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Buch: Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab? – Kapitel 2 (neu)

Der folgende Text ist der Vorabdruck des Kapitel 2 aus dem Buch Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab?.

Neue Version von Kap.2 vom 21.Juli 2015

Monster und Engel

Es ist noch nicht so lange her, da folgten Menschenmassen wie Marionetten den Parolen faschistischer und nationalistischer Führer. Sie bekamen Arbeit, bescheidenen Wohlstand, Ordnung und viele Belobigungen für ihr Selbstwertgefühl. Dafür waren sie willig, gehorchten den Befehlen aus dem Radio, den Wochenschauen und den lokalen Repräsentanten. Dem voraus gingen Könige und Kaiser, für die Ehre alles und der Mensch nichts war.

Tötungsorgien

Mit der Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien am 28.Juli 1914 begann der erste Weltkrieg. Im Laufe dieses Krieges standen nach Schätzungen ca. 70 Millionen Menschen unter Waffen und ca. 17 Millionen sind gefallen. Dies war bis dahin die größte Tötungsorgie in der Geschichte der Menschheit.

Konnte man denken, dass dieser Tötungswahnsinn nicht mehr zu überbieten ist, wurde man durch die Geschichte darin belehrt, dass der Mensch sehr wohl zu noch mehr Gräueltaten fähig ist.
Mit dem Überfall Japans auf China am 7.Juli 1937 begann der zweite chinesisch-japanische Krieg, der mit dem Überfall auf Pearl Harbor am 7.Dezember 1941 sich zum pazifischen Krieg ausweitete. Hitler, der China bis 1941 gegen Japan unterstützt hatte, startete dann selbst einen Krieg. Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht am 1.September 1939 auf Polen begann der zweite Weltkrieg in Europa. Der europäische, der chinesisch-japanische und der pazifische Krieg zusammen haben nach Schätzung 1 und Schätzungen 2 ca. 22 – 33 Mio. Kriegstote gefordert hat und ca. 38 – 55 Mio zivile Opfer. Das Besondere hier ist, dass es dieses Mal nicht nur die Europäer waren — genauer die Deutschen –, die diesen Tötungswahnsinn inszenierten, sondern dass im asiatisch-pazifischen Raum Japan als imperiale Macht mit dem asiatisch-japanischen Krieg demonstrierte, dass der Wahnsinn des Tötens nicht geographisch und ethnisch beschränkt ist.

Ist der Krieg als solcher schon erschreckend genug, übersteigt das systematische Töten unabhängig vom Krieg, das Grauen deutlich. Unter Hitlers Führung wurden etwa 13.1 Mio systematische Tötungen an Menschen vorgenommen, die aus religiös-ethnischen, medizinischen, politischen Gründen ausgegrenzt wurden. Von den Opfern waren ca. 45\% jüdische Mitmenschen, ca. 25\% sowjetische Kriegsgefangene und ca. 25\% nichtjüdische Zivilisten (siehe Schätzung Kriegstote). Das systematische Töten Andersdenkender war aber kein Privileg Hitlers. Vor und nach dem zweiten Weltkrieg forderten die politischen Säuberungen von Josef Stalin ca. 3 -20 Millionen Tote.

Und auch nach dem zweiten Weltkrieg ging das Opfern von Menschen im großen Stil weiter. Zwar von anderer Art, aber nicht minder grausam für die Betroffenen, war ein politisches Programm genannt der ‚Großer Sprung‘, das Mao Zedong 1958 gestartet hatte. Eine massive Umstrukturierung der Gesellschaft mit dem Ziel einer Verbesserung kalkulierte große Opfer ein. Dieses Opfer kam tatsächlich zustande durch eine schwerwiegende Hungersnot, die in China von 1959 bis 1961 ca. 36 bis 45 Mio Menschen das Leben kostete. Damit handelt es sich um die größte Hungerkatastrophe in der Geschichte der Menschheit. Das Wort ‚Demozid‘ wurde geprägt.

