65)
7) Dieses Vorgehen ist möglich, da der Kongress im Januar 2006 ganz offiziell viele frühere Aufgaben des Außenministeriums auf das Pentagon übertragen hat. Damit kann das Pentagon beliebig im Ausland militärisch aktiv sein, ohne jede demokratische Kontrolle. [Anmerkung: Das Pentagon bildet damit mehr denn je ein ‚Staat im Staate‘ mit eigenen Gesetzen, eigener Moral, vollständig autoritär geführt, keine Öffentlichkeit, und damit keinerlei demokratische Kontrolle]. Mit der systematischen US-amerikanischen Schulung von Personal für Polizei und Militär lateinamerikanischer Staaten verbindet sich die Hoffnung, entsprechenden Einfluss auf die innere Gesinnung dieser Staaten zu nehmen (die Stützung des damaligen Pinochets Regimes in Chile mit der Verfolgung, Folterung und Tötung von vielen tausend engagierten Bürgern ist ein Beispiel aus der Vergangenheit für diese Art von Politik).(vgl. S.65f)
8) Jenseits von Zentralamerika widersetzen sich die meisten Ländern der Pentagon Ideologie. Für sie ist nicht der Rauschgifthandel die primäre Ursache für Terrorismus, sondern die Armut und Unterentwicklung. Außerdem sehen sie eine ungezügelte Globalisierung sehr kritisch. Rumsfelds Versuch, über den Krieg gegen den Terror alle Regierungen ‚gleichzuschalten‘ wurde von den meisten Ländern Südamerikas abgelehnt.(vgl.66-68)
9) Während Argentinien, Brasilien und Venezuela versuchen, eine gewisse politische Eigenständigkeit zu bewahren, gelang es den USA die korrupte und repressive Regierung von Paraguay für sich zu gewinnen, indem sie 2003 ihren Kandidaten, Herrn Duarte, zur Präsidentschaft verhalf. Dies wurde sofort ausgenutzt, die US-amerikanische Militärpräsenz in diesem Land stark auszubauen. Die USA scheuten auch nicht davor zurück, mit diesem repressivem Regime ein 18-monatiges Militärmanöver durchzuführen, um die angrenzenden Staaten unter Druck zu setzen.(vgl. S.68-70)
10) [Anmerkung: Von außen betrachtet ist es grenzwertig, dass ein Land dieser Erde so tut, als ob alle anderen Länder eigene Militärbezirke sind, in denen man ‚im Prinzip‘ schalten und walten kann, wie man will. Dies eine ‚Verteidigungsstrategie‘ zu nennen geht nur unter dem Deckmantel der Doktrin der unbeschränkten ‚Vorwärtsverteidigung‘, die nur noch dem Wortlaut nach eine ‚Verteidigung‘ ist; aus Sicht der anderen Länder ist dies eine permanente Bedrohung, ein potentieller Angriff, von dem die USA ja auch kontinuierlich ohne offizielle Kriegserklärung Gebrauch machen. Dies erscheint als eine ‚imperialistische‘ — oder ’neokoloniale‘ — Denkweise, die für eine vorwärts gerichtete Weltgesellschaft der Zukunft kein brauchbares Modell darstellt.]
11) [Anmerkung: Wo immer das amerikanische Militär ‚meint‘, die ‚Kontrolle zu verlieren‘, ‚fühlt es sich berechtigt‘, kontrollierend einzugreifen: einseitige militärische Eingriffe, Finanzierung genehmer Gruppen (selbst von Terroristen, wenn sie denn für das Pentagon kämpfen), ein kleiner Putsch, Drohnen vom Himmel, alles ist erlaubt, solange es den Pentagonstrategen ‚gefällt’… George Orwells ‚Big Brother‘ könnte hier evtl. noch einiges lernen…]

Fortsetzung folgt

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KURZBESPRECHUNG: BLASPHEMIE – KANN RELIGIONSKRITIK GEGENSTAND STAATLICHER GESETZGEBUNG SEIN?

Letzte Änderung: 17.Sept.2013 (Details, Schlagworte)

Rückverweis: Diese Gedanken kann man in thematischer Nähe sehen zu dem Beitrag Demokratie: mehr als nur ein Wort.

Eine Veranstaltung der Frankfurter Juristischen Gesellschaft zusammen mit der Philos.-Theol. Hochschule Sankt Georgen, am 12.Sept.2013 im Haus am Dom, 18:00h, mit Prof.Dr.Dr.hc Arnold Angenendt (Univ.Münster) und Prof.Dr.Fabian Wittreck (Univ.Münster)

1) Diese Kurzbesprechung erhebt nicht den Anspruch, die beiden Vorträge und die ausführliche Diskussion vollständig wieder zu geben. Vielmehr stelle ich hier nur diejenigen Punkte heraus, die mir vor dem Hintergrund der allgemeinen Thematik des Blogs von besonderem Interesse zu sein scheinen.

RELIGION und STAAT; RELIGIONSFREIHEIT

2) Die ca. 40 min Redezeit für den Vortragenden Prof. Angenendt waren natürlich viel zu kurz, um die Fülle seines Wissens zum Thema voll ausbreiten zu können; er konnte jedoch immerhin anhand zahlreicher Beispiele aus der Geschichte von den Griechen bis in die Neuzeit eine Grundfigur deutlich machen, die interessant erscheint. Unter der allgemeinen kulturellen Prämisse, dass es so etwas wie eine in einem ‚Höheren begründete Religion‘ (Transzendenzaspekt) überhaupt gibt, fiel den Vertretern der jeweiligen Religionsgemeinschaften in der Vergangenheit überwiegend die Aufgabe zu, das Übertreten von wichtigen religiösen Regeln zu identifizieren (‚Frevel‘, Blasphemie), während die Ahndung von relevanten Übertretungen (bis hin zur Todesstrafe) den jeweiligen staatlichen Stellen zufiel. Dies aber nur insoweit, als die jeweilige religiöse Überzeugung im Staat anerkannt war (aus Sicht eines christianisierten römischen Reiches waren z.B. die Rituale der Germanen ‚Frevel‘ und als solche zu zerstören).
3) Eine weitere Differenzierung trat im Gewandte der Inquisition ein, indem dort zwischen (i) der eigentlichen Untersuchung, (ii) der Verurteilung, und (iii) der Ahndung des Vergehens unterschieden wurde. Diese Errungenschaft wurde zwar durch mehr hundertfachen Missbrauch der Inquisition in Frankreich, Spanien (826 Fälle, davon ca. 1/3 Ehebrüche), und Deutschland (ca. 100 Fälle) sehr verdunkelt, fanden dann aber später generellen Eingang in die Strafgesetzgebung.
4) Schließlich setzte sich seit der Aufklärung mehr und mehr auch die Idee der Religionsfreiheit in dem Sinne durch, dass es jedem frei stehen sollte, sich frei einer Religion anzuschließen, in ihr aktiv zu sein, und auch frei zu sein, aus einer Gemeinschaft auch wieder austreten zu können, ohne Schaden zu nehmen. Bischof Kettler brachte 1848 diese Überlegungen in die Frankfurter Paulskirchenverfassung mit ein.
5) Laut Prof. Angenendt war es die Überlieferungskette (vereinfachend) ‚Unkrautgleichnis Jesu – Aufklärung mit Voltaire – demokratisch orientierte Verfassungsbewegung‘, die zu solchen Gedanken geführt haben. Daneben gab es seit dem Alten Testament die Interpretationslinie, dass man diejenigen, die die ‚Wahrheit des Glaubens‘ nach Verständnis der ‚Religionsbewahrer‘ gefährden, an ihrer gefährdenden Haltung hindern sollte, bis hin zur Verfolgung und Tötung. Diese Tradition stand und steht im Gegensatz zum Unkrautgleichnis Jesu.
6) [Anmerkung: bedenkt man, dass es heute noch Staaten in der Weltgemeinschaft gibt, die ein Verlassen der ‚herrschenden‘ Religionsgemeinschaft ächten bis hin zur Steinigung zum Tode, dann kann man erahnen, wie ‚revolutionär‘ diese Ideen vor ca. 150 Jahren waren. ]

