Archiv der Kategorie: Philosophie im Kontext

DAS EIGENE WISSEN. Was soll ich davon halten?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Datum: 14.Juni 2020

KONTEXT

In einem vorausgehenden Blogeintrag (Menschen im Dunklen Zimmer) hatte ich über das neue Zeitalter der Datenüberflutung gesprochen, über das starke Aufkommen von sogenannten Fake-News, von Weltverschwörungs-Bildern, von Privat-Theorien jeglicher Art. … und wie die Menschen, die solchen Bildern anhängen, schwer zugänglich erscheinen, wie abgeschottet, wie ferngesteuert, falsch programmiert. In einem spontanen Folgebeitrag (Realität Wahrnehmen) habe ich dann den Aspekt der Alltagswahrnehmung aufgegriffen, unser alltägliches, spontanes In-der-Welt-sein, dabei sein, darin sein; wie wir durch unsere Wahrnehmung die Realität quasi einatmen, jeden Moment…. und habe dabei auf zwei Punkte hingewiesen: (i) die Welt, die wir da wahrnehmen, kann nicht die Welt sein, wie sie real ist, sondern es sind die Bilder, die unser Gehirn für uns berechnet, das in unserem Körper sitzt, ohne direkten Kontakt zur Welt; (ii) wenn wir unseren Blick zurück wandern lassen in der Zeit (ermöglicht durch die Arbeit von hundertausenden von Wissenschaftlern in den letzt ca. 300 Jahren (siehe beispielsweise die Geschichte der Geologie als einer von vielen Wissenschaften, die hierzu beigetragen haben)), dann kommen wir nach vielen Mrd. Jahren zurück an den Zeitpunkt, an dem das biologische Leben zum ersten Mal im bekannten Universum in Erscheinung tritt (ungefähr von ca. 3.5 Mrd. Jahren). Und von den vielen neuen Eigenschaften, die eine biologische Zelle auszeichnet, ist eine jene, die wir heute oft salopp als Bauplan umschreiben: eine Zelle enthält tote Moleküle, die von anderen toten Molekülen so behandelt werden, als ob sie ein Informationspeicher seien, deren Elemente wie Befehle wirken, etwas bestimmtes zu tun. So populär diese Betrachtungsweise ist, so wenig ist bis heute geklärt, wie es zu solch einem komplexen Phänomen kommen kann? Ein totes Molekül für sich genommen verhält sich gegenüber einem anderen toten Molekül niemals so, als ob dieses ein ‚Bauplan mit Informationen sei, denen man folgen sollte‘. Damit sind wir bei dem Thema dieses Blogeintrags.

SELBSTVERSTÄNDLICHES HINTERFRAGT MAN NICHT

Natürlich gab und gibt es einzelne Wissenschaftler, die das komplexe Phänomen im Verhalten der toten Moleküle in einer Zelle zum Anlass genommen haben, der Frage nach zu gehen, wie es zu solch einem Gesamtverhalten von toten Molekülen kommen konnte und immer noch kann. Genauso wie es immer schon Philosophen gegeben hat und immer noch gibt, die sich die Frage gestellt haben, wie wir unsere eigene Weltwahrnehmung einzuschätzen haben: können wir ihr blindlings vertrauen oder sollten wir uns selbst gegenüber achtsam sein, unter welchen Bedingungen wir was und wie wahrnehmen, denken, vorstellen ….

Aber, obwohl es diese Menschen gab und gibt, obwohl dazu viel gedacht und geschrieben wurde, verhalten wir uns im Alltag normalerweise so, als ob es zum Thema keine Frage gibt, keine tiefschürfenden Untersuchungen. Im Alltag erleben wir uns ganz spontan, ganz selbstverständlich, ganz ohne Anstrengung in einer Form der Wahrnehmung von Welt, in der die Welt ‚unsere‘ ist: sie ist da, sie ist vor uns, sie ist in uns, wir sind dabei, wir kommen darin vor, alles passt, alles stimmt; schwerelos, geräuschlos, es ist einfach so. Warum also hier eine Frage stellen? Warum hier Zweifel hegen? Warum hier Mühe aufwenden, wo doch alles so stimmig ist? Nur Querköpfe, Querulanten, Spinner können hier Fragen aufwerfen. Ich selbst doch nicht, wozu?

STOLPERSTEINE … WENN MAN SIE WAHRNIMMT

Angesichts der soeben geschilderten Ausgangslage im normalen Alltag erscheint es ‚irgendwie unmöglich‘, dass man zu einer anderen Sicht der Dinge kommen könnte. Andererseits, wenn man erlebt, wie heute mit einer großen Beharrlichkeit Menschen Ansichten vertreten, die von den eigenen Weltbildern stark abweichen, und man — warum auch immer — eine andere Sicht der Dinge hat, vielleicht sogar stark abweichend, dann kann dies irritieren. Gut, eine Zeit lang kann man so tun, als ob es diese anderen Ansichten nicht gibt, aber irgendwann, wenn sie dann in den Medien immer wieder aufpoppen, wenn im Alltag immer mehr Menschen diese anderen Sichten äußern, sich sogar danach verhalten (‚kein Fleisch essen‘, ‚vegan leben‘, ‚Müll trennen‘, ‚Gleichberechtigung der Frauen‘, ‚Islamischer Staat‘, ‚Wir sind das Volk‘, ‚Klimakrise‘, ….), dann kann dies unangenehm werden, lästig, ärgerlich, oder sogar bedrohlich: die einen wollen sich vor einem bestimmten Virus schützen, andere lachen darüber, halten dies für einen ‚Fake’…

Also, auch wenn man kein Wissenschaftler oder Philosoph*in ist, kann man im Alltag mit der Realität der anderen Weltsicht im Kopf der anderen konfrontiert werden. Das kann lustig sein (Du bis ‚Fan‘ von Idol A und sie ist Fan von Idol B), oder es kann tödlicher Ernst werden (Du siehst das Verhalten der Regierung ‚kritisch‘, die Regierung ist aber quasi diktatorisch und verfolgt, verhaftet dich, sperrt dich ein, foltert dich …).