Ein anderer ‚Demozid‘ ereignete sich in Kambodscha, kurz nachdem die roten Khmer im April 1975 die Hauptstadt Phnom Penh erobert hatten. Unter der Leitung von Pol Pot führten die roten Khmer eine radikale Umgestaltung und Säuberung der Gesellschaft durch. Die absoluten Opferzahlen betragen — im Vergleich zur großen Hungersnot zwar ’nur‘ — ca. 2-3 Mio Menschen, was bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 8 Mio Menschen aber etwa einem Viertel der Bevölkerung entspricht, die hier auf grausamste Weise umgebracht wurde.

Die Liste von Kriegen, Verfolgungen, Folterungen, Genozids, Demozids ließe sich hier weiter fortsetzen bis in unsere Gegenwart.

Diese Ereignisse zeigen eines ganz klar: Wir Menschen sind relativ leicht im großen Stil manipulierbar; wir begehen die schlimmsten Gräueltaten, wenn andere uns dies befehlen; keine Nation scheint hier ausgenommen zu sein.

Neuentdeckung der Würde

Schon während des großen Tötens, am 1.Januar 1942, schließen sich unverhofft 26 Länder zu einer gemeinsamen Aktion gegen die kriegstreibenden Länder zusammen, was nach Beendigung des zweiten Weltkriegs am 24.Okt.1945 seine Fortsetzung in der Gründung der Vereinten Nationen (United Nations, UN) findet. Etwa drei Jahre später am 28.Dez.1948, kommt es zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Englisch, Deutsch.

Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland ereignete sich in diesem kurzen Zeitfenster eines Aufleuchtens von Bildern zu Demokratie und Menschenrechten, wie sie so historisch kaum jemals zuvor verfügbare gewesen waren und verfügbar gewesen sein konnten. Die Vorgeschichte der politischen Demokratiebewegung in Deutschland, hatte sich im politischen Durchsetzungskampf bis dahin als zu schwach erwiesen.

Vor dem Hintergrund der grausamen Tötungsorgien erscheint es wie ein Wunder, dass der Verfassungstext vom Mai 1949 mit dem Begriff der ‚Menschenwürde‘ beginnt. Gleich im Artikel 1 wird die Würde des Menschen, werden die Menschenrechte sowie nachfolgend einige Grundrechte explizit genannt. Während die ‚Menschenrechte‘ mit einem ‚darum‘ in einen logischen Zusammenhang zur Menschenwürde gestellt werden, bleibt der Zusammenhang zwischen ‚Menschenwürde‘ und ‚Menschenrechten‘ an dieser Stelle offen. Die Menschenwürde gilt als „unantastbar“ und es ist „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, „sie zu achten und zu schützen“.

Mit der Gründung der demokratischen Bundesrepublik beginnt aus der Mitte Europas heraus ein neuer Demokratisierungsprozess, der nach und nach den größten Teil West- und Mitteleuropas erfasst. Die Anfänge datieren wohl auf den 18.April 1951, dem Abschluss des dem Schuhman-Plans , und einen vorläufigen Höhepunkt findet dieser Demokratisierungsprozess in den Jahren 2004 und 2007; in diesen Jahren treten 12 neue Länder aus dem ehemaligen Ostblock als neue demokratische Mitglieder dem demokratischen Europa bei.

In all diesem Geschehen demonstriert die Geschichte, dass es in der ‚Finsternis des Daseins‘ ‚Inseln des Lichts‘ geben kann, die sich nicht aus der Finsternis selbst herleiten! Irgendetwas im Menschen befähigt ihn, nicht nur den Tod, nicht nur das Grauen, nicht nur die Menschenverachtung hervor zu bringen, sondern auch das Gegenteil: Würde, Achtung, Liebe.

Der Begriff folgt der Realität

Weder die Gründung der vereinten Nationen, noch die Verkündigung der allgemeinen Menschenrechte, noch weniger die Gründung der Bundesrepublik Deutschland waren Projekte, die sich Philosophen am grünen Tisch ausgedacht hatten. Am Anfang standen keine klaren Ideen von Menschenrechten und Demokratie, die zur Realisierung in den konkreten Ereignissen führten. Nein, es war das Grauen der realen Kriege, der unendliche Wahnsinn dieser weltweiten Tötungsorgien, die in den betroffenen und bedrohten Menschen und Nationen einen Widerstand herausforderten, einen Überlebenswillen wach riefen, dem man im Nachhinein Form und Worte verlieh, eben die Idee eines friedlichen Völkerbundes, die Idee von der absoluten Würde jedes einzelnen Menschen, die Vision einer demokratischen Gesellschaft.