… AUS SICHT DES STRAFRECHTS

7) Prof.Wittreck ergänzte die historische Sicht mit dem Standpunkt des aktuellen Strafrechts in Deutschland. Im §166 StGB fällt auf, dass Kirchen hier nicht mehr alleine genannt werden sondern in einem Atemzug mit ‚Religionsgesellschaften‘ und ‚Weltanschauungsvereinen‘. In dieser Tatsache spiegelt sich die neuzeitliche Erkenntnis, dass es objektiv unmöglich ist, subjektive Zustände eines Menschen — und damit eingeschlossen solche, die sich einer transzendenten Wurzel zuschreiben — von außen zweifelsfrei zu beurteilen. Damit verschwimmen aber alle die unterschiedlichen subjektiven (und auch religiösen) Begründungen in ein einziges ununterscheidbares Grau, und was bleibt, ist das objektiv beobachtbare Verhalten und dessen Wirkung auf die anderen Menschen und die Gesellschaft.
8) Von daher erscheint die Einstellung des Strafrechts, nur dann einzuschreiten, wenn (i) jemand über Gebühr beschimpft wird und zugleich (ii) die öffentliche Ordnung empfindlich gestört wird. Bei diesen Formulieren bleibt zwar auch — wie bei allen sprachlichen Formulieren — eine gewisse Unbestimmtheit, die vom jeweiligen Gericht zu präzisieren ist, aber ein öffentliches kritisches Nachdenken über gewisse sogenannte religiöse Positionen wären keine Blasphemie. Direkte Störungen ritueller Handlungen wären dagegen nicht erlaubt. Bei öffentlichen Verunglimpfungen von Symbolen, die den Betroffen besonders ‚heilig‘ sind, gibt es eine Grauzone: wenn in einer bestimmten Kultur ein Gegenstand A ’normal‘ ist, von einer bestimmten religiösen Gemeinschaft aber in abweichender Weise interpretiert wird, dann ist es für Mitglieder der religiösen Gemeinschaft u.U. verletzend wenn ein nicht-religiöser Mensch mit dem Gegenstand A in einer Weise umgeht, die er Religiöse ‚verletzend‘ empfindet. Zugleich ist es aber so, dass die Nichtreligiösen Menschen sich in ihrem Lebensgefühl eingeschränkt empfinden, wenn sie den Gegenstand A anders behandeln sollen, als sie es gewohnt sind. Bei solchen Überschneidungen kommt es zu einem Konflikt, bei dem gewöhnlich die ‚Mehrheit‘ ‚gewinnt‘. Im Fall eines demokratischen Staates wie der Bundesrepublik Deutschland mit seinen vielen religiösen Anschauungen, die Minderheiten darstellen (z.B. Juden, Zeugen Jehovas, Muslime…), kann und gibt es beständig Konfliktpotentiale, dadurch, dass diese religiösen Minderheiten im Namen der Religionsfreiheit Anerkennung für spezielle Praktiken verlangen, die gerade durch die Religionsfreiheit diesen Anspruch gar nicht erheben dürften. Religionsfreiheit besagt eben nicht ‚Herrschaft der Wenigen über die Mehrheit‘ sondern ‚Anerkennung der Vielheit‘ durch Relativierung der eigenen Position.
9) In der Diskussion wurde u.a. die Meinung geäußert, dass man in einer demokratischen Gesellschaft wie Deutschland, mit einer stark christlichen Prägung und vielen noch vorhandenen Privilegien für Katholiken und Protestanten nicht versuchen sollte, die bisherigen Minderheiten in den Privilegien anzugleichen (was zu einer Aushöhlung der Religionsfreiheit führen würde und zu einer Einschränkung wichtiger Grundrechte), sondern eher sollte man die Privilegien der alten Religionen langsam auf ein ‚Normalmaß‘ zurückfahren.
10) In der Schlussdiskussion klang an (ohne, dass diese Gedanken zu Ende geklärt werden konnten), dass die modernen Demokratien ja gerade aus einem viele Jahrhunderte (wenn nicht gar Jahrtausende) währenden Klärungsprozess hervorgegangen sind, in denen in allen Jahrhunderten Menschen wegen ihres Glaubens verfolgt, gequält, unterdrückt und getötet worden sind. Und die modernen Verfassung kann man als Resultat der Klärungsprozesse sehen, wie man eine Gesellschaft organisieren kann, ohne dass subjektive Meinungen einzelnen andere gefährden. Die modernen Grund- und Menschenrechte repräsentieren so gesehen einen Gesellschaftsentwurf, der über die Gesellschaftsentwürfe der bisherigen Religionen und der vielen Spielarten von Religionen weit hinausgehen. Jeder Versuch einer speziellen Religion aus der Vergangenheit, diesen gesellschaftlichen Erkenntnisgewinn wieder zurück zu schrauben, stellt objektiv einen Rückschritt dar, einen Rückfall in überwundene Denkmuster, eine Beschränkung von Freiheitsrechten, die ALLEN Menschen zugute kommen. Es bleibt eine ständige Herausforderung für demokratische Gesellschaften darauf zu achten, dass absolutistisch ausgerichtete Minderheiten die demokratischen Freiheitsrechte nicht dazu missbrauchen, die allgemeine Freiheit in ihrem Sinne zu manipulieren und zu zerstören.

HABEN SICH DIE KATEGORIEN ‚KIRCHE‘ und ‚RELIGIONSGEMEINSCHAFT‘ IN EINER DEMOKRATIE ÜBERLEBT?

11) Ein anderer Gedanke wurde in diesem Zusammenhang noch erwähnt: wenn sich im Laufe der Zeit gezeigt hat, dass in einem modernen demokratischen Staat ’subjektive Positionen‘ juristisch nicht objektiviert werden können, dann muss man sich fragen, wieweit man den Begriff ‚Kirche‘ und ‚Religion‘ überhaupt noch aufrecht erhalten soll, zumal das Strafgesetzbuch diesen sowieso schon ‚Religionsgesellschaft‘ und ‚Weltanschauungsverein‘ gleichstellt. Die allgemeinen Grundgesetze sind so stark ausgebaut, dass jeder ’normale Bürger‘ jeder persönlichen Anschauung — auch einer religiösen — anhängen kann, diese praktizieren kann, ohne dass der Staat dafür eigene Vorkehrungen treffen müsste.
12) [Anmerkung: Es gibt ja heute sehr viele neue, moderne Bewegungen für alle möglichen gesellschaftlichen Ziele, die alle ohne den Rückgriff auf eine explizite, nicht weiter verifizierbare transzendentale Begründung auskommen. Wenn Gott wirkt, dann braucht man dazu keinen Rekurs auf ein nicht nachvollziehbares Gefühl, sondern dann fangen Menschen an, ihr Leben real so zu gestalten, dass damit eine Zukunft für alle Menschen ermöglicht wird unter Beibehaltung von Normalität und Vielheit. In diesem Sinne sind die modernen Demokratien für alle Religionen eine Chance, ihre Gottesbild zu ‚verbessern‘. So gesehen stellen demokratische Verfassungen auch eine Form von ‚Offenbarung des besseren Lebens für alle‘ dar. Dies verstehen zu können setzt eine gewisse ‚Bildung‘ voraus. Bei nicht wenigen Religionen wird allgemeine Bildung aber nicht nur nicht gefördert, sondern systematisch unterdrückt. Auch das passt nicht in eine moderne demokratische Gesellschaft. ]

Einen Übrblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

KURZBESPRECHUNG: World Wide War – Der geheime Kampf um die Daten (zdf 11.September 2013)

World Wide War – Der geheime Kampf um die Daten, in: ZDFzoom am 11.September 2013, 22:45 Uhr

Text der zdf-Redaktion: „Elmar Theveßen, Thomas Reichart, Johannes Hano und Heike Slansky schauen für ZDFzoom unter die Oberfläche der Internetwelt: Sie zeigen, wie einfach es ist, übers Netz in technische Anlagen einzudringen, wie mit Hinweis auf die Terrorabwehr das Post- und Fernmeldegeheimnis verletzt wird und wie private Räume immer mehr öffentlich werden.“

KONTEXT ZUM BLOG

1) Seit Wochen beschäftigen sich viele Beiträge dieses Blogs mit dem Thema der Datenausspähung, speziell der Datenausspähung durch amerikanische Geheimdienste, allen voran durch die NSA. Allerdings primär nicht wegen dem Datenausspähen als solchem, sondern wegen der Bedeutung dieser Aktivitäten im Rahmen dessen, was wir gewohnt sind, ‚Demokratie‘ zu nennen. Ob jemand Daten ausspäht oder nicht ist als Tätigkeit — rein für sich genommen — neutral. Interessant wird es durch die Kontexte: Führt die Ausspähung von Daten von X zu einer konkreten Benachteiligung oder Gefährdung von Y, dann darf und sollte es Y interessieren, was X da treibt. In den letzten Wochen wurde in der Öffentlichkeit immer klarer, dass mindestens drei Dinge am Ausspähen die Aufmerksamkeit aller Demokraten erregen sollte: (i) die Unversehrtheit der individuellen Schutzrechte ist durch das Ausspähen in Verbindung mit der modernen Kommunikationstechnologie zutiefst gefährdet; (ii) reale Wirtschaftsunternehmen sind durch das Ausspähen in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht; (iii) eine demokratische Gesellschaft kann durch diese neuen Ausspähtechniken dann im Kern bedroht sein, wenn die Geheimdienste ohne demokratische Kontrolle nicht nur alles ausspähen können (JEDEN JEDERZEIT), sondern dass sie in Verbindung mit verdeckten Aktionen jeden möglichen ‚Gegner‘ unter Ausschluss der Öffentlichkeit eliminieren können.
2) Die Überlegungen dieses Blogs haben sich — da dieser Blog primär ein philosophischer Blog ist! — primär darauf konzentriert, nach dem evolutionären Kontext der aktuellen Prozesse zu fragen, nach den Systembedingungen moderner Gesellschaften, und hier insbesondere nach der Rolle demokratischer Konzepte zur Ermöglichung einer zukunftsfähigen Gesellschaft. Als Beispiele haben bislang die Bundesrepublik Deutschland gedient (bisher allerdings nur ansatzweise) und die USA (provoziert durch das Verhalten der Regierungsorgane der USA sowohl gegenüber anderen Ländern wie auch gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung!). Diese Untersuchungen und Überlegungen sind noch ziemlich am Anfang. Es hat sich jedoch schon jetzt gezeigt (unter anderem stütze ich mich auf Veröffentlichungen der Washington Post) dass die bekanntgewordenen (und bei Experten schon lange bekannten) Ausspähaktionen der amerikanischen Geheimdienste in den USA direkt an den Grundlagen der amerikanischen Verfassung rütteln. In einzelnen Artikeln der Washington Post sowie in mittlerweile tausenden von Leserbriefen wird sichtbar, dass Teile der amerikanischen Öffentlichkeit aufwachen und zu begreifen beginnen, dass es hier um viel mehr geht als nur um Verletzung der Privatheit. Alle Indizien deuten darauf hin, dass das System der Geheimdienste völlig außer Kontrolle geraten ist. Die wenigen demokratischen Kontrollinstanzen, die es gibt, haben erwiesenermaßen gezeigt, dass die Kontrolle nicht funktioniert, und dass erwiesen ist, dass die Geheimdienste in den letzten Jahren mehrfach die Verfassung verletzte haben, und dass sie öffentlich lügen. Der Präsident erweckt durch das, was er ‚tut'(!), den Eindruck, als ob er diese Problematik nicht nur nicht sieht, sondern bislang vollständig zu decken scheint. Von außen betrachtet haben sich die USA in einen totalitären Staat entwickelt, der eine Stasi der ehemaligen DDR wie Waisenknaben aussehen lässt.

