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WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 11

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

VORBEMERKUNG

In den Blogbeiträgen 1-11 zum Buch von Paul Tiedemann handelt es sich um eine erste ‚Wahrnehmungsstufe‘ des Textes und seiner möglichen Bedeutung(en). Angereichert mit ersten Fragen und Querüberlegungen. Erst nach Abschluss dieser ersten wahrnehmenden Lektüre erfolgt eine darauf aufbauende Reflexion, die die Einordnungen der Position von Paul Tiedemann in andere denkerische Kontexte versuchen wird. Schon jetzt kann man aber sagen, dass dieses Buch zu dieser Zeit – unabhängig von möglichen späteren Reflexionsergebnissen – einen wichtigen Beitrag darstellt, da es in einer schwierigen geistigen-kulturellen Situation mit dem Begriff ‚Menschenwürde‘ einen Aspekt unseres individuellen und gesellschaftlichen Daseins thematisiert, der durch die aktuellen globalen Strömungen eher als gefährdet zu betrachten ist als gesichert. Wie das Buch zeigt, ist die Materie alles andere als einfach und es ist schon ein Glücksfall, dass der Richter Paul Tiedemann zugleich auch ein Philosoph ist, der auf die juristischen Sachverhalte zusätzlich mit einem veränderten philosophischen Blick schauen kann. Auch wenn man nicht alle philosophischen Einschätzungen teilen muss, gewinnt das Bild, das Paul Tiedemann zeichnet, doch eine Tiefe und Differenziertheit, die in der aktuellen Diskussion von unschätzbarem Wert ist. Nimmt man die Sicht von Paul Tiedemann ernst, dann kann man sehr besorgt sein über die Zukunft von Menschenwürde unter den Menschen, wenn man sieht, welche wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kräfte auf unsere Gegenwart Einfluss nehmen und zu nehmen versuchen.

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgte dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte. Dieser endet für Paul Tiedemann in einer ‚Verwirrung‘. Er versuchte daraufhin eine weitere Klärung über die ‚Wortbedeutung‘ im Kapitel 4. Dieser ‚Umweg‘ über die Wortbedeutung wird in seiner Methodik nicht selbst problematisiert, liefert aber für den Fortgang der Untersuchung im Buch einen neuen Anknüpfungspunkt durch das Konzept des Werturteils. Es folgt dann der Versuch, einen absoluten Referenzpunkt für Werturteile zu identifizieren, mittels dem sich dann vielleicht das Werturteil als grundlegend erweisen lässt. Diesen absoluten Referenzpunkt findet Paul Tiedemann in der ‘Identitätstheorie der Menschenwürde’: diese geht aus von einer grundsätzlichen Selbstbestimmungskompetenz des Menschen und enthält als ein Moment auch den Aufbau einer individuellen Identität (‘Ich’). Dann folgt eine Anzahl möglicher Einwände gruppiert nach vier Themen: Anderer, Determiniert, Böse, nicht-personale Menschen. Dann betrachtet er in Kap.7, einem etwas längeren Kapitel, wichtige Konkretisierungen von Menschenwürde, wie sie uns im Alltag real begegnen. Sehr anschaulich führt er die verschiedenen Punkte aus, so dass man nachvollziehen kann, wie verschiedene Verhaltensweisen/ Lebensweisen tief in das Selbst- und Lebensgefühl eines Menschen eingreifen können, bis dahin, dass er in der Wurzel getroffen, verletzt oder gar nachhaltig zerstört wird. Es sind weniger die äußerlichen Dinge als solche, sondern ihre Wirkung auf das ‚Innere‘ eines Menschen, sein Fühlen, seine Fähigkeit zu vertrauen, sein Denken usw. Schließlich, im Kapitel 9, Menschenrechte als Moralische Rechte, geht es um Begriffe wie ‚Werte‘ – ‚Normen‘, ‚Pflichten‘, oder auch um ‚Moral‘. Insbesondere die Frage, wie komme ich von ‚Werten‘ zu ‚Normen‘? Ferner die Problematik des Verhältnisses von ‚Individuum‘ zur ‚Gesellschaft‘: inwiefern können sanktionierte gesellschaftliche Normen eine ‚Pflicht‘ für ein Individuum sein, das auf ‚authentische‘ Weise versucht, jene Werte und daraus sich ergebenden Pflichten zu bestimmen, denen es folgen will? Ist ‚Moral‘ im Sinne der Übereinstimmung von ‚gesellschaftlich‘ auferlegten Pflichten und ’subjektiv‘ auferlegten Pflichten möglich? Es ist aufschlussreich, wie Paul Tiedemann diese komplizierte Begriffslage aufschlüsselt und seine Sicht darlegt. Die ‚Kluft‘ zwischen individueller und gesellschaftlich sanktionierter Selbstverpflichtung schließt sich bei Paul Tiedemann dadurch, dass er die gesellschaftlichen Institutionen, die Normen in Form von Recht inhaltlich erlassen, sich in ihrem Geltungsgrund letztlich auf das Wollen der Wählerschaft zurückführen müssen. Durch diese Rückkoppelung des gesellschaftlichen Normgebers an das Wollen des einzelnen besteht im Prinzip die Möglichkeit, dass die ‚Werte‘ des einzelnen, an die sich der einzelne binden möchte (über die Delegierung an den gesellschaftlichen Normgeber), dem einzelnen nicht als ‚fremde‘ Normen gegenübertreten, sondern letztlich seinen eigenen intrinsischen Werten entsprechen.

