Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Peter Gottwald
Email: pjgottwald@web.de
Mi 1.Januar 2020
KONTEXT
Aufgrund eines Gedankenaustausches zwischen Prof. Peter Gotttwald und mir kam es zur Idee, den Gedankenaustausch direkt in diesen Blog zu verlagern. Das hilft nicht nur uns beiden bei der wechselseitigen Bezugnahme, sondern eröffnet es auch potentiellen Lesern, daran teilzunehmen.
DAS GANZE ALS PROZESS
Dieser Beitrag von Peter Gottwald gibt mir als Blog-Moderator nochmals die Gelegenheit, auf die Besonderheit des Blog-Schreibens hinzuweisen. Während man bei einer normalen wissenschaftlichen Publikation — sei es Artikel oder insbesondere Buch — kaum umhin kommt, von einem vorweggenommenen Ganzen her zu denken und man auf Vollständigkeit achten sollte, eröffnet das Schreiben in einem Blog die Möglichkeit, das Ganze in einzelne Schritte zu zerlegen, es als einen Prozess zu sehen, der im Fortschreiten erst seine ganze Aussagekraft entfaltet. Im Falle von aktiven Lesern — als Autor darf man davon träumen 🙂 — kann deren Interaktion dann Aspekte ansprechen, anregen, die im Thema ’schlummern‘, die aber nicht angesprochen worden wären, hätte man das Thema von vornherein monolithisch als Ganzes abgehandelt. Durch solche Interaktionen kann nicht nur der Autor dazu lernen, sondern das Thema kann an Vielfalt gewinnen, oder bildhaft: das Thema selbst kann durch das ineinander Spielen von Gedanken lernen.
TEXT VON PETER GOTTWALD
Peter Gottwald hat eine überarbeitete Version seines Beitrags geschickt. Sie wird hier als PDF-Dokument zugänglich gemacht:
Hier die ursprüngliche Version
Motto:
Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion. Albert Einstein
Motto:
Wer seiner Zeit nur voraus ist, den holt sie einmal ein. Ludwig Wittgenstein
1
„Die Zeit gibt es nicht…“ Mit dieser Aussage überraschte ich die Teilnehmer meines Gebser-Seminars am Ende der letzten Sitzung des Jahres. Und auf das erstaunte Blicken fügte ich hinzu: „Alles, was wir wahrnehmen können, ist Bewegung!“ Es entstand eine längere Pause, dann begann ich zu erläutern: Die Sonne bewege sich am Himmel, und dabei sei eine Wiederkehr zu beobachten, nämlich ihr höchster Stand am Himmel. Früh sei der Mensch auf den Gedanken gekommen, nun von einem „Tag“ zu sprechen, diesen in 24 Stunden einzuteilen, jede dieser Stunden in 60 Minuten, diese wiederum in 60 Sekunden. Danach habe man von der ZEIT gesprochen als etwas, das „abliefe“. „Zeit“ sei somit ein Begriff, also eine Errungenschaft des Menschen, gleichsam seine „Zutat“ zum Phänomen der Bewegung – eine Zutat mit weitreichenden und ungeahnten Folgen.
In der „Zeit zwischen den Jahren“ entstand der folgende Text.
Denn dieser Begriff einer „Zeit“, die aus der Unendlichkeit kommt und in die Unendlichkeit verschwindet auf ihrem „Weg“, damit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entstehen lässt, hat sich im Verlaufe mehrerer tausend Jahre mit anderen Begriffen aus Philosophie und Wissenschaft zu einem riesigen „System“ verbunden, das unser heutiges Leben beherrscht, aber auch zu ersticken droht. Dieses System nämlich bestimmt, was „wirklich“ ist und lehnt alles ab, ja bekämpft alles, was nicht in dieses System hineinpasst. Alles „Neue“
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wird
wie auf einem Prokrustes-Bett1
entweder gestreckt oder verkürzt, bis es „passt“. Was dabei
verlorengeht, erscheint dem Systematiker irrelevant.