ZDF BEITRAG: AUSSPÄHUNG DER WIRTSCHAFT REAL

3) In diesem Zusammenhang sehe ich den ZDF-Beitrag vom 11.September 2013 „World Wide War: Der geheime Kampf um die Daten“ als einen sehr mutigen und wichtigen Beitrag, um das Bewusstsein der Öffentlichkeit weiter zu schärfen. Unter Beteiligung des stellvertretenden Direktors des ZDF wurden hier sehr viele wichtige Fakten zusammengetragen, die u.a. belegen, dass (i) die Ausspähaktionen den Staatsschutz nur noch sekundär als Ziel haben, primär geht es um ALLE Daten, und hier insbesondere um alles, was die wirtschaftliche Vormachtstellung der USA unterstützt; (ii) diese Aktionen machen vor keinem Land halt, auch nicht vor den Freunden. Deutschland gilt als ‚Freund‘, dennoch gibt es in Deutschland (und auch an den Grenzen zu Deutschland) ausgebaute Horchposten, mit denen sich die gesamte Kommunikation in Deutschland überwachen lässt. Beispiele von massiver Wirtschaftsspionage in Deutschland durch die USA wurden genannt. (iii) ALLE deutschen Politiker, die bislang auf diese massiven Grundrechtsverletzungen seitens der USA angesprochen worden sind, wiegeln ab. Das sei so nicht, man wisse nichts, man gehe davon aus, dass sich die USA ‚gesetzeskonform‘ verhalten, usw. Dass mittlerweile nachgewiesen ist, dass die Geheimdienste den amerikanischen Kongress sowie die demokratischen Kontrollorgane — also ihre eigene Regierung — offiziell massiv belogen und getäuscht haben, das scheint die deutschen Politiker nicht zu kümmern. Das Interview mit dem Präsidenten des deutschen Bundesgerichts für Verfassungsschutz, Präsident Hans-Georg Maaßen, stellt einen einzigen Schlag ins Gesicht jedes demokratisch denkenden Menschen dar. Wenn Herr Maaßen tatsächlich das, glaubt, was er im Interview gesagt hat, gehört er auf der Stelle abgesetzt. Hier kann man eigentlich nur ein Totalversagen eines wichtigen demokratischen Kontrollorgans in Deutschland feststellen (die Bundeskanzlerin und der Innenminister sind hier bislang auf der gleichen Linie).

KRITIK AN DER ZDF SENDUNG

4) In dem, was die Sendung zeigt, kann man sie nur loben. Alle Fakten waren so zwar nicht neu, da dies in den vielen Publikationen der letzten Wochen (auch in der FAZ) schon mal gesagt worden sind. Neu war aber, dass man viele der bekannten Akteure mal direkt vor der Kamera hatte und live hören konnte, was und wie sie die Dinge sagten. Auch war die Anordnung der Beiträge von einer sachlichen und logischen Klarheit, wie man sie im Fernsehen nicht oft sieht. Das ist kritisches Fernsehen, wie man es sich wünscht.
5) Meine kritische Anmerkung bezieht sich nur darauf, dass selbst dieser Beitrag, der so viele gute Punkte aufweist, an einem fundamentalen Punkt einen Totalausfall zeigt: bei der Frage des demokratischen Kontextes. Nirgendwo wird auch nur erwähnt, dass es so etwas wie eine Verfassung gibt, die die Spielregeln für alle liefert, nirgendwo wurde deutlich gemacht, dass unsere Politiker und politischen Institutionen einen rechtlichen Auftrag haben, der sie BINDET, nirgendwo wurde ersichtlich, in welchem Sinne die Ausspähaktionen unsere deutsche Verfassung verletzen, nirgendwo wurde deutlich, dass ein Herr Maaßen genau einen Verfassungsauftrag hat und er dabei ist, genau diesen massiv zu verletzen. Maaßen als oberster Wächter über verfassungsfeindliche Aktivitäten erscheint hier wie der oberste ‚Vertuscher‘.
6) Diese Kritik an dem zdf-Beitrag könnte man auf große Teile der aktuellen Diskussion und nahezu alle demokratischen Institutionen ausdehnen: die meisten starren wie ein Kaninchen beständig auf die konkreten Ausspähdetails — was natürlich auch wichtig ist, da nur durch diese sichtbar wird, was die Geheimdienste treiben — aber bemerken nicht, dass es um die allgemeinen demokratischen Grundlagen ihrer gesellschaftlichen Existenz geht. Es ist nicht 5 vor 12, sondern es ist 5 nach 12: aktuell haben die Geheimdienste in den demokratischen Ländern die demokratische Kontrolle nahezu vollständig ausgehebelt und tun Dinge, die keine demokratische Gesellschaft dieser Welt ernsthaft wollen kann.
7) Von US-amerikanischer Geheimdienst-Seite wird immer wieder vorgebracht, dass die Deutschen doch froh sein könnten, dass die US-amerikanischen Geheimdienste da sind; sie hätten doch schon Attentate in Deutschland im Vorfeld entdeckt. Außerdem wären die Attentäter des 11.September 2001 aus Deutschland gekommen. Sie übersehen dabei großzügig, dass es viele schwerwiegende Attentate in den USA gab, die von US-amerikanischen Attentäter verübt worden sind, die die Geheimdienste auch nicht erkannt hatten. Aber der ganze Komplex Geheimdienste und Öffentlichkeit ist ein eigenes Kapitel. Momentan herrscht keine Waffengleichheit mehr: nach allem, was wir heute wissen, spielen die Geheimdienste der demokratischen Ländern mit ihren demokratischen Einrichtungen nach Belieben. Selbst der amerikanische Präsident erscheint — nach allem, was wir sehen — nur noch eine Marionette der Dienste zu sein (auch schon die Vorgänger). Ein ‚Feind‘ der Demokratie sitzt offensichtlich in ihren eigenen Reihen.

REVIEW: THE WORLD ACCORDING TO TOMDISPATCH – Teil 6

T.Engelhardt (ed), „The World Acording to TomDispatch. America in the New Age of Empire“, London-New York: Verso, 2008

Diesem Text ging voraus: Teil 5.

ZWISCHENERGEBNISSE NACH Teilen 1-5

1) Fassen wir kurz zusammen, was sich bisher ergeben hat: ausgehend von den philosophischen Reflexionen zum Phänomen einer markanten emergenten Komplexität des biologischen Lebens zeigte sich Kommunikation und eine funktionierende Öffentlichkeit als zentrale Bedingungen für das Funktionieren dieser Komplexität. Um dies gesellschaftlich zu ermöglichen wurden in modernen Demokratien Verfassungen geschaffen, in denen weitgehende Freiheitsrechte zum Schutze des Individuums verankert wurden (z.B. USA, Deutschland). Begleitet von heftigen Diskussionen wurden in Deutschland unter speziellen Bedingungen (‚Lauschangriff‘) eine Aufhebung solcher Rechte durch Regierungsstellen erlaubt; in den USA gibt es eine lange Geschichte von Ausdeutungen zum vierten Zusatz der Verfassung, die Stand 2013 — zwar nicht dem Wortlaut nach, aber faktisch — einer fast vollständigen Aufhebung dieser Freiheitsrechte gleichkommt. Engelhardt skizziert in der Einleitung zu seinem Buch die Entwicklung in den USA nach 9/11 als dramatische Verstärkung von Geheimdiensten und Militär in einer ‚unipolaren Welt‘. Dies wird begleitet durch eine weitgehende Abschottung der Regierung nach außen. Im ersten Kapitel zeigt Engelhardt anhand konkreter Daten auf, wie die Ereignisse von 9/11 auf eine medial imprägnierte Öffentlichkeit treffen, die — geprägt von den tiefsitzenden Bildern der Medien der letzten Jahrzehnte — die Ereignisse in einer bevorzugten Weise deuten; in einer Weise, die von der Regierung mitgesteuert wird und für bestimmte Pläne ausgenutzt werden. Engelhardt kann dann anhand einiger Fakten zum neuen Ground-Zero Mahnmal aufzeigen, dass es hier nicht um ein ’normales‘ Denkmal geht, sondern dass das Gedenken an das Ereignis und die Toten von 9/11 für eine bestimmte Politik in einer Weise ‚instrumentalisiert‘, die viele ernsthafte Fragen aufwirft. In dem nachfolgenden Kapitel mit dem Titel ‚The Empire that Fell as it Rose‘ gibt es einen Briefdialog zwischen Tom Engelhardt und Jonathan Schell, in dem Schell anhand der historischen Daten zu dem Schluss kommt, dass die USA sich nach dem zweiten Weltkrieg scheinbar unaufhaltsam in eine imperiale — alles beherrschende — Macht entwickelt haben. Dass die US-amerikanische Regierung sich, gestützt auf ein alle Massen sprengendes Militär im Verein mit einem Netzwerk von nicht mehr kontrollierbaren Geheimdiensten, in ein imperiales Machtdenken hinein gesteigert haben, das für die Realität weitgehend ‚erblindet‘ ist. In seiner Antwort sagt Engelhardt, dass er die Einschätzung von Schell als Nichthistoriker zwar nicht historisch-wissenschaftlich verifizieren kann, dass aber sein Wissen um die aktuellen Fakten in den USA das Bild von Schell ohne weiteres stützt (es folgt eine Aufzählung von Fakten). So sehr viele sehen, dass der Weg des Imperialismus eigentlich kein brauchbares Konzept für die Zukunft ist, so sehr sind aber selbst die (amerikanischen?) Kritiker von diesem imperialen Denken ‚verseucht‘ (‚brainwashed‘), dass sie sich nicht vorstellen können, wie denn ein nicht-imperiales Modell real funktionieren kann.

