Archiv der Kategorie: Wahrheit

Schmerz ersetzt nicht die Wahrheit …

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Email: gerd@doeben-henisch.de

Entstehungszeit: 18.Okt 2023 – 24.Okt 2023

KONTEXT

Der Terrorakt der Hamas auf israelische Bürger am 7.Oktober 2023 erschüttert die Welt. Seit Jahren erschüttern Terrorakte unsere Welt. Unter unseren Augen versucht ein Staat seit 2022 (eigentlich schon ab 2014), das ganze ukrainische Volk auf brutalste Weise auszuradieren. In vielen anderen Regionen dieser Welt findet und fand Ähnliches statt …

… Schmerz ersetzt nicht die Wahrheit [0]…

Wahrheit ist kein Automatismus. Wahrheit verfügbar zu machen erfordert erheblich mehr Anstrengung, als im Zustand partieller Wahrheit zu verweilen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch die Wahrheit kennt bzw. sich um die Wahrheit bemüht ist kleiner als das Verharren in einem Zustand der partiellen Wahrheit oder der direkten Unwahrheit.

Ob in einer Demokratie mehrheitlich die Unwahrheit vorherrscht oder eben die Wahrheit, hängt davon ab, wie eine Demokratie den Prozess der Wahrheitsfindung und der Kommunikation von Wahrheit gestaltet. Einen Automatismus zur Wahrheit gibt es nicht.

In einer Diktatur ist die Wahrscheinlichkeit für eine Verfügbarkeit von Wahrheit extrem abhängig von jenen, die die Macht zentral ausüben. Absolute Macht hat aber schon im Kern mit der Wahrheit gebrochen (was nicht ausschließt, dass diese Macht erhebliche Wirkungen entfalten kann).

Der Gang der bisherigen Geschichte des Menschen auf dem Planet Erde zeigt, dass es offensichtlich keinen einfachen schnellen Weg gibt, der alle Menschen gleichermaßen in einen glücklichen Zustand überführt. Dies muss mit dem Menschen selbst — mit uns — zu tun haben.

Das Interesse an Wahrheitsfindung, an Kultivierung von Wahrheit, an einem gemeinsamen Prozess in Wahrheit, war bislang aber niemals stark genug, um die alltäglichen Abgrenzungen, Unwahrheiten, Verfeindungen, Greueltaten … zu überwinden.

Der eigene Schmerz ist furchtbar, aber er hilft uns nicht weiter …

Wer will überhaupt eine Zukunft für uns alle?????

[0] Es gibt einen Überblicksartikel vom Autor aus dem Jahr 2018, in dem er 15 größere Texte aus dem Blog ‚Philosophie Jetzt‘ vorstellt ( „INFORMELLE KOSMOLOGIE. Teil 3a. Evolution – Wahrheit – Gesellschaft. Synopse der bisherigen Beiträge zur Wahrheit in diesem Blog“ ( https://www.cognitiveagent.org/2018/03/20/informelle-kosmologie-teil-3a-evolution-wahrheit-gesellschaft-synopse-der-bisherigen-beitraege-zur-wahrheit-in-diesem-blog/ )), in denen die Sache mit der Wahrheit aus vielen Gesichtspunkten betrachtet wird. In den 5 Jahren danach hat sich der gesellschaftliche Umgang mit der Wahrheit dramatisch weiter verschlechtert.

Hass hebt Wahrheit auf …

Wahrheit hat mit Wissen zu tun. Wissen ist bei Menschen aber den Emotionen untergeordnet. Was immer wir wissen oder wissen wollen, wenn unsere Emotionen dagegen sind, werden wir das Wissen einklammern.

Eine Form von Emotion ist der Hass. Die zerstörerische Wirkung von Hass begleitet die Geschichte der Menschheit wie ein Schatten und er hinterlässt überall eine Spur der Verwüstung: im Hassenden selbst, und in seiner Umgebung.

Das Ereignis des unmenschlichen Überfalls am 7.Oktober 2023 in Israel, von der Hamas für sich in Anspruch genommen, ist ohne Hass nicht denkbar.

Verfolgt man die Geschichte der Hamas seit ihrer Gründung 1987 [1,2], dann kann man sehen, dass der Hass schon als ein wesentliches Moment in der Gründung grundgelegt ist. Zu diesem Hass gesellt sich das Moment einer religiösen Deutung, die sich islamisch nennt, die aber eine spezielle, sehr radikalisierte und zugleich fundamentalistische Form des Islams repräsentiert.

Die Geschichte des Staates Israel ist komplex, nicht minder die Geschichte des Judentums. Und dass das heutige Judentum auch starke Anteile enthält, die eindeutig fundamentalistisch sind und denen Hass nicht fremd ist, dies führt innerhalb vieler anderer Faktoren im Kern auch zu einer Konstellation von fundamentalistischen Gegensätzen auf beiden Seiten, die aus sich heraus keine Lösungsansätze erkennen lassen. Die vielen anderen Menschen in Israel und Palästina ‚drumherum‘ sind Teil dieser ‚fundamentalistischen Kraftfelder‘, die Menschlichkeit und Wahrheit in ihrer Nähe schlicht verdunsten lassen. An der Spur des Blutes kann man diese Wirklichkeit erkennen.

Sowohl das Judentum wie auch der Islam haben wunderbare Dinge hervorgebracht, aber was bedeutet all dies angesichts eines brennenden Hasses, der alles beiseite schiebt, der nur sich selbst sieht.

[1] Jeffrey Herf, Sie machen den Hass zum Weltbild, FAZ 20.Okt. 23, S.11 (Abriss der Geschichte der Hamas und ihr Weltbild, als Teil der größeren Geschichte)

[2] Joachim Krause, Die Quellen des Arabischen Antisemitismus, FAZ, 23.10.2023,S.8 (Dieser Text ergänzt die Darstellung von Jeffrey Herf. Nach Krause wurde der arabische Antisemitismus seit den 1920iger/ 30iger Jahren über die 1928 gegründete Muslimbrüderschaft weit in die arabische Welt hineingetragen.)

Zerbrechende Gesellschaft

Wenn die Wahrheit schwindet, der Hass wächst (und damit indirekt auch das Vertrauen verdunstet), dann befindet sich eine Gesellschaft im freien Fall. Dagegen gibt es kein Mittel; Waffeneinsatz kann es nicht heilen, nur verschlimmern.

Allein die Tatsache, dass wir glauben, man könnte mangelnde Wahrheit, schwindendes Vertrauen, vor allem aber manifesten Hass nur durch Gewalt ausrotten, zeigt, wie ernst wir diese Phänomene nehmen und zugleich, wie hilflos wir uns diesen Haltungen gegenüber erleben.

In einer Welt, deren Fortbestand an die Verfügbarkeit von Wahrheit und Vertrauen geknüpft ist, ist es ein schrilles Alarmzeichen zu sehen, wie schwer wir uns als Menschen im Umgang mit fehlender Wahrheit und Hass tun.

Ist Hass unheilbar?

Wenn man sieht, wie zäh sich Hass in der Menschheit hält, wir unfassbar grausam ein Handeln sein kann, was von Hass angetrieben wird, und wie hilflos wir Menschen im Angesichts von Hass wirken, dann muss man vielleicht die Frage stellen, ob Hass letztlich nicht eine Art Krankheit ist, eine, die den Hassenden selbst und — ganz besonders — den Gehassten mit schweren Schäden, letztlich mit dem Tod bedroht?

Bei normalen Krankheiten haben wir gelernt, nach Heilmitteln zu suchen , die von der Krankheit befreien können. Wie ist es aber bei einer Krankheit Hass? Was hilft hier? Hilft hier irgendetwas? Müssen wir Menschen, die von Hass befallen sind, wie zu früheren Zeit bei Menschen mit tödlichen Krankheiten (die Pest!) , hassende Menschen ausgrenzen, wegsperren, in ein Niemandsland verschicken? … aber jeder weiß, dass dies nicht geht… Was aber geht? Was hilft gegen Hass?

Nach ca. 300.000 Jahren Homo sapiens auf diesem Planeten wirken wir seltsam hilflos im Angesicht der Krankheit Hass.

Das Schlimme ist, dass es andere Menschen gibt, die in jedem hassenden Menschen ein mögliches Werkzeug sehen, diesen Hass mit geeigneter Manipulation auf Ziele umzufunktionieren, die der Manipulator gerne geschädigt oder gar zerstört sehen will. Dadurch verschwindet der Hass nicht; im Gegenteil, er fühlt sich bestätigt und neues Unrecht schürt die Entstehung von neuem Hass … die Krankheit breitet sich weiter aus.

Eines der größten Ereignisse im gesamten bekannten Universum, die Entstehung des geheimnisvollen Lebens auf diesem Planet Erde, hat einen wunden Punkt, an dem dieses Leben so seltsam schwach und hilflos wirkt. Die Menschen haben im Lauf der bisherigen Geschichte gezeigt, dass sie zu Taten fähig sind, die viele Generationen überdauern, die vielen Menschen mehr Leben ermöglichen, die …. aber angesichts von Hass seltsam hilflos wirken … und der Hassende ist sich selbst genommen, unfähig zu allem anderen … im freien Fall in sein dunkles Inneres …

Statt Hass brauchen wir (minimal, skizzenhaft):

  • Wasser, damit Menschen leben können. Dazu eine Infrastruktur, die Wasser bereit stellt. Dazu andere Menschen, die sich um diese Infrastruktur kümmern. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Nahrung, damit Menschen leben können. Dazu eine Infrastruktur, die diese Nahrung herstellt, lagert, aufbereitet, transportiert, verteilt, und die Nahrung bereit stellt. Dazu andere Menschen, die sich um diese Infrastruktur kümmern. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • einen Wohnbereich, damit Menschen leben können. Dazu eine Infrastruktur, die diesen Wohnbereich herstellt, bereit stellt, erhält, und verteilt. Dazu andere Menschen, die sich um diese Bereitstellung kümmern. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Energie, gegen Kälte, gegen Hitze, für alltägliche Abläufe, um Leben zu können. Dazu eine Infrastruktur, die diese Energie herstellt, bereit stellt, erhält, und verteilt. Dazu andere Menschen, die sich um diese Bereitstellung kümmern. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Die Berechtigung und die Teilhabe, Wasser, Nahrung, Wohnen und Energie bekommen zu können. Dazu eine Infrastruktur an Vereinbarungen, damit dies alles möglich ist. Dazu andere Menschen, die sich um diese Vereinbarungen kümmern. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Ausbildung, um in der Lage zu sein, Aufgaben im realen Leben übernehmen und erfolgreich ausführen zu können. Dazu braucht es andere Menschen, die genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Ausbildung anbieten und durchführen zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Medizinische Versorgung, um bei vielen Verletzungen, Unfällen, Krankheiten helfen zu können. Dazu braucht es andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche medizinische Versorgung anbieten und durchführen zu können; dazu auch die notwendigen Einrichtungen und Ausrüstungen. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Kommunikationseinrichtungen, damit jeder jederzeit die hilfreichen Informationen bekommen kann, die er braucht, um sich in seiner Welt sachgemäß orientieren zu können: Wann, wer, wo, wie, was …. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Informationen anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Transporteinrichtungen, damit Menschen und Sachen an die Orte kommen können, zu denen sie hin müssen. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Infrastrukturen anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Entscheidungsstrukturen, die die vielfältigen Bedürfnisse und notwendigen Leistungen so vermitteln, dass möglichst alle all das zur Verfügung haben, was sie für ihr alltägliches Leben benötigen. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Infrastrukturen anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Ordnungskräfte, die dafür Sorge tragen, dass Störungen und Verletzungen jener Infrastrukturen, die für das alltägliche Leben notwendig sind, behoben werden, ohne dass neue Störungen entstehen. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Dienst anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • ausreichend Land, um für all diese Anforderungen genügend Raum zur Verfügung stellen können, dazu geeignete Böden (Wasser, Nahrung, Wohnen, Transport, Lagerung, Produktion, …)
  • ein geeignetes Klima
  • ein funktionierendes Ökosystem
  • eine leistungsfähige Wissenschaft, welche die Welt erkundet, um zu wissen, was geht, was nicht geht, was auf uns zukommt, …. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Dienst anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • eine geeignete Technologie, um alle die Aufgaben erfolgreich durchführen zu können, die im Alltag und für die Wissenschaft benötigt werden. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Dienst anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • ein Wissen in den Köpfen der Menschen, das dazu geeignet ist, das Geschehen im Alltag hinreichend gut verstehen zu können, so dass sie verantwortungsvoll mitdenken, sich selbständig orientieren und entscheiden zu können. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Dienst anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Zielvorstellungen (Präferenzen, Werte, …) in den Köpfen der Menschen, welche dazu geeignet sind, im Geschehen des Alltags hinreichend gut Entscheidungen fällen zu können. Dazu braucht es im alltäglichen Leben eine gegenseitige Hilfestellung von Allen, damit die junge Generation sich mit diesen Zielen vertraut machen und selbständig überprüfen kann, um nach und nach aus eigener Kraft diese Ziele anwenden kann.
  • hinreichend viel Zeit und Frieden, damit die bisher genannten Prozesse stattfinden und ihre Wirkung erbringen können.
  • hinreichend gute und dauerhafte Beziehungen zu anderen Bevölkerungsgruppen, die die gleichen Ziele verfolgen.
  • eine hinreichende Gemeinsamkeit zwischen all den Bevölkerungsgruppen, die auf dem Planet Erde leben und mit der Realität dieses Planeten (Erdbeben, Vulkane, Klima, verfügbares Land, …) den Bedarf für ihr Leben dort gemeinsam lösen müssen, wo sie alle betroffen sind.
  • einen dauerhaften positiv-konstruktiven Wettbewerb um jene Zielvorstellungen, die das Leben von möglichst allen Menschen auf diesem Planeten (in diesem Sonnensystem, in dieser Galaxie, ….) auch für die Zukunft möglich erscheinen lassen.
  • der Freiheit, die im Innern der erfahrbaren Welt anwesend ist, so auch in jedem Lebewesen, besonders auch im Menschen, sollte so viel Raum wie möglich gegeben werden, da es nur diese Freiheit ist, die angesichts einer sich beständig verändernden Welt falsche Vorstellungen von gestern so überwinden kann, damit wir in der Welt der Zukunft vielleicht bestehen können.

DER AUTOR

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DENKEN: alltäglich – philosophisch – empirisch theoretisch (Skizze)

(Letzte Änderung: 9.Juni 2023, 17:55h)

KONTEXT

Die aktuelle Phase meines Denkens kreist weiterhin um die Frage, wie sich die verschiedenen Erkenntniszustände zueinander verhalten: die vielen einzel-wissenschaftlichen Disziplinen treiben nebeneinander her; Philosophie beansprucht weiterhin eine Oberhoheit, kann sich aber selbst nicht wirklich überzeugend verorten; und das Denken im Alltag zieht weiterhin unbeirrt seine Bahnen mit der Überzeugung ‚Alles sei doch klar‘, man müsse doch nur einfach hinschauen ‚wie es ist‘. Dann kommen noch die verschiedenen ‚religiösen Anschauungen‘ um die Ecke mit einem sehr hohen Anspruch bei gleichzeitigem Verbot, nicht zu genau hinschauen zu dürfen. … und vieles mehr.

ABSICHT

Im folgenden Text werden drei fundamentale Betrachtungsweise unserer gegenwärtigen Welt skizziert und sie werden zugleich zueinander in Beziehung gesetzt. Manche bislang unbeantwortete Fragen lassen sich dadurch möglicherweise besser beantworten, viele neue Fragen entstehen aber auch. Wenn ‚alte Denkmuster‘ außer Kraft gesetzt werden, muss man viele (die meisten? Alle?) der bislang vertrauten Denkmuster neu justieren. Mit einem Mal sind sie schlicht ‚falsch‘ oder stark ‚reparaturbedürftig‘.

Leider ist es nur eine ‚Skizze‘.

DENKEN im ALLTAG

BILD 1: Im Alltagsdenken geht jeder Mensch (ein ‚homo sapiens‘ (HS)) davon aus, dass das, was er von einer ‚realen Welt‘ weiß, das ist, was er ‚wahrnimmt‘. Dass es diese reale Welt mit ihren Eigenschaften gibt, ist ihm — mehr oder weniger — ‚bewusst‘, darüber muss man nicht eigens diskutieren. Das, was ‚ist, ist‘.

… vieles wäre zu sagen …

PHILOSOPHISCHES DENKEN

BILD 2: Das philosophische Denken beginnt dort, wo einem auffällt, dass die ‚reale Welt‘ nicht von allen Menschen in ‚gleicher Weise‘ wahrgenommen und noch weniger in gleicher Weise ‚vorgestellt‘ wird. Manche Menschen haben ‚ihre Vorstellungen‘ von der realen Welt, die markant ‚anders sind‘ als die Vorstellungen anderer Menschen, und doch bestehen sie darauf, dass die Welt genau so ist, wie sie sich das vorstellen. Aus dieser Beobachtung im Alltag, können viele neue Fragen entstehen. Die Antworten auf diese Fragen sind so vielfältig wie es Menschen gab und gibt, die sich diesen philosophischen Fragen hingaben oder noch hingeben.

… berühmte Beispiele: Platons Höhlengleichnis deutet an, dass die Inhalte unseres Bewusstseins vielleicht doch nicht ‚die Sachen selbst‘ sind sondern nur die ‚Schatten‘ vom dem, was letztlich ‚wahr‘ ist … Descartes berühmtes ‚cogito ergo sum‘ bringt den Aspekt ins Spiel, dass die Inhalte des Bewusstsein auch etwas über ihn selbst sagen, der solche Inhalte ‚bewusst wahrnimmt’…. die ‚Existenz der Inhalte‘ setzt seine ‚Existenz des Denkenden‘ voraus, ohne die die Existenz der Inhalte gar nicht möglich wäre …was sagt uns dies? … Kants berühmtes ‚Ding an sich‘ kann man auf die Einsicht beziehen, dass die konkreten, flüchtigen Wahrnehmungen niemals die ‚Welt als solche‘ in ihrer ‚Allgemeinheit direkt zeigen können. Diese liegt ‚irgendwo dahinter‘, schwer greifbar, eigentlich gar nicht greifbar? ….

… vieles wäre zu sagen …

EMPIRISCH-THEORETISCHES DENKEN

BILD 3: Das Konzept einer ‚empirischen Theorie‘ entwickelte sich sehr spät in der dokumentierten Geschichte des Menschen auf diesem Planeten. Einerseits philosophisch angeregt, andererseits unabhängig von den verbreiteten Formen von Philosophie, aber sehr stark beeinflusst von logischem und mathematischem Denken, siedelte sich das neue ‚empirische theoretische‘ Denken genau an dieser Bruchstelle zwischen ‚Alltagsdenken‘ und ‚theologischem‘ sowie ’stark metaphysischem philosophischem Denken‘ an. Dass Menschen ‚mit dem Brustton der Überzeugung‘ Aussagen über die Welt machen konnten, obwohl es nicht möglich war, ‚gemeinsame Erfahrungen der realen Welt‘ aufzuzeigen, die mit den geäußerten Aussagen ‚übereinstimmten‘, führte dazu, dass einzelne Menschen damit begannen, die ‚erfahrbare (empirische) Welt‘ so zu untersuchen, dass jeder andere bei ‚gleichem Vorgehen‘, die ‚gleichen Erfahrungen‘ machen konnte. Diese ‚transparenten Vorgehensweisen‘ waren ‚wiederholbar‘ und solche Vorgehensweisen wurden zu dem, was später als ‚empirisches Experiment‘ bzw. dann, noch einen Schritt weiter, als ‚Messen‘ bezeichnet wurde. Beim ‚Messen‘ vergleicht man das ‚Ergebnis‘ eines bestimmten experimentellen Vorgehens mit einem ‚zuvor definierten Standard-Objekt‘ (‚Kilogramm‘, ‚Meter‘, …).

Diese Vorgehensweise führte dazu, dass — zumindest die Experimentatoren — ‚lernten‘, dass unser Wissen um die ‚reale Welt‘ in zwei Komponenten zerfällt: es gibt das ‚allgemeine Wissen‘ was unsere Sprache artikulieren kann, mit Begriffen, die nicht automatisch etwas mit der ‚erfahrbaren Welt‘ zu tun haben müssen, und solchen Begriffen, die sich mit experimentellen Erfahrungen in Verbindung bringen lassen, und zwar so, dass auch andere Menschen, sofern sie sich auf das experimentelle Vorgehen einlassen, diese Erfahrungen wiederholen und dadurch bestätigen können. Eine grobe Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten von sprachlichen Äußerungen könnte sein: ‚fiktive‘ Ausdrücke mit ungeklärtem Erfahrungsanspruch, und ‚empirische‘ Ausdrücke mit bestätigtem Erfahrungsanspruch.

Seit dem Beginn der neuen empirisch-theoretischen Denkweise im ca. 17.Jahrhundert dauerte es gut mindestens 300 Jahre, bis sich das Konzept einer ‚empirischen Theorie‘ soweit gefestigt hatte, dass es in weiten Bereichen der Wissenschaft zu einem prägenden Paradigma geworden war. Viele methodische Fragen blieben aber strittig oder blieben sogar ‚ungelöst‘.

DATEN und THEORIE

Viele Jahrhunderte wurde bei vielen — bei nicht wenigen auch bis in unsere Gegenwart — der ‚Missbrauch der Alltagssprache‘ für die Ermöglichung von ‚empirisch nicht verifizierbare Aussagen‘ direkt dieser Alltagssprache angekreidet und die gesamte Alltagssprache wurde als ‚Quelle von Unwahrheiten‘ diskreditiert. Eine Befreiung von diesem ‚ Monster Alltagssprache‘ wurde immer mehr in formalen Kunstsprachen gesucht bzw. dann in der modernen axiomatisierte Mathematik, die ein enges Bündnis mit der modernen formalen Logik eingegangen war (ab Ende des 19.Jahrhunderts). Die Ausdruckssysteme der modernen formalen Logik bzw. dann der modernen formalen Mathematik hatten als solche (nahezu) keine ‚Eigenbedeutung‘. Diese mussten fallweise explizit eingeführt werden. Eine ‚formale mathematische Theorie‘ konnte so formuliert werden, dass sie auch ohne ‚explizite Zuweisung‘ einer ‚externen Bedeutung‘ ‚logische Schlüsse‘ zulässt, die es erlaubten, bestimmte formale Ausdrücke als ‚formal wahr‘ oder ‚formal falsch‘ zu bezeichnen.

Dies erschien auf den ersten Blick sehr ‚beruhigend‘: die Mathematik als solche ist kein Ort von ‚falschen‘ oder ‚untergejubelten‘ Wahrheiten.

Der intensive Einsatz formaler Theorien in Verbindung mit erfahrungsbasierten Experimenten machte aber dann schrittweise deutlich, dass ein einzelner Messwert als solcher eigentlich auch keine ‚Bedeutung‘ besitzt: was soll es ‚bedeuten‘ dass man zu einem bestimmten ‚Zeitpunkt‘ an einem bestimmten ‚Ort‘ einen ‚erfahrbaren Zustand‘ mit bestimmten ‚Eigenschaften‘ feststellt, im Idealfall einem zuvor vereinbarten ‚Standardobjekt‘ vergleichbar? ‚Ausdehnungen‘ von Körpern können sich ändern, ‚Gewicht‘ und ‚Temperatur‘ ebenso. Alles kann sich in der Erfahrungswelt ändern, schnell, langsam, … was kann also ein einzelner isolierter Messwert sagen?

So manchem dämmerte es — nicht nur den erfahrungsbasierten Forschern, sondern auch verschiedenen Philosophen –, dass einzelne Messwerte nur eine ‚Bedeutung‘, einen möglichen ‚Sinn‘ bekommen, wenn man mindestens ‚Beziehungen‘ zwischen einzelnen Messwerten herstellen kann: Beziehungen ‚in der Zeit‘ (vorher – nachher), Beziehungen am/im Ort (höher – tiefer, nebeneinander, …), ‚zusammenhängende Größen‘ (Objekte – Flächen, …), und dass darüber hinaus die verschiedenen ‚Beziehungen‘ selbst nochmals einen ‚begrifflichen Kontext‘ benötigen (einzeln – Menge, Wechselwirkungen, kausal – nicht kausal, …).

Schließlich wurde damit auch klar, dass einzelne Messwerte darüberhinaus ‚Klassenbegriffe‘ benötigten, damit man sie überhaupt irgendwie einordnen konnte: abstrakte Begriffe wie ‚Baum‘, ‚Pflanze‘, ‚Wolke‘, ‚Fluss‘, ‚Fisch‘ usw. wurden so zu ‚Sammelstellen‘, bei denen man ‚Einzelbeobachtungen‘ abliefern konnte. Damit konnten dann aberhundert Einzelwerte z.B. zur Charakterisierung des abstrakten Begriffs ‚Baum‘ oder ‚Pflanze‘ usw. benutzt werden.