1 Dieser gemeine „Gastgeber“ pflegte seine Gäste an sein Bett anzupassen; wer zu lang war, wurde „verkürzt“, wer zu kurz war, „gestreckt“. Was mit den „Passenden“ geschah, verrät der Mythos nicht. Vermutlich hat er dann das Bett verändert.
Die
„Findung“ des Zeitbegriffs muss den Früheren so bedeutsam
erschienen sein, dass sie ihm eine Gottheit zuordneten, die sie
Chronos nannten; nach ihm sind bis heute die Uhren benannt, auch die
Zeitmessung – die Chronometrie. Auch dieser Gott war so wirksam und
furchtbar zugleich wie viele andere: Er pflegte nämlich seine Kinder
zu fressen, und sein Sohn Zeus entkam diesem Schicksal nur, weil
seine Mutter dem Gott einen in eine Windel gewickelten Stein gab…So
sagt uns der Mythos noch heute etwas: Die Zeit frisst ihre Kinder,
also uns, die wir Kinder der Zeit sind…
Wann
diese Handlung geschah, darüber herrscht zwischen Karl Jaspers und
Jean Gebser die Übereinstimmung, dass es im „Abendland“ zu einer
„Achsenzeit“ gewesen sein muss, die etwa in das 7.
„vorchristliche Jahrhundert“ zu legen ist. Was aber war dann
„vorher“ für eine Vorstellung dessen lebendig, was an Bewegungen
schon wahrnehmbar war am Himmel und auf der Erde? Die Mythen geben
davon Kunde, sie berichten vom „ewigen Kreisen“, der
„Wiederkehr“. Gebser nannte diese Struktur ein „Mythisches
Bewusstsein“.
Das
„Mentale Bewusstsein“, entstanden während der „Achsenzeit“,
manifestiert sich erst danach, es übernimmt gleichsam die Führung
für das weitere kulturelle Geschehen. Fortan ist unsere Sprache
durchdrungen von Begriffen, die mit dieser nun so genannten „Zeit“
in Verbindung stehen: früher und später, vorher, nachher, bald,
jetzt, Zukunft und Vergangenheit, gleichzeitig, Freizeit, Auszeit
…und so endlos weiter. Die Vorstellung eines „Ablaufs“ ist
uns so selbstverständlich geworden, dass wir nicht darüber
nachdenken (selbst in diesem „nach“denken schwingt noch das
Zeitliche mit).
Überlegungen wie diese schaffen nun, und das ist überaus wichtig, eine Transparenz, nämlich ein Durchsichtig-Werden für das, was wir Menschen tun und getan haben auf unserem langen Weg durch das, was wir „kulturelle Entwicklung“ (auch so ein verdeckter Zeitbezug) nennen.
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Nebenbei
gesagt ist ja auch der Begriff „Bewegung“ mit einem weiteren
Begriff, nämlich des eines „Raumes“, verbunden, in dem es einen
„Weg“ von „Ort zu Ort“ gibt. Allgemeiner gesprochen, haben
wir es mit der Wahrnehmung von „Veränderungen“ zu tun – wir
sehen, hören oder fühlen, dass sich „etwas“ verändert hat, in
einen neuen „Zustand“ geraten ist1.
So etwas nehmen wir „auf Erden“ wie „am Himmel“ wahr: Der
Mond liefert uns ein gutes Beispiel – er verändert nicht nur seine
Gestalt, er bewegt sich auch, und zwar nicht nur mit dem
„Sternenhimmel“, sondern auch von West nach Ost2!
Ein weiteres liefern die „Wandelsterne“, die sich im Gegensatz zu
den „Fixsternen“ auf komplizierten Bahnen am „Himmelsgewölbe“
bewegen. Bedenkt man, welcher ausdauernden und nächtlichen
Beobachtungen es bedarf, um solches „festzustellen“, so kann man
schließen, dass erst auf einer hohen Kulturstufe, also vermutlich
erst im mythischen Bewusstsein, einzelne Menschen freigestellt waren,
um Nacht für Nacht wach zu bleiben. Vermutlich aber waren das die
Priester, die so, neben Opfer- und anderen Ritualen, ihren Göttern
1
In diesem Zusammenhang hat I.Prigogine von einer „tau-Zeit“
gesprochen.