Dafür Worte zu finden war kein Automatismus, und sicher beeinflusst von den demokratischen Traditionen in Frankreich, England, den USA und Deutschland. Man wird aber nirgends eindeutige und zweifelsfreie Definitionen der verwendeten Begriffe finden, niedergeschrieben in einem Lehrbuch. Es ist eher ein ‚historisches Naturereignis‘, in dem die aufwühlenden Erfahrung von Krieg und Solidarität sich neue Worte gesucht und gefunden hat. Diese Worte finden wir, die der ‚Zeit danach‘ angehören, heute vor, lesen sie, reiben uns die Augen, versuchen sie zu verstehen, und beginnen mit unseren Interpretationen.

Aufstieg des Individuums

Das Buch ‚Menschenwürde (2014)‘ von Paul Tiedemann (Paul Tiedemann,„Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014. Zur Person von Paul Tiedemann.) ist solch ein Interpretationsunternehmen, das einerseits die mögliche inhaltliche Bedeutung des Begriffs aus philosophischer Sicht erläutert, andererseits eine Einordnung in das Deutsche Rechtssystem vornimmt (Anmerkung: Eine längere Diskussion des Buches von Paul Tiefemann in 11 Beiträgen vom Autor ‚cagent‘).

Im Kapitel zwei seines Buches listet Paul Tiedemann 9 verschiedene Verwendungsweisen auf, wie unterschiedliche Gruppen mit dem Begriff ‚Menschenwürde‘ verfahren; in Kapitel drei folgen 8 weitere unterschiedliche Blickrichtungen auf das Thema. Alle diese verschiedenen Verwendungsweisen und Blickrichtungen sind kaum miteinander vereinbar.

Bedenkt man den historischen Kontext verwundert dies nicht. Es illustriert nur sehr deutlich, wie schwer sich das reflektierende Denken mit Manifestationen des Menschlichen tut und dass die Begriffe, die man benutzt, nicht das Phänomen selbst ersetzen, sondern — bestenfalls — angemessen beschreiben.

Anstatt nun die aufgelisteten Positionen im einzelnen zu analysieren greift Paul Tiedemann hier explizit auf die philosophische Reflexion zurück und versucht in Kapitel vier der Relativität der Vielfalt dadurch zu entkommen, dass er anfängt, die Wortbedeutung des Wortes ‚Menschenwürde‘ isoliert von den verschiedenen zuvor zitierten Lehrmeinungen zu analysieren. Dies wirkt etwas willkürlich, da er nicht alle historisch vorkommenden Verwendungsweisen ins Auge fasst, sondern nur eine bestimmte.

In seiner Analyse, fördert Paul Tiedemann das Subjekt als Ankerpunkt zutage, dem er eine Absolutheit zuspricht, die, anders als bei Kant, nicht unerreichbar ist, sondern hinreichend mit der Konkretheit eines menschlichen Subjekts verknüpft ist. Das Subjekt ist für ihn ein Zweck an sich, vor allen anderen Werten, darin ein absoluter Wert, und auch der einzige absolute Wert. Diese Absolutheit findet im politischen Handeln, in der Delegation der politischen Macht ihre gesellschaftliche Umsetzung, die so sein soll, dass sie den einzelnen in seiner Würde ermöglicht.