Diese Unterscheidung in ‚einzeln, konkret‘ und ‚abstrakt, allgemein‘ erweist sich als fundamental. Sie machte auch deutlich, dass die Einteilung der Welt mit Hilfe von solchen abstrakten Begriffen letztlich ‚willkürlich‘ ist: sowohl ‚welche Begriffe‘ man wählt ist willkürlich, als auch die Zuordnung von einzelnen Erfahrungsdaten zu abstrakten Begriffen ist nicht vorab eindeutig geregelt. Der Prozess der Zuordnung von einzelnen Erfahrungsdaten zu bestimmten Begriffen innerhalb eines ‚Prozesses in der Zeit‘ ist selbst stark ‚hypothetisch‘ und selbst wiederum Teil von anderen ‚Beziehungen‘ die zusätzliche ‚Kriterien‘ liefern können, ob nun Datum X eher zum Begriff A oder eher zum Begriff B gehört (die Biologie ist voll von solchen Klassifikationsproblemen).

Ferner zeigte sich, dass die so ‚unschuldig‘ daher kommende Mathematik bei näherer Betrachtung keineswegs als ‚unschuldig‘ gelten kann. Die breite Diskussion der Wissenschaftsphilosophie im 20.Jahrhundert brachte viele ‚Artefakte‘ zur Sprache, welche die Beschreibung einer dynamischen Erfahrungswelt mindestens leicht ‚korrumpieren‘ kann.

So gehört es zu formalen mathematischen Theorien, dass sie mit sogenannten ‚All- oder Partikularaussagen‘ operieren können. Mathematisch ist es wichtig, dass ich über ‚alle‘ Elemente eines Bereichs/ einer Menge reden kann. Ansonsten wird das Reden sinnlos. Wenn ich nun ein formales mathematisches System als begrifflichen Rahmen für eine Theorie wähle, die ‚empirische Sachverhalte‘ so beschreibt, dass Folgerung möglich werden, die im Sinne der Theorie ‚wahr sind‘ und damit zu ‚Prognosen‘ werden, die behaupten, dass ein bestimmter Sachverhalt entweder ‚absolut‘ oder mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit X größer 50% eintreten wird, dann vereinigen sich zwei verschiedene Welten: die fragmentarischen Einzelaussagen über die Erfahrungswelt werden eingebettet in ‚Allaussagen‘, die grundsätzlich mehr sagen, als Erfahrungsdaten bereit stellen können.

An dieser Stelle wird sichtbar, dass die so ’neutral‘ erscheinende Mathematik genau den gleichen Job tut wie die ‚Alltagssprache‘ mit ihren ‚abstrakten Begriffen‘: die abstrakten Begriffe der Alltagssprache gehen immer über den Einzelfall hinaus (sonst könnten wir letztlich gar nichts sagen), aber gerade dadurch erlauben sie Überlegungen und Planungen, wie wir sie an den mathematischen Theorien so schätzen.

Empirische Theorien im Format formaler mathematischer Theorien haben das weitere Problem, dass sie ja als solche über (nahezu) keine eigene Bedeutungen verfügen. Will man die formalen Ausdrücke mit der Erfahrungswelt in Beziehung setzen, dann muss man (mit Hilfe der Alltagssprache!) für jeden abstrakten Begriff der formalen Theorie (oder auch für jede formale Beziehung oder auch für jeden formalen Operator) explizit eine ‚Bedeutung konstruieren‘, indem man zwischen den abstrakten Konstrukten und bestimmten aufweisbaren Erfahrungstatsachen eine ‚Abbildung’/ eine ‚Zuordnung‘ herstellt. Was sich hier auf den ersten Blick vielleicht so einfach anhört, hat sich im Laufe der letzten 100 Jahren als ein fast unlösbares Problem erwiesen. Daraus folgt jetzt nicht, dass man es überhaupt nicht tun sollte; es macht aber darauf aufmerksam, dass die Wahl einer formalen mathematischen Theorie nicht automatisch eine gute Lösung sein muss.

… vieles wäre noch zu sagen …

FOLGERN und WAHRHEIT

Eine formale mathematische Theorie kann aus bestimmten ‚Annahmen‘ bestimmte Aussagen als formal ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ ableiten. Dies geht, weil es zwei grundlegende Voraussetzungen gibt: (i) Alle formalen Ausdrücke haben einen ‚abstrakten Wahrheitswert‘ als ‚abstrakt wahr‘ oder eben als ‚abstrakt nicht wahr‘. Ferner gibt es einen sogenannten ‚formalen Folgerungsbegriff‘, der festlegt, ob und wie man aus einer gegebenen ‚Menge von formalen Ausdrücken‘ mit vereinbarten abstrakten Wahrheitswerten und einer klar definierten ‚Form‘ andere formalen Ausdrücke ‚ableiten‘ kann. Dieses ‚Ableiten‘ besteht aus ‚Operationen über den Zeichen der formalen Ausdrücke‘. Die formalen Ausdrücke sind hier ‚Objekte‘ des Folgerungsbegriffs, der auf einer ‚Ebene höher‘ angesiedelt ist, auf einer ‚Meta-Ebene 1‘. Der Folgerungsbegriff ist insofern eine eigene ‚formale Theorie‘, die über bestimmte ‚Objekte einer tieferen Ebene‘ spricht so wie die abstrakten Begriffe einer Theorie (oder der Alltagssprache) über konkrete Erfahrungstatbestände sprechen. Das Zusammenwirken von Folgerungsbegriff (auf Meta-Ebene 1) und den formalen Ausdrücken als Objekten setzt eine eigene ‚Interpretationsbeziehung‘ (letztlich eine Art von ‚Abbildung‘) voraus, die wiederum auf einer noch anderen Ebene — Meta-Ebene 2 — angesiedelt ist. Diese Interpretationsbeziehung benutzt sowohl die formalen Ausdrücke (mit ihren Wahrheitswerten!) und den Folgerungsbegriff als ‚Objekte‘, um zwischen diesen eine Interpretationsbeziehung zu installieren. Normalerweise wird diese Meta-Ebene 2 von der so gescholtenen Alltagssprache bewältigt und die implizite Interpretationsbeziehung ist ‚in den Köpfen der Mathematiker (eigentlich in den Köpfen der Logiker)‘ verortet, die davon ausgehen, dass ihre ‚Praxis des Folgerns‘ genügend Erfahrungsdaten liefern, um den ‚Inhalt der Bedeutungsbeziehung‘ zu ‚verstehen‘.

Es war Kurt Gödel gewesen [2], der 1931 versucht hat, das ‚intuitive Vorgehen‘ bei Meta-Beweisen selbst auch zu formalisieren (mit Hilfe der berühmten Gödelisierung) und damit die Meta-Ebene 3 wiederum zu einem neuen ‚Objekt‘ gemacht hat, über das man explizit diskutieren kann. Im Anschluss an Gödels Beweis gab es weitere Versuche, diese Meta-Ebene 3 nochmals anders zu formulieren oder gar deine Meta-Ebene 4 zu formalisieren. Doch blieben diese Ansätze bislang ohne klares philosophisches Ergebnis.

Klar scheint nur zu sein, dass die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, immer wieder neue Meta-Ebenen zu eröffnen, um damit zuvor formulierte Sachverhalte zu analysieren und zu diskutieren, prinzipiell unbeschränkt ist (nur beschränkt durch die Endlichkeit des Gehirns, dessen Energiezufuhr, die Zeit, und ähnliche materielle Faktoren).

Eine interessante Spezialfrage ist es, ob der formaler Folgerungsbegriff der formalen Mathematik angewendet auf Erfahrungstatsachen einer dynamischen empirischen Welt der spezifischen ‚Welt-Dynamik‘ überhaupt angemessen ist? Für den Bereich der ’scheinbar materiellen Strukturen‘ des Universums hat die moderne Physik vielfache Phänomene geortet, die sich einfach klassischen Konzepten entziehen. Eine ‚Materie‘, die zugleich ‚Energie‘ ist, ist tendenziell eher nicht mehr klassisch beschreibbar, und Quantenphysik ist — bei aller ‚Modernität‘ — letztlich immer noch ein ‚klassisches Denken‘ im Rahmen einer formalen Mathematik, die vom Ansatz her viele Eigenschaften nicht besitzt, die aber der erfahrbaren Welt zukommen.

Diese Begrenztheit eines formal-mathematischen physikalischen Denkens zeigt sich besonders krass am Beispiel jener Phänomene, die wir ‚Leben‘ nennen. Die erfahrungsbasierten Phänomene, die wir mit ‚lebenden (= biologischen) Systemen‘ in Verbindung bringen, sind auf den ersten Blick komplett materielle Strukturen, allerdings haben sie dynamische Eigenschaften, die mehr über die ‚Energie‘ aussagen, die sie hervorruft, als über die Materialität, mittels der sie sich realisieren. Insofern ist die implizite Energie der eigentliche ‚Informationsgehalt‘ von lebenden Systemen, die in ihrer Grundstruktur ‚radikal freie‘ Systeme sind, da Energie als ’nicht begrenzbar‘ erscheint. Die unübersehbare Tendenz lebender Systeme, ‚aus sich heraus‘ immer ‚mehr Komplexität zu ermöglichen‘ und zu integrieren widerspricht allen bekannten physikalischen Prinzipien. Die ‚Entropie‘ wird gerne als Argument benutzt, um diese Form von ‚biologischer Selbstdynamik‘ mit Verweis auf eine simple ‚obere Schranke‘ als ‚begrenzt‘ zu relativieren, doch macht dieser Verweis das originäre Phänomen des ‚Lebendigen‘ damit nicht vollständig zunichte.

Besonders spannend wird es, wenn man es wagt, an dieser Stelle die Frage nach der ‚Wahrheit‘ zu stellen. Lokalisiert man die Bedeutung des Begriffs ‚Wahrheit‘ zunächst mal in der Situation, in der ein biologisches System (hier der Mensch) innerhalb seines Denkens eine gewisse ‚Korrespondenz‘ zwischen seinen abstrakten Begriffen und solchen konkreten Wissensstrukturen herstellen kann, die sich über einen Interaktionsprozess mit Eigenschaften einer erfahrbaren Welt in Verbindung bringen lassen, und zwar nicht nur als einzelnes Individuum, sondern zusammen mit anderen Individuen, dann hat jedes abstrakte Ausdruckssystem (genannt ‚Sprache‘) nur in dem Maße einen ‚wahren Wirklichkeitsbezug‘, als es biologische Systeme gibt, die solche Bezüge herstellen können. Und diese Bezüge hängen weiterhin ab von der Struktur der Wahrnehmung und der Struktur des Denkens dieser Systeme; diese wiederum hängen ab von der Beschaffenheit der Körper als Kontext der Gehirne, und die Körper hängen wiederum sowohl ab von der materiellen Struktur und Dynamik der Umgebung wie auch von den gesellschaftlichen Alltagsprozessen, die weitgehend festlegen, was ein Mitglied einer Gesellschaft erleben, lernen, arbeiten, planen und tun kann. Was immer ein Individuum kann bzw. könnte, die Gesellschaft verstärkt entweder das individuelle Potential oder ‚friert‘ es ein. ‚Wahrheit‘ existiert unter diesen Bedingungen als ein ‚frei beweglicher Parameter‘, der durch die jeweilige Prozessumgebung erheblich beeinflusst wird. Das Reden von ‚kultureller Vielfalt‘ kann eine gefährliche ‚Verniedlichung‘ von massiver Unterdrückung ‚alternativer Lern- und Handlungsprozessen‘ sein, die einer Gesellschaft ‚entzogen‘ werden, weil sie ’sich selbst einsperrt‘. Unwissenheit ist tendenziell kein guter Ratgeber. Wissen als solches garantiert aber auch kein ‚richtiges‘ Handeln. Der ‚Prozess der Freiheit‘ auf dem Planet Erde ist ein ‚galaktisches Experiment‘, dessen Ernsthaftigkeit und Ausmaß bislang kaum gesehen wird.

DER AUTOR

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ANMERKUNGEN

[1] Auf Literaturangaben wird hier verzichtet. Es wären viele hunderte Texte zu erwähnen. Das kann keine Skizze leisten.

[2] Siehe Kurt Gödel, Unvollständigkeitssätze, 1931: https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_G%C3%B6del#Die_Unvollst%C3%A4ndigkeitss%C3%A4tze

Pazifismus als ‚Pseudonym‘ für Realitätsverweigerung?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 24.Februar 2023 – 4.März 2023
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

Dieser Text ist eine spontane Reaktion auf die vielen Stimmen, die in unterschiedlichen Tonlagen einen ‚Pazifismus‘ vertreten, dessen eigentliche ‚Natur‘ sich in viel schillernden Vagheiten präsentiert, die bei Nachfragen immer genau das nicht sein sollen, für das man sie halten möchte. Den letzten Kick zur folgenden schriftlichen Reaktion ergab die Lektüre eines Textes von Annete Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland.[1]

‚Ecce Homo‘

Frau Kurschus schleudert dem Leser gleich zu Beginn den Ausdruck ‚Ecce Homo‘ entgegen, einen Ausdruck, den die meisten Menschen heute kaum sogleich verstehen werden, da er aus einer Zeit und Denkwelt kommt, die längst vergangen ist. ‚Ecce Homo‘ ist einer lateinischen Übersetzung des Neuen Testaments entnommen, das ursprünglich in Griechischer Sprache übermittelt worden ist.[2]

Der Kontext des Ausdrucks ist ein Text im Neuen Testament, dessen Überlieferungsgeschichte komplex ist, weder stammt er von Jesus selbst noch vermutlich von einem ‚Jünger‘ Jesu. [3] Die starken textlichen Abweichungen des Johannesevangeliums von den anderen sogenannten ‚Evangelien‘ deuten auf spezielle ‚Deutungsperspektiven‘ hin. Warum also ausgerechnet eine ‚literarische Formulierung‘ von einer möglicherweise ‚literarischen Situation‘ für uns heute in einer gänzlich anderen Situation relevant sein soll, das erschließt sich auf den ersten Blick keineswegs, vielleicht auch nicht auf einen zweiten Blick … was hat letztlich die Situation eines einzelnen Menschen, der machtlos vor dem Vertreter einer Staatsgewalt steht (wohlgemerkt: in einer literarisch fiktiven Situation), in die er sich durch sein eigenes Verhalten hinein manövriert hat, mit der Situation eines ganzen Volkes zu tun, das entgegen allen geltenden Verträgen und entgegen vorausgehenden russischen Beteuerungen plötzlich brutal überfallen wurde. Das tägliche brutale Zerstören und Ermorden seit nunmehr einem Jahr lässt unter normalen Menschen und bei Betrachtung der realen Geschehnisse keine zweite Deutung zu.

Dass eine liturgische Tradition unter Christen sich darin gefällt, den Leidensweg eines einzelnen Menschen zu betrachten (wo es täglich Millionen von Menschen gibt, die ähnlich oder noch furchtbarer leiden), mag ja sein, diese ‚fromme Übung‘ aber mit der brutalen Realität eines Vernichtungskriegs eines ganzen Volkes gleich zu setzen, erscheint mehr als grenzwertig.

Gewissheit der Kirche – Ungewissheit – Kontingenz

Die weitere Wortspielerei mit einer ‚Ungewissheit‘ angesichts der prinzipiellen ‚Kontingenz der Geschichte‘ und einer damit einhergehenden ‚Begrenztheit, weil wir Menschen‘ sind, und nicht Gott, klingt wie intellektueller Hohn angesichts von Menschen, die von anderen Menschen gegen ihren Willen mit brutalen Tötungen und unmenschlichen Gewalttaten überzogen werden, die weder ‚unsicher‘ noch ‚kontingent‘ sind sondern ‚brutal gewiss‘ und ‚brutal zwingend‘.

Dass wir Menschen unsere Welt — aus philosophischer Sicht! — als ‚unsicher‘ erleben können, als ‚kontingent‘, das verweist auf eine ‚Rahmenbedingung‘ unserer menschlichen Existenz, die nunmehr seit Anbeginn des Lebens auf dem Planeten Erde (seit ca. 3.5 Milliarden Jahren) gegeben ist. Diese Ungewissheit gehört zum Leben auf diesem Planeten, und Leben musste sich schon immer darin behaupten, und Herausforderungen, große Krisen, hohe Todesraten, bis hin zu 80 – 90% aller Lebensformen auf dem Planet Erde, gehören zu dieser ‚planetarischen Realität‘.

Wir selbst als Teil dieses planetarischen Lebens, gibt es nur, weil das Leben trotz anhaltender konkreter Bedrohungen sich immer wieder unter Aufbietung aller Fähigkeiten und aller Kraft dagegen gestemmt hat; dies schließt sehr oft mit ein, dass ganze Teile einer Population ihr eigenes Leben einsetzen mussten — und auch heute müssen — , um die Population als ganze für das weitere Leben zu retten![4]

Ja, Kontingenz, Ungewissheit gibt es, es ist eine Grundkonstante des Lebens auf diesem Planeten, diese Ungewissheit aber als ‚Ausrede‘ zu benutzen, um nichts zu tun, weil man ja etwas Falsches tun könnte, widerspricht der Erfahrung des Lebens auf dem Planeten von 3.5 Milliarden Jahren: nur weil das Leben zu allen Zeit massiv ‚ins Risiko gegangen‘ ist gerade weil man nicht wissen konnte, was kommt, gab es zu allen Zeiten eine hinreichend große ‚Risiko-Dividende‘, die ein Weiterleben — auch bei größten Änderungen der Umwelt — ermöglicht hat, zumindest bis heute. Wenn aber mit dem Vorwand eines ‚Pazifismus‘ genau jenes Ringen um Leben im Risiko gleichsam verhöhnt wird, dann stehen die Chancen für ein Weiterleben schlecht. Das grenzt dann an freiwillige ‚Selbstaufgabe‘ nur weil man möglicherweise ‚Angst‘ hat, das Wenige zu verlieren, was man gerade hat, was man aber auf jeden Fall verlieren wird, wenn man sich dem Unheil nicht entgegen stellt. Die egoistische Angst von einzelnen ist kein gutes Überlebensprinzip für das Überleben einer Population.

Die Unlogik der Unvollständigkeit

Es wundert nach all diesen bisherigen Überlegungen nicht, dass Frau Kurschus weitere ‚Tautologien‘ in ihrem Text benutzt.

So benutzt Sie auch eine Aussage, wie die, dass ‚keine Waffe allein den Frieden schaffen wird.‘ Noch etwas frappierender „Auch ein Sieg … schafft noch keinen Frieden.“ Bedenkt man, dass Sie an anderer Stelle die Kontingenz beschwört, die keine klaren Prognosen zulässt, so verwundert die in Worte gefasste Gewissheit, dass ‚Waffen‘ und ‚Siege‘ keinen Frieden bewirken können. Die Geschichte erzählt uns überwiegend das Gegenteil.

In diesen Beispielen deutet sich ein grundsätzliche Haltung von Frau Kurschus im Umgang mit Ungewissheit an: Wie in dem berühmten Beispiel von dem halb vollen Glas, das die einen als ‚eher voll‘, die anderen als ‚eher Leer‘ interpretieren, so nehmen die einen die durchgängige Ungewissheit und Unvollständigkeit als Argument, eher ’nichts‘ zu tun, man könnte ja Fehler machen, die anderen nehmen die durchgängige Ungewissheit und Unvollständigkeit als Argument, darum zu ringen, Ungewissheit und Unvollständigkeit so gut es geht zu ‚minimieren‘: angesichts einer sich ständig wandelnden Welt bedeutet ‚Stillstand‘ der Handelnden automatisch ‚Untergang‘. Ein schlechtes Wissen wird durch Abwarten nicht besser, sondern konstant schlechter. Stattfindendes Unheil muss man direkt bekämpfen, jedes Zögern verschlimmert es. Angst war noch nie ein guter Ratgeber.

In diesem Zusammenhang Worte von Jesus zu zitieren, die aus einem völlig anderen Kontext gerissen werden (der zudem in seinem Überlieferungsstatus — wie alle biblischen Texte — mehr oder weniger unklar ist), ist keine ernst zu nehmende Antwort. Es erscheint eher wie eine ‚Flucht aus der eigenen Verantwortung‘: Ja, man kann sich irren, man kann sogar Fehler machen, aber das Zitieren einer teils historischen, weitgehend literarischen Gestalt, deren Kontext in keiner Weise vergleichbar ist, ist auf jeden Fall Flucht aus der eigenen Verantwortung. Im übrigen ist seit Jahrtausenden klar, dass ‚Lernen‘ — der Erwerb von neuem Wissen für ein besseres Handeln — niemals gelingen kann, wenn nicht bewusst und systematisch Fehler in Kauf genommen werden. Ein aktuelles ‚Nicht-Wissen‘ kann man nur durch mutiges Handeln unter Risiko in ein ‚besseres Wissen‘ verwandeln; das Scheitern und Sterben sind im Erwerb von neuem Wissen inbegriffen. ‚Wahres Neues‘ gibt es niemals zum Nulltarif.

Na dann …

Da ‚Wahrheit‘ kein Gegenstand ist, der sich ‚einfach so aufdrängt‘, sondern nur ’sichtbar‘ werden kann, wenn wir in unsrem Fühlen und Denken jenen Sachverhalten Raum gewähren, die ‚wahre Gegebenheiten konstituieren‘, ist es zunächst einmal jedem freigestellt, zu denken und zu sagen, was er will.

Viele bezweifeln ja heute, dass es überhaupt so etwas wie ‚Freiheit‘ und ‚Wahrheit‘ gibt, aber eine Weise, wie sich die grundlegende Freiheit des Lebens manifestiert, besteht genau darin, dass niemand in seinem Denken ‚gezwungen‘ wird, etwas Bestimmtes zu Denken. Unter Menschen ist es zwar ein beliebter Sport, dass der eine dem anderen versucht, bestimmte Meinungen ‚einzureden‘ oder gar ‚vorzuschreiben‘, aber ‚die Wahrheit selbst‘ zwingt sich nicht auf. Wir müssen sie ‚aktiv suchen‘, wir müssen konkret darum ringen. Die Entstehung der modernen empirischen Wissenschaften ist ein sehr spätes Produkt der Evolution, genauso die Gesellschaftsform der Demokratie. Aber beide ‚Systeme von Verhaltensweisen‘ können jederzeit wieder in sich zusammenfallen, weil ihre ‚innere Dynamik‘ auf Freiheit basiert, und auf ein ‚aktives und tägliches Bemühen um Wahrheit‘. ‚Dummheit‘ treibt alleine vor sich hin, egal was einer tut, und ‚Diktaturen‘ versuchen mit Anwendung von vielerlei Gewaltmittel jenes Denken und Handeln zu erzwingen, was einige wenige meinen, als richtig erkannt zu haben. Dies kann aber niemals wahre Freiheit und darin verborgene Wahrheit ersetzen.

Die Kraft des Lebens zu ‚gelingen‘ ist zwar um Dimensionen größer als sich die einzelnen vorzustellen vermögen, aber ‚partielles Scheitern‘ — auch von ganzen Völkern — ist damit nicht ausgeschlossen. Freiheit ist eine nicht hintergehbare Realität, die bis ins letzte Zipfelchen unsere Energie-Materie Wirklichkeit verankert ist.

ANMERKUNGEN

(Letzte Änderung: 4.März 2023)

wkp-de : = Deutsche Wikipedia

wkp-en: Englische Wikipedia

[1] Siehe FAZ, 24.Februar 2023, S.8., Annette Kurschus, „Keine Pflicht zu radikalem Pazifismus“, Dieser Text ist im Prinzip weitgehend ‚austauschbar‘ mit vielen anderen, die in diesen Monaten in Verbindung mit dem Begriff ‚Pazifismus‘ veröffentlicht werden. Allerdings enthält er das besondere Merkmal eines zusätzlichen Bezugs zum (evangelischen) Christentum.

[2] Siehe ‚ecce homo‘ in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Ecce_homo; etwas ausführlicher ‚ecce homo‘ in der wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Ecce_homo. Anmerkung: Überlieferungsgeschichtlich werden sogar für die Zeit vor der
Verschriftlichung noch andere lokal übliche Sprachformen angenommen

[3] Siehe ‚Das Johannesevangelium‘ in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Evangelium_nach_Johannes

[4] Haben wir schon jetzt vergessen, was notwendig war, um das menschenverachtende Machtstreben und die Tötungsorgien eines Hitler und seiner Unterstützer aufzuhalten? Waren die vielen Millionen Menschen, die ihr Leben geopfert haben, um dem Wahnsinn eines Hitlers Einhalt zu bieten, irregeleitet‘, ‚Friedensstörer‘, letztlich die eigentlichen ‚Kriegstreiber‘ und damit in den Augen von Menschen, die sich Christen nennen, ‚Ungläubige‘? Immerhin gab und gibt es ja zu allen Zeiten — auch heute — genügend viele Menschen, die sich Christen nennen, brutale Kriege richtig finden, und darin sogar einen ‚heiligen Dienst‘ sehen.