2 Daraus haben die Nordmenschen, wie Chr.Bornewasser nachwies, einen Mythos gemacht, der in der Edda nachzulesen ist. Ein Ase (Mond) verliebt sich in eine Schöne (Sonne) und verzehrt sich nach ihr.
dienen.
Noch allerdings hatten sie keinen Zeit-Begriff! Der wurde erst auf
der nächsten Kulturstufe gefunden!
Unsere
ganze Wissenschaft und die darauf aufbauende Technik ist nun ohne
diesen Zeitbegriff nicht denkbar; die Physik arbeitet
ja mit einem cgs-System, wobei „Zentimeter“ und „Sekunde“ die
menschlichen Zutaten, das „Gramm“ als Teil eines „Gewichtes“
oder auch einer „Masse“ als „Wirkung“ einer kosmischen
„Schwerkraft“ betrachtet und als „Schwere“ empfunden wird.
Wir
haben uns sogar daran gewöhnt, die Zeit zu „messen“ und zu
diesem Zweck die verschiedenartigsten „Uhren“ gebaut. Doch sind
das „nur“ sehr feine Geräte, in denen die Bewegungen von Zeigern
und neuerdings auch Ziffern mit der (scheinbaren) Bewegung der Sonne
übereinstimmen. Steht die Sonne am höchsten, zeigen beide Zeiger
auf eine 12.
Hoffmeisters
„Wörterbuch der philosophischen Begriffe1“
beschreibt dies so: „Diese „objektive Zeit“ ist messbar.
Gemessen wird sie allerdings nicht an sich selbst, sondern an der
gleichmäßigen Fortbewegung von Körpern, deren Bahn in gleiche
Abschnitte zerlegt wird, sodass die Gliederung der räumlichen
Bewegung zugleich eine Zerlegung der Zeit in Zeit-Abschnitte
ermöglicht.
1 Zweite Auflage 1955, im Verlag von Felix Meiner, Hamburg.
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Hierauf
beruht das Prinzip der Uhr, deren Gang nach der großen Weltenuhr,
der Bewegung der Gestirne, geregelt wird. Diese Zeitmessung
ermöglicht die exakte Naturwissenschaft, die Wissenschaft von der
berechenbaren Natur.“ Dem folgt ein philosophischer Hinweis: „Von
dieser objektiven Zeit nun hat Kant gelehrt, dass ihr in Wahrheit
nicht objektive Realität zukomme: Sie sei eine im menschlichen
Subjekt liegende „reine Form der Anschauung.“ (678)
Diese
Beschreibung verleugnet aber, so meine ich, den Handlungsaspekt –
es ist schließlich so, dass dieses „Subjekt“ nun tatsächlich
handelt, indem es (als uns immer noch unbegreifliche Folge der
Anschauung) ein neues Wort, damit aber einen neuen Begriff
hervorbringt, und das ist eine „Handlung“, auch wenn sie mit
Kehlkopf und Zunge vollzogen wird, und nicht mir der Hand.
Bezugnahme
auf Jean Gebsers Werk „Ursprung und Gegenwart“.
Wenn
man nach diesen Überlegungen zu Gebsers Werk greift und dort über
„Zeit“ liest, dann stößt man sofort auf Überschriften wie
„Der Einbruch der Zeit“, auf Sätze wie „Der Einbruch
der Zeit in unser Bewusstsein: Dieses Ereignis ist das große und
einzigartige Thema unserer Weltstunde. (III/379) Wie sind sie von
Gebser in einen großen Zusammenhang gestellt worden? Das ist die
erste Frage, der ich hier nachgehen will. Die zweite ist dann: Wie
kam Gebser zu dieser neuen Sicht auf die Welt und auf die Zeit?