BEGINN EINER MULTIPOLAREN WELT

2) In dem folgenden Kapitel „No longer the ‚Lone‘ Superpower“ beschreibt dann Chalmers Johnson dass die USA faktisch nicht mehr die einzige Super Power sind. Aber mehr noch, mit Blick auf die Vergangenheit, in der diverse Weltmächte daran scheiterten, aufkommenden gesellschaftlichen Wandel ‚friedlich‘ zu lösen, stellt er die Frage, ob und wie es den USA gelingt, das neuerliche Erstarken Chinas (und einiger anderer potentieller Konkurrenten wie z.B. Russland, Indien, Brasilien) in einem friedlichen Prozess aufzufangen, oder ob es bei der konkreten Konfrontationen in Asien (speziell China – Japan) schließlich doch wieder zu einem Krieg der Machtinteressen kommt, der vieles zerstört und wenig aufbaut?
3) Johnson trägt viele Fakten zusammen, um zu verdeutlichen, wie stark und nachhaltig der Aufstieg Chinas ist bei gleichzeitigem Abfall Japans. Allein schon demographisch ist Japan dabei, seine Bevölkerung nahezu zu halbieren, während die Bevölkerung Chinas stabil bleiben wird mit einem deutlichen Männerüberschuss. Parallel finanziert die USA militärische Basen in Asien, die sie täglich (!) einige Milliarden US-Dollar kosten. Anstatt in solch einer Situation den Ausgleich zu suchen, schürt die USA massiv die Konfrontation zwischen China und Japan (und damit auch zwischen China und den USA). (vgl.SS.37-39)
4) Nach dem zweiten Weltkrieg übernahm Japan die Rolle eines pazifistischen Staates, allerdings bei gleichzeitiger Erlaubnis, dass die USA ca. 91 Militärbasen in Japan unterhielten (samt dem Hauptstützpunkt der 7.US-Flotte) mit jeglichen Rechten für die USA ohne Kontrolle durch Japan. Nach dem Ende des kalten Krieges 1991 tat die US-amerikanische Politik dann alles, um Japan dazu zu bewegen, seine Verfassung zu ändern und sich wieder selbst zu bewaffnen. Japan sollte einen Gegenpol zu Nordkorea und China spielen. Und tatsächlich hat Japan ab 1992 damit begonnen, seine militärischen Möglichkeiten schrittweise zu erweitern, also aufzurüsten. Dazu gehörte die Bereitschaft Japans, militärische Aktionen der UN zu unterstützen oder sich am Star-Wars Programm der USA zu beteiligen. Dieser Prozess wurde intensiver nach der Wahl des japanischen Ministerpräsidenten Junichiro Kouzumi, der ein intimer Freund von Georg Bush war und ihn u.a. aktiv im Irakkrieg unterstützte.(vgl. SS.40-42)
5) Junichiro Kouzumi, holte sehr viele anti-chinesische Hardliner (und Militär orientierte) Minister in sein Kabinett und unterstütze ausdrücklich eine Pro-Taiwan Politik. Im Gegensatz zu Korea, das Japan von 1910 – 1945 besetzt hielt, wo es viele Unrechtsverletzungen begangen hat, wo Krieg stattfand, ging Japan mit Taiwan wohlwollend um und es kam zu keinen Kriegshandlungen. Von daher war die Stimmung der Bevölkerung in Taiwan eher japanfreundlich. Das Ziel ist eine ‚eigene japanische Verfassung‘ mit eigenem Militär. Die USA sind interessiert ihre Basen zu verstärken und das japanische Exportverbot für Militärtechnologie aufzuheben, damit Japan beim Star-Wars-Programm mitwirken kann. In all diesen Jahren ist auch eine starke ‚Renationalisierung‘ zu beobachten. (vgl. SS.42-44)
6) Während Japan einem eher konservativ-nationalistischen Kurs folgte in enger Gefolgschaft zu den USA, änderte sich die Stimmung in Taiwan. Sowohl politisch wie wirtschaftlich öffnete sich Taiwan zusehends für China, während China seine Position gegenüber Taiwan als zu China gehörig bekräftigte.(vgl. SS.44-46)
7) Die direkten Beziehungen zwischen China und Japan haben sich kontinuierlich verschlechtert. Ausgangspunkt sind u.a. die geschätzten 23 Millionen toten Chinesen, die Japans Krieg gegen China hervorgebracht hat (mehr als die Opfer von Hitler und Stalin zusammen), die Tatsache von 30 Mrd. Dollar Entschädigungszahlung, die Japan gegenüber China geleistet hat (obgleich China nie um Reparationen gebeten haben soll)(das viel kleinere Deutschland zahlte gegenüber seinen Opfern 80 Mrd), sowie vor allem, dass Japan seine Schuld nie anerkannt hat. Stattdessen stellte Japan sich dar als der ‚Befreier‘ Asiens, das selbst ein Opfer des europäisch-amerikanischen Imperialismus war. Bei zahlreichen Gelegenheiten, bei denen China Japan eine Brücke zu bauen versuchte, lehnte Japan dies nicht nur stolz ab, sondern tat dies in einer Weise, die wiederum die Chinesen als beleidigend empfinden mussten. Das ist kein gutes Klima. Parallele Aktionen der USA, die China provozierten (z.B. der Absturz eines US-amerikanischen elektronischen Aufklärungsflugzeuges über China am 1.April 2001; während China sich viele Tage zurück hielt, um den USA die Gelegenheit zu geben, sich zu entschuldigen, heizten amerikanische Politiker die Stimmung gegen China mit falschen Behauptungen auf). Während Chinas wirtschaftliche Entwicklung nach 2001 dynamisch Fortschritte erzielte (und die USA im Irakkrieg Ressourcen verschleuderte (in der Hoffnung an die Ölquellen zu kommen)) und parallel weltweit friedlich nach Ressourcen Ausschau hielt, begannen die USA ab 2004 mit einem gewaltigen militärischem Aufrüstungsprogramm im pazifischen Raum. In diesem Zusammenhang bezog Japan explizite Position, indem es sich zu militärischen Aktionen bereit erklärte, wenn Taiwan gefährdet würde. Das alles war natürlich nicht dazu angetan, das Verhältnis zu China zu entspannen.(vgl. SS.47-52)
8) Auf dem Wege wirtschaftlichen Austausches beginnt China mit immer mehr Ländern in allen Kontinenten vorteilhafte wirtschaftliche Beziehungen für beide Seiten aufzubauen, z.B. Iran, Venezuela, Kuba, Argentinien, Bolivien, Chile, Europa; dabei werden zugleich oft die Beziehungen von Japan und den USA zu diesen Ländern (nicht notwendigerweise) geschwächt. Viele Länder (einschließlich der EU) begrüßen diese Entwicklung in Richtung einer multipolaren Welt ausdrücklich. Das Verhalten der USA, auf diese Entwicklung vorwiegend imperialistisch-militärisch zu reagieren, durch Verschärfung der Gegensätze, erscheint im Lichte der Geschichte als nicht sehr weise.(vgl. SS.52-58)

Fortsetzung folgt mit Teil 7.

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

REVIEW: THE WORLD ACCORDING TO TOMDISPATCH – Teil 5

T.Engelhardt (ed), „The World Acording to TomDispatch. America in the New Age of Empire“, London-New York: Verso, 2008

Diesem Text ging voraus: Teil 4 und eine Zwischenreflexion.