Lesetip 1: Das Thema des ‚Paradigmenwechsels‘, das sich im Umgang mit Begriffen wie ‚Pazifismus‘ heute vielfach in der Gesellschaft findet, finde ich in dem Artikel von Daniel Strassberg „Wenn Weltbilder wackeln“ sehr gut in Szene gesetzt: https://www.republik.ch/2023/02/28/strassberg-wenn-weltbilder-wackeln

Lesetip 2: Ein sehr aufschlussreiches Interview in der Frankfurter Rundschau vom 4./5. März 2023, S.32f, mit Jörn Leonhard, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, der zwei Bücher zum Umfeld des ersten Weltkriegs veröffentlicht hat, in denen es genau auch um die Fragen geht ‚Wann ein geeigneter Zeitpunkt gewesen wäre‘, einen Frieden zu schließen und warum der spätere ‚Friedensvertrag‘ mehrfache Keime für die nachfolgenden Konflikte und dann den zweiten Weltkrieg in sich trug. Wenn Putin aufgrund seines sehr speziellen Geschichtsbildes imperialen Zielen folgt und er seine Position gegenüber ’seinem Volk‘ an einen Sieg über jene knüpft, die er als ‚Feinde‘ einstuft‘, dann kann es keinen wirklichen Frieden geben, bevor er, Putin, sein Ziel auf seine Weise nicht eingelöst hat. Die Zahl der Toten spielt für ihn — genauso wenig wie für die Deutsche Generalität im ersten Weltkrieg — keine Rolle, solange noch die geringste Hoffnung besteht, das eigene Ziel zu erreichen.

DER AUTOR

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Glauben statt Wissen – Neuer Ausbruch einer alten kognitiven Pandemie?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 7.Dezember 2022 – 22.Dezember 2022
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

Hier nur der allgemeine Blog-Kontext.[0]

Inhalt

Es beginnt mit Beispielen aus dem Alltag …

Was um uns herum passiert …

Im auslaufenden Jahr 2022 kann man in Deutschland — aber auch weltweit — sehr leicht viele unterschiedliche ‚Meinungen‘ zu unserer Welt, zu unserer Gesellschaft, zu unserem Alltag, ja auch ‚zu sich selbst‘ wahrnehmen. Meinungen, die sich unterscheiden, die ‚gegenteilig‘ und damit ‚widersprüchlich‘ erscheinen. Und solche gegenteiligen Meinungen haben — gesehen aus der eigenen Perspektive — vorzugsweise ‚die anderen‘ (Rechte, Linke, Konservative, Liberale, Moderne, Altvordere, Schmarotzer, Demokraten, Autoritäre, …). Man selbst wundert sich aber eventuell (viele wundern sich nicht) darüber, dass die anderen die eigene Meinung nicht akzeptieren wollen. „Wie das, habe ich nicht Recht? Ich weiß es doch ganz genau …“

Wissen ist nicht Wissen

Für die allermeisten Menschen ist das, was sie zu wissen meinen, und auch alles andere, was sie selbst auszeichnet, ‚real‘. Das was sie denken, schreiben und lesen ist erst einmal ‚real‘. Daran zu zweifeln käme für die meisten einer Selbstzerstörung gleich. Ich ’sehe‘ es doch; ich ‚weiß‘ es doch; ich habe es doch ‚gelesen‘; der XYZ hat es doch ‚gesagt’…

Die ernüchternde (eigentlich befreiende, für die meisten aber bedrohliche) Wahrheit ist, dass alles, was wir so meinen, fühlen, denken, erinnern usw. sich erst einmal ausschließlich in unserem eigenen Kopf befindet, genauer: in unserem Gehirn. Da es ‚unser‘ Gehirn ist, ist alles, was sich im Gehirn abspielt (nur weniges ist ‚bewusst‘) für uns ‚real‘. Für uns als ‚Besitzer‘ unseres Gehirns ist grundsätzlich alles, was dieses Gehirn unermüdlich rund um die Uhr für uns produziert ‚das Reale‘, die ‚reale Welt‘. Und was immer wir fühlen und denken: es ist erst einmal für uns als ‚Besitzer‘ und ‚Produzenten‘ maximal ‚real‘. So sind wir geboren. So funktionieren wir. [1]

In den empirischen Wissenschaften (experimentelle Psychologie, experimentelle Neurowissenschaften, …) kann man diese Sachverhalte heute sehr direkt untersuchen und kann dann die Arbeitshypothese aufstellen, dass die Prozesse in unserem Gehirn, sofern sie Eigenschaften der Welt außerhalb des Gehirns in unserem eigenen Körper wie auch außerhalb unseres eigenen Körpers ‚repräsentieren‘, in dieser Beziehung als ‚virtuell‘ zu bezeichnen sind gegenüber den ‚realen‘ Prozessen außerhalb des Gehirns. Für uns selbst bleiben diese virtuellen Prozesse aber ‚real‘, es sind eben ‚unsere‘ Prozesse.

Ein wunderbares Medium, anhand dessen man sehr viele (die meisten) Phänomene dieser ‚Welt – Gehirn‘ Diskrepanz illustrieren kann, ist die Alltagssprache, unsere ’normale Sprache‘.

Wenn wir mit anderen am Frühstückstisch sitzen und jemand sagt „Kannst Du mir den Kaffee rüber reichen“, dann weiß der andere normalerweise (aufgrund seines Situationswissens, seiner aktuellen Wahrnehmung, und seines erlernten Sprachwissens) welcher Gegenstand auf dem Frühstückstisch gemeint ist. Irritiert wäre man dann aber, wenn der andere statt der Kaffeekanne zu einem leeren Glas greifen würde (was bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sehr wohl geschehen könnte).

Würde einer der Frühstücksteilnehmer nebenbei in eine Zeitung schauen, könnte es passieren,dass er plötzlich laut sagt: „Toll das Politiker XY das sagt“, worauf es genauso passieren könnte, dass ein anderer Frühstücksteilnehmer spontan erwidert: „Das ist doch nur Betrug. Weißt Du denn nicht …“ Und schon entwickelt sich möglicherweise ein Streitgespräch, das emotional ausarten kann.

Jeder der Sprecher würde für sich reklamieren, dass er es doch ‚richtig‘ weiß, dass es doch ‚wahr‘ sei, dass der und die das doch ‚geschrieben‘ hat, dass der und die das doch ‚gesagt‘ haben …

Wie jeder heute im Jahr 2022 überall und jederzeit erleben kann, finden solche wundersamen Dialoge statt: jeder behauptet Recht zu haben und kann sich nicht vorstellen, dass er nicht Recht hat.

Die moderne Philosophie hätte dazu einfache klare Antworten (im Geiste Kants, der sich modernisiert hat). Aber wer kennt schon Philosophie? Wer hat die Zeit und Kraft, sich damit zu beschäftigen? Und, vor allem, wer hätte auch nur das Minimum einer Motivation, seine eigene Meinung, die doch so ‚wahr‘ und ‚wunderbar‘ ist, in Frage zu stellen? Da würde ja ein ‚Abgrund‘ drohen, womöglich ein ‚Fall‘ ins ‚Nichts’… [1],[2]

Ich komme so nicht weiter …nur in mir …

Ein sehr lieber Mensch schrieb mir die Tage: „Wenn es darum geht, zu handeln, muss man irgendwann sagen, ‚Jetzt brauche ich diese Sicherheit‘. Und wo finde ich die? Nur in mir. …..Text, jeder sagt etwas anderes….Ich als Laie komme so nicht weiter. Ich muss dann in mich gehen und einen intuitiven Zugang dazu entwickeln.“

Dieses Zeugnis von einer Person kann man von vielen anderen auch hören und lesen. Sofern man noch nicht völlig verzweifelt ist, nicht völlig ‚abgeschaltet‘ hat, noch irgendwie einen ‚Funken Leben‘ in sich verspürt, wird jeder sich ‚aufbäumen‘ gegen die Verwirrung und Unsicherheit um sich herum und wird laut sagen: ich will mich nicht einfach ergeben. Ich will leben. Ich will ‚das Richtige‘ tun. Und wem soll ich glauben wenn nicht zuerst mir selbst. Ich selbst kann doch nicht falsch sein.

Dem wird man erst einmal zustimmen müssen: die eigene Existenz ist der Dreh- und Angelpunkt für alles, was wir fühlen, denken und tun. Und das eigene Erleben wirkt so unmittelbar, so echt, so wahr, dass viele kaum einen Ansatzpunkt sehen, dass sie dies alles — und damit vermeintlich sich selbst — ‚in Frage stellen sollten‘.

Solange Menschen sehr direkt von den realen Gegebenheiten ‚um sie herum‘ abhängen (nichts zu essen, nichts zu trinken, direkte körperliche Bedrohung, Hitze und Kälte, …), gibt es ein ‚reales Grundrauschen‘, das sich mit dem ‚inneren Grundrauschen‘ zu einem ‚Sound‘ vermischt, der eine einfache ‚Dominanz‘ des inneren Rauschens verhindert. Dies bedeutet nicht automatisch, dass man deswegen ‚versteht‘, wie ‚Wirklichkeit funktioniert‘, warum man ’so und so fühlt‘, ’so und so denkt‘ usw., aber die Gefahr, sich nicht in seinen eigenen Gefühlen und Gedanken wie in einen ‚Kokon‘ einfach einzuweben ohne Rücksicht auf die Realitäten um einen herum, ist ein klein wenig geringer; der ‚realitätsgeschwängerte Sound‘ in mir kann meine ‚Introvertiertheit‘ ein wenig abmildern.

Das eigene ‚Fühlen‘: ja, es ist sehr real, man kann sich davon leiten lassen. Aber wenn man nicht versteht, dass ‚Gefühle‘ (welcher Art auch immer)‘ ‚Signale des Körpers‘ an — ja: an wen? — sind, die man ‚deuten‘ kann, aufgrund deren man ‚Erkenntnisse‘ über den Körper, die Umwelt, sein eigenes Verhalten gewinnen könnte, dann sind die ‚Gefühle‘ nur eine Form von ‚Rauschen‘, das einen irgendwie ‚betäuben‘ kann, ohne dass man daraus ein ‚besseres Verhalten‘ ableiten kann. Meistens bietet eine bestimmte Gesellschaft mit ihren kulturellen Mustern ‚Interpretationshilfen‘, was man tut, wenn man ‚Durst‘ verspürt, ‚Hunger‘, ‚Müdigkeit‘, ‚Zahnschmerzen‘, ’sexuelle Erregungen‘, … aber selbst bei diesen ‚vergleichsweise einfachen‘ Gefühlen lassen gesellschaftliche Muster ein sehr breites Verhaltensspektrum zu. Die Antwort auf das Gefühl ‚Hunger‘ verweist z.B. auf das Muster ‚Ernährung‘, zu dem es heute eine Unmenge an ‚Rezepten‘ gibt, was man wann wie essen sollte, um sich ‚gesund‘ zu ernähren (für viele Millionen Menschen auf diesem Planeten irrelevant, weil sie sowieso kaum etwas zum Essen haben…). Bei anderen Gefühlen wie ‚Zuneigung‘, ‚Verliebtsein‘, ‚Angst‘ … wird es schon schwieriger. Was sind dies überhaupt für ‚Signale‘ aus ‚meinem Inneren‘?

Verschiedene Wissenschaften haben mittlerweile ‚Indizien‘ dafür geliefert, dass bestimmte Gefühle (z.B. Angstgefühle) nicht nur aufgrund einer aktuellen Gegebenheit entstehen, sondern auf intensive Erfahrung in der eigenen Geschichte zurück verweisen, die anlässlich von Situationen, die eigentlich nicht bedrohlich sind, wieder ‚aufgeweckt‘ werden und uns überfluten. Wer sich spontan seinen ‚aktuellen Gefühlen‘ hingibt, der kann zu dem falschen Schluss kommen, dass es dieser merkwürdige Gesichtsausdruck in einem Gegenüber ist, der mir zufällig begegnet. Tatsächlich ist es aber eine Form von ‚erinnerter Vergangenheit‘, die in mir ‚aufpoppt‘ und mich mit einem Gefühl flutet, für das die aktuelle Situation nur als ‚Katalysator‘ wirkt. Die meisten Menschen bräuchten ‚professionelle Hilfe‘ (eine Art ‚Gefühls-Trainer‘), um zu ‚lernen‘, dass bestimmte Gefühle eben gerade nicht das sind, für das wir sie halten.

Dieses Beispiel gilt nicht nur für die ‚Angst‘, es gilt eigentlich für alle (!) Gefühle. Jedes Gefühl folgt einer klaren ‚Logik‘; diese Logik liegt aber nicht ‚einfach so auf dem ‚Tisch‘. Man muss sich damit beschäftigen, immer wieder, über längere Zeiträume, um Zusammenhänge zwischen ‚aktuellem Gefühl‘ und konkreten Erlebnissen und eigenem Tun schrittweise zu erkennen. Eine Gesellschaft könnte mit geeigneten kulturellen Mustern dem einzelnen helfen, geeignete ‚Lernprozesse‘ durchleben zu können. Populär — und zugleich bei vielen kritisch beäugt — sind moderne psychologisch basierte ‚Therapien‘, letztlich ‚Trainingsprozesse‘. Ebenfalls populär — bei einigen — sind vielfältige Formen von Meditation und ‚geistlicher Beratung‘. Alle diese Methoden sind ‚anfällig für Fehler‘, da der Gegenstand dieser ‚Trainingsformen‘ das Komplexeste ist, was es auf diesem Planeten gibt: die Gefühlswelt eines ‚Hochleistungslebewesens‘, das in komplexe Körper- und Weltprozesse eingebettet ist, die zusätzlich durch das eigene Verhalten verändert werden. Niemand kann hier wirklich der ‚absolute Guru‘ sein, der ‚alles‘ versteht (er kann aber so tun und die ‚Gläubigen‘ des Gurus können sich in ihr Vertrauen an ihn wie in einen ’selig spendenden Kokon‘ einwickeln lassen). Aber vor dem ‚alles‘ stehen sehr viele ‚Fragmente‘, die — jedes für sich — ein ‚Mosaikstein‘ sein kann für ein immer größer werdendes Gesamtbild, das dann der Kultur einer Gesellschaft — und damit allen — nützen kann. Besser sollten wir vielleicht sagen ‚könnte‘, denn bislang scheinen wir in unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis von solch einem Bild noch weit entfernt zu sein; noch gibt es zu viele, die glauben, sie alleine könnten das Heil für alle bringen.

Ozean der Erregungen

Der Geist in der Flasche

Das Gehirn in einer Galaxie von Ereignissen

Chimäre Digitalisierung: Engel oder Teufel?

Wo bitte geht’s zur Welt?

Die großen Erzählungen der Religionen: viel Gift und wenig Heil?

Stadt der Erleuchtung …

Die Geschichte zur Geschichte vom Großvater, seinen Enkeln, und der Stadt der Erleuchtung.

Die Welt als Erleuchtung?

Noch nicht fertig

… man muss Geduld haben, nicht nur als Leser, auch als Autor: Wenn der Kopf ‚voll‘ ist, die Zeit aber ‚knapp‘ … wer entscheidet dann eigentlich ‚was‘ ‚wie‘ getan werden soll? … Pläne sind oft nur eine faule Ausrede um nicht das zu tun, was man ‚eigentlich‘ tun sollte … das ‚Geheimnis des Lebens‘ lässt sich nicht immer und überall durch Pläne lösen … es ‚pocht in uns‘ …

Kommentare

[0] Es gibt zwei andere Blogs, die eng mit diesem Blog verbunden sind, ohne dass man den Zusammenhang ‚auf den ersten Blick‘ erkennen wird: ‚Citizen Science 2.0/ Bürgerwissenschaft 2.0‘ und ‚Integrating Engineering and the Human Factor‘. Jeder der drei Blogs beschreibt — aus einer unterschiedlichen Perspektive — ein und dieselbe Sache: uns Menschen, wir auf unserem Planeten, und unsere täglichen Versuche, damit klar zu kommen. …. und natürlich gibt es unendlich mehr, was nicht in diesen drei Blogs steht … das tröstet: unser Denken ist nicht alles, auch wenn wir das gerne glauben.

[1] Der große Philosoph Immanuel Kant würde sein berühmtes Werk ‚Kritik der reinen Vernunft‘ (Erste Auflage 1781) heute im Kontext der modernen Philosophie (mit den empirischen Wissenschaften als Teildisziplinen) vermutlich komplett umschreiben. Das Transzendentale wäre (was Konrad Lorenz in einem Beitrag über Kant 1941 schon getan hat [2]) dann verankert in der Struktur unseres Körpers mit dem Gehirn, und die Arbeitsweise des Körpers mit seinem Gehirn legt fest, ob und wie wir denken, wahrnehmen, erinnern usw.

[2] K. Lorenz: Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie. In: Blätter für Deutsche Philosophie. Band 15, 1941, S. 94–125

DER AUTOR

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POPPER: FRÜH – MITTEL – SPÄT. Empirische Theorie

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 13.März 2022 – 13.März, 11:11h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Kontext

Bei diesem Beitrag handelt es sich um die Fortsetzung des Diskurses zu den zuvor besprochenen Artikeln von Popper:  „A World of Propensities“ (1988, 1990),  „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“ (1989,1990)[1] sowie „All Life is Problem Solving“ (1991, 1994/1999). [2] Der Beitrag „(SPÄTER) POPPER – WISSENSCHAFT – PHILOSOPHIE – OKSIMO-DISKURSRAUM“ spielt hier keine Rolle. Es wird aber direkt Bezug genommen auf einen Text von Popper von 1971 „Conjectural Knowledge: My Solution of the Problem of Induction.“[3],[4] Dieser wurde in meinem Englischen Blog diskutiert „POPPER – Objective Knowledge (1971). Summary, Comments, how to develope further„.

Vorbemerkung

Die Begegnung des Autors mit Popper spielt sich in unterschiedlichen Etappen ab. Die erste Begegnung fand statt im März 2021 mit einer Diskussion der ersten 17 Kapitel von Popper’s Frühwerk „Logik der Forschung“ (1935), allerdings in der Englischen Fassung von 1959.[5] Diese erste Begegnung war eingebettet in eine größere Diskussion (mehrere längere Posts) zum Theoriebegriff und dem Zusammenhang mit dem oksimo Projekt.

In dieser ersten Begegnung wurde die Position Poppers vornehmlich wahrgenommen aus einer bestimmten, schon bestehenden wissenschaftsphilosophischen Perspektive, zusätzlich eingefärbt durch den Blick auf die Anwendbarkeit dieses Theoriebegriffs auf das oksimo Projekt. Wenngleich für den Autor in vielfacher Hinsicht sehr erhellend, kommt die Position Popper’s nicht so richtig zum Vorschein.

Erste die Lektüre von drei Beiträgen Popper’s aus der Zeit 1988 – 1991 führte zu einer neuen mehr Popper-zentrierten Wahrnehmung. In diesem Spannungsfeld von ‚frühem‘ Popper 1935/1959 und ’spätem‘ Popper 1988 – 1991 führte die Begegnung mit dem Text des ‚mittleren‘ Popper von 1971 zu einer sehr direkten Begegnung, die die Gedanken zu Popper weiter belebten.

Popper: Früh – Mittel – Spät

Die hier provisorisch vorgenommene Einordnung Poppers in einen ‚frühe‘, bzw. ‚mittleren‘ bzw. ’späten‘ Popper ist natürlich — gemessen an dem gesamten Werk Poppers ein bisschen gewagt. Dies entspricht aber letztlich dem Stil einer Theoriebildung im Sinne von Popper, in der — ausgehend von einzelnen Beobachtungen –, schrittweise Hypothesen gebildet werden, die dann versuchsweise angewendet werden. Im Scheitern bzw. in partiellen Bestätigungen entwickelt sich dann solch eine Theorie weiter. Eine ‚absolute Endform‘ wird sie nie haben, aber sie kann immer differenzierter werden, begleitet von immer stärkeren ‚Evidenzen‘, die allerdings ‚Wahrheit‘ niemals ersetzen können.

So also hier eine meine ‚Mini-Theorie‘ über Popper anhand von nur vier Artikeln und 17 Kapiteln aus einem Buch.

Bei meiner bisherigen Lektüre entsteht der Eindruck, dass die Strukturen des ‚frühen‘ (1935 – 1959) Popper denen des mittleren‘ (1971) Popper sehr ähnlich sind. Die Texte des ’späten‘ (1988 – 1991) Popper hingegen bringen einen starken neuen Akzent in die Überlegungen ein.

Wahrheit ohne Wahrheit

Ein Grundthema des frühen und mittleren Popper ist einerseits die starke Betonung, dass ‚Wahrheit‘ — zumindest als ‚regulative Idee‘ — unverzichtbar ist, soll empirische Wissenschaft stattfinden, andererseits aber sein unermüdliches Bemühen, darauf hinzuweisen, dass die Aussagen einer Theorie, selbst wenn sie sich eine lange Zeit ‚bewährt‘ haben, dennoch keine ‚absolute Wahrheit‘ widerspiegeln; sie können jederzeit widerlegt werden.[6] Diese Position führt ‚aus sich heraus‘ natürlich zu der Frage, was denn ‚Wahrheit als regulative Idee‘ ist bzw. zu der komplementären Frage, welchen ‚Status‘ dann jene Aussagen haben, auf die Theorieentwürfe aufbauen. Was ist eine ‚Beobachtungsausage‘ (Spezialfall ein ‚Messwert‘), die zum Ausgangspunkt von Theorien werden?

Poppers Prozessmodell von Wahrheit

Man kann Poppers Konzept einer objektiven (= ‚wahren‘) empirischen Theorie von ihren ‚Bestandteilen‘ her als ein ‚Prozessmodell‘ rekonstruieren, in dem sich — auf eine nicht wirklich geklärte Weise — beobachtungsgestützte Aussagen mit einem formalen Konzept von Logik ‚vereinen‘. Details dazu finden sich in einem Englischen Blogbeitrag des Autors.

Popper löst das Problem der notwendigen Wahrheit, die eigentlich nicht da ist, aber irgendwie dann doch, indem er in seinem 1971-Text [4] die einzelnen Aspekte dieses Wahrheitsbegriffs schildert und sie dann auf den letzten Seiten (29-31) wie in einem ‚Puzzle‘ zusammenfügt, allerdings so, dass viele Details offen bleiben.

Primären Halt in der empirischen Realität bieten Beobachtungssätze, die im Fall der Überprüfung einer Theorie, die Rolle von ‚Testsätzen‘ übernehmen. Die Theorie selbst besteht aus einer Ansammlung von ‚Hypothesen‘ (‚conjectures‘), in denen einzelne Beobachtungsaussagen zueinander in Beziehung gesetzt werden, die als solche natürlich nicht beobachtet (‚gemessen‘) werden können.[7]

Bei dem Übergang vom ‚Beobachtungswert‘ (‚Messwert‘) zur ‚Hypothese‘ finden aber unweigerlich ‚Verallgemeinerungen‘ statt [8], die dann sprachlich repräsentiert werden. Nur die ‚teilnehmenden‘ Beobachter wissen ‚implizit‘, auf welches konkrete Ereignis sie sich mit ihren sprachlichen Ausdrücken beziehen. Der Versuch der Wissenschaft, dieses Problem des ‚impliziten‘ (= subjektiven)‘ Wissens durch vereinbarte Messprozeduren aufzulösen, hilft nur partiell. Das Zustandekommen des Beobachtungsereignisses wird damit zwar ‚objektiviert‘, aber die ‚Übersetzung‘ dieses objektivierten Ereignisses, das als Wahrnehmungsphänomen bei den teilnehmden Beobachtern ‚ankommt‘, wird im Beobachter ‚unbewusst‘ zu einem Konzept verarbeitet, dass dann in einen sprachlichen Ausdruck transformiert wird, der dann als Beobachtungsaussage ‚funktioniert‘. Alle, die an diesem ‚Spiel‘ [9] teilnehmen, wissen, wie sie sich verhalten sollen. Ein ‚Außenstehender‘ versteht es nicht automatisch.

Anders betrachtet, selbst objektivierenden Beobachtungsprozesse klammern die subjektvie Komponenten nicht völlig aus.

Hat man verallgemeinernde Beobachtungsaussagen („Der Main-Kinzig Kreis hat 2018 418.950 Einwohner.“, „Dieser Stein wiegt 4.5 kg.“, „Das Wasser hat eine Temperatur von 13 Grad Celsius.“) , dann kann man auf dieser Basis versuchen, Hypothesen zu bilden (z.B. bzgl. des Aspektes möglicher Veränderungen wie Einwohnerzahl, Länge, Temperatur). Im Fall der Einwohnerzahl bräuchte man dann z.B. Beobachtungen zu mindestens zwei verschiedenen Zeitpunkten‘ (2018, 2019)[14], um aus der ‚Differenz‘ Hinweise ‚abzuleiten‘, welches Ausmaß ein ‚Wachstumsfaktor‘ haben könnte. Im Fall des Main-Kinzig Kreises wird für diesen Zeitraum z.B. ein Wachstumsfaktor von 0.4% ermittelt.

Wie ist solch ein ‚abgeleiteter Wachstumsfaktor‘ einzuordnen? Er beschreibt eine ‚abgeleitete‘ Größe, mit der man eine Formel bilden könnte wie ‚Die Einwohnerzahl im Jahr t+1 = Einwohnerzahl im Jahr t + (Einwohnerzahl im Jahr t * Wachstumsfaktor). Dies ist eine Rechenanweisung, die mit beobachteten Größen (Einwohnerzahl) und daraus abgeleiteten mathematischen Eigenschaften (Wachstumsfaktor) eine ‚Voraussage‘ berechnen lässt, wie die Einwohnerzahl in nachfolgenden Jahren aussehen [14] würde, wenn der Wachstumsfaktor sich nicht verändern würde.