Gebser
spricht von der „Komplexität des Zeit-Themas“ und entfaltet
diese unter Bezug auf die Stufen der kulturellen Entwicklung, die mit
einer „archaischen“ beginnt, auf die eine „magischen“, dann
eine „mythische“ und zuletzt eine „mentale“ folgte (s.o.),
die uns noch heute formt. Ob nun tatsächlich Anzeichen für eine
weitere Stufe bestehen, die Gebser eine „integrale“ nennt, das
ist der Inhalt des genannten Werkes. Dabei werde, so Gebser, auch
eine neue Zeit-Qualität wahrnehmbar, die er „Zeitfreiheit“
nannte. Schon hier sei angedeutet, dass es für mich sinnvoll
erscheint, allein vom Erleben einer neuartigen „Freiheit“ zu
sprechen, also von einer Bewusstseins-Struktur, die aus der
Integration von Bewusstseins-Zuständen erwachsen kann, in denen
etwas wahrnehmbar wurde, was als „Erleuchtung“ bezeichnet worden
ist.
Wie also beschreibt Gebser „Zeit“? Er spricht von einer „mental-rationalen Zeit“ (als einer Errungenschaft des „mentalen Bewusstseins“) die ein teilendes Prinzip und ein Begriff sei. Solange er gelte, gelte noch das Teilende,
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Zerstörerische,
Auflösende, das aber teilend, zerstörend und auflösend den Weg für
eine neue Wirklichkeit freilege. Was aber freigelegt werde, das sei
mehr als der bloße Begriff „Zeit“: Es ist das Achronon, also
das Frei- und Befreitsein von jeder Zeitform, es ist die
Zeitfreiheit.(III/380)
Gebser
fragt dann: Was ist aber nun die „Zeit“? und er antwortet, „sie
ist mehr als bloße Uhrenzeit“, ja sogar, Zeit müsse als „Qualität
und Intensität“ berücksichtigt werden (III/381).
„Aus
der aperspektivischen Weltsicht heraus betrachtet, erscheint (die
Zeit) geradezu als die grundlegende Funktion und von vielfältigster
Art. Sie äußert sich, ihrer jeweiligen Manifestationsmöglichkeit
und der jeweiligen Bewusstseinsstruktur entsprechend, unter den
verschiedensten Aspekten als: Uhrenzeit, Naturzeit, kosmische Zeit
oder Sternenzeit, als biologische Dauer, Rhythmus, Metrik; als
Mutation, Diskontinuität, Relativität; als vitale Dynamik,
psychische Energie (und demzufolge in einem gewissen Sinne als das,
was wir „Seele“ und „Unbewusstes“ nennen), mentales Teilen;
sie äußert sich als Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft; als das Schöpferische, als Einbildungskraft, als Arbeit,
selbst als Motorik. Nicht zuletzt aber muss, nach den vitalen,
psychischen, biologischen, kosmischen, rationalen, kreativen,
soziologischen und technischen Aspekten der Zeit auch ihres
physikalisch-geometrischen Aspektes gedacht sein, der die Bezeichnung
„vierte Dimension“ trägt. (III/381)
Zeit wird damit zu einem Synonym für das Schöpferische schlechthin. Damit aber scheint mir „Zeit“ zu einer Art von Mysterium geworden zu sein, zu dem ich Abstand gewinnen möchte. Ohne Frage gibt es in allen eben genannten Bereichen (von „vital“ bis „technisch“) eine „Dynamik“, d.h. aber unendlich vielfältige Veränderungen und Bewegungen – aber diese sind auch für den jeweiligen Bereich spezifisch, nicht auf andere übertragbar. Mit Wittgenstein könnte man sagen, es handele sich um ganz unterschiedliche „Sprachspiele“ mit speziellen Regeln, die nicht vermischt werden dürfen, da sonst eine heillose Verwirrung entsteht. Bleibe ich bei dem Begriff „Bewegungen“ in deren unendlich verschiedenen Formen, die zu immer neuen Gestalten führen, sodass man mit Goethe sagen könnte: Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinns ewige Unterhaltung – dann gestehe ich mir nicht nur mein sehr begrenztes Wissen ein, sondern erlebe auch immer wieder ein grenzenloses Verwundern angesichts eines „All“, das all dies und uns hervorgebracht hat.
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Gebsers
starke Betonung der Zeit, sein Bemühen, sie zugleich aber auch zu
überwinden, was mit Wortschöpfungen wie „das Achronon“
ausgedrückt wird, steht im Zentrum seines Werkes1.