ZWISCHENERGEBNISSE NACH Teilen 1-4

1) Fassen wir kurz zusammen, was sich bisher ergeben hat: ausgehend von den philosophischen Reflexionen zum Phänomen einer markanten emergenten Komplexität des biologischen Lebens zeigte sich Kommunikation und eine funktionierende Öffentlichkeit als zentrale Bedingungen für das Funktionieren dieser Komplexität. Um dies gesellschaftlich zu ermöglichen wurden in modernen Demokratien Verfassungen geschaffen, in denen weitgehende Freiheitsrechte zum Schutze des Individuums verankert wurden (z.B. USA, Deutschland). Begleitet von heftigen Diskussionen wurden in Deutschland unter speziellen Bedingungen (‚Lauschangriff‘) eine Aufhebung solcher Rechte durch Regierungsstellen erlaubt; in den USA gibt es eine lange Geschichte von Ausdeutungen zum vierten Zusatz der Verfassung, die Stand 2013 — zwar nicht dem Wortlaut nach, aber faktisch — einer fast vollständigen Aufhebung dieser Freiheitsrechte gleichkommt. Engelhardt skizziert in der Einleitung zu seinem Buch die Entwicklung in den USA nach 9/11 als dramatische Verstärkung von Geheimdiensten und Militär in einer ‚unipolaren Welt‘. Dies wird begleitet durch eine weitgehende Abschottung der Regierung nach außen. Im ersten Kapitel zeigt Engelhardt anhand konkreter Daten auf, wie die Ereignisse von 9/11 auf eine medial imprägnierte Öffentlichkeit treffen, die — geprägt von den tiefsitzenden Bildern der Medien der letzten Jahrzehnte — die Ereignisse in einer bevorzugten Weise deuten; in einer Weise, die von der Regierung mitgesteuert wird und für bestimmte Pläne ausgenutzt werden. Engelhardt kann dann anhand einiger Fakten zum neuen Ground-Zero Mahnmal aufzeigen, dass es hier nicht um ein ’normales‘ Denkmal geht, sondern dass das Gedenken an das Ereignis und die Toten von 9/11 für eine bestimmte Politik in einer Weise ‚instrumentalisiert‘, die viele ernsthafte Fragen aufwirft.

VERWANDLUNG DER USA IN EINE IMPERIALISTISCHE WELTMACHT?

2) Im folgenden Kapitel mit dem Titel ‚The Empire that Fell as it Rose‘ gibt es einen Briefdialog zwischen Tom Engelhardt und Jonathan Schell, dem Autor des beeindruckenden Buches The Unconquerable World (bei dem Tom Engelhardt Lektor war). In diesem Buch untersucht Schell das Phänomen der Macht in der Geschichte, mit seinen vielen Spielarten, wie sie entsteht, sich organisiert, und wie sie zerfällt. Diese geschichtlichen Ereignisse vor Augen kommt er zu dem Schluss, dass die USA sich nach dem zweiten Weltkrieg scheinbar unaufhaltsam in eine imperiale — alles beherrschende — Macht entwickelt hat. Dass ihre Regierungsvertreter, gestützt auf ein alle Massen sprengendes Militär im Verein mit einem Netzwerk von nicht mehr kontrollierbaren Geheimdiensten, sich in ein imperiales Machtdenken hinein gesteigert haben, das für die Realität weitgehend ‚erblindet‘ ist. Jede Form kritischen Denkens scheint abhanden gekommen zu sein. Der desaströse Irakkrieg (sowohl für die USA wie für die Menschen im Irak) ist eine einzige Demonstration einer Macht, die auf Bomben, Panzer, Raketen, brutale Gewalt (und vieles mehr dieser Art) baut, aber politisch völlig entleert erscheint.(vgl. SS.25-31)
3) In seiner Antwort sagt Engelhardt, dass er die Einschätzung von Schell zwar nicht historisch-wissenschaftlich verifizieren kann, da er selbst kein Historiker ist, aber dass sein Wissen um die aktuellen Fakten in den USA das Bild von Schell ohne weiteres stützt. Da sind die ungeheuerlichen finanziellen Aufwendungen von ca. einer halben Billion US-Dollar für Militär, Geheimdienste und verdeckte Operationen; da ist die Einteilung der ganzen Welt in fünf amerikanische Militärbezirke, denen die regionalen Diplomatem wie imperialen Statthaltern zu berichten haben (!); da sind die ca. 700 Militärbasen weltweit, die in den einzelnen Ländern jeweils einen Sonderstatus beanspruchen, von denen aus die USA ohne Rücksicht auf die lokalen regionalen politischen Institutionen nach eigenem Gutdünken operieren; da ist das Faktum, dass der größte Teil der staatlichen Forschung nur über das Verteidigungsministerium läuft, die z.B. auch eine geplante Militarisierung des Weltraums mit Superwaffen einschließt, die alles beherrschen sollen. usw.(vgl. S.32)
4) Diese Verwandlung der Welt in amerikanische Militärbezirke, wo die ‚Achse des Bösen‘ scheinbar zufällig übereinstimmt mit jenen Ländern, in denen es die meisten Ölbezirke gibt, hält Engelhardt für ganz und gar un-amerikanisch. Das ist nicht der Geist der Verfassung von 1776.(vgl. S.33) Zwar besetzt die USA nicht mehr direkt Länder so wie frühere Kolonialmächte, aber die vielen Militärbasen mit extra territorialen Rechten und die direkte Kooperation mit den Machteliten der jeweiligen Regionen führen zum ähnlichen Effekt: die totale Kontrolle der ganzen Welt und zugleich die wirtschaftliche Ausbeutung durch amerikanische Firmen. (vgl. S.33f)
5) So sehr viele sehen, dass der Weg des Imperialismus eigentlich kein brauchbares Konzept für die Zukunft ist, so sehr sind aber selbst die (amerikanischen?) Kritiker von diesem imperialen Denken ‚verseucht‘ (‚brainwashed‘), dass sie sich nicht vorstellen können, wie denn ein nicht-imperiales Modell real funktionieren kann. (vgl. S.34f)
6) Engelhardt verweist in diesem Zusammenhang auf das Buch Bury the chains (2005) von Adam Hochschild, in dem er die Geschichte der Abschaffung der Sklaverei im imperialen britischen Weltreich beschreibt. Zunächst völlig undenkbar, dass Sklaverei abgeschafft wurde, führte ein 75 Jahre dauernder Kampf vieler einzelner und vieler Bewegungen dann schließlich zu einem Umschwung in der Öffentlichkeit, der dazu führte, dass Sklaverei tatsächlich abgeschafft wurde.(vgl.S.35)
7) [Anmerkung: Und hier ist es wieder, das Zauberwort ‚Öffentlichkeit‘. Nur in einer funktionierenden Öffentlichkeit können sich politisch wirksame Meinungen bilden, und es ist kein Zufall, dass machtorientierte menschenverachtende Regierungen vor allem immer eins versuchen, die Öffentlichkeit unter ihre Kontrolle zu bringen, und wenn schon nicht Kontrolle, dann wenigstens eine spezifische Manipulation ihrer Äußerungen. Beliebt ist, gar nichts zu sagen oder nur Andeutungen zu machen, die vieldeutig sind, vorzugsweise in jene Richtungen ausdeutbar, die den Regierungen passen, aber letztlich Realität verzerren und verunstalten. ]
8) [Anmerkung: Wir erleben seit Wochen in Deutschland das Schauspiel, dass die Regierung der Bundesrepublik Deutschland auf die zunehmenden Informationen über die bedingungslose grenzüberschreitenden Ausspähaktionen der US-amerikanischen Regierungsstellen immer nur abwiegelnd reagiert. Nicht der leiseste Ansatz zur Kritik an einem maßlosen Verhalten der US-amerikanischen Regierung, nicht der leiseste Ansatz, die Verantwortung für die Bürger, denen dieses Regierung ‚dienen‘ soll, erkennbar zu machen. Dies ist das Verhalten von Monarchen, die sich weit erhaben fühlen über ihre ‚Untertanen‘. Das ist Verweigerung politischer Verantwortung in Reinkultur (möglicherweise gepaart mit viel Unfähigkeit). In einer Diktatur ’normal‘, in einer Demokratie ein Skandal. ]

Fortsetzung folgt

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

Hier wieder ein Hörstück: 9/11 – Die Anderen sterben Lautlos.

ZWISCHENREFLEXION: DEMOKRATIE – MEHR ALS NUR EIN WORT!