Klar ist, dass solch ein sprachlicher Ausdruck seine Bedeutung aus dem ‚Bedeutungswissen‘ der Teilnehmer bezieht. Der Ausdruck selbst ist nichts anderes als eine Menge von Zeichen, linear angeordnet. Also auch hier eine fundamentale ’subjektive Dimension‘ als Voraussetzung für ein ‚objektives Agieren‘.

Diese Aspekte sprachlicher Bedeutung und deren Verankerung in der inneren Struktur der Beobachter und Theoriebauer [10] diskutiert Popper nicht explizit. Wohl postuliert er eine ‚Logik‘, die die ‚Herleitung‘ von Prognosen aus den theoretischen Annahmen beschreiben soll.

Die moderne formale Logik hat viele wunderbare Eigenschaften, aber eines hat sie nicht: irgendeinen Bezug zu irgendeiner Bedeutung‘. In einem formalen Logikkalkül [11] gibt es eine Menge von formalen Ausdrücken, die als ‚Annahmen‘ funktionieren sollen, und das einzige, was man von diesen wissen muss, ist, ob sie als ‚wahr‘ eingestuft werden (was bei Annahmen der Fall ist). Was mit ‚wahr inhaltlich gemeint ist, ist aber völlig unbestimmt, zumal formale Ausdrücke als solche keine Bedeutung haben. Wenn es eine Bedeutung geben soll, dann muss man die formalen Ausdrücke an die ’subjektive Bedeutungsdimension der Teilnehmer‘ knüpfen, die nach Bedarf spezielle Messverfahren zu Hilfe nehmen.

Angenommen, man hat die ‚formalisierten Ausdrücke‘ mit den verallgemeinerten Aussagen der Hypothesen verknüpft [12] und man nutzt die Logik, um ‚Ableitungen‘ zu machen, die zu ‚Prognosen‘ führen[13], dann stellt sich das Problem, wie man das Verhältnis einer ‚abgeleiteten‘ Aussage zu einer ‚Beobachtungsaussage‘ bestimmten soll. Popper benutzt hier zwar Klassifikationen wie ‚bestätigend‘, ’nicht bestätigend‘, ‚falsifiziert‘, aber eine Diskussion im Detail zu „A bestätigt B“/ „A bestätigt B nicht“/ „A falsifiziert B“ scheitert an vielen ungeklärten Details und Randbedingungen, die im vorausgehenden Text nur angedeutet werden konnten.

Der Diskurs geht weiter.

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[1] Karl Popper, „A World of Propensities“,(1988) sowie „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“, (1989) in: Karl Popper, „A World of Propensities“, Thoemmes Press, Bristol, (1990, repr. 1995)

[2] Karl Popper, „All Life is Problem Solving“, Artikel, ursprünglich ein Vortrag 1991 auf Deutsch, erstmalig publiziert in dem Buch (auf Deutsch) „Alles Leben ist Problemlösen“ (1994), dann in dem Buch (auf Englisch) „All Life is Problem Solving“, 1999, Routledge, Taylor & Francis Group, London – New York

[3] Karl R.Popper, Conjectural Knowledge: My Solution of the Problem of Induction, in: [2], pp.1-31

[4] Karl R.Popper, Objective Knowledge. An Evolutionary Approach, Oxford University Press, London, 1972 (reprint with corrections 1973)

[5] Karl Popper, The Logic of Scientific Discovery, First published 1935 in German as Logik der Forschung, then 1959 in English by  Basic Books, New York (more editions have been published  later; I am using the eBook version of Routledge (2002))

[6] Popper verweist hier gerne und häufig auf die Geschichte der Physik mit den unterschiedlichen Konzepten, wie man die Erde als Teil des Sonnensystems und dann später das ganzen Universums beschrieben hat bzw. heute beschreibt. Hauptbeispiel: Newtons System, das dann mit immer neuen Beobachtungen und dann schließlich mit Einsteins Relativitätstheorie als ‚zu eng‘ klassifiziert wurde.

[7] ‚Beziehungen‘ existieren ausschließlich in unserem ‚Denken‘ (das alte Hume Problem, das Kant schon zu lösen versuchte, und das Popper in seinen Texten wieder und wieder aufgreift). Wenn wir diese ‚gedachten Beziehungen‘ in die beobachtbaren Einzelereignisse (Zeit, Ort, Beobachter) ‚hinein-sehen‘, dann ist dies der Versuch, zu ‚prüfen‘, ob diese Beziehung sich ‚bestätigen‘ oder ‚widerlegen‘ lässt. Anmerkung: die moderne expermentelle Psychologie (auch als Neuropsychologie) hat diese Sachverhalte extensiv untersucht und mit neuen Evidenzen versehen.

[8] Wie die Alltagssprache zeigt — und die moderne Wissenschaft bestätigt –, werden konkrete empirische Phänomene immer abstrakten Konzepten zugeordnet, die dann mit Allgemeinbegriffen verknüpft werden. Ob ein konkretes Wahrnehmungsereignis zu einem abstrakten Konzept X (z.B. ‚Tasse‘) oder Y (z.B. ‚Glas‘) gehört, das entscheidet das Gehirn unbewusst (Menschen können nur entscheiden, welche sprachlichen Ausdrücke sie verwenden wollen, um die kognitven Konzepte zu ‚benennen‘).

[9] … erinnert an das Sprachspielkonzept des späten Wittgenstein …

[10] Manche glauben heute, dass die Rolle des ‚Beoachters‘ und/oder des ‚Theoriebauers‘ von ‚intelligenten Programmen‘ übernommen werden können. In ‚Kooperation mit Menschen‘ im Rahmen eines modernen Konzepts von ‚kollektiver Intelligenz‘ kann es funktionieren, aber nur in Kooperation.

[11] Es gibt nicht nur ‚einen‘ Logikkalkül, sondern — rein formal — nahezu unendliche viele. Welcher für welche Aufgabenstellung ‚geeignet‘ ist, muss im Rahmen einer konkreten Aufgabe ermittelt werden.

[12] In der Wisenschaftsphilosophie ist dies bis heute noch nicht so gelöst, dass es dazu ein allgemein akzeptiertes Verfahren gibt.

[13] Da es viele verschiedene Ableitungsbegriffe gibt, von denen bis heute kein einziger meta-theoretisch für bestimmte empirische Bereich als ‚zuverlässig im Sinne eines Kriteriums K‘ erwiesen wurde, ist die lose Bezugnahme auf einen solchen Ableitungsbegriff eigentlich zu wenig.

[14] An dieser Stelle wird deutlich, dass das Beobachten wie auch dann die Auswertung von einer ‚Menge‘ von Beobachtungswerten in unserer Körperwelt ein ‚Zeitmodell‘ voraussetzt, in dem Ereignisse ein ‚vorher‘ und ’nachher‘ haben, so dass das Konzept einer ‚Prognose’/ ‚Voraussage‘ überhaupt Sinn macht.

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

WISSENSCHAFT IM ALLTAG. Popper 1988/1990

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 16.-17.Februar 2022, 18:00h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Vorbemerkung

In einer Welt voller Bücher — gefühlt: unendlich viele Bücher — ist kaum voraussagbar, welches Buch man im Februar 2022 lesen wird. Dass es dann das Büchlein ‚A World of Propensities‘ (1990 (reprint 1995))[2a] von Karl Popper [1] sein würde, hing von einem ganzen Bündel von Faktoren ab, von denen jeder für sich ‚eine Rolle‘ spielte, aber dass es dann zu diesem konkreten Buch zu diesem konkreten Zeitpunkt gekommen ist, war aus Sicht der einzelnen Faktoren nicht direkt ableitbar. Auch das ‚Zusammenspiel‘ der verschiedenen Faktoren war letztlich nicht voraussagbar. Aber es ist passiert.

Im Rahmen meiner Theoriebildung für das oksimo-Paradigma (einschließlich der oksimo-Software)[4] Hatte ich schon viele Posts zur möglichen/ notwendigen Theorie für das oksimo-Paradigma in verschiedenen Blocks geschrieben [3a], sogar einige zum frühen Popper [3b], aber mir scheint, so richtig bin ich mit der Position von Popper in seiner ‚Logik der Forschung‘ von 1934 bzw. dann mit der späteren Englischen Ausgabe ‚The Logic of Scientific Discovery‘ (1959)[2b] noch nicht klar gekommen.

Im Frühjahr 2022 war es eine seltene Mischung aus vielerlei Faktoren, die mich über den Umweg der Lektüre von Ulanowizc [5], und zwar seines Buches „Ecology: The Ascendant Perspective“ (1997), auf den späten Popper aufmerksam machten. Ulanowizc erwähnt Popper mehrfach an prominenter Stelle, und zwar speziell Poppers Büchlein über Propensities. Da dieses schmale Buch mittlerweile vergriffen ist, kam ich dann nur durch die freundliche Unterstützung [6b] der Karl Popper Sammlung der Universität Klagenfurt [6a] zu einer Einsicht in den Text.

Der nachfolgende Text beschäftigt sich mit dem ersten der beiden Aufsätze die sich in dem Büchlein finden: „A World of Propensities: Two New Views of Causality“.[7][*]

Wahrscheinlichkeit, Wahrheit, Hypothese, Bekräftigung, … Vorgeplänkel

In seiner Einleitung im Text erinnert Popper an frühere Begegnungen mit Mitgliedern des Wiener Kreises [1b] und die Gespräche zu Theme wie ‚absolute Theorie der Wahrheit‘, ‚Wahrheit und Sicherheit‘, ‚Wahrscheinlichkeitsbasierte Induktion‘, ‚Theorie der Wahrscheinlichkeit‘ sowie ‚Grad der Bekräftigung einer Wahrscheinlichkeit‘.

Während er sich mit Rudolf Carnap 1935 noch einig wähnte in der Unterscheidung von einer Wahrscheinlichkeit im Sinne einer Wahrscheinlichkeitstheorie und einem ‚Grad der Bestätigung‘ (‚degree of confirmation‘) , war er sehr überrascht — und auch enttäuscht — 1950 in einem Buch von Carnap [8], [8b] zu lesen, dass für Carnap dies alles das Gleiche sei: mathematische Wahrscheinlichkeit und empirische Bestätigung eines Ereignisses. Hatte Carnap mit dieser Veränderung seiner Auffassung auch die Position einer ‚Absolutheit der Wahrheit‘ verlassen, die für Popper 1935 immer noch wichtig war? Und selbst in der Rede von 1988 hält Popper das Postulat von der Absolutheit der Wahrheit hoch, sich dabei auf Aristoteles [9], Alfred Tarski [10] und Kurt Gödel [11] beziehend (S.5f).

In einer Welt mit einem endlichen Gehirn, in einem endlichen Körper (bestehend aus ca. 36 Billionen Zellen (10^12)[12], in einer Welt von nicht-abzählbar vielen realen Ereignissen, war mir nie klar, woran (der frühe) Popper (und auch andere) die Position einer ‚absoluten Wahrheit‘ fest machen konnten/ können. Dass wir mit unserem endlichen – und doch komplexen, nicht-linearem — Gehirn von ‚Konkretheiten‘ ‚abstrahieren‘ können, Begriffe mit ‚offenen Bedeutungen‘ bilden und diese im Kontext der Rede/ eines Textes zu Aussagen über Aspekte der Welt benutzen können, das zeigt jeder Augenblick in unserem Alltag (ein für sich außergewöhnliches Ereignis), aber ‚absolute Wahrheit‘ … was kann das sein? Wie soll man ‚absolute Wahrheit‘ definieren?

Popper sagt, dass wir — und wenn wir uns noch so anstrengen — in unserem „Ergebnis nicht sicher“ sein können, das Ergebnis kann sogar „nicht einmal wahr“ sein.(vgl. S.6) Und wenn man sich dann fragt, was dann noch bleibt außer Unsicherheit und fehlender Wahrheit, dann erwähnt er den Sachverhalt, dass man von seinen „Fehlern“ auf eine Weise „lernen“ kann, dass ein „mutmaßliches (‚conjectural‘) Wissen“ entsteht, das man „testen“ kann.(vgl. S.6) Aber selbst dann, wenn man das Wissen testen kann, sind diese Ergebnisse nach Popper „nicht sicher“; obwohl sie „vielleicht wahr“ sind, diese Wahrheit aber ist damit dennoch „nicht endgültig bestätigt (‚established‘)“. Und er sagt sogar: „Selbst wenn sie [ergänzt: die Ergebnisse] sich als nicht wahr erweisen, … eröffnen sie den Weg zu noch besseren [ergänzt: Ergebnissen].“ (S.6)

Diese ‚changierende Sprechweise‘ über ‚wahre Ergebnisse‘ umschreibt das Spannungsfeld zwischen ‚absoluten Wahrheit‘ — die Popper postuliert — und jenen konkreten Sachverhalten, die wir im Alltag zu ‚Zusammenhängen (Hypothesen)‘ verdichten können, in denen wir einzelne Ereignisse ‚zusammen bringen‘ mit der ‚Vermutung‘, dass sie auf eine nicht ganz zufällige Weise zusammen gehören. Und, ja, diese unsere alltägliche Vermutungen (Hypothesen) können sich ‚alltäglich bestätigen‘ (wir empfinden dies so) oder auch nicht (dies kann Zweifel wecken, ob es ‚tatsächlich so ist‘).(vgl. S.6)

Das Maximum dessen, was wir — nach Popper — in der alltäglichen Erkenntnis erreichen können, ist das Nicht-Eintreten einer Enttäuschung einer Vermutung (Erwartung, Hypothese). Wir können dann „hoffen“, dass die Hypothese „wahr ist“, aber sie könnte sich dann beim nächsten Test vielleicht doch noch als „falsch“ erweisen. (vgl. S.6)

In all diesen Aussagen, dass ein Ergebnis ’noch nicht als wahr erwiesen wurde‘ fungiert der Begriff der ‚Wahrheit‘ als ein ‚Bezugspunkt‘, anhand dessen man eine vorliegende Aussage ‚vergleichen‘ kann und mit diesem Vergleich dann zum Ergebnis kommen kann, dass eine vorliegende Aussage ‚verglichen mit einer wahren Aussage‘ nicht wahr ist.

Messen als Vergleichen ist in der Wissenschaft der Goldstandard, aber auch im ganz normalen Alltag. Wo aber findet sich der Vergleichspunkt ‚wahr Aussage‘ anhand dessen eine konkrete Aussage als ’nicht dem Standard entsprechend‘ klassifiziert werden kann?

Zur Erinnerung: es geht jetzt hier offensichtlich nicht um einfache ‚Sachverhaltsfeststellungen‘ der Art ‚Es regnet‘, ‚Es ist heiß‘, ‚Der Wein schmeckt gut‘ …, sondern es geht um die Beschreibung von ‚Zusammenhängen‘ zwischen ‚isolierten, getrennten Ereignissen‘ der Art (i) ‚Die Sonne geht auf‘, (ii) ‚Es ist warm‘ oder ‚(i) ‚Es regnet‘, (ii) ‚Die Straße ist nass‘.

Wenn die Sonne aufgeht, kann es warm werden; im Winter, bei Kälte und einem kalten Wind kann man die mögliche Erwärmung dennoch nicht merken. Wenn es regnet dann ist die Straße normalerweise nass. Falls nicht, dann fragt man sich unwillkürlich, ob man vielleicht nur träumt?

Diese einfachen Beispiele deuten an, dass ‚Zusammenhänge‘ der Art (i)&(ii) mit einer gewissen Häufigkeit auftreten können, aber es keine letzte Sicherheit gibt, dass dies der Fall sein muss.

Wo kommt bei alldem ‚Wahrheit‘ vor?

‚Wahrheit an sich‘ ist schwer aufweisbar. Dass ein ‚Gedanke‘ ‚wahr‘ ist, kann man — wenn überhaupt — nur diskutieren, wenn jemand seinem Gedanken einen sprachlichen Ausdruck verleiht und der andere anhand des sprachlichen Ausdrucks (i) bei sich eine ‚Bedeutung aktivieren‘ kann und (ii) diese aktivierte Bedeutung dann entweder (ii.1) — schwacher Fall — innerhalb seines Wissens mit ‚anderen Teilen seines Wissens‘ ‚abgleichen‘ kann oder aber (ii.2) — starker Fall — seine ‚interne Bedeutung‘ mit einer Gegebenheit der umgebenden realen Ereigniswelt (die als ‚Wahrnehmung‘ verfügbar ist) vergleichen kann. In beiden Fällen kann der andere z.B. zu Ergebnissen kommen wie (a) ‚Ja, sehe ich auch so‘ oder (b) ‚Nein, sehe ich nicht so‘ oder (c) ‚Kann ich nicht entscheiden‘.

In diesen Beispielen wäre ‚Wahrheit‘ eine Eigenschaft, die der Beziehung zwischen einem sprachlichen Ausdruck mit seiner möglichen ‚Bedeutung‘ ‚zu etwas anderem‘ zukommt. Es geht in diesen Beispielen um eine dreistellige Beziehung: die beiden Größen (Ausdruck, gewusste Bedeutung) werden in Beziehung gesetzt zu (wahrgenommenem oder erinnertem oder gefolgertem Sachverhalt).[13]

‚Wahrgenommenes‘ resultiert aus Interaktionen unseres Körpers mit der umgebenden realen Ereigniswelt (wobei unsere Körper selbst ein Ereignis in der umgebenden realen Ereigniswelt ist).[14]

‚Bedeutungen‘ sind ‚gelernte Sachverhalte‘, die uns über unsere ‚Wahrnehmung‘ ‚bekannt geworden sind‘ und in der Folge davon möglicherweise auf eine schwer bestimmbare Weise in unser ‚Gedächtnis‘ übernommen wurden, aus dem Heraus wir sie auf eine ebenfalls schwer bestimmbaren Weise in einer ‚erinnerten Form‘ uns wiederholt wieder ‚bewusst machen können‘. Solche ‚wahrnehmbaren‘ und ‚erinnerbaren‘ Sachverhalte können von unserem ‚Denken‘ in schwer bestimmbarer Form eine spezifische ‚Bedeutungsbeziehung‘ mit Ausdrücken einer Sprache eingehen, welche wiederum nur über Wahrnehmung und Erinnern uns bekannt geworden sind.[15]

Aus all dem geht hervor, dass dem einzelnen Akteur mit seinen gelernten Ausdrücke und ihren gelernten Bedeutungen nur das ‚Ereignis der Wiederholung‘ bleibt, um einem zunächst ‚unbestimmt Gelerntem‘ eine irgendwie geartete ‚Qualifikation‘ von ‚kommt vor‘ zu verleihen. Kommt also etwas vor im Lichte von gelernten Erwartungen neigen wir dazu, zu sagen, ‚es trifft zu‘ und in diesem eingeschränkten Sinne sagen wir auch, dass ‚es wahr ist‘. Diese gelernten Wahrheiten sind ’notorisch fragil‘. Jene, die ‚im Laufe der Zeit‘ sich immer wieder ‚bewähren‘ gewinnen bei uns ein ‚höheres Vertrauen‘, sie haben eine ‚hohe Zuverlässigkeit‘, sind allerdings nie ganz sicher‘.

Zusätzlich erleben wir im Alltag das ständige Miteinander von ‚Konkretheiten‘ in der Wahrnehmung und ‚Allgemeinheiten‘ der sprachlichen Ausdrücke, eine ‚Allgemeinheit‘ die nicht ‚absolut‘ ist. sondern als ‚Offenheit für viel Konkretes‘ existiert. In der Sprache haben wir Unmengen von Worten wie ‚Tasse‘, ‚Stuhl‘, ‚Tisch‘, Hund‘ usw. die sich nicht nur auf ein einziges Konkretes beziehen, sondern auf — potentiell unendlich — viele konkrete Gegebenheiten. Dies liegt daran, dass es viele verschiedene konkrete Gegebenheiten gibt, die trotz Unterschiede auch Ähnlichkeiten aufweisen, die dann als ‚Tasse‘, ‚Stuhl‘ usw. bezeichnet werden. Unser Gehirn verfügt über ‚automatische (= unbewusste) Prozesse‘, die die Konkretheiten aus der Wahrnehmung in ‚Muster‘ transformieren, die dann als ‚Repräsentanten‘ von verschiedenen wahrgenommenen Konkretheiten fungieren können. Diese Repräsentanten sind dann das ‚Material der Bedeutung‘, mit denen sprachliche Ausdrücke — auch automatisch — verknüpft werden können.[15]

Unser ‚Denken‘ kann mit abstrakten Repräsentanten arbeiten, kann durch Benutzung von sprachlichen Ausdrücken Konstruktionen mit abstrakten Konzepten und Ausdrücken bilden, denen bedeutungsmäßig direkt nichts in der realen Ereigniswelt entsprechen muss bzw. auch nicht entsprechen kann. Logik [17] und Mathematik [18] sind bekannte Beispiele, wie man mit gedanklich abstrakten Konzepten und Strukturen ‚arbeiten‘ kann, ohne dass ein Bezug zur realen Ereigniswelt bestehe muss oder jemals bestehen wird. Innerhalb dieser Welt abstrakter Strukturen und abstrakter Ausdrücke kann es dann sogar in einem eingeschränkten Sinne ‚Wahrheit‘ als Übereinstimmung von abstrakten Ausdrücken, deren abstrakten Bedeutungen und den anderen gedachten abstrakten Strukturen geben, aber diese ‚abstrakten Wahrheiten‘ sind in keiner Weise auf die reale Ereigniswelt übertragbar. Für uns gibt es nur das Modell der Alltagssprache, die mit ihren ‚offenen abstrakten‘ Bedeutungen auf Konkretes Bezug nehmen kann und zwischen Gegenwart und Vergangenheit eine ‚gedachte Beziehung‘ herstellen kann, ebenso auch zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zu einer gedachten Zukunft. Inwieweit sich diese gedachten Beziehungen (Vermutungen, Hypothesen, …) dann in der realen Ereigniswelt bestätigen lassen, muss fallweise geprüft werden.

Die Welt der Wissenschaften erweckt den Eindruck, dass es mittlerweile eine große Zahl von solchen Hypothesen gibt, die allesamt als ‚weitgehend zuverlässig‘ angesehen werden, und aufgrund deren wir nicht nur unser bisheriges Wissen beständig ‚erweitern‘, sondern auch in einer Vielzahl von praktischen Anwendungen nutzen (Technologie, Landwirtschaft, Medizin, …).

Und an dieser Stelle greift Popper sehr weit aus, indem er diese für die Wissenschaften charakteristische „mutige, und abenteuerliche Weise des Theoretisierens“, ergänzt um „seriöse Tests“, im „biologischen Leben selbst“ am Werke sieht (vgl. S.7): die beobachtbare Entwicklung zu immer „höheren (‚higher‘) Formen“ des Lebens geschah/ geschieht durch Schaffung von „neuen Versuchen“ (‚trials‘), deren „Einbringung in die Realität“ (‚exposure‘), und dann das „Ausmerzen von Irrtümern“ (‚errors‘) durch „Testen“.(vgl. S.7) Mit dieser permanenten Kreativität neuer Lösungsansätze, deren Ausprobieren und dem daraus Lernen im Beseitigen von Fehlschlägen hat es nicht nur das biologische Leben als Ganzes geschafft, nach und nach die Welt quasi zu erobern, sondern in der Variante moderner empirischer Wissenschaft ist die Lebensform des Homo sapiens dabei, diese Eroberung auf neue Weise zu ergänzen. Während die biologische Evolution vor dem Homo sapiens primär um das nackte Überleben kämpfen musste, kann der Homo sapiens zusätzlich ‚reines Verstehen‘ praktizieren, das dann als ‚Werkzeug‘ zum Überleben beitragen kann. Für Popper ist ‚Verstehen‘ (‚understand‘) und ‚Lernen‘ (‚to learn more‘) das entscheidende Charakteristikum der Lebensform des Homo sapiens (als Teil des gesamten biologischen Lebens). Und in diesem Verstehensprojekt geht es um alles: um den ganzen Kosmos bis hin zum letzten Atom, um die Entstehung des Lebens überhaupt, um den ‚menschlichen Geist‘ (‚human mind‘) und die Art und Weise wie er stattfindet.(vgl. S.7)

Nach dieser ‚Einstimmung‘ wendet sich Popper dem speziellen Problem der Kausalität zu.

Kausalität – Ein wissenschaftliches Chamäleon

Der Begriff der ‚Kausalität‘ ist uns allen über den Alltag in vielfältigen Formen bekannt, ohne dass wir dazu gewöhnlich ein klares begriffliches Konzept entwickeln.