Die Bilder im Kopf können lustig sein, sie können hart sein wie Beton und sie können dein Leben, das Leben von vielen Menschen bedrohen. Also, auch wenn Du selbst wenig Anlass haben magst, darüber nachzudenken, wie Du die Welt wahrnimmst, wenn keiner darüber nachdenkt, und jeder sich seinen spontanen, so selbstverständlich erscheinen Bildern einfach so überlässt, dann kann es nicht nur zu stark unterschiedlichen Bildern kommen, sondern diese Bilder können immer mehr von der Realität der Welt da draußen abweichen, und Menschen können an einen Punkt kommen, wo sie unfähig erscheinen, ihre falschen Bilder im Kopf als falsch zu erkennen. Und wenn Du dein Kind z.B. von einem hochgefährlichen Virus schützen möchtest, die anderen aber keine Gefahr zu sehen meinen, … was tust Du dann? Wenn Dich jemand anderes als unerwünschte Person betrachtet, als gefährlich, nur weil Du eine andere Sprache sprichst, eine andere Hautfarbe hast, eine andere Wertvorstellung, Du auf der Flucht bist vor Krieg, Du … was tust Du dann? Sind die Gedanken der anderen dann egal? Ist es dann egal, wie wir die Welt wahrnehmen und denken? Wenn es da Menschen gibt, die die Manipulation der großen internationalen Finanzströme als Sport ansehen, als ihr persönliches Recht, auch wenn sie dadurch eine ganze Volkswirtschaft, ja, sogar die Weltwirtschaft ruinieren können … ist es dann egal, was sie denken? Wenn die Regierung eines Landes alle ihre Bürger überwacht, kontrolliert, bewertet, gegen ihren Willen, und daraus Strafmaßnahmen ableitet bis hin zu Gefängnis, Umerziehung, Folter, Tod … ist es dann egal, welche Bilder die Verantwortlichen im Kopf haben?

DEINE GEDANKEN SIND WICHTIG

Diese Hinweise auf Beispiele sollten eigentlich ausreichen, um uns bewusst zu machen, dass die Art, wie wir wahrnehmen, was wir wahrnehmen, wie wir denken, vielleicht nicht ganz so beliebig sein sollte, wie wir in einer ersten spontanen Reaktion vielleicht meinen. Im kleinen Kreis der Familie, von Freunden, von Arbeitskollegen*innen wird oft schnell mal eine Meinung in den Raum gestellt ohne sie groß zu überprüfen, aber wenn wir die Gesamtsituation betrachten, eine ganze Firma, ein ganzes Land, unsere globale Weltgesellschaft, dann sollte jedem klar werden, dass die einzelne, individuelle Meinung keinesfalls so unwichtig, unbedeutend ist, wie sie einem selbst erscheinen mag. Die Gegenwart wie die Geschichte zeigen uns, dass die einzelne, individuelle Meinung, deine Meinung, wenn sie sich vervielfacht, wenn sie zu einer Mehrheit wird, dann kann sie ein Land zu einer freien, demokratischen Gesellschaft führen, oder eben nicht. Und wenn eine Mehrheit es zulässt, dass unsinnige Meinungen praktiziert werden können, dann kann dies Leid und Zerstörung für ganz viele bedeuten, bis hin zum Untergang eines ganzen Landes, zu anhaltendem Bürgerkrieg, zur Zerstörung der Wirtschaft, zur Ausbeutung von von vielen durch wenige.

GLAUBWÜRDIGKEIT

So gesehen sind die Fake-News Bewegungen, die sogenannten Verschwörungstheorien immer auch ein Bild von uns selbst: wenn die führenden Zeitungen dieses Landes große Artikel schreiben, in denen sie eine bestimmte Sicht der Welt vertreten, ohne dass sie jeweils die Quellen ihrer Meinung genau angeben (nur selten tun sie dies explizit), dann ist die Grenze zu einer Verschwörungstheorie fliessend. Ich werde mit einer Sicht der Welt konfrontiert, die mit einem Anspruch auftritt, ich kann aber nicht wirklich — wenn ich denn wollte — die Grundlagen dieser Sicht überprüfen. Genauso kann kann ein Leser mich als Autor dieses Blogs fragen, warum ich nicht immer Quellen für meine Meinung angebe? Fantasiert der cagent nur so vor sich hin, macht er hier Meinungsmache für bestimmte Interessen? Warum soll man ihm glauben?

SICH TRANSPARENT MACHEN … NICHT EINFACH

Wenn wir anfangen, uns ehrlich zu machen gegenüber uns selbst und allen anderen, dann merken wir schnell, dass es gar nicht so einfach ist, ‚ehrlich‘ zu sein, ‚transparent‘, ’nachvollziehbar‘. Warum?

Unsere Sicht der Welt ist im Alltag nicht so einfach, wie wir vielleicht geneigt sind, anzunehmen. Angenommen, Sie benötigen zum in die Ferne sehen eine Brille. Machen Sie einen Speziergang oder gehen Sie Walken/ Joggen ohne ihre Brille. Während der ganzen Zeit da draußen werden Sie beständig alle Dinge in gewisser Entfernung nur unscharf sehen, Farbflecken, komische Formen und Gestalten. Und ihr Gehirn wird beständig Interpretationen anbieten. Je nach Gemütslage (entspannt, ärgerlich, ängstlich, vertrauensvoll …) liefert das Gehirn Ihnen unterschiedliche Interpretationen, was das da vorne sein könnte. Ich habe noch nie bewusst gezählt, wie oft ich daneben lag, aber ‚gefühlt‘ 80-90%…. daneben!

Es ist für viele Zwecke gut, dass unser Gehirn unsere bisherigen Erfahrungen partiell speichert. Ohne diese gespeicherten Erfahrungen wären wir im Alltag praktisch nicht lebensfähig. Wenn wir beständig jede Kleinigkeit wieder von vorne lernen müssten, wir kämen zu nichts mehr. Also, das Lernen in Form von automatischen Speicherungen und Interpretationen des Gehirns ist eine Grundfähigkeit, um überhaupt im Alltag lebensfähig zu bleiben. Der Punkt ist nur — und das haben viele psychologische Arbeiten gezeigt — dass unser Gehirn diese Speicherungen nicht 1-zu-1 vornimmt, sondern dass es auswählt (unbewusst), dass es assoziiert und strukturiert (unbewusst), dass es diese Strukturierung mit Emotionen verknüpft (unbewusst); und vieles mehr. Wenn wir also dann in einer bestimmten Alltagssituation von unserem Gehirn (unbewusst) mit Erinnerungen beliefert werden, um die aktuelle Situation zu deuten, dann können diese Erinnerungen Verzerrungen beinhalten, Assoziationen mit Dingen, die gar nicht relevant sind, und Emotionen, die unpassend sind. Und wenn wir dann diesen spontanen Eingebungen unseres Gehirns genau so spontan folgen, dann können wir ganz spontan große Fehler machen, obgleich wir dabei ein sehr gutes Gefühl haben.