Letzte Änderungen (als Kommentar): 9.Sept.2013

1) In den letzten Wochen der Lektüre und Reflexionen zum Thema USA – Demokratie – Missbrauch von Demokratie – emergente Komplexität – Zukunft des Lebens auf der Erde habe ich nicht nur eine neue Nähe zu diesem alten Thema bekommen, sondern — vielleicht muss ich dies so direkt sagen — fast habe ich das Gefühl, dass ich überhaupt zum ersten Mal meine zu erahnen, welch ungeheuerliche Errungenschaft demokratische Gesellschaftsformen im Laufe der Evolution waren.
2) Für alle, die in Demokratien leben oder gar darin aufgewachsen sind, besteht allerdings immer die Gefahr, sich an das Wunderbare so zu gewöhnen, dass man es irgendwie gar nicht mehr wahrnimmt, es wird zum Alltag, ein Grau in Grau, in dem alltägliche Ereignisse die Wahrnehmung anfüllen und die ermöglichende Hintergründe verschwinden, verblassen, unwirklich werden, bis dahin, dass irgendwann niemand mehr so richtig weiß, dass man tatsächlich in einer Demokratie lebt; dass man noch versteht, was es bedeutet, in einer Demokratie zu leben, und welch ungeheure Prozesse in der Vergangenheit notwendig waren, dass es dazu kommen konnte.
3) Und es ist genau der Alltag, in dem sich einerseits der ‚Sinn von Demokratie‘ ‚erfüllt‘, indem die Menschen in einer Demokratie in einer Weise frei leben können, wie sie es in keinem anderen Gesellschaftssystem können; zum anderen ist es aber auch diese Freiheit — gerade dann, wenn sie zur ‚Normalität‘ wird — die in gewisser Weise Ertauben und Erblinden lässt für das Kostbare an ihr. Solange man genug zu Essen und zu Trinken hat wird man sich kaum darum kümmern, wo Essen und Trinken herkommt; erst wenn das Wasser knapp wird, wenn Essen ausbleibt, fängt man an, danach zu suchen. Dann kann es zu spät sein. Ohne Wasser kein Essen, ohne Essen kein Leben. Dann fehlt auch die Kraft zu allem anderen.
4) Neben der ‚Gewohnheit‘ schlechthin, die alle Gehirne einlullt (ob Reich oder Arm, ob ‚einfach‘ oder ‚gebildet‘, ob ‚machtfern‘ oder ‚machtvoll‘), sind es die Eigenart von Institutionen, die jedes Mitglied durch ihre Rollen und Regeln in ihren Bann ziehen. Davor ist keine Institution gefeit. Selbst eine ’staatliche‘ Einrichtung, die von ihrer juristischen Begründung her, dem ‚Staat dienen‘ soll, kann einem Staat nur in dem Masse dienen, wie ihre Mitglieder auch in der Weise ‚denken‘ und ‚fühlen‘, wie sie ihrem staatlichen Auftrag entspricht. Wie die Geschichte uns lehrt, gibt es zwischen dem ‚Auftrag‘ und dem ‚Denken‘ und ‚Fühlen‘ keinen Automatismus; das Handeln und das Selbstverständnis von Mitgliedern jeder Institution kann sich sehr weit von dem entfernen, was mit dem Auftrag gemeint ist. Und wenn die Leiter oder ‚Chefs‘ von Institutionen schon ’schiefliegen‘ (was sehr schnell der Fall sein kann), dann kann dies eine Institution sehr direkt und sehr schnell ‚prägen‘.
5) Da alle Institutionen diese Sollbruchstelle ‚Irrtum‘, ‚Fehlinterpretation‘, ‚unkritische Gewohnheiten‘ usw. besitzen, würde eine Demokratie versuchen, eine maximale Transparenz zwischen allen Institutionen herzustellen, Verfahren einrichten, die bewusst mit Irrtümern rechnen und die es erlauben, Irrtümer zu korrigieren. Dem steht die ’natürliche Eigentendenz‘ von Institutionen und ihren ‚Gewohnheiten‘ entgegen, sich ‚abzuschotten‘, da die Mitglieder von Institutionen ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt genau der Existenz dieser Institution verdanken. Je weniger Alternativen sie für sich sehen, umso mehr werden sie ‚ihre‘ Institution ’schützen‘. Alle ‚Abweichler‘ sind bedrohlich, alle ‚Neuerer‘ gefährlich! Transparenz und Erfolgskontrollen werden als ‚feindlich‘ interpretiert.
6) Diese ‚Selbstverliebtheit‘ von Institutionen ist unabhängig von ethnischen, ideologischen, politischen oder sonstigen Randbedingungen; es sind wir Menschen selbst mit unseren Bedürfnissen und Ängsten, die wir uns mit Institutionen ’solidarisieren‘, wenn wir den Eindruck haben, sie helfen uns.
7) In einer Demokratie braucht es genauso Institutionen wie in jeder anderen Gesellschaftsform. Während aber in einer Nicht-Demokratie Institutionen ausschließlich an den jeweiligen ‚Machthabern‘ und ‚Geldgebern‘ ausgerichtet sind (bei Beachtung der starken Eigeninteressen), ist in einer Demokratie eine Institution zwar auch dem ‚juristischen Auftraggeber‘ verpflichtet, daneben aber auch und nicht zuletzt der Bevölkerung, dem diese Institution ‚dienen‘ soll. Das schafft eine höhere Verantwortung, stellt eine größere Herausforderung dar, verlangt mehr von allen Beteiligten. Demokratische Gesellschaften setzen immer und überall ‚freie Bürger‘ voraus, die sich den grundlegenden Werten verpflichtet fühlen.
8) Und damit wird deutlich, wo die primäre Schwachstelle jeder Demokratie — wie aber auch letztlich jeder menschlichen Vereinigung — liegt: der ‚freie‘ und ‚wertebewusste‘ Bürger fällt nicht einfach so vom Himmel, er muss ‚entstehen‘ durch langwierige Lernprozesse, die nie aufhören. Er muss lernen, sich eine eigene Meinung zu bilden, die wirklichkeitsbezogen (= wahr) ist und zugleich ‚kritisch‘ in dem Sinne, dass er/sie weiß, warum er/sie das so sieht; er/sie hat Begründungen, kann begründen, kann Fragen stellen und kann Antworten finden.
9) Doch im Alltagsgeschäft — siehe die vielen früheren Blogeinträge –, in dem jeder um seinen Lebensunterhalt kämpfen muss, ist der Raum und die Zeit für notwendige Informations-, Kommunikations- und Denkprozesse mehr als knapp. Faktisch lässt jeder auf irgendeine Weise vieles ‚von anderen Denken‘ im Vertrauen, dass diese es schon richtig machen…. und das erscheint fast unausweichlich angesichts der — selbst erzeugten — wachsenden Komplexität der Umwelt.
10) Und in dem Masse, wie jeder auf den anderen angewiesen ist, muss er darauf vertrauen können, dass der andere das ‚Richtige‘ meint und tut. Vertrauen ist eine Grundkategorie in modernen komplexen Gesellschaften — auch wenn Vertrauen per se keine Korrektheit oder Richtigkeit garantiert. Selbst wenn der andere, dem man vertraut, beste Absichten hat, kann er irren.
11) Und hier wird wiederum deutlich, dass eine funktionierende, transparente, qualitativ hochwertige Öffentlichkeit die wichtigste Schlagader jeder lebendigen Demokratie ist. Beginnt diese zu leiden, wird diese geschwächt, wird sie verzerrt und manipuliert, dann zerbricht eine Demokratie quasi an ‚inneren Blutungen‘. Alle Mitglieder einer Demokratie — einschließlich ihrer Institutionen — werden desintegriert und partikuläre Interessen gewinnen die Oberhand (vorzugsweise Geheimdienste und Militär verbunden mit jenen Unternehmen, die dadurch profitieren (Paradebeispiel der zweit Irakkrieg)).
12) In solchen ‚verzerrten‘ undemokratischen Situationen können nur außergewöhnliche Maßnahmen (wie z.B. die von Martin Luther King oder anderen politischen Bewegungen) helfen, das allgemeine Bewusstsein so zu beeinflussen, dass eine Mehrheit sich für die notwendigen demokratischen Werte bereit findet. Demokratie ohne entsprechenden Einsatz kann es auf Dauer nie geben. Ein demokratisches Bewusstsein entsteht nicht von selbst. Es muss sich anlässlich von Fragestellungen aktiv und öffentlich formen (in diesem Kontext sind z.B. Polizeikräfte, die Demonstranten nicht mehr als ‚Bürger‘ wahrnehmen und nicht als solche behandeln, keine ‚demokratischen‘ Kräfte mehr, genauso wenig jene, die sie befehligen).
13) Doch zurück zum Grundsätzlichen: wenn die biologische Evolution nun mal diese exponentiell wachsende Komplexität aus sich heraus gesetzt hat und wir wissen, dass es ein ‚Optimum‘ nur geben kann, wenn alle Beteiligten sich dem Prozess — letztlich auf ‚demokratische‘ Weise !!! — nicht ‚unterwerfen‘, sondern sich bewusst und verstehend und motiviert ‚einordnen‘, dann ist Demokratie nicht nur ein polit-technisches Problem der hinreichenden Kommunikation, sondern auch ein Problem der ‚Motivation‘, der ‚Werte‘, ja sicher auch eines der geeigneten ‚Spiritualität‘. Woher soll all die Motivation kommen? Wie soll jemand sich für eine ‚gemeinsame Sache‘ einsetzen, wenn viele wichtige Vertreter in der Öffentlichkeit — meist aus Dummheit — ‚Egoismus‘ predigen, ‚Gewalt‘ verherrlichen, ‚Misstrauen‘ sähen, und Ähnliches mehr.
14) Nah betrachtet kann man ja niemanden zu einer ‚demokratischen Gesinnung‘ zwingen; noch so viele Anregungen und Lernprozesse bleiben ‚unvollendet‘, wenn die betreffende Person ‚von sich aus‘ ’nicht will‘. Umgekehrt heißt dies, eine demokratische Überzeugung und ein bewusstes demokratisches Verhalten sind Persönlichkeitsmerkmale von großem Wert, die einem ‚Geschenk‘ an die Gesellschaft gleich kommen. Die Menschen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die vielen Menschen und Bewegungen weltweit, die sich für die Rechte der Menschen und eine menschliche Gesellschaft einsetzen, sind alle nicht ‚Geschickte‘, sondern aus eigenem Antrieb ‚Berufene‘ für eine bessere menschliche Gesellschaft, letztlich für uns alle. ‚Demokraten‘ sind Menschen, die sich ihrer ‚Menschlichkeit‘ im Kontext aller anderen Menschen — auf die eine oder andere Weise — ‚bewusst‘ geworden sind und die mit ihrem Leben dazu beitragen wollen, dass wir ‚gemeinsam‘ eine Zukunft als ‚Menschen auf dieser Erde‘ haben.
15) Alle wissenschaftliche Erkenntnisse deuten darauf hin, dass wir den aktuellen Komplexitätssprung der Evolution nur in dem Umfang werden bewältigen können, in dem wir es schaffen, möglichst viele Bereiche der Menschheit ‚von innen her‘ dazu zu befähigen, die alltäglichen Prozesse entsprechend zu gestalten. Die Zukunft ist in diesem Sinne nicht nur eine technologische Herausforderung, sondern auch — und vielleicht je länger um so mehr — eine ‚personale‘, ’spirituelle‘ Herausforderung. Die Moral, Ethiken, Verhaltensmuster, Machtspiele der Vergangenheit werden nicht ausreichen, um die nächste Hürde zu nehmen. Bislang haben wir ‚Heilige‘ und ‚Helden‘ gern ins Museum gestellt als die großen Ausnahmen, auf möglichst hohe Podeste, dass nur ja niemand auf die Idee kommen könnte, solches Verhalten mit dem Alltag zu nahe in Verbindung zu bringen. Aber die Wahrheit ist, wir brauchen dieses ‚Heroisch-Heilige‘ für jeden von uns, letztlich. Es ist nur nicht ganz klar, wie wir diese ‚von innen getriebene‘ Bewegung wirksam fördern können. Möglicherweise müssen wir das auch gar nicht, weil jeder von uns dies ja letztlich verkörpert. Er muss sich seiner nur ‚bewusst werden‘. Der ‚freie Mensch‘ ist etwas ‚Unverfügbares‘, ein Stück ‚wahrhafter Offenbarung‘, und jede Religion, jedes politische System muss sich daran messen lassen. Ein am Leben interessiertes System kann nur in dem Masse ‚gut‘ sein, als es ‚freie Menschen‘ zulässt und fördert.