Begriffsnetzwerk zu Kapitel 10 des Buches 'Menschenwürde' von Paul Tiedemann
Begriffsnetzwerk zu Kapitel 10 des Buches ‚Menschenwürde‘ von Paul Tiedemann

KAPITEL 10 (SS.178 – 193) RECHTSTHEORIE DER MENSCHENWÜRDE

1. Den Abschluss des Buches bildet ein Kapitel über rechtstheoretische Zusammenhänge, also jene Strukturen, innerhalb deren der Wert der ‚Menschenwürde‘ im öffentlichen, staatlichen Geschehen, zur Geltung kommen kann (oder auch nicht).

2. Bei diesen Überlegungen lässt sich Paul Tiedemann offensichtlich von der Frage leiten, wie es sein müsste, WENN der Wert der Menschenwürde zur Geltung kommen sollte (die Alternative würde auch gar keinen Sinn ergeben).

3. Entsprechend der vorausgehenden Unterscheidung (vgl. Kap.9) zwischen der subjektiven moralischen Verpflichtungsdimension ausgehend von erkannten Werten und der Externalisierung solcher Werte in einer öffentlichen staatlichen Rechtsordnung kann der Wert der Menschenwürde letztlich nur zur allgemeinen Geltung kommen, wenn eine staatliche Rechtsordnung in ihren Grundlagen diesen Wert zulässt, einbezieht, bejaht.

4. Wenn überhaupt, dann kann der Wert der Menschenwürde, nicht ein Wert neben anderen sein, sondern kann nur als ein absoluter Wert allen anderen Werten voraus liegen. Dies drückt sich auch darin aus, dass mögliche ‚Grundrechte‘ nicht in Konkurrenz zur Menschenwürde stehen können. Im Gegenteil, die Menschenwürde ist konstitutiv für alle sowohl ausdrücklich formulierten Grundrechte wie auch Grund möglicher neuer, noch nicht geschriebener Grundrechte.

5. Zwischenstaatliche, völkerrechtliche Vereinbarungen sind nationalstaatlich formal nur bindend, wenn die völkerrechtlichen Sachverhalte durch geeignete Transformationsrechte in nationalstaatliches Recht ‚überführt‘ wurden. Bezieht sich ein nationales Recht allerdings auf die Menschenwürde, dann ergibt sich implizit aus dieser Zielrichtung eine Art ‚immanente‘ Verpflichtung des Staates, sich einer völkerrechtlich formulierten Geltung der Menschenwürde anzuschließen und diese zu unterstützen.