Und wie wir heute aus der Alltagserfahrung wissen können, unterstützt durch viele psychologische Untersuchungen, tun sich alle Menschen schwer bis sehr schwer, ihre Erfahrungen, ihr unbewusstes Wissen im Rahmen eines Dialogs oder bei Schreibversuchen mit Worten angemessen wieder zu geben. Im Falle von psychologischen Experimenten oder bei sogenannten Usability-Tests (Benutzbarkeitstests, wenn man die Brauchbarkeit von Geräten oder Diensten aus Sicht der Benutzer testet) zeigt sich sehr klar, dass Menschen auf Befragungen (Interviews, Fragebogen), was Sie denn in einer bestimmten Situation tun würden bzw. was sie von einer Sache halten, in ganz vielen Fällen etwas ganz anderes antworten, als das, was sie unter Beobachtung im Test tatsächlich getan haben. Dies bedeutet, wir besitzen die Fähigkeit, bewusst ein anderes Bild von uns selbst zu haben als das, was wir tatsächlich tun, und dies, ohne es zu merken!

Dies ist ein Baustein von vielen, die in ihrer Gesamtheit darauf hindeuten, dass das Wissen, das wir im Laufe des Lebens in uns ansammeln, das unsere Wahrnehmung und Tun begleitet, nicht nur sehr komplex zu sein scheint, sondern zusätzlich durch den starken unbewussten Anteil für uns selbst wenig transparent ist. Wenn wir also unsere Meinung zu äußern versuchen, im Gespräch, im Schreiben eines Textes (so wie ich jetzt hier), dann ist dem Sprecher, Schreiber im Moment des Sprechens, Schreibens nicht unbedingt vollständig bewusst, nicht vollständig klar, was er da alles sagt bzw. sagen wird. Andererseits, wenn wir es erst gar nicht versuchen, das auszusprechen oder zu schreiben, was sich da in uns — weitgehend unbewusst — befindet, uns bewegt, uns leitet, dann bleibt dies alles im Dunkeln. Sprechen wir, schreiben wir es auf, wird etwas sichtbar, und wenn es dann sichtbar geworden ist, dann können wir in einem weiteren Durchgang — wenn wir uns die Zeit nehmen — versuchen, das, was sichtbar geworden ist zu bedenken, mit anderen darüber sprechen, wie sie das erleben und einschätzen, und so können wir versuchsweise herausfinden, welchen Wahrheitsgehalt diese Worte haben. Ein bleibend schwieriges Unterfangen, und nur bei sehr einfachen Sachverhalten kann man die Frage nach dem Realitäts-Check eventuell beantworten. Sobald die Dinge komplexer werden — und das ist in unserem Alltag der Normalfall — kann es schwer bis unmöglich werden, sich in überschaubarer Zeit eine umfassende Meinung zu bilden. Dies bedeutet, dass wir die meiste Zeit mit sehr viel Glauben operieren — wir glauben an das, was wir äußern, obwohl wir nicht alle impliziten Annahmen erschöpfend selbst überprüfen können –, und dass wir darauf angewiesen sind, dass andere Menschen uns Feedbacks geben, um aus den Feedbacks Hinweise zu gewinnen, wo man seine eigene Meinung vielleicht überprüfen sollte.

Ich lese oft Bücher von Menschen, die einen sehr kompetenten Eindruck in der Wissenschaft oder der Philosophie erweckt haben (was nicht notwendigerweise besagt, dass das stimmt, was in diesen Büchern steht) und zwinge mich dann, diese Texte in Form von Buchbesprechungen mit meinen Ansichten zu vergleichen. Dies kann helfen, ist aber auch keine vollständige Überprüfung, weil die Meinungen, um dies es geht, in der Regel so umfassend und komplex sind, dass es in kurzer Zeit (dies können sehr wohl viele Wohen sein) nicht möglich ist, alle Positionen zu überprüfen. Genauso lese ich regelmäßig wissenschaftliche Artikel und versuche sie ebenso zu analysieren. Früher war ich auch als Reviewer bei internationalen Zeitschriften aktiv. Oder ich musste meine Meinungen mit den Meinungen von vielen hundert verschiedenen Studierenden konfrontieren, Auge in Auge, bis ins Detail.

Ich leite aus all dem die Einsicht ab, dass das Projekt des eigenen Wissens extrem komplex ist, letztlich niemals abgeschlossen ist, niemals den Anspruch haben kann, jetzt alles richtig zu wissen. Man bleibt in einer fragmentarischen Gesamtsicht mit unterschiedlich gut geprüften Teilaspekten, und man bleibt darauf angewiesen, von anderen zu hören, zu lesen, miteinander zu reden.

Was das Angeben von Quellen angeht, so gibt es Kontexte, in denen man dies auf jeden Fall tun muss, aber dann auch Kontexte — wie solch ein Blogeintrag jetzt, hier — wo der Versuch, alle Gedanken mit Zitaten zu belegen, quasi zum Scheitern verurteilt ist, weil es beim ursprünglichen Schreiben darum geht, einen allerersten Zugriff auf das weitgehend unbewusste eigene Denken zu bekommen. Es wäre dann die zweite Reflexionswelle, in der dann eher Quellen, Querverweise zum Tragen kommen, strukturelle Analysen, logische Analysen usw. Dazu ist dieser Blog aber nur teilweise gedacht. (in einem meiner anderen Blogs uffmm.org, geht es eher um formalisierte Theorien, unterstützende Computerprogramme, reale soziale politische Experimente).