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REVIEW: THE WORLD ACCORDING TO TOMDISPATCH – Teil 4

T.Engelhardt (ed), „The World Acording to TomDispatch. America in the New Age of Empire“, London-New York: Verso, 2008

Diesem Text ging voraus: Teil 3.

ZWISCHENERGEBNISSE NACH Teil 1-3

1) Fassen wir kurz zusammen, was sich bisher ergeben hat: ausgehend von den philosophischen Reflexionen zum Phänomen einer markanten emergenten Komplexität des biologischen Lebens zeigte sich Kommunikation und eine funktionierende Öffentlichkeit als zentrale Bedingungen für das Funktionieren dieser Komplexität. Um dies gesellschaftlich zu ermöglichen wurden in modernen Demokratien Verfassungen geschaffen, in denen weitgehende Freiheitsrechte zum Schutze des Individuums verankert wurden (z.B. USA, Deutschland). Begleitet von heftigen Diskussionen wurden in Deutschland unter speziellen Bedingungen (‚Lauschangriff‘) eine Aufhebung solcher Rechte durch Regierungsstellen erlaubt; in den USA gibt es eine lange Geschichte von Ausdeutungen zum vierten Zusatz der Verfassung, die Stand 2013 — zwar nicht dem Wortlaut nach, aber faktisch — einer fast vollständigen Aufhebung dieser Freiheitsrechte gleichkommt. Engelhardt skizziert in der Einleitung zu seinem Buch die Entwicklung in den USA nach 9/11 als dramatische Verstärkung von Geheimdiensten und Militär in einer ‚unipolaren Welt‘. Dies wird begleitet durch eine weitgehende Abschottung der Regierung nach außen. Im ersten Kapitel zeigt Engelhardt anhand konkreter Daten auf, wie die Ereignisse von 9/11 auf eine medial imprägnierte Öffentlichkeit treffen, die — geprägt von den tiefsitzenden Bildern der Medien der letzten Jahrzehnte — die Ereignisse in einer bevorzugten Weise deuten; in einer Weise, die von der Regierung mitgesteuert wird und für bestimmte Pläne ausgenutzt werden.

GROUND ZERO – EIN MONUMENT DER HYBRIS?

2) Ist man nach den vorausgehenden Gedanken schon ein wenig aufgeschreckt und verunsichert, ob man die Ereignisse während und nach 9/11 tatsächlich so interpretieren soll, wie sie vom Mainstream interpretiert wurden, so trägt Engelhardt im Kap.2 weitere Fakten zusammen, die einem zu Grübeln bringen können.
3) Da sind einmal die Höhe des geplanten Gebäudes von 1776m, die an die Erklärung der Unabhängigkeit der USA erinnern soll, und dann die Kosten, die zeitweise mit 1 Mrd Dollar veranschlagt wurden. Dazu kommen die Kosten für ein Besuchszentrum von ca. 80 Mio Dollar sowie die jährlichen Betriebskosten von ca. 50-60 Mio Dollar (und vieles mehr).(vgl. S.14)
4) Es ist eigentlich merkwürdig, Tote nach ‚Preisen‘ zu vergleichen, aber Engelhard stellt eine Liste mit 8 wichtigen Gefallenen-Mahnmalen der USA zusammen, aus der man ersehen kann, dass für einen Toten des World-Trade Centers ca. 363.000 US-$ ausgegeben werden, für einen Toten durch das Oklahoma City Attentat 1995 etwa 0,17 US-$, und für die vielen Toten der Kriege in Korea, Vietnam, Weltkrieg II und den Holocaust weit weniger als 0,01 US-$! Für die vielen Toten, die amerikanisches Kriegshandeln in dem Land erzeugt hat, in dem die USA jeweils Krieg geführt haben (Irak, Afghanistan, Korea, Vietnam) gibt es keinerlei Aufwendungen.(vgl. S.16f)
5) Wie gesagt, diese ganze Art der Betrachtung ist problematisch, sie zeigt aber, welch überdimensionale Gewichtung dem Attentat auf das World-Trade Center gegeben wird. Was war hier so viel ganz anders, dass es diese überdimensionale Behandlung verdiente? Engelhardt merkt an, dass ein Gedenken sich eigentlich im Herzen abspielt, im Erinnern derer, die man aus dem eigenen Leben kennt. Die anderen finden ihren Platz in den Büchern zur Geschichte.(vgl.S.17)
6) Und er wagt eine Deutung dieses Monuments in dem Sinne, dass er sagt, dass von diesem Monument die Botschaft ausgeht, dass Die USA in ihrem Leiden nicht nur das größte Opfer (‚victim‘) darstellen, sondern auch den größten Überlebenden (’survivor‘) und den größten Beherrscher (‚denominator‘), den die Welt je gesehen hat. Was zugleich bedeutet, dass all die anderen vielen Toten mit den Worten des Pentagon nur einen ‚Kollateralschaden‘ bilden. (vgl. S.19).
7) Für Engelhardt verkörpert das Ground-Zero Monument daher nur einen spezifischen Moment in der Geschichte der USA, nämlich jenen, in dem sich die USA nicht mehr als ‚Nation‘ sah, sondern als ‚Homeland‘, was damit den Bezug zur die Unabhängigkeitserklärung von 1776 eigentlich verloren hat. Und abschließend zitiert er einen Abschnitt aus der Einleitung der US-Amerikanischen Verfassung, in der die Verfassungsväter das Fehlverhalten des Königs George III. von England auflisten. Die Anklagepunkte weisen Analogien auf mit dem Verhalten des Präsidenten George Bush, betrachtet vom Ausland.(vgl. S.20f)
8) [Anmerkung: Wenn man den Verfassungstext der USA heute liest, dann liegt es in der Natur der Sache, ihn letztlich auf ‚alle‘ Menschen zu beziehen, denn die Rechte, die dort die damaligen Kolonisten für sich beansprucht haben, sind von einer Art, dass sie — wenn sie überhaupt gelten — natürlich für ALLE gelten. Von daher ist es verständlich, dass die USA in ihrer Geschichte ihre Verantwortung auch für andere Menschen, Völker und Staaten gesehen haben und sie auch tatkräftig wahrnahmen. Der ‚Geist‘ der US-amerikanischen Verfassung ist von daher auf eine umfassende ‚Partnerschaft‘ mit allen Menschen, mit allen Völkern angelegt. Im Laufe der Jahre hat sich aber der Sicherheits- und Militärapparat, der zum ‚Schutze‘ der Freiheit geschaffen wurde, mehr und mehr verselbständigte. Hand in Hand damit ging eine Ausweitung des Begriffs ‚Feind‘, in der Weise, das der ‚Feind‘ immer beliebiger wurde, immer mehr ‚virtualisiert‘ wurde, bis dahin, dass das amerikanische Volk selbst wie ein potentieller Feind behandelt wird. Fast ist man geneigt zu sagen, dass der diktatorische König George III. in Gestalt überbordender Geheimdienste und eines überbordenden Militärs in den USA neu auferstanden ist. Nicht mehr dienen diese Institutionen dem amerikanischen Volk, sondern das amerikanische Volk muss diesen Institutionen dienen. ]

Fortsetzung folgt

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REVIEW: THE WORLD ACCORDING TO TOMDISPATCH – Teil 3

T.Engelhardt (ed), „The World Acording to TomDispatch. America in the New Age of Empire“, London-New York: Verso, 2008

Diesem Text ging voraus: Teil 2.