DISKUSSION

6. Diese Gesamtarchitektur lässt allerdings deutlich eine Schwachstelle dort erkennen, wo die Geltung einer Rechtsordnung vom verfassungsgebenden Willen der Rechtssubjekte abhängt. Diese Rechtssubjekte als konkrete Individuen sind bekanntlich gebunden durch begrenztes Wissen, historischen Erfahrungen und aktuelle Wertesysteme, die statistisch eher nicht die Allgemeinheit des Wertes Menschenwürde widerspiegeln. Vielmehr finden wir in einer konkreten westlichen Gesellschaft heute eine Pluralität von Wertesysteme, die nicht vollständig kompatibel sind und in wichtigen Teilen dem Konzept der Menschenwürde eher widersprechen.

7. Dieser konkrete empirische Befund spricht nicht gegen die Menschenwürde, sondern beleuchtet nur den kontingenten Charakter ihrer ‚Erkennung‘ wie auch ihrer jeweiligen ‚Umsetzung‘.

8. Der Einwand von Paul Tiedemann gegen ein Naturgesetz gerade durch den Verweis auf die grundlegende Abhängigkeit jeder rechtmäßigen Verfassung vom Willen der Rechtssubjekte erscheint hier nicht ganz überzeugend, da dies ja für die Anerkennung und Geltung der Menschenwürde ja auch gilt. Die Menschenwürde wird von Paul Tiedemann ja als oberster fundamentaler Wert gesetzt unabhängig davon, ob einzelne Menschen dies nun voll erkennen oder nicht. Das gleiche gilt von der ‚Natur‘. Die Natur ist gesetzt vor allem individuellen Wollen und Anerkennen. Und insofern der Mensch vollständig ein ‚Produkt‘ dieser Natur ist, ist eine Trennung zwischen dem 100-prozentigen Naturprodukt Mensch und der den Menschen hervorbringenden Natur nicht so ohne weiteres einsichtig.

ABCHLUSS WAHRNEHMUNG, BEGINN REFLEXION

9. Mit diesem letzten 10.Kapitel endet diese erste Bestandsaufnahme des Buches von Paul Tiedemann.

10. Wie schon einleitend mehrfach festgestellt, ist es ein wunderbares Buch zur rechten Zeit, das aber, soviel wunderbare Einsichten es vermittelt, gerade deswegen auch zugleich eine Reihe von weiterführenden Fragen ermöglicht, die wichtig und drängend sind.

11. Die Abhängigkeit der letzten Werterkenntnis und deren reale Umgestaltung von den Rechtssubjekten selbst, den heute lebenden Menschen, macht das Erkennen und das Umgestalten notorisch fragil, da sich nicht nur die erste Natur, sondern auch die zweite von Menschen geschaffene Natur, immer schneller verändert. In evolutionärer Perspektive befindet sich das gesamte biologische Leben auf der Erde in einem Transformationsprozess von universalem Ausmaß, der es erzwingt, alle bisherigen Grundlagen von neuem und zukunftsoffen zu überdenken. Wenn meine Wahrnehmung zutrifft, dann sind es gerade die treibenden Kräfte der westlichen Länder, die zunehmend ein grundlegendes Problem mit dem Begriff der Menschenwürde haben, weil sie ein zunehmendes Problem mit dem Menschen als solchen haben. Aktuell kann der Eindruck entstehen, dass das Transhumane einen höheren Stellenwert bekommt als das Humane. Sollte dieser Eindruck zutreffen, würde damit in einer breiten gesellschaftlichen Strömung dem klassischen Begriff der Menschenwürde der Boden entzogen. Persönlich glaube ich nicht an einen grundlegenden Gegensatz von Humanem und Transhumanem, da sowohl das Humane wie auch das Transhumane prinzipiell Momente am biologischen Leben sind und beide Momente auf sehr grundlegende Weise miteinander verschränkt sind. Am elementarsten über die Wertefrage! Dieser Sachverhalt wird heute aber – soweit ich sehe – praktisch noch nirgends wahrgenommen. Dies liegt möglicherweise daran, dass es bis heute zu wenig Menschen gibt, die sich ernsthaft mit der Grundlagenproblematik lernender Systeme (biologischen technischen) beschäftigt haben. Es gibt nämlich kein ernsthaftes Lernen ohne Werte. Und Werte fallen nicht vom Himmel, sie kosten vielmehr einen sehr hohen Preis, genau genommen kosten sie soviel Existenz, wie man dadurch gewinnen will.