Erosion des Individuums zu Beginn des 21.Jahrhunderts

Während Kant eine Absolutheit (re-)konstruieren konnte, indem er sie von allem Kontingentem, Zufälligem, Empirischem abgekoppelt hatte, lokalisiert Paul Tiedemann die Unverfügbarkeit im Individuum, das sich seiner im freien Urteilen ‚gewiss‘ sein kann. Diese Autonomie des eigenen Entscheidens und Urteiles geht einher mit den modernen sozialwissenschaftlichen und psychologischen Erkenntnissen, dass ein junger Mensch nur über angemessene soziale Interaktionen und sprachliche Kommunikation zu jenem Umgang mit sich selbst findet, der ihn in die Lage versetzt, seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche, Einsichten angemessen zu identifizieren und den Einklang mit der sozialen Umwelt zu wahren. Während die Inhalte wechseln können, bleibt die grundsätzliche Fähigkeit zu Reflexion und Urteilen konstant, bildet einen ‚Raum‘, innerhalb dessen sich der einzelne als „sich selbst bestimmend“ erfahren kann und simultan auch den anderen, das Gegenüber, mitbestimmt. Dieser generellen Selbstbestimmungsmöglichkeit kommt für Tiedemann ein grundlegender Wert zu, der durch die konkreten Einschränkungen nicht aufgehoben wird. In all diesen Prozessen vollzieht sich der Aufbau einer individuellen Identität (‚Ich‘). Tiedemann benutzt zur Kennzeichnung dieses Ansatzes die Bezeichnung ‚Identitätstheorie der Menschenwürde‘ (vgl. Tiedemann (2014), S.101f).

Die Idee, den Ankerpunkt der Autonomie in der unterstellten Fähigkeit zum eigenen Urteilen zu suchen, hat etwas Bestechendes, zugleich bietet sie einen Angriffspunkt für vielerlei Infragestellungen:

  1. Wie Tiedemann selbst ausführt, ist die inhaltliche Füllung des autonomen Urteilens abhängig von den Interaktionen mit der Umwelt und zahlreichen Rahmenbedingungen. Sollte auf einen Menschen Zwang ausgeübt werden, Gewalt, dann kann er in seinem individuellen Urteilen so stark beeinflusst werden, dass sein Urteilen nicht mehr wirklich autonom ist. Aber auch wenn dem Menschen kein Vertrauen geschenkt wird, ihm wichtiges Wissen vorenthalten oder falsches Wissen aufgezwungen wird, auch dann kann sein autonomes Urteilen ihm nicht wirklich helfen. Ferner, wird ihm keine hinreichende Privatsphäre zugestanden, wird er seine spezifischen Bedürfnisse und Fähigkeiten nicht hinreichend ausleben können (Siehe zu diesen Beispielen ausführlich das Kap.7 von Tiedemann (2014)). Und wir müssen feststellen, dass es in fast jedem Land der Erde — z.T. sehr große — Menschengruppen gibt, auf die die genannten Einschränkungen zutreffen.
  2. Wie im Kapitel 1 angedeutet, bewirkt der technologische Wandel durch die verstärkte Einführung des Digitalen in nahezu allen Bereichen eine zunehmende Abbildung von zuvor privaten, persönlichen Dingen und Handlungen in den Raum des Digitalen, wodurch Privatheit real verlorengeht. Dazu kommt das wachsende Problem der Qualität des Wissens: was ist noch ‚wahr‘, was ist ‚gefaked‘? Im Digitalen ist man auf neue Weise Beleidigungen ausgesetzt, Verleumdungen, dem Stehlen von Eigentum, der Manipulation, Ausbeutung, richtigem Terror. Die Autonomie alleine hilft hier nicht.
  3. Für die Gültigkeit seiner Überlegungen verweist Paul Tiedemann auch auf die allgemeinen Gesetze der Logik. Dieser Verweis geht ins Leere, da es die Logik, die unterstellt wird, in dieser Form bis heute nicht gibt, zumindest nicht als ausgearbeitete Theorie.
  4. Am Horizont der Vision, ansatzweise auch in der Realität, erscheint eine künstliche Intelligenz, die ebenfalls den Anspruch erhebt, autonom entscheiden zu können. War es das dann mit der Würde des Menschen? Besteht die Würde des Menschen ’nur‘ in dieser Fähigkeit des autonomen Urteilens im Raume vorfindlicher Gegebenheiten?

Das ‚Monster des Tötens‘ und der ‚Engel der Menschenwürde‘ wohnen im Menschen unmittelbar nebeneinander. Die Abhängigkeit des einzelnen von seiner Umgebung ist stark und damit das Einfallstor sowohl für menschenverachtende Propaganda wie auch für lebensbejahende Werte. Wer wird in der Zukunft gewinnen: das Monster oder der Engel? Was ist für ein Leben in der Zukunft wichtiger? Was ist ‚wahrer‘?