KONTEXT ARTIKEL

Einen Überblick über alle Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

PHILOSOPHIE-JETZT-MENSCHENBILD PLANETENSYSTEM :-)

Philosophie Jetzt als Planetensystem: eJournal Philosophie Jetzt - Philosophiewerkstatt - Philosophy-in-Concert
Philosophie Jetzt als Planetensystem: eJournal Philosophie Jetzt – Philosophiewerkstatt – Philosophy-in-Concert

Da ich jetzt schon mehrfach darauf angesprochen wurde, dass die vielen Links auf so verschiedene Ereignisse verwirren können, hier mal der Versuch eines Schaubildes mit dem eJournal ‚Philosphie Jetzt – Auf der Suche nach dem neuen Menschenbild‘ im Zentrum (Beiträge, wenn es halt passiert) und den beiden ‚Trabanten‘ ‚Philosophiewerkstatt‚ (monatlich) und ‚Philosophy-in-Concert‚ (bisher 1-2 x pro Jahr).

EINLADUNG ZUR PHILOSOPHIERWERKSTATT am So 30.April 2017

THEMA

Unter dem Oberthema DENKEN & FÜHLEN soll die Leitfrage an diesem Tag lauten: Woher kommen die Bilder, die wir von uns haben? Wie weit können wir Ihnen trauen?

WER

Einleitung und Moderation: Prof.Dr.phil Dipl.theol Gerd Doeben-Henisch (Prof.emeritus Frankfurt University of Applied Sciences, Mitglied im Vorstand des Instituts für Neue Medien)

ORT

INM – Institut für Neue Medien, Schmickstrasse 18, 60314 Frankfurt am Main (siehe Anfahrtsskizze) Parken: Vor und hinter dem Haus sowie im Umfeld gut möglich.

ZEIT

Beginn 15:00h, Ende 18:00h. Bitte unbedingt pünktlich, da nach 15:00h kein Einlaß.

ESSEN UND TRINKEN

Es gibt im INM keine eigene Bewirtung. Bitte Getränke und Essbares nach Bedarf selbst mitbringen (a la Brown-Bag Seminaren)

PROGRAMM

Bis 15:00h ANKOMMEN

15:00 – 15:30h IMPULSREFERAT zu Woher kommen die Bilder, die wir von uns haben?

15:30– 15:50h Zeit zum INDIVIDUELLEN FÜHLEN (manche nennen es Meditation)

15:50 – 16:00h ASSOZIATIONEN INDIVIDUELL NOTIEREN

16:00 – 16:40h Erste Diskursrunde (Mit Gedankenbild/ Mindmap)

16:40 – 16:55h BEWEGUNG, TEE TRINKEN, REDEN

16:55 – 17:30h Zweite Diskursrunde (Mit Gedankenbild/ Mindmap)

17:30 – 17:45h BEWEGUNG, TEE TRINKEN, REDEN

17:45 – 18:00h AUSBLICK, wie weiter

Ab 18:00h VERABSCHIEDUNG VOM ORT

Irgendwann: BERICHT(e) ZUM TREFFEN, EINZELN, IM BLOG (wäre schön, wenn)

Irgendwann: KOMMENTARE ZU(M) BERICHT(en), EINZELN, IM BLOG (wäre schön, wenn)

ERSTE GEDANKEN ZUM THEMA

Das Bild, das wir von uns selbst (und von anderen) haben, entsteht in diesem schwer fassbaren Raum der Erinnerungen an geteilten Situationen und den schwer fassbaren Vorgängen des Gedächtnisses selbst, das weitgehend unabhängig von unserem Bewusstsein arbeitet. Es ist ein großes komplexes hochdynamisches System, das ‚aus sich heraus‘ alle Eindrücke und Erinnerungen ‚sortiert‘ und ‚bewertet‘. Und, wie wir wissen, sind es nicht selten sogenannte ‚Zufälle‘, die zu bestimmten Erlebnissen und Erinnerungen führen, die dann, wenn sie nicht weiter hinterfragt werden, in uns Bilder entstehen lassen, die vielleicht ‚falsch‘ sind. Womit sich die Frage stellt, wie wir die ‚Wahrheit‘ unseres Gedächtnisses erkennen können, wenn wir die Welt gerade nur durch unser Gedächtnis kennen? Und dann die ganzen Emotionen, die noch im Spiel sind/ sein können? Wer kontrolliert die? Welchen Regeln folgen sie? Ein anderer Aspekt ist unsere Umwelt, der gesellschaftliche Kontext: wie können wir kritisch sein, wenn die Alltagswelt keinerlei Ansatzpunkte für Kritik liefert?

Zutaten für ein  weiteres  spannendes Gespräch sind also gegeben.

Für das Memo zu dieser Sitzung siehe HIER.

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ENTSCHEIDEN IN EINER MULTIKAUSALEN WELT? MEMO ZUR PHILOSOPHIEWERKSTATT VOM Sonntag, 10.Mai 2015 IN DER DENKBAR (Frankfurt)

Begriffsnetzwerk von der Philosophiewerkstatt am 10.Mai 2015
Begriffsnetzwerk von der Philosophiewerkstatt am 10.Mai 2015

Generelles Anliegen der Philosophiewerkstatt ist es, ein philosophisches Gespräch zu ermöglichen, in dem die Fragen der TeilnehmerInnen versuchsweise zu Begriffsnetzen verknüpft werden, die in Beziehung gesetzt werden zum allgemeinen Denkraum der Philosophie, der Wissenschaften, der Kunst und Religion. Im Hintergrund stehen die Reflexionen aus dem Blog cognitiveagent.org, das Ringen um das neue Menschen- und Weltbild.

Aus der letzten Philosophiewerkstatt vom 12.April 2015 resultierte das – nicht ganz schar formulierte – Thema: Kann sich ein einzelner innerhalb einer multikausalen Welt überhaupt noch sinnvoll entscheiden? Kann man überhaupt noch eine Wirkung erzielen? Ist nicht irgendwie alles egal?

1. Trotz strahlendem Sommerwetter fand sich wieder ein bunter Kreis interessierter und engagierter Gesprächsteilnehmer, um sich in der DENKBAR Frankfurt zum Thema auszutauschen. Wie beim jedem Treffen bisher gab es auch dieses Mal neben schon bekannten Teilnehmern wieder auch neue Teilnehmer, die das Gespräch bereicherten.

2. Wie die Gedankenskizze des Gesprächs andeutet, förderte das gemeinsame Gespräch eine Fülle interessanter Aspekte zutage, die auf vielfältige Weise miteinander verknüpft sind. Auch wenn jeder Punkt für sich ein eigenes Thema abgeben könnte, so zeigt gerade der Überblick über und die Vernetzung von den Begriffen etwas von unserer Entscheidungswirklichkeit auf, die im Alltag oft im Dunkeln verbleibt.