Einem Integralen Bewusstsein ist „Zeit“ nicht mehr nur ein
Begriff (der zu wahren sei), sondern eine neue Qualität, die Geber
als „Intensität“ bezeichnete. Was aber meinte Gebser, als er
von „Zeitfreiheit“
1 Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart. Chronos (sic!)Verlag, Zürich,2012
sprach?
Damit möchte ich mich der zweiten Frage zuwenden: Was veranlasste
Gebser, so von „Zeit“ zu sprechen?
Gebsers
persönliche Erfahrungen und die Folgen.
Im
Alter von 27 Jahren machte Gebser in einer krisenhaften Situation
eine Erfahrung, die ihn, wie er schreibt, mit dem „Gedanken“
zurückließ „Überwindung von Raum und Zeit“. Sie war es, die es
vermochte, seine jahrzehntelange Suchbewegung nach ähnlichen
Aussagen in den Wissenschaften, später in allen Bereichen der
Kultur, zu unterhalten. Ich habe dargelegt, dass ich diese Erfahrung
als eine spontan auftretende Erleuchtung zu verstehen suche, so wie
ich auch seine weitere einschlägige Erfahrung während seiner
Asienreise auffasse1.
In
der Zentradition nämlich, auf die sich auch Gebser in der 2. Auflage
von „Ursprung und Gegenwart“ ausführlich bezieht, werden solche
Erfahrungen als satori oder auch kensho (Wesensschau) bezeichnet. Es
ist typisch für sie, dass für Augenblicke alle Dualitäten
schwinden, dass weder ein Raum- noch ein Zeitgefühl existiert.
Solche Erfahrungen können einen tiefen Frieden und große Freude
hinterlassen, die das ganze weitere Leben umzugestalten vermögen.
Wie darüber zu sprechen sei, wird jeder und jede mit eigenen Mitteln
versuchen. Gebser hat eine Form gewählt, die offen für ganz
unterschiedliche Adressaten war: So konnte er Christen, Buddhisten,
aber auch Esoteriker ansprechen, ohne auf fundamentale Differenzen
aufmerksam zu machen. Dass er das Thema „Zeit“ in den Mittelpunkt
stellte, muss man respektieren – wie er jedoch darüber spricht,
darf man auch kritisch betrachten.
„Zeitfreiheit“
ist nach meiner Auffassung etwas, das Menschen für sich selbst
wahrnehmen können, sie ist damit nichts „Objektives“, das
„dingfest“ gemacht werden könnte. Die Auswirkungen auf ein
„Subjekt“ können so dramatisch sein,
1 P. Gottwald: Zen und Integraes Bewusstsein. In: Integrale Weltsicht. Vol. XXV, 2019 herausgegeben von der Jean Gebser Gesellschaft, Bern.
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wie
dies R. M. Pirsig1
erfuhr, oder sie können als „kleine Erleuchtung“ geschehen, wie
der Zenlehrer Enomiya-Lassalle sie seinen Schülern und Schülerinnen
zu wünschen pflegte.
Nach
alledem zeigt sich mir nun ein neues, ein eher beunruhigendes
„Prinzip“, nämlich das unserer „Verantwortung2“
für unser Tun und Lassen. Ihm hat bekanntlich Hans Jonas eine
eingehende Untersuchung gewidmet. Ihr müssen wir uns heute stellen,
wenn es nicht mit uns, wie Jonas, sagte „…böse enden soll“.
Welche inneren Widerstände dadurch wachgerufen werden, darauf hat
Kafka3
auf seine unnachahmliche Weise hingewiesen. In seinen „Betrachtungen
über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“ schreibt er
(Nr.92):
Die
erste Götzenanbetung war gewiss Angst vor den Dingen, aber damit
zusammenhängend Angst vor der Notwendigkeit der Dinge und damit
zusammenhängend Angst vor der Verantwortung für die Dinge.
1
Vgl. dazu R.M.Pirsig: Zen und die Kunst ein Motorrad zu warte.
Fischer Taschenbuch.