Fortsezung mit Teil 3 (neu).

WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 6

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgte dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte. Dieser endet für Tiedemann in einer ‚Verwirrung‘. Er versuchte daraufhin eine weitere Klärung über die ‚Wortbedeutung‘ im Kapitel 4. Dieser ‚Umweg‘ über die Wortbedeutung wird in seiner Methodik nicht selbst problematisiert, liefert aber für den Fortgang der Untersuchung im Buch einen neuen Anknüpfungspunkt durch das Konzept des Werturteils. Es folgt jetzt der Versuch, einen absoluten Referenzpunkt für Werturteile zu identifizieren, mittels dem sich dann vielleicht das Werturteil als grundlegend erweisen lässt.

KAPITEL 5 (SS.84 – 102)

DIE THESE

Für das Ziel, eine mögliche absolute Verankerung für die Menschenwürde in Form des Urteils ‚Dem Menschen kommt (absolut) Würde zu‘ zu finden, bildet das Kapitel 5 einen ersten ‚Höhepunkt‘ dahingehend, dass Paul Tiedemann in diesem Kapitel seiner Antwort auf die Frage eine erste konkrete Gestalt verleiht. Es folgt eine Wiedergabe der grundlegenden Idee ohne die Details (dazu muss auf eine eigene Lektüre verwiesen werden).

Gedankenskizze zu Kap.5 von Tiedemann (2014)
Gedankenskizze zu Kap.5 von Tiedemann (2014)

1. Wie das vorausgehende Schaubild nur andeuten kann, lokalisiert Paul Tiedemann einen absoluten Wert zwar einerseits im Individuum, das sich seiner im freien Urteilen ‚gewiss‘ sein kann, andererseits nicht nur im Individuum, sondern in der Gesamtheit aller menschlicher Individuen, insofern das einzelne Individuum seine Urteilsfähigkeit nur in der Wechselwirkung mit den anderen Individuen positiv ausbilden kann. Nach Tiedemann, der hier die Ergebnisse diverser Wissenschaften auswertet, kann der junge Mensch nur über angemessene soziale Interaktionen und sprachliche Kommunikation zu jenem Umgang mit sich selbst finden, der ihn in die Lage versetzt, seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche, Einsichten angemessen zu identifizieren und im Einklang mit der sozialen Umwelt wahren.

2. Dies geht allerdings nur, wenn das Individuum über die grundlegende Fähigkeit der Selbsterfahrung verfügt (Reflexion, innerer Dialog, eigenes Entscheiden…), innerhalb dessen sich die diversen Wünsche, Bedürfnisse, Gedanken, Emotionen usw. identifizieren und ‚abwägen‘ lassen. Die Inhalte mögen wechseln, aber die Fähigkeit als solche bildet eine Konstante, einen ‚Raum‘, innerhalb dessen sich der einzelne als ’sich selbst bestimmend‘ erfahren kann und simultan auch den anderen, das Gegenüber, als komplementär selbstbestimmt.

3. Zwar ist dieses ‚Sich Selbst Bestimmen‘ unter den Bedingungen eines endlichen Körpers in einer endlichen Welt unausweichlich ‚begrenzt‘ und damit generell suboptimal, und zusätzlich können wichtige Randbedingungen von anderen ‚manipuliert‘ werden, so dass die individuelle Selbstbestimmung trotz ‚Autonomie‘ fehlgeleitet werden, dennoch kommt dieser generellen Selbstbestimmungsmöglichkeit ein grundlegender Wert zu, der durch die konkreten Einschränkungen nicht aufgehoben wird.

4. Also, in dem Maße wie man einem Menschen in Wechselwirkung mit anderen Menschen diese grundsätzliche Selbstbestimmungskompetenz zusprechen kann und muss, in dem Maße gibt es einen grundlegenden Wert, von dem alle anderen Werte abhängen.