Geht es hingegen ‚um Etwas‘, z.B. um Geld, oder Macht, oder um eine gute Ernte, oder die Entwicklung einer Region, usw. , dann ist die Frage ‚Was was wie bewirkt‘ nicht mehr ganz egal. ‚Soll ich nun investieren oder nicht?‘ ‚Ist dieses Futter für die Tiere besser und auf Dauer bezahlbar oder nicht?‘ ‚Wird die neue Verkehrsregelung tatsächlich Lärm und CO2-Ausstoß reduzieren oder nicht?‘ ‚Ist Aufrüstung besser als Neutralität?‘ ‚Wird die Menge des jährlichen Plastikmülls die Nahrungsketten im Meer und damit viele davon abhängige Prozesse nachhaltig zerstören oder nicht?‘

Wenn Philosophen und Wissenschaftler von Kausalität sprechen meinten sie in der Vergangenheit meist viel speziellere Kontexte. So erwähnt Popper die mechanistischen Vorstellungen im Umfeld von Descartes; hier waren alle Ereignisse klar bestimmt, determiniert.(vgl. S.7) Mit der Entwicklung der Quantenmechanik — spätestens ab 1927 mit der Entdeckung des Unsicherheitsprinzips durch Werner Heisenberg [19], [19a] — wurde bewusst, dass die Ereignisse in der Natur keinesfalls vollständig klar und nicht vollständig determiniert sind. (vgl. S7f)

Damit trat eine inhärente Unsicherheit hervor, die nach einer neuen Lösung verlangte. Die große Zeit des Denkens in Wahrscheinlichkeiten begann.[20] Man kann das Denken in Wahrscheinlichkeiten grob in drei (vier) Sichtweisen unterscheiden: (i) In einer theoretischen — meist mathematischen — Sicht [21] definiert man sich abstrakte Strukturen, über die man verschiedene Operationen definieren kann, mit denen sich dann unterschiedliche Arten von Wahrscheinlichkeiten durchspielen lassen. Diese abstrakten (theoretischen) Wahrscheinlichkeiten haben per se nichts mit der realen Welt der Ereignisse zu tun. Tatsächlich erweisen sich aber viele rein theoretische Modelle als erstaunlich ’nützlich‘ bei der Interpretation realweltlicher Ereignisfolgen. (ii) In einer subjektivistischen Sicht [22] nimmt man subjektive Einschätzungen zum Ausgangspunkt , die man formalisieren kann, und die Einschätzungen zum möglichen Verhalten des jeweiligen Akteurs aufgrund seiner subjektiven Einschätzungen erlauben. Da subjektive Weltsichten meistens zumindest partiell unzutreffend sind, z.T. sogar überwiegend unzutreffend, sind subjektive Wahrscheinlichkeiten nur eingeschränkt brauchbar, um realweltliche Prozesse zu beschreiben.(iii) In einer (deskriptiv) empirischen Sicht betrachtet man reale Ereignisse, die im Kontext von Ereignisfolgen auftreten. Anhand von diversen Kriterien mit der ‚Häufigkeit‘ als Basisterm kann man die Ereignisse zu unterschiedlichen Mustern ‚gruppieren‘, ohne dass weitergehende Annahmen über mögliche Wirkzusammenhänge mit ‚auslösenden Konstellationen von realen Faktoren‘ getätigt werden. Nimmt man eine solche ‚deskriptive‘ Sicht aber zum Ausgangspunkt, um weitergehende Fragen nach möglichen realen Wirkzusammenhängen zu stellen, dann kommt man (iv) zu einer eher objektivistischen Sicht. [23] Hier sieht man in der Häufigkeiten von Ereignissen innerhalb von Ereignisfolgen mögliche Hinweise auf reale Konstellationen, die aufgrund ihrer inhärenten Eigenschaften diese Ereignisse verursachen, allerdings nicht ‚monokausal‘ sondern ‚multikausal‘ in einem nicht-deterministischem Sinne. Dies konstituiert die Kategorie ‚Nicht deterministisch und zugleich nicht rein zufällig‘.[24]

Wie der nachfolgende Text zeigen wird, findet man Popper bei der ‚objektivistischen Sicht‘ wieder. Er bezeichnet Ereignisse, die durch Häufigkeiten auffallen, als ‚Propensities‘, von mir übersetzt als ‚Tendenzen‘, was letztlich aber nur im Kontext der nachfolgenden Erläuterungen voll verständlich wird.

Popper sagt von sich, dass er nach vielen Jahren Auseinandersetzung mit der theoretischen (mathematischen) Sicht der Wahrscheinlichkeit (ca. ab 1921) (vgl. S.8f) zu dieser — seiner — Sicht gelangt ist, die er 1956 zum ersten Mal bekannt gemacht und seitdem kontinuierlich weiter entwickelt hat.[24]

Also, wenn man beobachtbare Häufigkeiten von Ereignissen nicht isoliert betrachtet (was sich angesichts des generellen Prozesscharakters aller realen Ereignisse eigentlich sowieso verbietet), dann kommt man wie Popper zu der Annahme, dass die beobachtete — überzufällige aber dennoch auch nicht deterministische — Häufigkeit die nachfolgende ‚Wirkung‘ einer realen Ausgangskonstellation von realen Faktoren sein muss, deren reale Beschaffenheit einen ‚Anlass‘ liefert, dass ‚etwas Bestimmtes passiert‘, was zu einem beobachtbaren Ereignis führt.(vgl. S.11f, dazu auch [25]) Dies schließt nicht aus, dass diese realen Wirkungen von spezifischen ‚Bedingungen‘ abhängig sein können, die erfüllt sein müssen, damit es zur Wirkung kommt. Jede dieser Bedingungen kann selbst eine ‚Wirkung‘ sein, die von anderen realen Faktoren abhängig ist, die wiederum bedingt sind, usw. Obwohl also ein ‚realer Wirkzusammenhang‘ vorliegen kann, der als solcher ‚klar‘ ist — möglicherweise sogar deterministisch — kann eine Vielzahl von ‚bedingenden Faktoren‘ das tatsächliche Auftreten der Wirkung so beeinflussen, dass eine ‚deterministische Wirkung‘ dennoch nicht als ‚deterministisch‘ auftritt.

Popper sieht in dieser realen Inhärenz von Wirkungen in auslösenden realen Faktoren eine bemerkenswerte Eigenschaft des realen Universums.(vgl. S.12) Sie würde direkt erklären, warum Häufigkeiten (Statistiken) überhaupt stabil bleiben können. (vgl. S.12). Mit dieser Interpretation bekommen Häufigkeiten einen objektiven Charakter. ‚Häufigkeiten‘ verwandeln sich in Indikatoren für ‚objektive Tendenzen‘ (‚propensities‘), die auf ‚reale Kräfte‘ verweisen, deren Wirksamkeit zu beobachtbaren Ereignissen führen.(vgl. S.12)

Die in der theoretischen Wahrscheinlichkeit verbreitete Charakterisierung von wahrscheinlichen Ereignissen auf einer Skala von ‚1‘ (passiert auf jeden Fall) bis ‚0‘ (passiert auf keinen Fall) deutet Popper für reale Tendenzen dann so um, dass alle Werte kleiner als 1 darauf hindeuten, dass es mehrere Faktoren gibt, die aufeinander einwirken, und dass der ‚Nettoeffekt‘ aller Einwirkungen dann zu einer realen Wirkung führt die kleiner als 1 ist, aber dennoch vorhanden ist; man kann ihr über Häufigkeiten sogar eine phasenweise Stabilität im Auftreten zuweisen, so lange sich die Konstellation der wechselwirkenden Faktoren nicht ändert.(vgl. S.13) Was hier aber wichtig ist — und Popper weist ausdrücklich darauf hin — die ‚realen Tendenzen‘ verweisen nicht auf einzelne konkrete, spezielle Eigenschaften inhärent in einem Objekt, sondern Tendenzen korrespondieren eher mit einer ‚Situation‘ (’situation‘), die als komplexe Gesamtheit bestimmte Tendenzen ‚zeigt‘.(vgl. SS.14-17) [26]

Schaut man nicht nur auf die Welt der Physik sonder lenkt den Blick auf den Alltag, in dem u.a. auch biologische Akteure auftreten, speziell auch Lebensformen vom Typ Homo sapiens, dann explodiert der Raum der möglichen Faktoren geradezu, die Einfluss auf den Gang der Dinge nehmen können. Nicht nur bildet der Körper als solcher beständig irgendwelche ‚Reize‘ aus, die auf den Akteur einwirken, sondern auch die Beschaffenheit der Situation wirkt in vielfältiger Weise. Insbesondere wirkt sich die erworbene Erfahrung, das erworbene Wissen samt seinen unterschiedlichen emotionalen Konnotationen auf die Art der Wahrnehmung aus, auf die Art der Bewertung des Wahrgenommenen und auf den Prozess möglicher Handlungsentscheidungen. Diese Prozesse können extrem labil sein, so dass Sie in jedem Moment abrupt geändert werden können. Und dies gilt nicht nur für einen einzelnen Homo sapiens Akteur, sondern natürlich auch für die vielen Gruppen, in denen ein Homo sapiens Akteur auftreten kann bzw. auftritt bzw. auftreten muss. Dieses Feuerwerk an sich wechselseitig beständig beeinflussenden Faktoren sprengt im Prinzip jede Art von Formalisierung oder formalisierter Berechnung. Wir Menschen selbst können dem ‚Inferno des Alles oder Nichts‘ im Alltag nur entkommen, wenn wir ‚Konventionen‘ einführen, ‚Regeln des Verhaltens‘, ‚Rollen definieren‘ usw. um das praktisch unberechenbare ‚Universum der alltäglichen Labilität‘ partiell zu ‚zähmen‘, für alltägliche Belange ‚berechenbar‘ zu machen.

Popper zieht aus dieser Beschaffenheit des Alltags den Schluss, das Indeterminismus und freier Wille zum Gegenstandsbereich und zum Erklärungsmodell der physikalischen und biologischen Wissenschaften gehören sollten.(vgl. S.17f)

Popper folgert aus einer solchen umfassenden Sicht von der Gültigkeit der Tendenzen-Annahme für vorkommende reale Ereignisse, dass die Zukunft nicht determiniert ist. Sie ist objektiv offen.(vgl. S.18)

Näher betrachtet ist die eigentliche zentrale Einsicht tatsächlich gar nicht die Möglichkeit, dass bestimmte Wirkzusammenhänge vielleicht tatsächlich determiniert sein könnten, sondern die Einsicht in eine durchgängige Beschaffenheit der uns umgebenden realen Ereigniswelt die sich – dies ist eine Hypothese! — durchgängig als eine Ansammlung von komplexen Situationen manifestiert, in denen mögliche unterscheidbare Faktoren niemals isoliert auftreten, sondern immer als ‚eingebettet‘ in eine ‚Nachbarschaften‘, so dass sowohl jeder Faktor selbst als auch die jeweiligen Auswirkungen dieses einen Faktors immer in kontinuierlichen Wechselwirkungen mit den Auswirkungen anderer Faktoren stehen. Dies bedeutet, dass nicht nur die starke Idealisierungen eines mechanistischen Weltbildes — auch eine Hypothese — als fragwürdig angesehen werden müssen, sondern auch die Idealisierung der Akteure zu einer ‚ Monade‘ [27],[27b], die die Welt letztlich nur ‚von sich aus‘ erlebt und gestaltet — eine andere Hypothese –.[27c]

Denkt man gemeinsam mit Popper weiter in die Richtung einer totalen Verflechtung aller Faktoren in einem kontinuierlich-realen Prozess, der sich in realen Tendenzen manifestiert (vgl. S.18f), dann sind alle üblichen endlichen, starren Konzepte in den empirischen Wissenschaften letztlich nicht mehr seriös anwendbar. Die ‚Zerstückelung‘ der Wirklichkeit in lauter einzelne, kleine, idealisierte Puzzle-Teile, wie sie bis heute Standard ist, führt sich relativ schnell ad absurdum. Die übliche Behauptung, auf andere Weise könne man eben nichts Verwertbares Erkennen, läuft beständig Gefahr, auf diese Weise die reale Problematik der konkreten Forschungspraxis deutlich zu überdehnen, nur weil man in der Tat Schwierigkeiten hat, die vorfindliche Komplexität ‚irgendwie experimentell nachvollziehbar‘ zu rekonstruieren.

Popper dehnt seine Beispiele für die Anwendbarkeit einer objektivistischen Sicht von realen Tendenzen weiterhin aus auf die Chemie (vgl. S.19f) und auf die Evolution des Lebens. (vgl. S.20) Und auch wenn er zuvor sagte, dass die Zukunft objektiv offen sei, so ist sie dennoch in der realen Gegenwart implizit gegenwärtig in den Aktivitäten der vorhandenen realen Faktoren.(vgl. S.20) Anders formuliert, jede Zukunft entscheidet sich immer jetzt, in der Gegenwart, auch wenn die lebenden Akteure zu einem bestimmten Zeitpunkt vielleicht das Geflecht der vielen Faktoren und Wirkungen nur unvollständig durchschauen. Mangelndes Wissen ist auch ein realer Faktor und kann als solcher u.U. wichtige Optionen übersehen, die — würde man sie kennen — vielleicht viel Unheil ersparen würden.

Nachbemerkung – Epilog

Verglichen mit den vielen Seiten Text, die Popper im Laufe seines Lebens geschrieben hat, erscheint der hier kommentierte kurze Text von 27 Seiten verschwindend kurz, gering, möglicherweise gar unbedeutend.

Betrachtet man aber die Kernthesen von Poppers theoretischem Prozess, dann tauchen diese Kernthesen in diesem kurzen Text letztlich alle auf! Und seine Thesen zur Realität von beobachtbaren Tendenzen enthalten alles, was er an Kritik zu all jenen Wissenschaftsformen gesagt hat, die dieser Kernthese nicht folgen. Der ganze riesige Komplex zur theoretischen Wahrscheinlichkeit, zu subjektiver Wahrscheinlichkeit und zu den vielfältigen Spezialformen von Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit sagen letztlich nicht viel, wenn sie die objektivistische Interpretation von Häufigkeiten, dazu im Verbund mit der Annahme eines grundlegenden realen Prozesses, in dem sich alle realen Faktoren in beständiger realer Wechselbeziehung befinden, nicht akzeptieren. Die moderne Quantenmechanik wäre in einer realen Theorie der objektiven Tendenzen tatsächlich eine Teiltheorie, weil sie nur einige wenige — wenngleich wichtige — Aspekte der realen Welt thematisiert.

Poppers Mission einer umfassenden Theorie von Wahrheit als Innensicht einer umfassenden prozesshaften Realität bleibt — so scheint es mir — weiterhin brandaktuell.

Fortsetzung Popper 1989

Eine Kommentierung des zweiten Artikels aus dem Büchlein findet sich HIER.

Anmerkungen

Abkürzung: wkp := Wikipedia, de := Deutsche, en := Englische

[*] Es gibt noch zwei weiter Beiträge vom ’späten‘ Popper, die ich in den Diskurs aufnehmen möchte, allerdings erst nachdem ich diesen Beitrag rezipiert und in das finale Theorieformat im Kontext des oksimo-Paradigmas eingebunden habe.

[1] Karl Popper in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper (auch in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper )

[1b] Wiener Kreis (‚vienna circle‚) in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Kreis und wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Vienna_Circle

[2a] Karl Popper, „A World of Propensities“, Thoemmes Press, Bristol, (1990, repr. 1995)

[2b] Karl Popper, The Logic of Scientific Discovery, zuerst publiziert 1935 auf Deutsch als  Logik der Forschung, dann 1959 auf Englisch durch  Basic Books, New York (viele weitere Ausgaben folgten; ich benutze die eBookausgabe von Routledge (2002))

[3a] Die meisten wohl im uffmm.org Blog.

[3b] Oksimo und Popper in uffmm.org: https://www.uffmm.org/2021/03/15/philosophy-of-science/

[4] Das oksimo-Paradigma und die oksimo-Software auf oksimo.org: https://www.oksimo.org/

[5] Robert Ulanowizc in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Robert_Ulanowicz

[5b] Robert Ulanowizc, Ecology: The Ascendant Perspective, Columbia University Press (1997) 

[6a] Karl-Popper Sammlung der Universität Klagenfurt in wkp-de: https://www.aau.at/universitaetsbibliothek-klagenfurt/karl-popper-sammlung/

[6b] An dieser Stelle möchte ich die freundliche Unterstützung von Mag. Dr. Thomas Hainscho besonders erwähnen.

[7] Eine kürzere Version dieses Artikels hat Popper 1988 auf dem Weltkongress der Philosophie 1988 im Brighton vorgetragen (Vorwort zu [2a]).

[8] Rudolf Carnap in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Carnap

[8b] Rudolf Carnap,  Logical Foundations of Probability. University of Chicago Press (1950)

[9] Aristoteles in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Aristoteles

[10] Alfred Tarski in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Tarski

[11] Kurt Gödel in wkp-ed: https://en.wikipedia.org/wiki/Kurt_G%C3%B6del

[12] Aus dem Buch von Kegel „Die Herrscher der Welt…“: Siehe https://www.cognitiveagent.org/2015/12/06/die-herrscher-der-welt-mikroben-besprechung-des-buches-von-b-kegel-teil-1/

[13] Natürlich ist die Sachlage bei Betrachtung der hier einschlägigen Details noch ein wenig komplexer, aber für die grundsätzliche Argumentation reicht diese Vereinfachung.

[14] Das sagen uns die vielen empirischen Arbeiten der experimentellen Psychologie und Biologie, Hand in Hand mit den neuen Erkenntnissen der Neuropsychologie.

[15] Hinter diesen Aussagen stecken die Ergebnisse eines ganzen Bündels von wissenschaftlichen Disziplinen: vorweg wieder die experimentelle Psychologie mit hunderten von einschlägigen Arbeiten, ergänzt um Linguistik/ Sprachwissenschaften, Neurolinguistik, ja auch verschiedene philosophische ‚Zuarbeiten‘ aus dem Bereich Alltagssprache (hier unbedingt der späte Wittgenstein [16] als großer Inspirator) und der Semiotik.

[16] Ludwig Wittgenstein in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Wittgenstein

[17] Logik ( ‚logic‚) in der wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Logik und wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Logic

[18] Mathematik (‚mathematics‚) in der wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Mathematik und wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Mathematics

[19] Werner Heisenberg in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Werner_Heisenberg

[19b] Unsicherheitsprinzip (‚uncertainty principle‘) in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Uncertainty_principle

[20] Natürlich gab es schon viele Jahrhunderte früher unterschiedliche Vorläufer eines Denkens in Wahrscheinlichkeiten.

[21] Theoretische Wahrscheinlichkeit, z.B. in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Probability

[22] Subjektive Wahrscheinlichkeit, z.B. in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Subjektiver_Wahrscheinlichkeitsbegriff; illustrieret mit der Bayeschen Wahrscheinlichkeit in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Bayesian_probability

[23] Objektivistische Wahrscheinlichkeit, nur ansatzweise erklärt in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Objektivistischer_Wahrscheinlichkeitsbegriff

[23b] Deskriptive Statistik in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Deskriptive_Statistik (siehe auch ‚descriptive statistics in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Descriptive_statistics

[24] Zu verschiedenen Sichten von Wahrscheinlichkeiten sie auch: Karl Popper, The Open Universe: An Argument for Indeterminism, 1956–57 (as privately circulated galley proofs;) 1982 publiziert als Buch

[25] Hier sei angemerkt, dass ein Akteur natürlich nur dann ein bestimmtes Ereignis wahrnehmen kann, wenn er (i) überhaupt hinschaut und (ii) er über geeignete Beobachtungsinstrumente (= Messgeräte) verfügt, die das jeweilige Ereignis anzeigen. So sah die Welt z.B. ohne Fernglas und Mikroskop ‚einfacher‘ aus als mit.

[26] Diese Betonung einer Situation als Kontext für Tendenzen schließt natürlich nicht aus, dass die Wissenschaften im Laufe der Zeit gewisse Kontexte (z.B. das Gehirn, der Körper, …) schrittweise immer mehr auflösen in erkennbare ‚Komponenten‘, deren individuelles Verhalten in einem rekonstruierbaren Wechselspiel unterschiedliche Ereignisfolgen hervorbringen kann, die zuvor nur grob als reale Tendenz erkennbar waren. Tatsächlich führt eine zunehmende ‚Klarheit‘ bzgl. der internen Struktur einer zuvor nicht analysierbaren Situation auch zur Entdeckung von weiteren Kontextfaktoren, die zuvor unbekannt waren.(vgl. S.14f)

[27] Gottfried Wilhelm Leibniz in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_Wilhelm_Leibniz

[27b] Monadenlehre von Leibnuz in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Monade_(Philosophie)

[27c] Allerdings muss man bemerken, dass die Leibnizsche Monadenlehre natürlich in einem ziemlich anderen ‚begrifflichen Koordinatensystem‘ einzubetten ist und die Bezugnahme auf diese Lehre nur einen stark vereinfachten Aspekt trifft.

DER AUTOR

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MENSCH-MENSCH COMPUTER. Gemeinsam Planen und Lernen. Erste Notizen

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 2.-9.Oktober 2020
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

ÜBERBLICK

Der folgende Text entstand unter dem Eindruck der theoretischen und
praktischen Arbeiten, wie sie in meinem Engineering-Blog bislang dokumentiert
sind. Letztlich geht es darum, das aktuelle Paradigma der Informatik
und der übergreifenden Digitalisierung der Gesellschaft umzudrehen:
statt den Menschen nur als Datenfutter für anonyme Algorithmen zu benutzen,
ihn als digitalen Sklaven zu behandeln, der weitgehend zu einem
rechtlosen Spielball von internationalen Konzernen geworden ist, deren
Interessen weder die Interessen der Benutzer noch derjenigen von demokratischen
Gesellschaften sind, soll wieder der Mensch in das Zentrum
der Betrachtung gerückt werden und die Frage, was können wir tun, um
den Menschen mehr zu befähigen, gemeinsam mit anderen die mögliche
Zukunft besser zu verstehen und vielleicht besser zu gestalten. Der moderne
Mensch begreift sich als Teil der umfassenden Biosphäre auf diesem
Planeten und trägt eine besondere Verantwortung für diese.

Letzte Änderung: 9.Okt.2020

PDF-Dokument

Änderung 9.Okt.2020: Die Rahmenbedingungen von einer gegebenen Situation (hier als Problem) zu einer möglichen zukünftigen Situation (hier als positive Vision) werden etwas genauer analysiert.

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LUHMANN-1991-GESELLSCHAFT. Kap.1:I-II, Diskussion und Übersetzung

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
29.März 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

INHALT

I Evolutionäre Ausgangslage
I-A Ältere Blogeinträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I-B Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II Luhmann 1991: Vorwort 3
III Diskussion 4
IV Luhmann 1991 Kap.1: Bewusstsein und Kommunikation
IV-A Abschnitt I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV-A1 Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV-A2 Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . .
IV-A3 Gehirn – Nervensystem . . . . . . . . . . .
IV-B Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV-C Abschnitt II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV-C1 Systemtheorie, Autopoiesis . . . . . . . . .
IV-C2 Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV-C3 Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . .
Quellen

ÜBERBLICK

Im Rahmen des ’Wahrheitsprojektes’ gibt es den Bereich ’Individuum und Gesellschaft’. Dieser Bereich setzt historisch ein mit dem Auftreten des Homo sapiens und interessiert sich für eine formale Theorie des menschlichen Individuums innerhalb einer Population, eingebettet in eine Umwelt. In Ermangelung einer allgemein akzeptierten und funktionierenden allgemeinen formalen Theorie von Individuum und Gesellschaft wird hier Niklas Luhmann als Referenzpunkt gewählt. Er gilt u.a. als wichtiger (der wichtigste?) deutschsprachiger Vertreter der soziologischen Systemtheorie und der Soziokybernetik. Da Luhmann viele Bücher geschrieben hat muss man für den Start einen ’Eingangspunkt’ in seine Denkwelt wählen. Ich habe mich für das Buch ’Die Wissenschaft von der Gesellschaft’ (1991, 2.Aufl.) [Luh91] entschieden. Alle
Interpretationen des Autors zu Luhmanns Theorie stehen grundsätzlich unter dem Vorbehalt, dass diese Rekonstruktionen keine vollständige Werkanalyse darstellen. Die Vorgehensweise in diesem Beitrag ist der Versuch des Verstehens durch rekonstruierende Analyse mit formalen Mitteln. Für die Logik, die Luhmann
im Detail benutzt, sei verwiesen auf das Buch ’Laws of Form’ von Spencer Brown (1969, 1971) [Bro72] .

I. EVOLUTIONÄRE AUSGANGSLAGE
Vorab zur Analyse von Luhmann sei hier kurz die Lage skizziert, die sich nach 3.8 Mrd Jahren Evolution mit dem Auftreten des homo sapiens bietet. Da das entsprechende Kapitel hier noch nicht geschrieben wurde, seien hier nur jene Blogbeiträge kurz erwähnt, die sich bislang mit dem Thema beschäftigt haben.

A. Ältere Blogeinträge
1) Nr.124 vom April 2013: RANDBEMERKUNG: KOMPLEXITÄTSNTWICKLUNG (SINGULARITÄT(en))

2) Nr.132 vom Mai 2013: RANDBEMERKUNG: KOMPLEXITÄTSNTWICKLUNG (SINGULARITÄT(en)) Teil 2

3) Nr. 314 vom November 2015: STUNDE DER ENTSCHEIDUNG – Ist irgendwie
immer, aber manchmal mehr als sonst

4) Nr.333 vom März 2016: DENKEN UND WERTE – DER TREIBSATZ FÜR
ZUKÜNFTIGE WELTEN (Teil 1)

5) Nr.342 vom Juni 2016: EIN EVOLUTIONSSPRUNG PASSIERT JETZT UND NIEMAND BEMERKT ES?