INDIVIDUUM – KONTEXT

3. Das Gespräch fokussierte zunächst eher auf den individuellen Träger von Entscheidungen und lies die diverse Einflüsse des Kontextes eher am Rande.

4. Am Entscheidungsprozess traten verschieden ‚Phasen‘ hervor: (i) irgendein ein Anlass. Warum man sich überhaupt mit etwas beschäftigt. Warum öffnet man sich überhaupt für ein Thema? Wendet man sich einem Thema zu, dann gibt es in der Regel mindestens eine Alternative, was man tun könnte. Dies hängt sowohl von den konkreten Umständen wie auch von der verfügbaren Erfahrung und dem verfügbaren Wissen ab. Nach welchen Kriterien/ Präferenzen/ Werten entscheidet man dann, welche der vielen Möglichkeiten man wählen soll? Ist die Entscheidung ‚frei‘ oder durch irgendwelche Faktoren ‚vorbestimmt‘? Gibt es explizite Wissensanteile, aufgrund deren man meint, ‚rational‘ zu handeln, oder ist es eine ‚Bauchentscheidung‘? Wieweit spielen ’nicht-bewusste‘ Anteile mit hinein? Insofern nicht-bewusste Anteile von sich aus nicht bewusst sind, können wir selbst dies gar nicht wissen. Wir bräuchten zusätzliche Hilfen, um dies möglicherweise sichtbar zu machen. Schließlich wurde bemerkt, dass selbst dann, wenn wir sogar zu einer Entscheidung gekommen sind, was wir tun sollten, es sein kann, dass wir die Ausführung lassen. Wir tun dann doch nichts. Sollten wir etwas tun, dann würde unser Tun ‚eine Wirkung‘ entfalten.

ARCHITEKTUR DES INDIVIDUUMS

5. Alle diese Entscheidungsprozesse verlaufen in einer Person; im anderen, in mir. Wir wissen, dass jeder Mensch eine komplexe Architektur besitzt, sehr viele unterschiedliche Komponenten besitzt, die in Wechselwirkung stehen. Folgende drei Bereich wurden genannt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: (i) der Körper selbst, die Physis, das Physiologische. Das Gehirn ist eines der vielen komplexen Organe im Bereich der Physis. Das Physische kann altern, kann zwischen Menschen Varianzen aufweisen. Resultiert aus einem individuellen Wachstumsprozess (Ontogenese), und im Rahmen einer Population resultiert der Bauplan eines individuellen Körpers aus einem evolutionären Prozess (Phylogenese). Sowohl in der Phylogenese wie in der Ontogenese können sich Strukturen umweltabhängig, verhaltensabhängig und rein zufällig verändern. Weiter gibt es (ii) den Komplex, der grob mit Emotionen, Gefühle umschrieben wurde. Es sind Körper- und Gemütszustände, die auf das Bewerten der Wahrnehmung und das Entscheiden Einfluss ausüben können (und es in der Regel immer tun). Schließlich (iii) gibt es den Komplex Wissen/ Erfahrung, der Menschen in die Lage versetzt, die Wahrnehmung der Welt zu strukturieren, Beziehungen zu erkennen, Beziehungen herzustellen, komplexe Muster aufzubauen, usw. Ohne Wissen ist ein Überschreiten des Augenblicks nicht möglich.

WISSEN

6. Aufgrund der zentralen Rolle des Wissens ist es dann sicher nicht verwunderlich, dass es zum Wissen verschiedene weitere Überlegungen gab.

7. Neben der Betonung der zentralen Rolle von Wissen wurde mehrfach auf potentielle Grenzen und Schwachstellen hingewiesen: (i) gemessen an dem objektiv verfügbare Wissen erscheint unser individuelles Wissen sehr partiell, sehr begrenzt zu sein. Es ist zudem (ii) veränderlich durch ‚Vergessen‘ und ‚Neues‘. Auch stellte sich die Frage (iii) nach der Qualität: wie sicher ist unser Wissen? Wie ‚wahr-falsch‘? Woher können wir wissen, ob das, was wir ‚für wahr halten‘, an was wir ‚glauben‘, tatsächlich so ist? Dies führte (iv) zu einer Diskussion des Verhältnisses zwischen ‚wissenschaftlichem‘ Wissen und ‚Alltags-‚ bzw. ‚Bauchwissen‘. Anwesende Ärzte betonten, dass sie als Arzt natürlich nicht einfach nach ‚Bauchwissen‘ vorgehen könnten, sondern nach explizit verfügbarem wissenschaftlichen Wissen. Im Gespräch deutete sich dann an, dass natürlich auch dann, wenn jemand bewusst nach explizit vorhandenem Wissen vorgehen will, er unweigerlich an die ‚Ränder seines individuellen‘ Wissens stoßen wird und dass er dann gar keine andere Wahl hat, als nach zusätzlichen (welche!?) Kriterien zu handeln oder – was vielen nicht bewusst ist – sie ‚verdrängen‘ die reale Grenze ihres Wissens, indem sie mögliche Fragen und Alternativen ‚wegrationalisieren‘ (das ‚ist nicht ernst‘ zu nehmen, das ist ‚unwichtig‘, das ‚machen wir hier nicht so‘, usw.). Ferner wurde (v) der Status des ‚wissenschaftlichen‘ Wissens selbst kurz diskutiert. Zunächst einmal beruht die Stärke des wissenschaftlichen Wissens auf einer Beschränkung: man beschäftigt sich nur mit solchen Phänomenen, die man ‚messen‘ kann (in der Regel ausschließlich intersubjektive Phänomene, nicht rein subjektive). Damit werden die Phänomene zu ‚Fakten‘, zu ‚Daten‘. Ferner formuliert man mögliche Zusammenhänge zwischen den Fakten in expliziten Annahmen, die formal gefasst in einem expliziten Modell repräsentiert werden können. Alle diese Modelle sind letztlich ‚Annahmen‘, ‚Hypothesen‘, ‚Vermutungen‘, deren Gültigkeit von der Reproduzierbarkeit der Messungen abhängig ist. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt überdeutlich, dass diese Modelle beständig kritisiert, widerlegt und verbessert wurden. Wissenschaftliches Wissen ist insofern letztlich eine Methode, wie man der realen Welt (Natur) schrittweise immer mehr Zusammenhänge entlockt. Die ‚Sicherheit‘ dieses Wissens ist ‚relativ‘ zu den möglichen Messungen und Modellen. Ihre Verstehbarkeit hängt zudem ab von den benutzten Sprachen (Fachsprachen, Mathematische Sprachen) und deren Interpretierbarkeit. Die moderne Wissenschaftstheorie konnte zeigen, dass letztlich auch empirische Theorien trotz aller Rückbindung auf das Experiment ein Bedeutungsproblem haben, das sich mit der Fortentwicklung der Wissenschaften eher verschärft als vereinfacht. Im Gespräch klang zumindest kurz an (vi), dass jedes explizites Wissen (auch das wissenschaftliche), letztlich eingebunden bleibt in das Gesamt eines Individuums. Im Individuum ist jedes Wissen partiell und muss vom Individuum im Gesamtkontext von Wissen, Nichtwissen, Emotionen, körperlicher Existenz, Interaktion mit der Umwelt integriert werden. Menschen, die ihr Wissen wie ein Schild vor sich hertragen, um damit alles andere abzuwehren, zu nivellieren, leben möglicherweise in einer subjektiven Täuschungsblase, in der Rationalität mutiert zu Irrationalität.