2 Ludwig Wittgenstein: Die Verantwortung leugnen heißt, den Menschen nicht zur Verantwortung ziehen (Vermischte Bemerkungen, S. 121)
3 Franz Kafka: ER. Bibliothek Suhrkamp, 1968
So
ungeheuer erschien diese Verantwortung, dass man sie nicht einmal
einem einzelnen Außermenschlichen aufzuerlegen wagte, denn auch
durch Vermittlung eines Wesens wäre die menschliche Verantwortung
noch nicht genügend erleichtert worden, der Verkehr mit nur einem
Wesen wäre noch zu sehr von Verantwortung befleckt gewesen, deshalb
gab man jedem Ding die Verantwortung für sich selbst, mehr noch, man
gab diesen Dingen auch noch eine verhältnismäßige Verantwortung
für den Menschen.
Wie
gut passt dies zu der Beschreibung, die Gebser von der
Bewusstseinsstruktur des magisch gestimmten Menschen gab!
Seine
Wahrnehmung der Keime einer neuen und vielleicht kulturstiftenden
Bewusstseinsstruktur, eben eines Integralen Bewusstseins, hat Viele
ermutigt, nicht zuletzt den Jesuiten und Zenlehrer Enomiya-Lassalle1,
der mich sieben Jahre lang auf dem Zenweg begleitete und dem ich die
Begegnung mit dem Werk Jean Gebsers verdanke. Wie weit dieses valide
ist und weiteren Suchbewegungen standhält, muss offen bleiben. Aus
ihm eine Hoffnung in dieser von Krisen geschüttelten Zeit
abzuleiten, wäre vermessen. Dass uns Menschen Möglichkeiten zur
persönlichen Entwicklung zur Verfügung stehen,
1 Vgl. Enomiya-Lassalle: Wohin geht der Mensch? Aurum Verlag, 1983.
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kann nicht bestritten werden. Ob und welcher „kritischen Masse“ es bedarf, ehe politische Wirkungen sichtbar werden, bleibt ebenfalls offen…
Anhang
Ludwig
Wittgenstein über den Begriff „Fortschritt“.
„Man
hört immer wieder die Bemerkung, dass die Philosophie eigentlich
keinen Fortschritt mache, dass die gleichen philosophischen Probleme,
die schon die Griechen beschäftigten, uns noch beschäftigen. Die
das aber sagen, verstehen nicht den Grund, warum es so sein muss. Der
ist aber, dass unsere Sprache sich gleich geblieben ist und uns immer
wieder zu denselben Fragen verführt. Solange es ein Verbum „sein“
geben wird, das zu funktionieren scheint wie „essen“ und
„trinken“, so lange es Adjektive „identisch“, „wahr“,
„falsch“, „möglich“ geben wird, solange von einem Fluss
der Zeit und einer Ausdehnung des Raumes die Rede sein wird,
usw., solange werden die Menschen immer wieder an die gleichen
rätselhaften Schwierigkeiten stoßen, und auf etwas starren, was
keine Erklärung scheint wegheben zu können.“ (36)
„…Es
ist nicht unsinnig zu glauben, dass das wissenschaftliche und
technische Zeitalter der Anfang vom Ende der Menschheit ist; dass die
Idee vom großen Fortschritt eine Verblendung ist, wie auch von der
endlichen Erkenntnis der Wahrheit; dass an der wissenschaftlichen
Erkenntnis nichts Gutes oder Wünschenswertes ist und dass die
Menschheit, die nach ihr strebt, in eine Falle läuft. Es ist
durchaus nicht klar, dass dies nicht so ist.“ (107)
„Es könnte sein, dass die Wissenschaft und Industrie, und der Fortschritt, das Bleibendste der heutigen Welt ist. Dass jede Mutmaßung eines Zusammenbruchs der Wissenschaft und Industrie einstweilen, und auf lange Zeit, ein bloßer Traum sei, und dass Wissenschaft und Industrie auch und mit unendlichem Jammer die Welt einigen werden, ich meine, sie zu einem zusammenfassen werden, in welchem dann freilich alles eher als der Friede wohnen wird…“ (120)
Aus:
L. Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Suhrkamp.