6) Nr.381 vom 13.März 2017: DIE ZUKUNFT WARTET NICHT – 2117 – PHILOSOPHISCHE WELTFORMEL – FAKE-NEWS ALS TODESENGEL

7) Nr. 382 vom 18.März 2017: DIE ZUKUNFT WARTET NICHT – 2117 – PHILOSOPHISCHE WELTFORMEL – Teil 4 – MIND-GEIST . . .

8) Nr.383 vom 19.März 2017: INDIVIDUUM ALS BINDEGLIED ZWISCHEN BIOLO-
GISCHEM UND SOZIALEM – Nachtrag

9) Nr.400 vom Aug.2017: MENSCHENBILD – VORGESCHICHTE BIS ZUM
HOMO SAPIENS – Überlegungen

10) Nr. 401 vom Sept.2017: MENSCHENBILD – VORGESCHICHTE BIS ZUM HOMO SAPIENS – Ergänzungen

B. Resümee
Aus den bisherigen Untersuchungen ergibt sich als Zwischenstand, dass der homo sapiens die erste Lebensform auf der Erde ist, die neben der üblichen biologischen Ausstattung von Lebewesen zusätzlich über die Eigenschaften Bewusstsein,  Gedächtnis, Abstraktionsvermögen, Kombinatorik, selbst definierte Ziele und symbolische Kommunikation in einer Weise verfügt, die anderen Lebensformen in dieser Weise bislang unzugänglich waren und bisher auch weiterhin unzugänglich sind.

Aufgrund dieser herausragenden Eigenschaften konnte der homo sapiens in den letzten ca. 12.000 Jahren in Bereichen wie z.B. Handwerk und Technologie, Landwirtschaft, Siedlungsbau, Infrastrukturen, Transport und Verkehr, Wissensweitergabe und Wissensspeicherung, Verwaltung großer Gesellschaftssysteme, Kunst und Kultur, Wirtschaftsformen, und vielem mehr Leistungen erbringen, die ihn weit, weit ab von den anderen bekannten Lebensformen stellen.

Diese objektiven Erfolge scheinen allerdings aktuell einen Zustand erzeugt zu haben, in dem die Menge der alltäglichen Ereignisse, ihre Auftretensgeschwindigkeit sowie ihre inhärente Komplexität die biologischen Kapazitäten eines normalen homo sapiens Gehirns mehr und mehr überschreiten. Neue Informationstechnologien aus den letzten ca. 40 Jahren konnten diese Überforderungen einerseits entlasten, führen aber bislang gleichzeitig zu einer Verstärkung der Belastung, da diese Technologien separiert von dem einzelnen Individuum gehostet und entwickelt werden (das ’Cloud-Syndrom’).

Für die übergreifende Fragestellung, ob und wieweit die neuen digitalen Technologien – möglicherweise in Kombination mit einer Art ’Cyborg-Strategie’ – noch besser als bisher für die Stärkung des Individuums genutzt werden können, soll hier eine Analyse der generellen Situation des Individuums in der Gesellschaft eingeschoben werden.

Diese Analyse nimmt ihren Ausgang bei der Annahme, dass der homo sapiens als einzelnes Individuum Teil einer Population ist, die durch ihre auf Kommunikation gründenden Aktivitäten spezifische ’gesellschaftliche Strukturen’ geformt hat und weiter formt, die das Leben in einer vorausgesetzten Umwelt gestalten. Zugleich wirken diese Strukturen auf den einzelnen zurück. Ob die aktuelle Gestaltung von Gesellschaft letztlich ’nachhaltig’ ist oder nicht bleibt an dieser Stelle noch offen. Erst soll die Frage
nach der allgemeinen Struktur geklärt werden, innerhalb deren das ’Leben’ der homo sapiens Individuen stattfindet.

 

II. LUHMANN 1991: VORWORT
Im folgenden Text wird auf eine Unterscheidung zwischen dem Eigentext von Luhmann und einer davon abgehobenen Interpretation verzichtet. Der gesamte Text ist von Anfang an eine Interpretation des Textes von Luhmann im Lichte der vorwiegend wissenschaftsphilosophischen Annahmen des Autors. Man könnte auch sagen, es handelt sich um eine Art ’Übersetzung’ in einen anderen begrifflichen Rahmen.
Wer wissen will, was Luhmann selbst sagt, der muss den Text von Luhmann direkt lesen. Hier geht es um eine ’theoretische Verwertung’ der Gedanken von Luhmann in einem formalen Rahmen, den Luhmann selbst zu Lebzeiten so nirgends artikuliert hat.

Vorgreifend kann man an dieser Stelle anmerken, dass diese durchgehende  ’Übersetzung’ des Textes von Luhmann in den Text des Autors nur gelingen kann, weil Luhmann als ’roten Faden’ seiner Überlegungen einen ’Systembegriff’ benutzt, der es erlaubt, dass Systeme ’strukturell gekoppelt’ sind und dass sie ’Sub-Systeme’ enthalten können. Diese Auffassung teilt auch der Autor dieses Textes. Dennoch wird diese ’Übersetzung’ von dem Text Luhmanns in vielen Positionen – gerade in seinen zentralen Konzepten – radikal abweichen. Dies ist kein Paradox sondern ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass der Autor an einigen entscheidenden Stellen die ’Selektion der Unterschiede’ anders vorgenommen hat als Luhmann; die ’Freiheit’ des Gehirns, des Bewusstseins, der Kommunikation wie auch der aktuellen gesellschaftlichen Situation des Autors lässt dies zu.

Im Vorwort thematisiert Luhmann einleitend das wissenschaftsphilosophische Problem, dass eine Soziologie, die eine wissenschaftliche Theorie der Gesellschaft erarbeiten will, trotz aller notwendigen methodischen Distanzierung zum   Untersuchungsgegenstand doch auch zugleich Teil genau jener Gesellschaft ist, die untersucht werden soll. Die Bedingungen der Möglichkeit solch einer wissenschaftlichen Erkenntnis liegen der wissenschaftlichen Aktivität selbst voraus und werden traditionellerweise an die Philosophie delegiert, bzw. heutzutage vielleicht einer Erkenntnistheorie, die Hand in Hand mit der Wissenschaftsphilosophie arbeitet. Will eine einzelwissenschaftliche Disziplin – wie z.B. das System der Wissenschaft – ihr eigenes Tun in diesem Sinne von den impliziten Voraussetzungen her befragen, erhellen, klären, dann bedarf sie der Fähigkeit einer ’Autologie’, d.h. einer Selbstreflexion auf das eigene Tun, die sehr wohl auch eine Fremdbeobachtung der anderen Mit-Forschenden einbeziehen kann. Solch eine autologische Reflexion
kann nur in dem Maße die Besonderheiten eines Tuns zur Sprache bringen und kommunizieren, insoweit diese Disziplin über eine hinreichend ausdrucksstarke Metasprache verfügt. Diese wird gespeist durch das Fachwissen der Philosophie wie auch durch das spezifische Fachwissen der jeweiligen Disziplin, sofern letztere überhaupt schon über hinreichendes Spezialwissen verfügt.

Tatsächlich kann eine solche philosophische Selbstvergewisserung – hier der gesamte
Wissenschaftsbetrieb – nur gelingen, sofern diese zum Zeitpunkt der Untersuchung schon soweit als eigenes gesellschaftliches Subsystem vorkommt, dass durch gesellschaftlich legitimierte Setzungen und Verhaltensweisen ’vor-definiert’ ist, worin ’gesellschaftlich’ das Substrat dieser Disziplin besteht. Nur dann kann eine ’nach-sinnende’ autologische Reflexion die Eigenart aller beteiligten Komponenten und
Interaktionsprozesse identifizieren und analysieren. In diesem Sinne ist eine  Fachdisziplin – bzw. hier der gesamte Wissenschaftsbetrieb – zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt nicht ’Voraussetzungsfrei’ (Anmerkung: Wäre dem so, dann hätte man es mit einem eigenschaftslosen Neutrum zu tun, das nicht weiter bestimmbar wäre.) , sondern zeichnet sich gerade durch ein historisch gereiftes und darin durch Eigenschaften beschreibbares System zu tun, das innerhalb der Gesamtgesellschaft als Sub-System erscheint. Diese Unterscheidung lässt zugleich zu, dass jedes gegenwärtige System sich durch seine Eigenaktivitäten weiter verändert.

Die Aktualität der Gegenwart bildet damit tendenziell nicht das Gesamtsystem ab noch einen dauerhaften Zustand.

III. DISKUSSION
Es sei hier angenommen, dass ein historisch gewachsenes und gesellschaftlich ausgezeichnetes ’Subsystem Wissenschaft (SW)’ neben möglichen ’menschlichen Akteuren’ (A) zusätzlich über hinreichend viele Dokumente (D) verfügt, in denen Zielsetzung, typische Arbeitsweisen und der dynamische Bezug zum übergreifenden fundierenden gesellschaftlichen Gesamtsystem hinreichend beschrieben ist. Ein
gesellschaftliches wissenschaftliches Subsystem umfasst also minimal folgende Struktur:

SW (x) iff x = <A, D, h> (1)
A := Akteure (2)
D := Dokumente (3)
h := A × D —> A × D (4)

Das Symbol h repräsentiert die Menge der möglichen Handlungen, mit denen die Akteure im Sinne der offiziellen Dokumente neue Dokumente generieren können bzw. auch die Menge der Akteure verändern können. Was in dieser expliziten Darstellung noch fehlt ist der Aspekt der Gesellschaft (G). Denn eine Gesellschaft hat ja meistens mehr als ein Subsystem (Anmerkung: Wobei jedes Subsystem noch weitere Subsysteme haben kann). Zwischen einem Subsystem S und der Gesellschaft G kann es typische Interaktionen geben, ebenso auch zwischen Subsystemen direkt. Man
müsste daher mindestens eine weitere Interaktionsebene einbeziehen:

G(x) iff x = <A, D, Σ, h> (5)
A := Akteure (6)
D := Dokumente (7)
Σ := Menge von Subsystemen (8)
h := A × D × Σ —> A × D × Σ (9)

Die Akteure (A)  auf der Ebene der Gesellschaft (G) sind einerseits die ’Grundmenge’ aller Akteure, andererseits unterscheiden sich Subsysteme von der umgebenden Gesellschaft G dadurch, dass sie sich in mindestens einer Eigenschaft vom globalen System ’unterscheiden’. Es wird hier angenommen, dass diese minimale Verschiedenheit sich auf auf die Akteure A  bezieht, auf die beschreibenden Dokumente D  sowie auf die jeweilige Veränderungsfunktion h . Um Verwechslungen in der Kommunikation zu vermeiden könnte man die jeweiligen Symbole immer mit einem ’Index’ versehen, der den jeweiligen ’Kontext’ anzeigt, z.B. A_G
im Unterschied zu A_SW   oder h_G im Unterschied zu h_SW .

Aufgrund der minimalen Unterscheidbarkeit gilt dann generell, dass A_SW ⊆ A_G , d.h. die Akteure aus einem Subsystem sind spezieller als jene Akteure, die als Akteure einer globalen Gesellschaft gelten. Entsprechend verhält es sich in der Beziehung der Veränderungsfunktionen: h_SW ⊆ h_G.

Denkbar ist allerdings – und dies entspricht den empirischen Fakten –, dass es aufgrund der räumlichen Verteilung des homo sapiens auf der Erde (und zukünftig vielleicht auch im Weltall) gesellschaftliche Systeme gibt, die räumlich getrennt sind und die in ihrer ’Region’ das ’oberste’ gesellschaftliche System G darstellen, das  unterschiedliche Subsysteme haben kann. Faktisch gibt es dann viele gesellschaftliche
Systeme G_1 , …, G_n , die aufgrund ihrer separierten Existenz ’gleichberechtigt’ sind.
Andererseits wissen wir aufgrund der historischen Daten, dass es zwischen solchen räumlich verteilten gesellschaftlichen Systemen G sowohl ’kriegerische Handlungen’ gegeben hat, in denen das eine System G das andere System G_0 mit Gewalt erobert hat, oder es gab ’Wanderungsbewegungen’, die zu einer Vermischung der Akteure A_G , A_G_0 geführt hat. Solche Vermischung ( μ) – durch Eroberung oder Wanderung – konnten durch die unterschiedlichen ’Präferenz- und Wissensmodelle’ der Neuankömmlinge über die Interaktionen auf die bestehenden Dokumente und auf die Veränderungsfunktion h_G so einwirken, dass Modifikationen entstanden, etwa:

μ : A_G × A_G_0 × D_G × D_G_0 —> A_(G∪G_0) × D_(G∪G_0) × h_(G∪G_0)

Die führt zu einer Erweiterung des Referenzsystems zu einer ’Weltgesellschaft (WG)’:

G(x) iff x = <A, D, Σ, h> (5)
SW (x) iff x = <A, D, h> (1)
A_SW ⊆ A_G (12)
h_SW ⊆ h_G (13)
WG(x) iff x =<R3 , Γ, ∆, AF, μ>(14)
R3 :=  3 − dimensionale Koordinaten
Γ = U(A1 , …, An)
∆ =U(D1 , …, Dn )
AF := Artefakte
μ = 2^(R3 ×AF ×Γ×∆) —>  2^(R3 ×AF ×Γ×∆)

Die Grundidee ist die, dass die regional getrennten Gesellschaften miteinander vermischt werden können, was eine räumliche Umgruppierung von Akteuren und Dokumenten bedeuten kann. Andere wirksame Faktor sind z.B. der ’Handel’ oder neue ’Technologien’, die rein praktisch das alltägliche Leben verändert haben.

Im nächsten Kapitel 1 beschreibt Luhmann in erster Linie die Begriffe ’Bewusstsein’ und ’Kommunikation’ sowie deren Wechselwirkungen. Für diese Rekonstruktion werden die bisherigen begrifflichen Festlegungen berücksichtigt.

IV. LUHMANN 1991 KAP .1: BEWUSSTSEIN UND KOMMUNIKATION

A. Abschnitt I

Luhmann beginnt diesen Abschnitt mit der Frage nach dem ’Träger von Wissen‘
bzw.  Bewusstsein: Nach allerlei historischen Betrachtungen findet er einen ersten ’Ankerpunkt’ seiner Überlegungen in der grundlegenden Fähigkeit des Bewusstseins im Rahmen der Wahrnehmung grundsätzlich ’ein anderes’ wahrnehmen zu können. Es ist ein ’dass’, ein reiner ’Unterschied’, kein interpretierendes ’wie’. Diese Unterscheidung vom anderen ist die ’primäre Differenz’, die einen möglichen ’Anschluss’ für eine Kommunikation bietet und einen möglichen Referenzpunkt für eine mögliche ’sekundäre Zuschreibung’ von weiterem Wissen. (vgl. S.17)

Das ’Bewusstsein’, das Unterschiede wahrnehmen kann, operiert unter  stillschweigender Voraussetzung des ’Gehirns’ (= Nervensystem), ohne das Gehirn zu ’bemerken’. Der ’eigene Leib’ wird als bewusstseinsexterner ’Gegenstand’ erlebt. Damit externalisiert das Bewusstsein seine Zustände in die Welt hinein.(vgl.S.20)
Die Besonderheit des Bewusstseins liegt im ’Wahrnehmen’ und ’anschaulichen Imaginieren’. Ferner wird in der Wahrnehmung das Unterschiedene zugleich in einer ’Einheit’ erfasst.(vgl.S.20)

2) Kommunikation: Mit Rückgriff auf die Entwicklungspsychologie postuliert er, dass basierend auf dieser primären Unterscheidung im Bewusstsein eine erste ’Kommunikation’ angestoßen wird, noch vorab zum Spracherwerb. Und es ist diese erste Kommunikation die es nahelegt, ein ’alter ego’ im erfahrbaren Anderen zu unterstellen, und an dieses im Laufe der Zeit mehr Wissen anzulagern.(vgl. S.18f)

Und es wundert bei dieser Ausgangslage nicht, dass Luhmann postuliert, dass die Kommunikation Bedingung für ’Intersubjektivität’ ist und nicht umgekehrt. Innerhalb dieser Kommunikation wird zwischen ’Mitteilung’ und ’Information’ unterschieden. Diese Differenz soll dann nachgeordnet mit ’Sinngehalten’ angereichert werden.(vgl.S.19)

Kommunikation setzt Bewusstsein voraus, unterscheidet sich aber vom Bewusstsein, da ’Irrtum’, ’Täuschung’, ’Symbolmissbrauch’ der Kommunikation zugeordnet wird, nicht dem Bewusstsein.(vgl.S.21) Mit dem Grundsatz, dass die Wahrnehmung selbst nicht kommunizierbar ist (vgl.S.20), ergibt sich, dass logisches, kreatives Denken ohne Effekt bleibt, wenn es nicht kommunizierbar wird.(vgl.S.22)

Da Luhmann ferner annimmt, dass Wissen der Kommunikation zuzurechnen ist, nicht dem Bewusstsein (vgl.S.23), kann er weiter folgern, dass sich kein individuell bewusstes Wissen isolieren lässt.(vgl.S.22) Obwohl Kommunikation nicht zwingend auf Bewusstsein wirkt (vgl.S.22), kann Kommunikation das Leben und das Bewusstsein von Menschen auslöschen.(vgl.S.23)

3) Gehirn – Nervensystem: Das ’Nervensystem’ kann nur körpereigene Zustände unterscheiden und operiert daher ohne Bezug auf die Umwelt.(vgl.S. 19)

B. Diskussion
Luhmann bringt eine Reihe von Begriffen ins Spiel { z.B. ’Gehirn’, ’Bewusstsein’,  ’Wahrnehmung’, ’Differenz’, ’Kommunikation’, ’Mitteilung’, ’Information’, ’Sinngehalt’,
’Irrtum’, ’Täuschung’, ’Symbolmissbrauch’, usw. } , die zunächst relativ undifferenziert und nur locker in Beziehung gesetzt werden.

Nach der vorausgehenden Diskussion haben wir als bisherigen Referenzrahmen die beiden Begriffe ’Subsystem Wissenschaft’, ’System Gesellschaft’, und – falls es mehrere regional unterschiedene Gesellschaften gibt – die ’Weltgesellschaft’ (für einen erster Formalisierungsansatz siehe oben).

Davon unterschieden wird für die Begriffe { ’Gehirn’, ’Bewusstsein’,
’Wahrnehmung’, ’Differenz’ } In einer ersten Annäherung   angenommen, dass diese einem einzelnen Akteur A zuzurechnen sind. Dies erfordert, dass man den Akteur selbst als ein System sieht, der verschiedene Sub-Systeme umfasst, etwa so:

A(x) iff  x = <BR, PERC, PH, CONSC, ψ> (30)
BR := Gehirn (31)
ψ :  BR —> PERC × PH × CONSC (32)
PERC := Wahrnehmung (33)
PH := Phaenomene (34)
CONSC ⊆ 2^PH (35)

Das ’Gehirn (BR)’ erzeugt mittels der Funktion ψ ’Wahrnehmungen (PERC)’, die aufgrund von erfassbaren ’Differenzen’ unterscheidbare ’Phänomene (PH)’ erkennen lassen. Diese Phänomene bilden den ’Raum’ des ’Bewusstseins (CONSC)’. Weitere Aussagen sind an dieser Stelle noch schwierig.

Darüber hinaus muss man die Begriffe { ’Kommunikation’, ’Mitteilung’, ’Information’, ’Sinngehalt’,’Irrtum’, ’Täuschung’, ’Symbolmissbrauch’ } einordnen. Da Luhmann die Kommunikation als eigenes System sehen will, innerhalb dessen Mitteilungen und Informationen auftreten können, die mit Sinngehalten irgendwie in Beziehung stehen, dazu die Phänomene ’Irrtum’, ’Täuschung’ und ’Symbolmissbrauch’, muss man ein weiteres System annehmen, etwa so:

COM (x) iff x = <MT, INF, …>(36)
MT := Mitteilungen (37)
INF := Informationen (38)
… := Weitere Eigenschaften (39)

Wie genau dann das System Kommunikation (COM) funktionieren soll, wie das Zusammenspiel seiner unterschiedlichen Eigenschaften ist, wie genau das Wechselspiel mit dem Bewusstsein zu sehen ist, das ist an dieser Stelle noch unklar.

Ganz allgemein kann man schon an dieser frühen Stelle der Lektüre feststellen, dass Luhmann trotz seiner systemanalytischen Intentionen keinerlei Anstalten trifft, seine Überlegungen in Form einer wissenschaftlichen Theorie zu organisieren. Weder macht er sich Gedanken über eine notwendige Sprache noch über einen formalen Aufbau. Dementsprechend ist auch nicht klar, wie in seine ’Theorie’ Begriffe ’neu eingeführt’ werden können (andere nennen dies ’Definitionslehre’). Genauso wenig wie er irgendwelche überprüfbaren Qualitätskriterien für seine ’Theorie’ formuliert. Wann ist seine Theorie ’erfolgreich’? Wann ist sie ’wahr/ falsch’? … oder was auch immer man als Kriterium benutzen möchte.

Das gänzliche Fehlen dieser Überlegungen rächt sich im weiteren Verlauf nahezu auf jeder Seite.

C. Abschnitt II
In diesem Abschnitt werden die Begriffe ’Bewusstsein’ und ’Kommunikation’ als Systeme von Luhmann weiter ausdifferenziert; dazu ein paar Bemerkungen zur Autopoiesis.

1) Systemtheorie, Autopoiesis: Luhmann hält nochmals fest, dass eine fundamentale Annahme der Systemtheorie darin besteht, dass man eine Differenz von ’System’ und ’Umwelt’ annimmt. Daraus folgt einerseits, dass kein System außerhalb seiner eigenen Grenzen operieren kann, (vgl.S. 28) aber auch, dass jedes System in einer Umwelt existiert. Zwischen Umwelt und System darf man Kausalbeziehungen annehmen, die aber nur ein externer Beobachter beobachten kann.(vgl.S. 29) Zugleich gilt, dass ein
System immer schon an die Umwelt ’gekoppelt’ ist. Er behauptet sogar weiter, dass ein System immer schon angepasst sei.(vgl.S. 29)

Mit dieser Formulierung steht Luhmann im Gegensatz zu den Erkenntnissen der Evolutionsbiologie, die offengelegt hat, dass alle zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachtbaren ’Passungen’ Ergebnisse langwieriger dynamischer  Anpassungsprozesse sind. In diesem Licht sind – zumindest lebende – Systeme in einer Umwelt niemals völlig unabhängig von dieser. Der von Luhmann gewählte
Begriff der ’Systemkopplung’ erfüllt zwar formal zunächst seinen Zweck, aber er wird der komplexen Interaktionsdynamik von (lebenden) Systemen und Umwelt nicht voll gerecht.

Insofern ist in diesem Zusammenhang sein Hinweis interessant, dass ’Autopoiesis’  (Anmerkung: Zum Begriff finden sich zahlreiche online-Quellen von Whitaker (2010) [Whi10]) nicht besage, dass das System allein aus sich heraus… ohne jeden Beitrag aus der Umwelt existiere.(vgl. S.30) Er schließt damit formal weitere  Interaktionsbeziehungen nicht grundsätzlich aus, klammert sie aber aus seiner formalen Analyse hier aus. Solange diese Ausklammerung den Hauptinhalt seiner Analysen nicht wesentlich verändert, kann er dies machen. Wenn aber – und der weitere Fortgang erweckt diesen Eindruck – dadurch wichtige grundlegenden Eigenschaften des Hauptgegenstandes durch formal angeregte Selektionen eliminiert werden, dann ist dieser Sachverhalt für die Untersuchung erheblich.

Aufgrund der zuvor vorgenommenen Selektion und der damit einhergehenden Vereinfachung kann Luhmann sich auf die ’Innensicht’ der isolierten Systeme fokussieren. Und er schreibt dann ganz klar, dass es vielmehr nur darum geht, ”dass die Einheit des Systems und mit ihr alle Elemente, aus denen das System besteht, durch das System selbst produziert werden. Selbstverständlich ist dies nur auf der
Basis eines Materialkontinuums möglich … Selbstverständlich braucht solch ein Prozess Zeit…”(S.30)

Die Begriffe ’Materialkontinuum’ und ’Zeit’ verweisen auf eine empirische Umwelt, ohne die es beides nicht geben würde. Und obwohl er auf die ’Autonomie’ der Systeme abhebt, kommt er nicht umhin, festzustellen, ”… der Begriff der strukturellen Kopplung wird uns daran erinnern, dass das System laufend Irritationen aus der Umwelt registriert und zum Anlass nimmt, die eigenen Strukturen zu respezifizieren. (S. 30)

Solange man die ’Irritationen’, die durch eine strukturelle Kopplung hervorgerufen werden (Anmerkung: Beruhen diese ’Irritationen’ auf einer Kausalbeziehung?) , in der
Unbestimmtheit belässt, in der sie Luhmann präsentiert, spielen diese ’Irritationen’ keine ’inhaltlich fassbare’ Rolle. Eigentlich erscheinen sie überflüssig. Andererseits erwähnt Luhmann sie aber, weil sie irgendwo offensichtlich wichtig sind. In welchem Sinne sind sie wichtig? Von lebendigen Systemen wissen wir, dass diese Kopplungen für das System ’wesentlich’ sind (z.B. die Energiezufuhr einer eukaryotischen Zelle).