UND DEN KONTEXT GIBT ES DOCH

8. Schließlich gewann der Kontext des Individuums doch noch mehr an Gewicht.

9. Schon am Beispiel des wissenschaftlichen Wissens wurde klar, dass Wissenschaft ja keine individuelle Veranstaltung ist, sondern ein überindividuelles Geschehen, an dem potentiell alle Menschen beteiligt sind.

10. Dies gilt auch für die schier unendlich erscheinende Menge des externen Wissens in Publikationen, Bibliotheken, Datenbanken, Internetservern, die heute produziert, angehäuft wird und in großen Teilen abrufbar ist. Dazu die verschiedenen Medien (Presse, Radio, Fernsehen, Musikindustrie,….), deren Aktivitäten um unsere Wahrnehmung konkurrieren und deren Inhalt, wenn wir es denn zulassen, in uns eindringen. Die Gesamtheit dieser externen Informationen kann uns beeinflussen wie auch ein einzelner dazu beitragen kann, diese Informationen zu verändern.

11. Es kam auch zur Sprache, dass natürlich auch die unterschiedliche Lebensstile und Kulturen spezifisch auf einzelne (Kinder, Jugendliche, Erwachsene…) einwirken bis dahin, dass sie deutliche Spuren sogar im Gehirn (und in den Genen!) hinterlassen, was sich dann auch im Verhalten manifestiert.

12. Besonders hervorgehoben wurden ferner die politischen Prozesse und Teil des Wirtschaftssystems. Die Meinung war stark vertreten, dass wir auch in den Demokratien eine ‚Abkopplung‘ der politischen Prozesse von der wählenden Bevölkerung feststellen können. Der intensive und gesetzmäßig unkontrollierte Lobbyismus im Bereich deutscher Parteien scheint ein Ausmaß erreicht zu haben, das eine ernste Gefahr für die Demokratie sein kann. Die Vertretung partikulärer Interessen (genannt wurde beispielhaft die Pharmaindustrie, aber auch Finanzindustrie und weitere), die gegenläufig zum Allgemeinwohl sind, wurde – anhand von Beispielen – als übermächtiges Wirkprinzip der aktuellen Politik unterstellt. Sofern dies tatsächlich zutrifft, ist damit natürlich die sowieso schon sehr beschränkte Einflussmöglichkeit des Wählers weitgehend annulliert. Die zu beobachtende sich verstärkende Wahlmüdigkeit des Wählers wird damit nur weiter verstärkt. Das Drama ist, dass diejenigen, die das Wählervertrauen durch ihr Verhalten kontinuierlich zerstören, nämlich die gewählten Volksvertreter, den Eindruck erwecken, dass sie selbst alles verhindern, damit der extreme Lobbyismus durch Transparenz und wirksamen Sanktionen zumindest ein wenig eingedämmt wird.

ABSCHLUSS

13. In der abschließenden Reflexion bildete sich die Meinung, dass die Punkte (i) Präferenzen/ Werte/ Kriterien einerseits und (ii) Beeinflussbarkeit politischer Prozesse andererseits in der nächsten (und letzten Sitzung vor der Sommerpause) etwas näher reflektiert werden sollten. Reinhard Graeff erklärte sich bereit, für die nächste Sitzung am So 14.Juni einen Einstieg vorzubereiten und das genaue Thema zu formulieren.

AUSBLICK

14. Am So 14.Juni 2015 16:00 findet nicht nur die letzte Sitzung der Philosophiewerkstatt vor der Sommerpause statt, sondern es soll im Anschluss auch (ca. ab 19:00h) bei Essen und Trinken ein wenig darüber nachgedacht werden, wie man in die nächste Runde (ab November 2015) einsteigen möchte. Soll es überhaupt weitergehen? Wenn ja, was ändern? Usw.

Einen Überblick über alle Beiträge zur Philosophiewerkstatt nach Themen findet sich HIER

PHILOSOPHIE IM KONTEXT oder: BEGRIFFSNETZE oder: THEORIENETZWERKE

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(1) In dem Vortrag in Bremerhaven ist die Verzahnung von Philosophie und Wissenschaft hevorgehoben worden. Ansatzweise wurde skizziert, wie eine bewusstseinsbasierte Philosophie als das primäre Denken innerhalb seines Denkraumes einen ‚Unterraum‘ spezifizieren kann, der sich über die spezielle Teilmenge der ‚empirischen Phänomene‘ [PH_Emp] definiert bzw. umgekehrt, wie man ausgehend von den empirischen Disziplinen über die Frage nach den notwendigen Voraussetzungen zu einem größeren Zusammenhang kommen kann, der letztlich mit dem philosophischen Denken zusammenfällt. Versucht man, die begrifflichen Verhältnisse zwischen den verschiedenen hier einschlägigen Disziplinen zu klären, dann wird man alsbald feststellen, dass diese bei den meisten nicht ganz klar sind; dies betrifft die ganze ‚Community‘. Im Folgenden ein weiterer Versuch, die hier geltenden grundsätzlichen Verhältnisse transparent zu machen.