9/11 REZIPIERT VON MEDIAL VORPROGRAMMIERTEN GEHIRNEN

1) Im ersten Kapitel des Buches (geschrieben Sept 2006) beschäftigt sich Tom Engelhardt mit dem Phänomen, dass die Ereignisse vom 11.Sept.2001 die Menschen in den USA nicht ‚unvorbereitet‘ getroffen haben, nicht auf quasi blanke Gehirne getroffen sind, sondern auf Menschen trafen, auf eine Bevölkerung, die seit dem zweiten Weltkrieg, seit den Bomben auf Hiroshima, mit Angstvorstellungen durchtränkt war: jahrelang hatten Ängste vor einem Nuklearschlag der Sowjetunion die Medien beherrscht, und damit alltägliches Reden und Denken infiziert.(vgl. S.3) Und dann die vielen Hollywoodproduktionen, in denen diverse Katastrophenszenarien durchgespielt worden sind; sie hingen noch in den Köpfen der Menschen, lauerten in ihrem Unterbewussten, und nun, auf einmal, lief auf allen 24 TV-Kanälen landesweit das Spektakel der beiden Türme, die mit einer Theatralik zusammenbrachen, die Hollywood alle Ehre machte – nur was es dieses Mal ‚real‘.(vgl. S.3f) Und eine andere Parallel lag auf der Hand: Pearl Harbour 7.Dezember 1941. Und ein ehemaliger CIA-Direktor (Neokonservativer) brachte es tags drauf auf den Punkt, dass die USA jetzt im Krieg sei.(vgl. S.4)
2) In den vielen Filmen, in denen Invasionen und Katastrophen erzählt wurden — in vielen mit der Drohung oder gar der Ausführung von atomaren Explosionen — war ‚Ground Zero‘ eine Bezeichnung für den Ort, wo sich die atomare Explosion ereignet. Von daher erschien es fast ’natürlich‘, dass der Ort des Geschehens von den Medien sehr schnell mit ‚Ground Zero‘ bezeichnet wurde. Die Filme saßen in den Köpfen und Seelen der Menschen, auch der Journalisten. Die Macht der Bilder steuerte die Worte, die aus dem Mund flossen.(vgl. S.5)
3) Sieht man von den vielen bunten Filmbildern tief in den Gehirnen ab, dann war das Reden vom ‚Ground Zero‘ unangemessen, da es gar keine atomare Explosion gegeben hatte. Es war eine Truppe von fanatisierten jungen Männern, mit einer äußerst primitiven Bewaffnung, die Flugzeuge gekapert hatten. Dass ihre Attacken auf die beiden Gebäude solche überwältigenden Bilder erzeugen würden, war — darf man den Verhörprotokollen glauben — für sie unerwartet. Zieht man die Bilder ab, dann gleicht dieses Attentat — laut Tom Engelhardt — dem 1993 World Trade Center Attentat; nur dass dieses Attentat damals weitgehend misslang. Auch ist interessant, dass der andere Anschlag, bei dem ein Flugzeug ins Pentagon stürzte, bald aus den Medien verschwand; von ihm fehlten die gleichen dramatischen Bilder. Ohne Bilder keine ‚Realität’… Und schließlich, gab es ja damals zeitgleich die Briefanschläge mit Anthrax, einem wirklichen Massenvernichtungsmittel. Trotz anfänglicher großer Medienwirkung verschwand dieses Ereignis aus dem kollektivem Gedächtnis, da die Verursacher Amerikaner waren, keine ausländischen Terroristen; das passte nicht in das neue Feindbild.(vgl. SS.5-7)
4) [Anmerkung: Dieses ‚Verschwinden‘ aus dem öffentlichen Bewusstsein ist — vermutlich — nicht den finstren Machenschaften irgendwelcher Regierungsstellen geschuldet, sondern ist Ausfluss der Tatsache, dass Medien — selbst engagierte Medien — letztlich in ihrem Schreiben und Senden nicht ganz unabhängig sind von ihren Adressaten; und wenn ein Ereignis — wie z.B. das Pentagon-Flugzeug oder die Anthrax-Attentäter — mit den vertrauten Muster eines kollektiven Bewusstseins nicht gut harmoniert, dann rennen die Journalisten wie gegen eine unsichtbare Wand und werden — normalerweise — bald aufhören, dieses zu tun. In diesem Fall verhalten sie sich wie alle, die etwas ‚verkaufen‘ müssen. In dem Falle regiert dann nicht die ‚Wahrheit‘ des Ereignisses, sondern die ins Unbewusste eingebrannte ‚Unwahrheit‘ von medialen Produktionen, die zwar für die ‚Unterhaltung‘ gemacht wurden, aber mit der Kraft ihrer Bilder den Alltag überlagern, verfremden, und die sie beheimatenden Gehirne damit so ‚falsch programmieren‘, dass selbst ‚kritische Journalisten‘ sich ihrer Macht nicht entziehen können. ]
5) [Anmerkung: Eine andere Variation dieses Themas ist die aktuelle Diskussion im Anschluß an die Snowdon-Enthüllungen. Da deutsche Politiker — wie sich zeigte — nahezu keine oder überwiegend falsche Vorstellungen von Internettechnologien und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung haben, waren ihre Reaktionen und Kommentare von einer erschreckenden Naivität, einer Naivität, die letztlich eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellt, für die sie Verantwortung tragen. Doch niemand sah sich trotz dieses Totalversagens zu einem Rücktritt veranlasst …]
6) Hervorstechend ist, wie innerhalb von drei Tagen nach dem Attentat am 11.Sept.2001 eine Deutung der Ereignisse alles überragte: das Attentat war — laut Regierungsstellen — kein ‚Verbrechen‘ (was es tatsächlich war), nein, es wurde als Teil eines ‚Krieges‘ (‚war‘) interpretiert (was es nicht unbedingt sein musste; alle Beweise fehlten). Schon in der Nacht des 11.Sept.2001 hatte der Präsident von einem ‚Krieg gegen den Terrorismus‘ gesprochen. Welch ein Kontrast zum 1993-Attentat auf das World Trade Center. (vgl. SS.7-9)
7) [Anmerkung: In zahlreichen Verschwörungstheorien war ja aufgrund dieser extrem schnellen ‚Vereinnahmung‘ des Attentats für die Zwecke des dann folgenden Krieges unterstellt worden, dass das Attentat von der Regierung selbst inszeniert worden ist. Bei richtiger Interpretation (bei der man Wichtiges auslässt und anderes überbetont) passte ja alles perfekt. Aber solche Verschwörungstheorien sind nicht nur nicht notwendig, sie verdecken auch wichtige Details, die für alle unangenehm sind: die von der Regierung angebotenen — weit überzogenen und unsachlichen — Interpretationen wurden von den meisten willig angenommen und unterstützt; dass eine Regierung solche Monstrositäten denkt ist schlimm, dass aber ein ganzes Land mit vielen seiner kritischen Journalisten diesem Unsinn gefolgt ist, ist mindestens so schlimm und zeigt, wie anfällig wir alle sind, wenn wir ‚falsch programmiert‘ sind und jemand diese falsche Programmierung geschickt ausnutzt (Und wenn man sieht, wie in Deutschland die Nach-Snowdon-Diskussion in der Presse weitgehend auf die Technik abhebt und die politische Diskussion weitgehend verhungert, weil man sich nicht traut, seinem Partner USA unbequeme Fragen zu stellen, dann gibt es hier Parallelen).]
8) Zurecht stellt Tom Engelhardt die Frage, ob all die rasch folgenden radikalen Interpretationen und Gesetzesbeschlüsse der nachfolgenden Tage möglich gewesen wären, wenn die beiden Wolkenkratzer nicht so bildgewaltig eingestürzt wären? Hätte man all die gewagten Lügen über Saddam und seine Vernichtungswaffen so leicht geglaubt? (vgl. S.9f)
9) Und Tom Engelhardt macht darauf aufmerksam, dass die extrem schnelle Antwort der Regierung auf das Ereignis 9/11 mit der sehr speziellen Interpretation recht gut erklärbar wird, wenn man sich bewusst macht, dass die Regierung seit dem ersten Golf-Krieg 1990-91 sowohl an Plänen arbeitete, wie man den Irak vollständig okkupieren kann, wie auch an Plänen, wie man den Einfluss des Pentagons einerseits vergrößern und gleichzeitig den Einfluss des Kongresses schwächen könnte. Dass nur 8 Tage (!) nach dem Attentat der komplexe 342-Seiten Text zum ‚Patriot Act‘ dem Kongress vorlag und am 9.Okt.2001 den Senat passierte, das erscheint anders kaum erklärbar (und erscheint im Nachhinein fast wie eine Art ‚Staatsstreich‘).
10) [Anmerkung: Mit dem Wissen von heute kann man sich wundern, dass diese Vorgänge bisher von der Nachfolgeregierung nie offiziell aufgearbeitet worden sind. Noch mehr kann einen wundern — besser gesagt: erschrecken –, dass die Nachfolgeregierung die falschen Interpretationen samt den monströsen Verordnungen bislang einfach übernommen hat ohne einer kritischen Evaluation.]

Fortsetzung folgt in Teil 4.

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