Man muss daher die Frage stellen, ob eine Systembeschreibung nicht so angelegt sein sollte, dass sie den für das System erheblichen Grund der strukturellen Kopplung für das System sichtbar machen sollte, so dass die weiteren ’Systemfunktionen’ auf der Basis der grundlegenden Struktur ’verständlich’ werden? Eine Systembeschreibung, die wesentliche Systemeigenschaften und Systemdynamiken von vornherein ausklammert wirkt ansonsten ein wenig ’willkürlich’, ’voreingenommen’, ’dogmatisch’. Diese
wissenschaftsphilosophische Kritik stellt damit nicht den Systembegriff als solchen in Frage, sondern nur eine spezielle Anwendung auf einen der Theoriebildung vorgelagerten Phänomenbereich.

Für Luhmann folgt aus seiner Verwendung des Systembegriffs, dass ”’lebende  Systeme’, ’Bewusstseinssysteme’ und ’Kommunikationssysteme’ verschiedenartige, getrennt operierende selbstreferentielle Systeme [sind]”.(S. 28). Damit sendet er ein klares Signal aus, dass er die möglicherweise gegebenen wichtigen strukturellen und funktionellen Zusammenhänge dieser identifizierten Systeme durch eine andere Verwendungsweise des Systembegriffs im Falle der angesprochenen Phänomene bewusst ausklammert.

Als methodisch motiviertes Gedankenexperiment kann eine solche begriffliche Anordnung Sinn machen, für die theoretische Rekonstruktion der erfahrbaren Wirklichkeit kann dieses Vorgehen aber in die Irre führen. Dies umso mehr, als Luhmann nirgendwo entscheidbare Kriterien etabliert hat, anhand deren man in minimaler Weise einen ’Erfolg’ oder ’Misserfolg’ seines Gedankenexperiments ablesen
könnte.

Das Beispiel lebender Systeme zeigt seit vielen Milliarden Jahren, dass Anpassungsprozesse nur durch das Wirken von sehr harten Kriterien funktionieren. Das harte Kriterium ist im Fall lebender Systeme die (i) Aufrechterhaltung eines Prozesses, dessen innere Logik in der (ii) individuellen Ausnutzung von freier Energie besteht, die in einer (iii) populationsweiten Abfolge von Systementwürfen (iv) die Population im Spiel hält. Das einzelne System ist hier eindeutig nur zu verstehen als ein Element einer größeren Population, die ein spezifisches Prozessmodell umsetzt. Man müsste in diesem Fall daher von vornherein einerseits (a) das System ’Population’ selektieren, das als Teil des Systems (b) ’Umwelt’ im Rahmen eines ’Prozesses’ den sowohl populären wie individuellen (c) ’Lebensprozess’ realisiert. Ferner wissen
wir heute, dass eine Population nicht ausreicht, sondern dass wir es mit einem (a*) ’Netzwerk von Populationen’ zu tun haben, die wechselseitig füreinander wichtige Funktionsleistungen erbringen. Will man diese Realität erfassen, dann kann man mit dem stark reduktionistischen Ansatz von Luhmann eigentlich nur scheitern.

Wohlgemerkt: das Problem ist nicht der Systembegriff als solcher, sondern die
Art seiner Anwendung auf eine empirisch vorhandene Realität.

2) Bewusstsein: Nach dem Vorausgehenden ist bekannt, dass Luhmann das Phänomen ’Bewusstsein’ als ein eigenständiges System selektiert hat. Er spricht im Fall des Bewusstseins auch von einem ’psychischen System’.(vgl. S.23) Entsprechend seiner allgemeinen Annahme zu Systemen kommt er dann zu Aussagen wie ”… psychische Systeme operieren selbstreferentiell-geschlossen und sind
füreinander unzugänglich…” (S. 23), oder auch ”Dem Verstehen psychischer Systeme … fehlt die für den Kommunikationsprozess notwendige Diskretheit. Psychisch gibt es hier kein entweder/oder. Genau das braucht aber der Kommunikationsprozess, um seine eigene Autopoiesis fortsetzen zu können. …Innere Unendlichkeit der psychischen Systeme…”(S. 26)

Neben den schon angemerkten eliminierenden Selektionen, die Luhmann zuvor schon vorgenommen hat, erscheint die Behauptung, dass es psychisch kein ’entweder/oder’ gibt gewagt, da ja (was Luhmann über viele Seiten schlicht ausklammert) das Bewusstsein sich gerade dadurch auszeichnet, dass grundlegend mindestens folgendes möglich ist. (i) die Unterscheidung von Bewusstseinsinhalten anhand von Eigenschaften; (ii) die Identifizierung des Unterschiedenen in der Unterscheidung, eben
die Eigenschaftskomplexe, die oft ’Phänomene’ genannt werden; (iii) die erlebbare ’Einheit’ trotz ’Unterscheidung’.

Das Bewusstsein erlebt     unterscheidbare Phänomene nicht nur einfach so, sondern z.B. diese Phänomene auch als Elemente in einem ’Raum’, der unhintergehbarer Bestandteil des Erlebens ist. Nur deshalb kann das Bewusstsein diese Elemente auch ’in Beziehung setzen’, hier in räumliche Beziehungen wie z.B. a ist ’über’ b oder a ist ’unter b’. Zum aktuellen Erleben gehört sogar die Befähigung, (iv) ’Aktuelles’ im Vergleich zu ’Erinnertem’ zu sehen, also in einer zeitlichen Relation. Das ’Gedächtnis’
als ’Quelle’ von Erinnerungen ist selbst zwar kein Bestandteil des Bewusstseins (ein eigenes strukturell gekoppeltes System), aber diese Kopplung zwischen Bewusstsein und Gedächtnis ist funktional so ausgelegt, dass das Gedächtnis die aktuellen Phänomene quasi simultan ’kommentiert’, unaufgefordert, aber kausal dazu genötigt.

Dies ist ein klarer Fall, in dem die strukturelle Kopplung auf der Ebene des Systems Bewusstsein zum Gedächtnis hin abgeschottet erscheint, aber auf der Ebene des Systems ’Gehirns’ sind sowohl Bewusstsein wie Gedächtnis Teilsysteme, die das System Gehirn so ’prozessiert’, dass Inhalte des Bewusstseins ’für das System Bewusstsein unsichtbar’ in das System ’Gedächtnis’ ’transportiert’ werden und umgekehrt. Für das Funktionieren des Systems Bewusstsein ist diese kausale
Maschinerie wesentlich!

Wenn Luhmann an anderer Stelle feststellt, dass ”das Bewusstsein an die neurophysiologischen Prozesse ’seines’ Organismus gekoppelt [ist] ohne sich diesen Prozessen anpassen zu können. Es kann sie nicht einmal wahrnehmen…”(S.29) dann nimmt er diesen fundamentalen Zusammenhang beiläufig zur Kenntnis, zieht daraus aber keine weiteren Konsequenzen für sein Gedankenexperiment. Die Realität des biologischen Systems Körper, in das das System Gehirn eingebettet ist, und darin Bewusstsein und Gedächtnis, ist aus der Sicht des Gesamtsystems Körper auf bestimmte Funktionen ausgelegt, für deren Erfüllung viele Teilsysteme zusammen arbeiten müssen. Im Fall Bewusstsein haben wir mindestens die Teilsysteme ’Wahrnehmung’, ’Gedächtnis’ und ’Bewusstsein’. Obwohl die Teilsysteme ’Wahrnehmung’ und ’Gedächtnis’ aus Sicht des Systems Bewusstsein strukturell so ’gekoppelt’ sind, dass das Bewusstsein keinen direkten Einfluss auf die kausal eingekoppelten Irritationen hat, sind diese Irritationen in Form
von Wahrnehmungsereignissen und Erinnertem für das Funktionieren des Bewusstseins wesentlich!

Luhmanns Verwendungsweise des Systembegriffs greift hier einfach zu kurz; er selektiert zu viele wichtige empirische Phänomene im Vorfeld, um seine Verwendungsweise ’passend’ zu machen. Seine Formulierung vom ’Gedächtnis’, ”… [das] nichts anderes [sei] als die Konsistenzprüfung in der jeweils aktuellen Operation, also Aktualisierung ihres jeweils nutzbaren Verweisungszusammenhangs)…” (S.31)
kann man zumindest so verstehen, als dass er weitergehende Funktionen des Gedächtnisses in Abrede stellt. Von der Psychologie wissen wir, dass das Gedächtnis erheblich mehr leistet als eine bloße ’Konsistenzprüfung’. Das Gedächtnis arbeitet kontinuierlich (auch ohne bewusste Anteile), selektiert, abstrahiert, assoziiert, bewertet, bildete Netzwerke, ändert, interpretiert durch ’ist-ein-Exemplar-von-
Struktur X’, und vieles mehr.

In diesen Zusammenhang passen auch die Bemerkungen Luhmanns zum Verhältnis von Sprache und Bewusstsein: ”Man wird vielleicht einwenden, dass das Bewusstsein ’sprachförmig denken’ könne. Gewiss! Aber solches Denken ist keine Kommunikation. Und wenn es für sich alleine läuft, sieht das Ergebnis ungefähr so aus …. Fast nimmt die Eigenproduktion von Worten und Satzstücken dann die Form von … fluktuierenden Wortwahrnehmungen an – befreit von jeder Rücksicht auf Verständlichkeit. Operativ besetzen und reproduzieren Wort- und Satzfetzen dann das Bewusstsein mit der Evidenz ihrer Aktualität, aber nur für den Moment”.(S. 32)

Diese Sätze beziehen ihre ’Wahrheit’ aus der vorausgehenden Selektion, dass die mögliche ’Bedeutung’ von Worten, der ’Sinn’ von Sätzen’ ausschließlich im System ’Kommunikation’ verortet ist (siehe unten im Text). Diese Selektion widerspricht aber nicht nur der Selbsterfahrung jeden Sprechers/ Hörers, sondern auch zahllosen empirischen Untersuchungen. Zwar hat Wittgenstein in seiner späteren Phase alles getan, um die Idee zu kommunizieren, dass die Bedeutung sprachlicher Äußerungen sich ausschließlich durch die Beobachtung der ’Verwendung’ dieser Äußerungen im ’Kontext’ erschließen lasse, aber jede nähere Analyse kann schnell zeigen, dass diese Annahme nur so lange funktioniert, wie man den Begriff ’beobachten’ und den vorausgesetzten ’Beobachter’ mehr oder weniger ’neutralisiert’.

Es ist zwar richtig, dass man die Verwendungsweise von sprachlichen Ausdrücken im Kontext ’beobachten’ kann, aber sobald man zu ergründen versucht, warum ein Sprecher-Hörer ein Umgebungsmerkmal mit einer bestimmten sprachlichen Äußerung  verknüpft oder umgekehrt bei Hören einer bestimmten sprachlichen Äußerung auf ein bestimmtes Umgebungsmerkmal verweist, wird man feststellen, dass ohne die Annahme einer entsprechenden ’Kodierung’ dieser Beziehungen zwischen
’Ausdruck’ und ’Umgebungseigenschaften’ (es gibt ja auch Bedeutungsverweise auf Sachverhalte, die nicht in der aktuellen Situation präsent sind!) ’im’ jeweiligen Sprecher-Hörer kein einziges Sprachspiel  funktioniert. (Anmerkung: Eine Erfahrung, die die ersten Sprachlernexperimente mit Robotern sehr schnell offen gelegt haben!)

Mit der Annahme der Verortung der fundamentalen Kodierungen von Ausdrücken und Gemeintem ’im’ Beobachter, im Akteur – und zwar primär im Gedächtnis und darüber indirekt im Bewusstsein – ist die Feststellung Luhmanns, dass sowohl ”die  Zeichenhaftigkeit der Mitteilung als auch die Information selbst … nicht als Bewusstseinsoperationen in das System, nicht als Wissen eines psychischen
Systems, das vorher da ist, dann in die Kommunikation eingegeben werden…” (vgl.S. 24) dann tendenziell irreführend. Natürlich kann die Kodierung im Bewusstsein (Gedächtnis) als solche nicht in die Kommunikation gelangen, aber das Auftreten von Worten in der Kommunikation setzt die Verfügbarkeit der zugrunde liegenden Kodierungen in den Bewusstseinen (bzw. Gedächtnissen) der beteiligten
Kommunikationsteilnehmer voraus! Das Konzept einer Kommunikation als eigenständiges System, das ohne Rückgriff auf die beteiligten Bewusstseins-Systeme ’Informationen’ transportieren könnte, ist buchstäblich ’haltlos’: die Worte und Wortfolgen als Kommunikationseinheiten funktionieren ’zwischen’ Bewusstseins-System semantisch nur unter simultaner Voraussetzung der individuell verankerten
Kodierungen. Nur unter dieser Voraussetzung ist es verstehbar, dass Kommunikationseinheiten, die gekoppelt ein Bewusstsein irritieren können, dies nicht unspezifisch tun, sondern unter Voraussetzung der semantischen Kodierung aufgrund der Kommunikationseinheiten dann Bedeutungsnetzwerke im angekoppelten Bewusstsein aktivieren, die z.B. im jeweiligen Bewusstsein bestimmte Erwartungen
auslösen können. (siehe dazu S.33)

3) Kommunikation: Obwohl im vorausgehenden Abschnitt verschiedentlich deutlich wurde, dass eine Abgrenzung von ’Bewusstsein’ gegenüber ’Kommunikation’ und umgekehrt im Sinne der Systemtheorie nur bedingt funktioniert, versucht Luhmann dennoch auch die Kommunikation als eigenständiges System zu konzipieren.

Für Luhmann besitzt das System ’Kommunikation’ seine Referenz in der ”Kommunikation im sozialen System der Gesellschaft”(S. 31). Es ist nicht der ’Mensch’, der kommuniziert, sondern ”nur die Kommunikation kann kommunizieren” (S. 31). Die ”Kommunikation ist ein operativ selbständiges System. Die Erzeugung von Kommunikation aus Kommunikation ist ein selbstreferentieller Prozess.”(S.24) ”Jede
Kommunikation erzeugt von Moment zu Moment… eine eigene  Nachfolgekommunikation.”( S. 31f) Oder: ”Wenn Kommunikation in Gang kommt, bildet sie ein eigenes autopoietisches System mit eigenen rekursiv vernetzten Operationen, das sich auf die Fähigkeit des Bewusstseins zur Transparenz auf der Grundlage von Intransparenz verlassen kann.”(S. 26)

Diese Formulierungen wirken sehr ’scholastisch’ in dem Sinne, dass hier der Eindruck erweckt wird, als ob es nur darum geht, die formalen Anforderungen einer Systemtheorie zu erfüllen, ohne Rücksicht auf die Phänomene selbst. Zu sagen, dass es nicht der Mensch sei, der kommuniziert, sondern die Kommunikation selbst, klingt formal korrekt, wenn man einen bestimmten Systembegriff voraus setzt, aber berücksichtigt man den zuvor hervorgehobenen Sachverhalt, dass die Kodierung von sprachlichen Ausdrücken mit potentiell ’Gemeintem’ nur jeweils in den beteiligten Bewusstseins-Systemen vorliegen kann, und deswegen auch nur diese mögliche ’Informationen’ der Kommunikation aktualisieren können, dann macht es so recht keinen Sinn, zu sagen, nur die Kommunikation ’kommuniziere’. Das System
’Kommunikation’ erscheint eher als ein ’Sub-System’ der agierenden Bewusstseins-Systeme, die je nach interner Konstellation unterschiedliche Kommunikationselemente aktivieren, deaktivieren, verändern.

Vor diesem Hintergrund macht die Formulierung ”Was als Verstehen erreicht ist, wird daher im Kommunikationsprozess souverän entschieden und als Bedingung fürs Weitermachen bzw. für klärende Zwischenkommunikation markiert….”(S.26) nur Sinn, wenn sowohl das ’Verstehen’ wie auch das ’Entscheiden zum Weitermachen’ im Bewusstseins-System verortet ist. Die Kommunikationselemente als solche bieten keinerlei Anknüpfungspunkte weder für Verstehen noch für Entscheiden.

Es ist dann schon merkwürdig, wenn Luhmann einerseits registriert, dass es bei Kommunikation einen ’Übertragungseffekt’ gibt, der ”System und Umwelt von Moment zu Moment [koordiniert]”, aber es dann als ”eine offene Frage” ansieht, ”wie weit das psychisch gehen muss”. Allerdings schließt er aus, dass diese Koordinierung weder zum ”Bewusstseinsinhalt noch zum Mitteilungsinhalt” wird.(vgl.S.27) Würde Luhmann die empirische Verankerung der semantischen Kodierung in den beteiligten
Kommunikationsteilnehmern akzeptieren, dann wäre klar, dass  Kommunikationsereignisse über die strukturelle Kopplung bewusstseinsrelevant werden würden, sie würden im einzelnen Bewusstsein als ’Mitteilung’ dekodiert.

Durch die Strategie der Ausklammerung des individuellen Bewusstseins aus dem Kommunikationsprozess reißt Luhmann mutwillig eine Lücke auf; plötzlich gibt es keinen wirklichen Adressaten mehr in der Kommunikation. Luhmann versucht dieses ’Loch’ dadurch zu ’stopfen’, dass er den alten ’Persona’-Begriff für seine Zwecke reaktiviert: ”Personen können Adressen für Kommunikation sein… Sie können als Aufzeichnungsstellen vorausgesetzt werden…als Zurechnungspunkte für  Kausalannahmen…All das … ohne jede determinierende Auswirkung auf Bewusstseinsprozesse.”(S. 34)

Immerhin denkt Luhmann sein formales System-Konzept auf seine Weise konsequent.
Abgekoppelt vom System Bewusstsein stellt sich die Frage, was denn dann  Kommunikation überhaupt noch ’tut’. Luhmann bezieht eine klare Position: ”Jenseits der psychischen Systeme differenziert und synthetisiert Kommunikation ihre eigenen Komponenten ’Information’, ’Mitteilung’ und ’Verstehen’.”(S.24) ”Die Mitteilung wird als ’Zeichen’ für eine ’Information’ genommen.”(S. 24) ”Mitteilung und Kommunikation
werden in der Kommunikation ’aufgebaut’, ’abgebaut’, ’aktualisiert’, evtl. ’aufgezeichnet’, ’evtl. erneut ’thematisiert’.(S.24)

Unterstellt man, dass Luhmann mit ’Mitteilung’ die Ausdruckselemente (einer Sprache) sieht, mittels deren Kommunikation ’realisiert’ wird, und mittels denen dann auf eine mögliche ’Information’ ’hingewiesen’ wird, die dann wiederum ein ’Verstehen’ implizieren können, dann verheddert sich diese Interpretation wieder mit den empirischen Fakten einer im Bewusstsein-System verorteten semantischen Kodierung (Anmerkung:   Luhmann verwendet an dieser Stelle den Begriff ’Information’ völlig losgelöst von Shannon (1948) [Sha48]. Er stellt aber auch nicht sicher, wie er die ‚Referenz‘ seines Begriffs ‚Information‘ sieht.).

In diesem Zusammenhang ist auch die Feststellung von Luhmann ”Die Kommunikation teilt die Welt nicht mit, sie teilt sie ein in das, was sie mitteilt und das, was sie nicht mitteilt” (S.27) formal korrekt für seine Systemannahmen, aber mit Blick auf die Empirie und ein Systemkonzept, was die semantische Kodierung berücksichtigt, eher fragwürdig. Die ’Kommunikation’ ist für Bewusstseins-Systeme mit semantischer
Kodierung nur eine ’für sich genommen’ bedeutungslose Ereigniskette, deren Elementgrenzen nur dann und insoweit etwas ’bedeuten’, als sie durch Verbindung mit einer semantischen Kodierung virtualisierte Weltbezüge aktivieren und durch die Art ihrer Anordnung diese virtualisierten Weltbezüge ’einteilen’ und ’anordnen’. Da die individuellen semantischen Kodierungen untereinander variieren können, kann der
gleiche Strom von Kommunikationsereignissen bei den Beteiligten ganz unterschiedliche Reaktionen auslösen.

QUELLEN

  • [Bro72] G.Spencer Brown. Laws of Form. The Julian Press, Inc., New York, 1 edition, 1972. Originally published London, 1969).
  • [Luh91] Niklas Luhmann. Die Wissenschaft der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt, 2 edition, 1991.
  • [Sha48] C.E. Shannon. A mathematical theory of communication. The Bell System Technical Journal, 27:379–423, 623–656,
    1948. July and October 1948.
  • [Whi10] Randall Whitaker. THE OBSERVER WEB: Autopoiesis and Enaction. The Biology of Cognition, Autopoietic Theory, and Enactive Cognitive Science. The Theories of Humberto Maturana and Francisco Varela. Dr. Randall Whitaker, 1 edition,
    2010.

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WENN PHILOSOPHISCHE SACHVERHALTE POLITISCH RELEVANT WERDEN

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 3.Januar 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: cagent
Email: cagent@cognitiveagent.org

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INHALT

I Referenzpunkt Wahrheit … 2
II Halbherzige Philosophie … 2
III Das Präsidentenspiel … 2
IV Spitze des Eisbergs … 2
V Die Kultur als Verusacher … 3
VI Wir sind alle infiziert … 3
VII Staatliche De-Formierung von Wissen? … 4
VIII Ein Schluss, der keiner ist … 4
Quellen

THEMA

Die Freilegung von Wahrheit durch philosophisches Denken bleibt wirkungslos, wenn das Alltagsdenken – und die Politik gehört dazu – sich der Wahrheit verweigert.

I. REFERENZPUNKT WAHRHEIT

In einem vorausgehenden Blogeintrag (Siehe DH) war philosophisch aufgezeigt worden, worin die grundsätzliche Wahrheitsfähigkeit des Menschen besteht.

Der Mensch, der Lebensform homo sapiens zugehörig, besitzt nach ca. 13.8 Milliarden Jahren Entwicklungszeit als erste Lebensform des beobachtbaren Universums die welt-verändernde Fähigkeit, durch die Beschaffenheit seiner inneren Struktur den Augenblick zu überwinden, kann Veränderungen erfassen, Muster, Regel,   kann Alternativen denken, kann sich mittels symbolischer Kommunikation mit dem Inneren anderer Lebewesen kurzschließen, und so zu neuartigen internen Bildern von der Welt da draußen kommen.

Zu internen Bildern von der Welt zu kommen, die angemessen sind, die wahr sind, ist zwar nicht einfach, verlangt einen großen gemeinschaftlichen Aufwand, ist aber grundsätzlich bei aller bleibenden Vorläufigkeit möglich. Zugleich wurde auch klar, wie leicht das Erarbeiten von angemessenen Weltbildern von einer Vielzahl von
Faktoren im individuellen wie auch im gemeinschaftlichen Einflussbereich gestört werden kann, so massiv, dass die Bilder unangemessen/ falsch werden können.

II. HALBHERZIGE PHILOSOPHIE

Obwohl Philosophen in vielen Jahrtausenden und Kulturen sich daran versucht haben, das Phänomen der Wahrheit zu fassen, gibt es bis heute kein philosophisches Konzept der Wahrheit, das in allen philosophischen Schulen, in allen Kulturen einheitlich verstanden und akzeptiert ist. Man hat eher den Eindruck, dass gerade die neuere Philosophie – sagen wir seit Ludwig Wittgenstein, um mal einen Referenzpunkt zu nennen – das Konzept von Wahrheit eher wieder aufgegeben hat. Die großartige kritische Arbeit, die ein Wittgenstein geleistet hat, führte damit nicht zu einer Erneuerung des Wahrheitskonzepts, sondern vielmehr zu seiner (vorläufigen) Zerstörung. Man darf sich dann auch nicht wundern, dass in einer solchen philosophisch ungeklärten Lage alle anderen sich ihren eigenen Reim auf Wahrheit machen, bis dahin, dass offensichtlich Falsches oder Unsinniges plötzlich benutzt
werden kann, als ob es ’wahr’ wäre.

Beispiele für das Versagen der menschlichen Kultur bei der Herausforderung, eine wahre Kultur zu sein, sind so vielfältig und überwältigend, dass man den Glauben an die grundsätzliche Wahrheitsfähigkeit fast verlieren könnte …. wüsste man nicht, dass es grundsätzlich möglich ist, und zwar für jeden, überall, zu jeder Zeit…

Hier einige Beispiel für das Versagen an Wahrheit.