 

(2) Die grundsätzliche Idee (die ich seit mehr als 20 Jahren immer wieder mal auf unterschiedliche Weise versucht habe, — in erster Lnie mir selbst — zu verdeutlichen) ist im Schaubild Nr.1 angedeutet.

 

 

Gesamtrahmen Philosophie und Wissenschaften

 

 

(3) Nimmt man seinen Ausgangspunkt von existierenden empirischen Disziplinen wie Physik [Phys], Chemie [Chem], Biologie [Biol] usw. dann sind diese dadurch gekennzeichnet, dass sie aufgrund spezifischer Fragestellungen und spezifischer Messverfahren entsprechend verschiedene ‚Messwerte‘ gewinnen.

 

(4) Hierbei ist aber zu beachten, dass die empirischen Messwerte zwar – idealerweise – unabhängig von einem bestimmten Körper oder Bewusstsein ‚gewonnen‘ werden, dass sie aber nur in dem Maße in eine wissenschaftliche Theoriebildung eingehen können, als die Messwerte von Menschen auch ‚wahrgenommen‘ werden können, d.h. nur insoweit, als die handlungs- und technikbasierten Messwerte zu ‚bewussten Ereignissen‘ werden, zu ‚Phänomenen‘ [PH]. Als ‚Phänomen‘ ist ein Messwert und ein Zahnschmerz nicht unterscheidbar, allerdings haben sie verschiedene ‚Ursachen der Entstehung‘, die sich in einer ‚Reflexion‘ erschließen lassen. In dem Masse, wie man diese Unterscheidung durchführen kann, kann man dann innerhalb der ‚allgemeinen‘ Menge der Phänomene PH eine spezielle Teilmenge der ’speziellen‘ Phänomene ausgrenzen, also PH_Emp PH.

 

 

(5) In diesem Sinne kann man sagen, dass die Menge der empirischen Phänomene sich bezüglich ihrer ’speziellen Herkunft‘ von allen anderen Phänomenen unterscheiden und dass die verschiedenen empirischen Disziplinen sich diese spezielle Teilmenge auf unterschiedliche Weise ‚aufteilen‘. Idealerweise würde man sich die Menge der empirischen Phänomene PH_Emp zerlegt denken in endliche viele disjunkte Untermengen. Ob die tatsächlichen Messverfahren mitsamt den daraus resultierenden Messwerten real vollständig disjunkt sind, ist aktuell offen; spielt für die weiteren Überlegungen zunächst auch keine wesentliche Rolle. Wichtig ist nur, dass in diesem Zusammenhang nur dann von empirischen Daten wie z.B. ‚psychologischen Daten‘ DATA_SR gesprochen werden soll, wenn es reale Messwerte von realen Messvorgängen gibt, die von einem Menschen wahrgenommen werden können und dieser diese Phänomene als entsprechende empirische Phänomene PH_Emp_x interpretiert (das ‚x‘ steht hierbei für die jeweilige Disziplin).

 

(6) Wie in vorausgehenden Blogeinträgen schon mehrfach festgestellt, bilden empirische Daten DATA_x als solche noch keine wirkliche Erkenntnis ab. Diese beginnt erst dort, wo Verallgemeinerungen vorgenommen werden können, Beziehungen erkennbar sind, regelhafte Veränderungen, usw. Die Gesamtheit solcher struktureller Eigenschaften im Zusammenhang mit Daten nennt man normalerweise eine ‚Theorie‘ [TH]. Ob und inwieweit alle heutigen empirischen Disziplinen wirklich systematisches Wissen in Form von expliziten Theorien TH_x entwickeln, steht hier nicht zur Diskussion (es gibt sicher viel weniger explizite Theoriebildung als man sich wünschen würde. Die einzige Disziplin, von der man den Eindruck hat, dass sie überwiegend durch formale Konstrukte begleitet wird, die den Anspruch von Theorien erfüllen, ist die moderne Physik. Alle anderen Disziplinen fallen hinter das Ideal mehr oder weniger weit zurück.).

 

(7) Solange man sich nun innerhalb einer ganz bestimmten Disziplin bewegt, ist die Welt — in gewissem Sinne – ‚in Ordnung‘: man weiß wie man misst und man hat elementare Techniken, wie man Daten strukturiert. Fängt man an, Fragen nach den ‚Voraussetzungen‘ dieser fachspezifischen Theoriebildung zu stellen, nach der Angemessenheit der verwendeten Methoden, wird es schwierig, da für solche Fragen strenggenommen kein Instrumentarium verfügbar ist (Warum und wieso sollte ein Chemiker sich Fragen nach den Grundlagen der Erkenntnis stellen, aufgrund deren er überhaupt etwas erkennt, oder nach dem Problem der sprachlichen Bedeutung, wenn er über chemische Sachverhalte spricht, über die Angemessenheit seiner Begrifflichkeit für den zu untersuchenden Gegenstand, usw.). Noch schwieriger wird es, wenn es um mögliche Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Theorieansätzen geht: ob und wie verhalten sich die Daten und theoretischen Modelle zwischen z.B. beobachtetem Verhalten in der Psychologie TH_SR mit zeitgleichen Messungen im Körper TH_Bd oder spezieller im Nervensystem TH_NN? Wann darf ich denn überhaupt von einer Theorie sprechen? In welchem Sinne kann ich Theorien TH_x und TH_y vergleichen? Diese – und viele andere – Fragen gehen weit über die fachspezifischen Fragestellungen hinaus, verweisen auf allgemeine fachübergreifende Zusammenhänge.

 

(8) Im deutschen Sprachraum gab es in der Zeit von ungefähr 1970 bis 1990 eine Phase, in der man verstärkt von ‚Wissenschaftstheorie‘ sprach als jener ‚Metadisziplin‘, die die allgemeinen Eigenschaften und Randbedingungen von ‚Theorien‘ untersucht und klärt. Im englischen Sprachraum nannte man dies ‚Philosophy of Science‘ (allerdings mit einer nicht ganz deckungsgleichen Bedeutung). Alle diese Strömungen haben – so scheint es – bis heute keinen nachhaltigen Einfluss auf den ’normalen Wissenschaftsbetrieb‘ nehmen können; eher ist das Thema sogar wieder rückläufig. Zwar bräuchte man es aus methodischen Gründen dringen, aber keiner will dafür Geld ausgeben.