5. Insofern ein Moment dieses komplexen Modells der Aufbau einer individuellen Identität (‚Ich‘) ist, schlägt Tiedemann vor, diesen Ansatz die ‚Identitätstheorie der Menschenwürde‘ zu nennen. (vgl. S.101f)

KRITISCHER DISKURS

6. Dieser Lösungsvorschlag von Paul Tiedemann hat viele Argumente für sich und – insofern man die vielen Voraussetzungen teilt, die in diese Überlegungen einfließen – hat einen gewissen Charme, da er mit einer Reihe von modernen (empirischen) Positionen ‚kompatibel‘ ist.

7. Allerdings sollte man nicht übersehen, dass es ‚Problemzonen‘ in diesem Entwurf gibt, die man ernst nehmen sollte, da es ja nicht darum gehen kann, nur ein Deutungsmodell zu entwickeln, das nur ’schön aussieht‘, sondern das auch ‚wahr‘ ist im Sinne, dass es mit der vorgegebenen Realität der umgebenden Welt ‚im Einklang steht‘ (so gab es ja Zeiten – und irgendwo auf unserer Erde wird es dies womöglich immer noch geben), dass die Menschen ein Bild von der Natur und sich selbst hatten, was zwar in der jeweiligen Zeit ’sinnvoll erschien‘, aber in späteren Zeiten dann als ‚falsch‘ erkannt werden konnte.

8. Diese ‚Gefahrenmomente‘ beginnen schon bei der verwendeten Sprache. Natürlich können wir gar nicht anders, als Sprache zu benutzen, Begriffe darin, aber wenn wir uns die zur Verwendung kommenden Begriffe anschauen, dann finden wir fast ausschließlich Begriffe mit potentiellen Bedeutungen, die im subjektiven Erleben des einzelnen oder in vermuteten Prozessen ‚im Innern eines Menschen‘ verankert sind. Die Wissenschaft der Psychologie hatte angesichts dieser Problematik zum Ende des 19. den Weg einer experimentellen empirischen Psychologie eingeschlagen; analog gab es in der Philosophie aufkommende kritische wissenschaftstheoretische Strömungen, die später mit dem ‚linguistic turn‘ in der Philosophie korrelierten. Auch wenn man über die Erfolge dieser Wissenschaftstransformationen geteilter Meinung sein kann, so ist doch die Grundeinsicht in die fundamentale Bedeutungsproblematik keine Frage der Beliebigkeit. Was ein ‚Wille‘, ein ‚Wollen‘ ist, was ‚innerer Dialog‘ bedeutet, was genau ‚Wünsche‘, ‚Gefühle‘, ‚Wollen‘, ‚rationale Argumente‘ usw. sind, das ist bis heute alles andere als klar (zumindest nicht in der Wissenschaft). Im Alltag benutzen wir zwar weiterhin diese Begriffe, da wir ja den Alltag irgendwie praktisch meistern müssen, aber eine wissenschaftliche Bedeutungsklärung all dieser Begriffe steht noch aus (und die geringe Forschungsförderung dieser Themen und Disziplinen lässt kaum hoffen, dass sich dieser Notstand bald ändern wird).

9. Die mangelnde wissenschaftliche Fundierung all dieser zentralen Begriffe wirkt sich besonders schmerzlich dann aus, wenn es zu Grenzsituationen kommt: ab wann spricht man einem Menschen ‚volle Verantwortung‘ für sein Verhalten im Sinne einer authentischen Selbstbestimmung zu und wann nicht mehr? Wann ist jemand ’schuldfähig‘? Wann kommt einem Menschen keine Menschenwürde mehr zu? Usw.

10. Die konkrete Rechtspraxis behilft sich mit allerlei Fallunterscheidungen und praktischen Klauseln, um Entscheidungsnotstände zu ‚umschiffen‘, doch eine solche Rechtspraxis ist kein voller Ersatz für eine angemessene Erkenntnis. Möglicherweise wird die Erkenntnis immer hinter der Alltagspraxis hinterher hinken und insofern wird es – vermutlich – immer eine Rechtspraxis geben, die trotz mangelhafter wissenschaftlicher Erkenntnis zu praktischen Urteilen finden wird (finden muss?). Doch darf dies kein Grund sein, die tatsächliche Erkenntnislage unvoreingenommen zu prüfen und – sofern sie unzureichend ist – dies auch zu konstatieren. Manchmal hilft es bei der Suche nach der Wahrheit mehr, die offenen Fragen klar zu benennen als eine Lösung zu favorisieren, die möglicherweise zu viele ‚Leichen im Keller‘ hat, um mal ein Bild zu gebrauchen.