 

III. DAS PRÄSIDENTENSPIEL

Der aktuelle Präsident eines der führenden westlichen Ländern der Welt demonstriert täglich, stündlich, fast minütlich, wie sein individuelles internes Weltmodell von der realen Welt gravierend abweicht. Die Kritik, den Spott und Hohn von anderen interpretiert er offenbar nicht als Anfrage an seine Wahrheitsfähigkeit, sondern als
Angriff auf ihn selbst, auf seine Person. Er scheint nicht differenzieren zu können zwischen seinem Denken, das er allen erzählt, und seiner Person, die dieses Denken praktiziert. Wäre er sich bewusst, dass sein Denken falsch sein kann (ein Problem, das in dieser komplexen Welt jeder hat), könnte er das Wahrheitsspiel spielen und die
Kritik konstruktiv aufgreifen, um die Wahrheitsbedingungen seines eigenen Weltmodells zu überprüfen und sein Weltmodell eventuell optimieren. Über die grundlegende Fähigkeit einer wahrheits-geleiteten Selbstkritik scheint er aber nicht zu verfügen. Wäre er ein Ingenieur, der technische Lösung für die Gesellschaft ersinnt und baut,
wäre dieser Mangel das sofortige Aus; ein Ingenieur ohne diese grundlegende Fähigkeit zur Selbstkritik seiner Denkmodelle würde sofort von allen seinen Kollegen als unfähig ausgesondert. Nicht so offensichtlich in der Politik. Jemand, der täglich den Eindruck erweckt, grundsätzlich Wahrheitsunfähig zu sein, darf nicht nur über das Schicksal einer großen Nation entscheiden, er darf auch in das Wechselspiel aller Nationen dieser Welt eingreifen… bis hin zur Einleitung von kriegerischen Handlungen, die das Leben und die Welt vieler, ganzer Völker, betreffen können.

IV. SPITZE DES EISBERGS

Der tägliche Spott und Hohn, der sich über diese so traurig erscheinende Gestalt der Politik ergießt, ist aber selbst traurig und sogar gefährlich.
Dieser, einer grundlegenden Selbstkritik unfähig erscheinende, Präsident ist ja kein isoliertes Phänomen. Es muss sehr viele Millionen Wähler gegeben haben – und wie es scheint, gibt es sie immer noch –, die sein verzerrtes Bild von der Welt teilen und beklatschen. Viele Millionen Bürger eines großen Landes tragen also in sich ein Weltbild mit sich herum, das überaus schlicht, und darin sehr falsch erscheint. Die philosophisch interessante Frage ist dann die, wie es möglich ist, dass ein Land, das als Teil der westlichen Kultur angesehen wird, das wirtschaftlich und technisch als hoch entwickelt gilt, unter seinen Bürgern das Entstehen von individuellen Weltbildern begünstigt und ermöglicht hat, die der Differenziertheit der heutigen dynamischen international vernetzten Wissens- und Finanzgesellschaft in keiner Weise gerecht wird.

Das Bizarre daran ist, dass man dies nicht einmal als Versagen der demokratischen Strukturen anprangern kann, denn diese funktionieren ganz offensichtlich. Nein, nicht die demokratischen Strukturen versagen, sondern die Akteure, die diese demokratische Strukturen leben, diese haben Weltbildern in ihren Köpfen, die hochgradig falsch erscheinen gemessen an dem Wissen, das wir heute über unsere Welt und unsere Prozesse haben können. Und von den vielen potentiellen Wählern, die durch ihre Wahlentscheidung mit entscheiden, welche Akteure zu den zeitlich begrenzten politischen Verantwortlichen werden können, scheint eine hinreichend große Menge an diesen falschen Weltbildern zu partizipieren.

Woher kommen also diese als unangemessen/ falsch erscheinen Weltbildern in den Köpfen der Menschen?

Wenn man irgendwo in einer Provinz weitab den globalen Weltläufen lebt, weitab von technologischen Entwicklungen, weitab von Forschungen, weitab von internationalen Konflikten, begrenzt auf überschaubare (oft religiös verbrämte) Lebensverhältnisse, dann kann man mit vergleichsweise einfachen Weltbildern weit kommen. Kleine Abweichungen im Alltag kann man durch gezielte Ausgrenzungen ’regeln’…
Wenn nun aber diejenigen, die in solchen Gegenden mit einfachen Weltbildern mit wählen können, und damit Einfluss nehmen können auf Politiker, die sich einem globalen Wirtschaftsgeschehen stellen müssen, einer globalen Forschung, einer globalen militärischen Situation, einem globalen Wettbewerb von Ideologien (auch Religionen), einer globalen Klimasituation, einem globalen Ökosystem … dann geraten diese einfachen Weltbilder der Provinz in einen Kontext, für den diese einfachen Weltbilder der Provinz nicht geschaffen sind. Dann kann es passieren, was
passiert ist, dass sich Politiker berufen fühlen, diese vereinfachten Weltbilder zu bedienen, die der differenzierten Weltlage eigentlich nicht gerecht werden. Dann kann die Unwahrheit in den vielen Köpfen zur herrschenden Unwahrheit werden. Damit kann sich ein ganzes Land selbst sprichwörtlich ’an die Wand’ fahren. Niemand kann
sich darüber freuen. Das ist nicht nur traurig, das ist furchtbar für alle direkt und dann auch indirekt Beteiligten.

V. DIE KULTUR ALS VERUSACHER

Wenn so etwas passiert, dass vereinfachte – und darin falsche – Weltbilder politisch die Oberhand bekommen, ist es ein beliebtes Spiel nach Sündenböcken zu suchen, irgendwelche Personen, Gruppierungen, Institutionen, die man namhaft machen möchte für das Zustandekommen eines solchen Zustands. Wenn aber eine ganze Nation über Jahrzehnte flächendeckend ein Bildungssystem und eine Medienlandschaft pflegt, die ganz offensichtlich das Entstehen von solchen flächendeckend vereinfachten Weltbildern ermöglicht, dann ist die Suche nach einem moralischen Sündenbock irreführend. Man muss dann die Frage stellen, ob nicht die gesamte Kultur einer solchen Nation dafür Mit-Verantwortung trägt, was in den Köpfen der Mehrheit ihrer Bürger an Weltanschauungen entsteht? Wenn extreme fundamentalistische, rassistische, moralische Strömungen, ein politisches 2-Kasten-Denken, ein
kaum selbstkritischer Nationalismus, und vieles mehr, über Jahrzehnte sich ungehindert ausleben konnten, wo sollen dann andere, mehr wahrheitsfähige Weltanschauungen herkommen? Welche einzelne Person will man dann zum Hauptbösewicht erklären?

Im historischen Rückblick gibt es zahllose Beispiele wie große Nationen, ganze Kulturen zu Schrott wurden, weil die übergreifenden Muster immer weniger passten, aber innerhalb der Kultur keine nennenswerten Gruppierungen vorhanden waren, das gesamte Muster zu reformieren. Wenn es nur um Machtstrukturen geht, die man zerstören kann, um der Wahrheit einen besseren Raum zu geben, mag vielleicht eine Revolution helfen, wenn es aber um ein kulturelles Muster geht, das in den Köpfen der Menschen verankert ist, dann reicht eine einfache Revolution nicht aus.

 

VI. WIR SIND ALLE INFIZIERT

Der Blick auf den Präsidenten eines großen westlichen Landes und der Hohn, der sich bei vielen findet, steht auf tönernen Füßen.

Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, ist sicher nicht verdächtig, ein Feind der deutschen Demokratie zu sein. Wenn man seinen umfassenden und zugleich differenzierten Bericht zu den Schwachstellen der Demokratie in Deutschland und Europa liest (Siehe: KIR17), dann kann man unschwer erkennen, wie hier alle Zutaten dazu gegeben sind, dass sich Machteliten von der wählenden Bevölkerung abkoppeln können, selbst wenn diese differenzierte Weltbilder hätten und lebten.

Ein beliebtes Ping-Pong-Spiel der Wählerverachtung geht so: bei aufkommender Kritik an einem allgemeinen Missstand lässt die zuständige Behörde verlauten, dass sie dies nicht ohne die EU angehen könne und daher eine entsprechende Eingabe an die einschlägige EU-Behörde gemacht habe. Die demokratisch nicht kontrollierten
EU-Behörden wiederum – deren intensive Verflechtung mit Lobbyisten mehrfach belegt wurden – tut darauf nichts oder erarbeitet eine Lösung, die zwar der nationalen Behörde genehm ist, nicht aber unbedingt den Wählern. Die nationale Behörde kann den schwarzen Peter dann immer der EU Behörde zuschieben. Auf diese Weise hat sich in vielen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft eine Klientelpolitik breit gemacht, die dem Bürger ein nachhaltiges Ohnmachtsgefühl vermittelt. Das Aufkommen von populistischen Strömungen dient dann als willkommene Ablenkung
von dem eigenen Demokratieversagen. (Anmerkung: Ein Kriterium für die Demokratieverachtung von Behörden ist u.a. ihr Verhalten gegenüber einer kritischen Presse. In zahllosen Fällen wurden im Jahr 2017 Anfragen von Reportern zu Recherchen schon im Vorfeld einfach abgeblockt. Behörden, die für die Sicherheit der Bürger zuständig sind, verweigern schlicht und einfach ihre Dienste. Ist es nicht  naheliegend, dies als eine moderne Form von ’Machtergreifung’ zu interpretieren?)

 

VII. STAATLICHE DE-FORMIERUNG VON WISSEN?

Moderne, wahrheitsfähige Wissensformen entstehen zu einem großen Teil – idealerweise – in Schulen und Hochschulen. Wissen, das hier nicht vermittelt wird, wirkt sich mit seinem Fehlen oder mit seinen falschen Formaten unmittelbar auf die gesamte Gesellschaft aus.

Dies ist ein komplexes Thema. Einige wenige Eckwerte können aber erahnen lassen, was sich in diesem Bereich aktuell abspielt.

Der gesamte Bildungsbereich ist chronisch unterfinanziert. Auf Länderebene wird das normale Schulsystem von Personen verantwortet, die überwiegend nichts von moderner Wirtschaft, von moderner Wissenschaft – speziell nicht von moderner Technologie – verstehen.

Die Hochschulen werden auf der einen Seite für ihren Normalbetrieb unterfinanziert, um sie auf der anderen Seite erpressbar zu machen, indem das fehlende Geld nur über Förderprogramme zugänglich ist, die von der Politik kontrolliert werden. Entgegen der geltenden Verfassung ist es mittlerweile übliche Praxis, dass junge Professoren
bei ihrer Einstellung darauf verpflichtet werden, auf jeden Fall einen bestimmte Geldbetrag für die Hochschule einzuwerben, obwohl dies den Zielen einer qualifizierten Lehre und einer innovativen Forschung entgegen gesetzt ist. Während die Hochschulen traditionell auch ein wichtiges kritische Korrektiv zur Gesellschaft bilden sollten, das
durch empirische Forschung die konkreten Prozesse in der Gesellschaft (Soziologie, Geschichte, Wirtschaft, Politik..) untersucht, wie sie tatsächlich sind (und nicht, wie sie die parteipolitische verformte Politik gerne sieht), werden diese kritischen Lehr- und Forschungsbereiche beständig weiter abgebaut. Damit macht sich eine Gesellschaft
selbst blind mit wahrscheinlich negativen Folgen, die dann – wie so oft – alle ertragen müssen.

VIII. EIN SCHLUSS, DER KEINER IST

Natürlich könnte man diese Betrachtungen beliebig vertiefen und international weiter ausdehnen. Letztlich wären es nur viele weitere Beispiele für das eine Thema: Die Schwierigkeit, die der homo sapiens im Umgang mit der Wahrheit hat. Obwohl der homo sapiens die erste Lebensform im beobachtbaren Universum ist, die überhaupt
wahrheitsfähig ist, ringt dieser homo sapiens bis heute damit, wie er seine Wahrheitsfähigkeit im komplexen Geflecht einer immer dichteren Weltgesellschaft mit so vielen unterschiedlichen Kulturen und der immer größeren
Beschleunigung in der Technologieentwicklung erhalten, bewahren und weiter entwickeln kann. Die Besonderheit dieser Situation liegt darin, dass sich dieses Problem nicht im Alleingang lösen lässt. Wahrheit ist ein kognitives Gebilde in einem Individuum, das mit der umgebenden Welt und den kognitiven Gebilden der
anderen Individuen koordiniert werden muss. Gelingt solche Koordination im großen Maßstab, dann löst dies große Bewunderungen aus (altes Ägypten, die
Römer, indische und chinesische (und japanische) Kultur, westliche Wissenschaft, Technologie und Finanzsysteme…); stürzt sie in sich zusammen, weil sie an ihrer eigenen Komplexität zerbricht, macht dies ein ungutes Gefühl: man spürt, dass solch eine Koordinierung immer auf tönernen Füßen steht. Kein Mensch kann letztlich gezwungen werden, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten oder zu denken. So grundlegend, wie die Wahrheitsfähigkeit, ist auch die Freiheit. Freiheit geht allem Denken und Wollen voraus.

Warum sollte ein Mensch etwas wollen?

Wenn wir in der Zukunft besser leben wollen als heute, mit mehr Wahrheit und Gerechtigkeit, dann wird dies nur geschehen, wenn es heute Exemplare des homo sapiens gibt, die ihre Wahrheitsfähigkeit und Freiheit auf eine neue, bessere Weise nutzen, als wir es bisher tun. Da der homo sapiens sich nicht selbst erfunden hat, sondern Ergebnis eines übergreifenden Prozesses ist, der offensichtlich größer ist als das einzelne Ergebnis, gibt es eine Anfangshoffnung, dass der homo sapiens prinzipiell eine Chance hat. Die Hoffnung stirbt zuletzt… 🙂

QUELLEN
[DH] Gerd (cagent) Doeben-Henisch. Wahrheit als unabdingbarer Rohstoff einer Kultur der Zukunft. Auf der Suche nach dem neuen Menschenbild, volume https://www.cognitiveagent.org/2017/11/20/wahrheit-als-unabdingbarer-rohstoff-einer-kultur-der-zukunft/. 20. November 2017.
[Kir17] Ferdinand Kirchhof. Demo-crazy? Es gibt neue Risiken für die Demokratie. Die EU ist vom Volk noch weit entfernt. Volksabstimmungen könnten das ändern. In Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), volume 296, page S.7. FAZ, 2017. 21. Dezember 2017.

 

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SINN-FREIHEIT-LIEBE. Viele Level. Zwischenbemerkung

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 26.Dezember 2017
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Letzte Änderung: 16.Februar 2019 (Einige Hervorhebungen hinzugefügt)

IDEE

Kurze Bemerkung zum Sinn.
Axiom: Wer nicht schon immer da ist, wird niemals ankommen.

KONTEXTE

Zum Thema ‚Sinn‘ hab es   vorausgehende Beiträge, von denen hier drei explizit erwähnt werden:  Einen mit dem Titel „Zur Grammatik des Sinns„, einen anderen mit dem Titel „Weil es Sinn gibt, kann sich Wissen akkumulieren, das Sinn sichtbar macht. Oder: warum die Frage ‚Warum gerade ich?‘ in die Irre führen kann„, sowie „SINN, SINN, und nochmals SINN„.  Alle drei  Beiträge sind ziemlich  grundsätzlich und können den vorliegenden Text weiter vertiefen.

I. VORBEMERKUNG

Eigentlich bewege ich mich in den letzten Wochen in Themen, die direkt keinen Bezug zum ’Sinn’ erkennen lassen, aber dennoch, womit immer man sich beschäftigt, es sind Teilbereiche der einen großen Wirklichkeit, innerhalb deren wir alle uns bewegen.
Ob ich nun die Wechselbeziehungen zwischen Menschen und technischen Systemen untersuche, oder die Vorausberechnungen für mögliche zukünftige Konstellationen von Welt, oder die mögliche Rolle von Meditation im Leben von Studierenden, oder die unterschiedlichsten Klangräume, oder Umgebungen für das Lernen …. man
ist unweigerlich verflochten mit den je größeren Strukturen, die in allem, Themen- und Disziplinen-übergreifend wirksam sind.

Das beständige Ausklammern dieser übergreifenden Themen ist gefährlich, vor allem macht es sie nicht unsichtbar, nicht unwirksam. Andererseits, je umfassender ein Thema ist, um so schwieriger ist es natürlich, es klar zu definieren.

Schon die Theorien experimenteller Wissenschaften wählen ja hier statt der Methode der expliziten Definition die Methode des ’Kollektivs von Parametern’, eingebettet in eine mathematische Struktur, in denen die Begriffe nicht isoliert erklärt werden, sondern nur im Zusammenhang aller anderen.

Es sollte daher nicht erstaunen, dass ich diese Methode des ’Parameter-Kollektivs’ samt möglicher Strukturen hier auch wähle.

II. DIE GROSSEN WÖRTER

Wenn es um das ’große Ganze’ des Lebens geht, so treffen wir in der Geschichte des homo sapiens auf einige ’große Wörter’, die immer und überall auftauchen, ohne dass Sie ’hinreichend erklärt’ werden. Sie haben Ihre Geschichten, ihre Lebenskontexte, die jeder ’irgendwie’ versteht, aber sie lassen sich nicht einfach dingfest machen,
nicht mit knackigen Definitionen fixieren; wie auch, schließlich geht es hier um tief liegende Zusammenhänge des realen Lebens, die vielfältig verflochten sind mit vielerlei Prozessen und darin wirksamen Faktoren (Parametern).

Beispiele solcher großen Worte sind ’Wissen’, ’Wahrheit’, ’Sinn’, ’Liebe’, ’Leben’, ’Intelligenz’, ’Verstehen’, ’Bedeutung’, ’Gut/ Böse’, ’objektiv/ subjektiv’, ’Ich/ Du/ Anderes’.

Irgendwie hängen alle diese Worte untereinander zusammen. So verbindet sich z.B. ’Wissen’ irgendwie mit ’Wahrheit’ und ’Verstehen’ mit ’Sinn’.

Am wichtigsten dürfte wohl der Umstand wiegen, dass alle diese ’Worte’ eine ’Sprache’ voraussetzen, eine Sprache setzt eine ’Population’ voraus, die diese Sprache praktiziert, und eine Population besteht aus sprachverstehenden und sprechenden Akteuren, die minimal wahrnehmen, lernen, erinnern und reagieren können.

Was immer man also zu und über die großen Wörter sagen will, man muss diesen Kontext einer realen aktiven Sprachgemeinschaft von Akteuren mit bedenken. Und da jeder Akteur – wie wir heute wissen – neben ’allgemeinem’ Wissen im Laufe seines Lebens sehr viel ’individuelles’ Wissen aus konkreten Situationen in sich ansammelt und auf individuelle Weise verarbeitet, muss man neben den allgemeinen Bedeutungen immer auch diese individuelle Lerngeschichte und das individuelle Wissensuniversum mit bedenke.

III. SINN

Das schon vorhandene Wissen ermöglicht es dem einzelnen, die aktuelle Weltwahrnehmung zu ’interpretieren’ und zu ’verarbeiten’. Das erleichtert die Orientierung. Wenn aber das bisherige Wissen von der ’Wahrheit’ abweicht,
dann tendiert die Wahrnehmung und die Verarbeitung dazu, von der ’Wahrheit’ mehr oder weniger abzuweichen.

Im Rahmen des verfügbaren Wissens kann dem einzelnen die Welt also mehr oder weniger ’sinnvoll’ erscheinen, oder auch nicht. So kann jemand beruflich Erfolg haben und zufrieden sein, zugleich aber im Beziehungsbereich unglücklich sein oder merklich leiden. Jemand kann in einer wunderbaren Beziehung leben, zugleich aber im Verein, in der Firma gerade kläglich scheitern. Und wenn die Mehrheit der Bevölkerung eines Landes den Eindruck hat, dass die wenigen Reichen sich skrupellos über alles hinweg setzen und gierig ihren Reichtum vermehren ohne Rücksicht auf die große Mehrheit, dann kann dies sehr wohl das Gefühl einer ’Sinnlosigkeit’ unterstützen.

Wenn die Evolutionsbiologen durch ihre Forschungen die Dramaturgie des biologischen Lebens entrollen, dann fällt es vergleichsweise leicht, im Falle einer aussterbenden Art angesichts einer dramatischen Veränderung der Lebensverhältnisse (Sauerstoffanteil, Klima, Vulkanausbruch, Meteoriteneinschlag, … ) im Nachhinein und mit gebührendem Abstand zu konstatieren, dass das einzelne betroffene Lebewesen, in dem Moment des Aussterbens eben keine Chance hatte. Wenn man aber selbst ein Lebewesen ist – was wir sind – in einer Situation von Hunger, Krieg, Gewalt, ideologischer Verdunkelung, von machtgierigen Cliquen, … dann ist solch eine lapidare Feststellung vom falschen Ort zur falschen Zeit wenig erfüllend…

Es deutet sich also an, dass der mögliche eine, alles erfüllende Sinn, sich im Geschehen des Universums (oder vieler Universen) und des welt- und zeit-umspannenden Lebens unausweichlich auf vielen verschiedenen Ebenen, in vielen verschiedenen Kontexten gleichzeitig zeigt. Eine Suche nach ’Sinn’ in nur einem Teilbereich, der möglicherweise schon im Ansatz durch ein falsches Wissen – und damit meist auch einer falschen Praxis – ’verzerrt’ ist, kann daher nur schwerlich zu einer befriedigenden Antwort führen. … es sei denn, man begreift, dass
man – egal in welchem Zustand und an welchem Ort – letztlich ein ’Geschenk’ des umfassenden Lebensprozesses ist, darin und dadurch auf eine tiefe und unauflösbare Weise ’Teil des Ganzen’ und in und durch diese Teilhabe auf eine sehr individuelle Weise eine Verantwortung für das Ganze dort hat, wo man gerade ist.

Aus der Sicht des ’Sinns’ gibt es kein ’Außen’, nur ein ’Innen’...In allen Jahrtausenden gab es ’spirituelle’ Traditionen,die hier in dieser unmittelbaren Teilhabe am umfassenden Sinn ihre Wurzeln haben.

Was hier am Beispiel von ’Wahrheit’ und ’Sinn’ angedeutet wird, gilt auch für die anderen großen Wort ’Liebe’ und Freiheit’.

IV. FREIHEIT

Während es immer wieder Strömungen gibt, die z.B. eine ’Freiheit’ im Falle des homo sapiens in Abrede stellen, gibt es eine grundlegende Erkenntnis zum physikalischen Universum, noch mehr aber im Falle des biologischen Lebens als Teil des physikalischen Universums, dass es grundlegenden ’nicht-deterministisch’ ist, d.h. in einem grundlegenden Sinne ’frei’ ist.

Sogar die oft viel beschworenen Computer sind trotz ihrer scheinbaren Einfachheit in
ihrem theoretischen Potential grundlegend nicht-deterministisch, d.h. in einem grundlegenden Sinne ein Potential für Freiheit. Daraus folgt nicht, dass wir deswegen schon automatisch verstehen, was ’Freiheit’ ist, wie sie ’funktioniert’, aber sie ist eine grundlegende Eigenschaft von allem, was wir empirische erkennen können, einschließlich unserer selbst.

Dieses Phänomen der ’Freiheit’ ist so grundlegend, dass man fast sagen kann, dass sich ’Wirklichkeit’ gerade über ’Freiheit’ definiert. Ohne die grundlegende ’Freiheit’ in  allem gäbe es keine Wirklichkeit, gäbe es kein Leben (und damit auch nicht uns), gäbe es kein Universum.

Es ist genau dieses Phänomen der ’Freiheit’, das u.a. dafür verantwortlich ist, dass Menschen ein A erkennen können, sich dieser Erkenntnis aber auch verweigern können. Wahrheit ist grundlegend möglich, wir können sie aber verunstalten, verleugnen, wir können eine Art ’Un-Wahrheit’ erzeugen. Ohne Freiheit gäbe es aber weder Wahrheit noch Unwahrheit. Der Preis der Wahrheit ist die grundlegende Freiheit zur Unwahrheit.

V. FREIHEIT UND SINN

Dies gilt auch für unser Verhältnis zum Sinn: wir können akzeptieren, dass wir an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit Teil eines größeren Ganzen sind und darin unseren individuellen Beitrag leisten (*), wir können es aber auch übersehen, ausblenden, uns verweigern, und hinter Ausreden und Ängsten verbarrikadieren…

(*) Anmerkung: Damit meine ich nicht, dass man einfach hinnimmt, was gerade ist, sondern dass man seine Freiheit nutzt, die Handlungsräume aktiv zu gestalten. Die Geschichte der Menschheit zeigt viele beeindruckende Beispiele, was Menschen können, wenn sie wollen … natürlich leider auch, was sie nicht können, weil andere Menschen – oder die realen Umstände – sie daran hindern …

VI. LIEBE

Das große Wort ’Liebe’ ist nicht weniger schillernd als die zuvor genannten großen Worte. Aber, wie man vielleicht schon ahnen kann, ist auch die ’Liebe’ eingewoben in diese Vielschichtigkeit des Lebens: Im Kraftfeld von ’Wahrheit’, ’Sinn’ und ’Freiheit’ erscheint ’Liebe’ jenes Momentum zu sein, was uns letztlich in eine bestimmte Richtung ’zieht’, uns ’Mut’ macht, uns die ’Angst nimmt’, und handeln lässt.

VII. RESÜME

Man kann die großen Worte nicht gegeneinander ausspielen; sie hängen untereinander zusammen; das eine hilft dem anderen. Leider auch umgekehrt: wo Wahrheit oder Sinn oder Freiheit oder Liebe leiden, leidet auch das andere mit. Das Leben ist ein Gesamtkunstwerk, das sich im Prinzip so lange nicht voll verstehen lässt, so lange es ’stattfindet’, und doch, das ist schwer zu verstehen, jeder kann zu jeder Zeit an jedem Ort so viel von Sinn und Liebe und Freiheit erfahren, das er/sie/es das subjektive Gefühl hat, er/sie/es ist Teil von dem großen Ganzen.

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