 

(9) Die deutschsprachige Wissenschaftstheorie hatte den Nachteil, dass sie zwar versuchte, disziplinenübergreifend strukturelle Eigenschaften von Theorien zu klären, sich aber letztlich weigerte, sämtliche Voraussetzungen (einschließlich ihrer eigenen) zu reflektieren, d.h. die Wissenschaftstheorie nahm zwar einerseits gegenüber den Fachdisziplinen allgemeine Eigenschaften von Denken, Folgern, Sprechen, Messen usw. in Anspruch, die über die engen Fachdisziplinen hinausgehen, weigerte sich aber, diesen Anspruch in letzter Konsequenz zu reflektieren und auszuweisen (auch nicht die Erlanger Schule und die sogenannten Konstruktivisten). Eine solche grundlegende Reflexion war und blieb die Domäne der klassischen Philosophie, von der sich die Wissenschaftstheorie panisch abzugrenzen versuchte.

 

(10) So sehr eine gesunde Kritik an der klassischen Philosophie nottat, eine vollständige Verdrängung der philosophischen Aufgabenstellung und Denkweise wirkte aber wie eine ‚Überreaktion‘; diese hatte zur Folge, dass sich die Wissenschaftstheorie von ihren eigenen Voraussetzungen mittels einer klassischen ‚Verdrängung‘ zu befreien suchte, sich dadurch aber entscheidende Aspekte vergab.

 

 

(11) Wie das Schaubild zeigt, gehe ich davon aus, dass die im Erleben wurzelnde Reflexion der primäre Ausgangspunkt für jede Art von spezialisierendem Denken ist. Selbst eine empirische Disziplin ist im Raum der bewussten Erlebnisse, im Raum der Phänomene, verankert, und was immer ein empirischer Wissenschaftler denkt, er denkt im Rahmen der Denkmöglichkeiten, die ihm über das Bewusstsein und die ‚an das Bewusstsein gekoppelten Subsysteme‘ verfügbar sind. Andere hat er gar nicht. Ein Wissenschaftstheoretiker, der über das theoretische Denken von Fachdisziplinen forschen will, ist auch nicht besser dran. Auch er ist an den Phänomenraum als primärem Bezugssystem gebunden und auch er nutzt jene allgemeinen Reflexionsmöglichkeiten, die im Bewusstseinsraum generell verfügbar sind. D.h. jeder Versuch, eine irgendwie geartetes geordnetes Denken — sei es fachwissenschaftlich oder wissenschaftstheoretisch – als solches auf seine Voraussetzungen und Wechselwirkungen hin zu befragen, muss auf dieses ‚primäre Denken‘ zurückgehen und es für die Erkenntnis nutzen. Dieses primäre Denken aber ist genau das philosophische Denken, das auf der einen Seite mit dem alltäglichen Denken verschwimmt, und auf der anderen Seite in Wissenschaftstheorie oder gar Fachwissenschaft übergeht.

 

(12) Von der Intention her hat sich ‚Philosophie‘ immer als solch ein ‚erstes Denken‘ verstanden, das alles andere Denken umfassen sollte. In der konkreten Ausformung eines solchen ersten Denkens gab es aber immer vielfältige und starke Unterschiede. Generell kann man die Tendenz beobachten, dass das philosophische Denken sich entweder vom alltäglichen und wissenschaftlichen Denken ‚zu weit entfernt‘ hat oder aber umgekehrt diesem ‚zu nah‘ kam. Im letzteren Fall büßte Philosophie ihre kritisch-klärende Funktion ein.

 

(13) Will Philosophie beides zugleich realisieren, kritische Distanz wie auch kenntnisreiche Nähe, muss das philosophische Denken sowohl die ‚Form‘ eines wissenschaftlichen Denkens hinreichend klären wie auch die eigenen Erkenntnis — sofern überhaupt strukturierbar – entsprechend explizieren. Das philosophische Denken als ‚erstes Denken‘ wird zwar niemals seinen eigenen Anteil zugleich vollständig und korrekt explizieren können (das liegt primär an der Struktur des Denkens selbst sowie an der Verwendung von Sprache), aber es kann den Zusammenhang der einzelwissenschaftlichen Theorieansätze sowie deren allgemeinen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen soweit explizieren, dass klar wird, (i) was ist überhaupt eine Theorie TH_x, (ii) welche erkenntnistheoretischen Voraussetzungen müssen für eine bestimmte Theorie TH_x berücksichtigt werden, (iii) wie kann man das Verhältnis von Theorien beschreiben XREL(TH_x, TH_y), (iv) wie können Objektbeschreibungen aus unterschiedlichen Theorien (z.B. Eigenschaften von Neuronen beschrieben in einer neurowissenschaftlichen Theorie TH_nn, und Eigenschaften eines beobachtbaren Verhaltens in einer psychologischen Theorie TH_sr) aufeinander bezogen werden, usw.

 

(14) Fordern muss man aber auch, dass das philosophische Denken seine Inhalte, soweit sie explizierbar sind, auch in Form von Daten DATA_ph kenntlich macht, und, darauf aufbauend, verdeutlicht, welche Strukturen TH_ph das philosophische Denken vermeintlich besitzt bzw. benutzt, um die Möglichkeit und das ‚Funktionieren‘ der Einzeltheorien zu ‚erklären‘. In gewisser Weise muss die Philosophie genauso ein ‚Modell‘ ihres Gegenstandes bauen wie dies die anderen Wissenschaften auch tun. Im Fall der Philosophie geht es um den Menschen selbst, speziell um den Menschen, insofern er ‚erkennt‘, ‚Wissen‘ entwickelt‘, er ’spricht‘, und vieles mehr. Und natürlich könnte (bzw. sie müsste es!) die Philosophie — wie alle anderen Disziplinen auch – Computermodelle benutzen, um ihr theoretisches Modell vom erkenntnisfähigen und ethisch handelndem Menschen zu explizieren. ‚Computergestützte Philosophische Theorie‘ (etwa ‚computational philosophy‘) ist nicht nur kein Gegensatz sondern ein absolutes Muss! Ohne solche Modelle hat eine moderne Philosophie kaum eine Chance, die zu behandelnde Komplexität angemessen beschreiben zu können.

 

 

Eine korrigierte Version dieses Beitrags findet sich hier.

 

 

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(15) Weitere Details in Fortsetzungen bzw. im Rahmen meiner online-Skripte zur allgemeinen Lerntheorie.