11. Was nun das Vorgehen von Paul Tiedemann betrifft, so ist es beeindruckend und hilfreich, wie er versucht, die Fragestellung mit einer Reihe von Annahmen einmal ganz durch zubauen. Man kann erkennen, ‚wohin die Reise geht‘ und man tut sich dann einfacher, mögliche Schwachstellen zu identifizieren, als wenn man einen solchen Entwurf nicht vorliegen hätte.

12. Nun kann man auch mich, den Autor cagent kritisieren, warum ich hier so herum mäkele. Dafür gibt es einen handfesten Grund: ich habe die gleichen Fragen wie Paul Tiedemann und ich beschäftige mich nicht nur abstrakt mit Methoden der Philosophie oder der Wissenschaften (speziell der Psychologie), sondern ich beschäftige mich seit vielen Jahren auch mit der Möglichkeit eines ‚künstlichen Geistes‘. Und aus meiner Kenntnis der Möglichkeiten eines ‚künstlichen‘ Geistes weiß ich, dass all das, was Paul Tiedemann als zentrale Eigenschaften für die ‚Menschenwürde‘ hier herausgearbeitet hat, bei heutigem Wissensstand von einer computerbasierten Maschine ohne Einschränkungen auch erfüllt werden könnte (was nicht heißt, dass jemand solch einen künstlichen Geist gebaut hat (nur in den science fiction Romanen und Filmen)). Wenn man angesichts dieser technologischen Möglichkeiten noch an einer ‚Sonderstellung des Menschen‘ festhalten möchte, dann muss man begrifflich, philosophisch erheblich mehr Umstände herausarbeiten, als dies bislang geschehen ist.

13. Dazu kommt die weitere Erkenntnisschiene über die moderne Evolutionstheorie in Kombination mit Molekularbiologie und Quantenphysik. Selbst wenn man dem Menschen als homo sapiens einige besondere Qualitäten neben den übrigen Lebensformen zugestehen kann/ will/ muss, so hebt dies den Menschen nicht so grundsätzlich ab vom biologischen Leben als solchem. Eine Diskussion der grundlegenden Werte muss heute möglicherweise den Wert des gesamten Lebens mit berücksichtigen und den Menschen als Teil eines größeren komplexen Zusammenhangs sehen. Die Fokussierung auf die Selbstbestimmung greift da möglicherweise zu kurz (so wissen wir ja, dass selbst im ‚Innersten‘ der biologischen Entwicklung grundsätzlich ein Form von Selbstbestimmung stattfindet, die ihre optimale Gestalt auch nicht ‚isoliert‘ findet sondern in ‚Wechselwirkung‘ mit der Umgebung. Hier rühren wir an sehr grundsätzlichen Themen, und das sind noch nicht einmal die grundlegendsten).

14. Wenn man andererseits sieht, wie heute das ‚globale Kapital‘ alles dazu tut, über Freihandelsabkommen (wie z.B. TTP), die nationalen politischen Systeme zu neutralisieren und damit die Selbstbestimmung ganzer Völker aufzuheben versucht, dann wird man ja schon ganz bescheiden, wenn wenigstens die althergebrachte Menschenwürde verteidigt wird. Dennoch, das ‚Mehr‘ ist der Feind des ‚Ist‘. Und die Tendenzen des ‚globalen Kapitals‘ sind ja auch nur möglich, weil von den starken Playern kaum irgendwelche Werte akzeptiert werden außer dem eigenen (individuellen) machtorientierten Willen, der den komplexen Lebenszusammenhang, der über 3,8 Milliarden Jahre unsere heutige Existenz ermöglicht hat, weiterhin ohne Rücksicht auf Verluste zerstören.

Zur Fortsetzung Siehe HIER.

Einen Überblick über alle Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER-Blog gesamt.

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