Fortsetzung folgt

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WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 4

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgt dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte.

KAPITEL 3 (SS.51-67)

Philosophische Wurzeln des Begriffs 'Menschenwürde' nach P.Tiedemann (2014), Kap.3
Philosophische Wurzeln des Begriffs ‚Menschenwürde‘ nach P.Tiedemann (2014), Kap.3

1. Bei der Lektüre diese Kapitels scheinen zwei Grundsätze leitend zu sein: (i) der juristische Begriff der ‚Menschenwürde‘ hat nach Paul Tiedemann innerhalb Europas eine philosophische Herkunft, und (ii) sofern der Jurist keine ‚Legaldefinitionen‘ vorfindet, die ihn binden, sollte er sich in seiner Auslegung der Bedeutung an diese philosophische Wurzeln halten. (vgl. S.51)

2. Dies könnte stutzig machen. Denn wenn (ii) stimmt, dann bedeutet dies, dass das Rechtssystem in einem Land die Autonomie besitzt, die Verwendung von Begriffen gegenüber der Vergangenheit zu ändern. Wenn dem so ist, dann erscheint die Rückfrage in eine mögliche philosophische Tradition nicht mehr zwingend. Warum sollte man dies tun?

3. Bejaht man (ii), dann erscheint (i) fraglich. Bejaht man die Notwendigkeit von (i), dann muss man (ii) zumindest mit einem Fragezeichen versehen. Ein Fragezeichen in dem Sinne, dass die ‚Legalität‘ als solche noch nichts über einen möglichen ‚Wahrheitsbezug‘ aussagt noch etwas über eine mögliche ’sachliche Angemessenheit‘. Wie die deutsche Geschichte (und nicht nur diese) zeigt, können legale Gesetze in hohem Maße unmenschliche, tödliche, und zerstörerische Handlungen decken.

4. Liest man das folgende dritte Kapitel, dann scheint der Autor Taul Tiedemann eher letzterer Interpretation zuzuneigen.

5. Bei seinem Ausflug in die Philosophiegeschichte folgt Paul Tiedemann dem zuvor eingeführten Begriffspaar ‚autonomisch‘ und ‚heteronomisch‘.

6. Bedenkt man, wie viele Schriften es gibt, erscheint der Aufweis von gerade mal jeweils drei Positionen für jede Richtung wenig, wenngleich die zitierten Positionen ’schwergewichtig‘ sind.

AUTONOMISCH

7. Nach dem zuvor entwickelten ‚Vorverständnis‘ basiert die ‚autonomische‘ Position auf einer Eigenschaft, die dem Menschen qua Menschen zukommt, vorab zu allen anderen Wertungspositionen und Rechtsansprüchen. Bei Augustinus und Pico della Mirandola ist es die grundlegende Fähigkeit zur Wahl, die als solche eine grundlegende Freiheit – und damit ‚Würde‘ – repräsentiert. Während Augustinus diese Wahl festschreibt als Wahl zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘, ist es bei Mirandola einfach die Freiheit, etwas ‚Neues‘ zu schaffen, was bislang noch nicht da war. Bei Kant radikalisiert sich diese Position durch sein erkenntniskritischen Sichtungen und er sieht dann nur noch das Faktum der Vernunft als solcher als Quelle möglicher nicht-kontingenter Erkenntnisse. Letztlich ist es dann auch diese Autonomie der Vernunft und ihre Entscheidungsfähigkeit, die allem anderen voraus liegt.

HETERONOMISCH

8. Nach dem bisherigen Vorverständnis definiert sich die heteronomische Position über eine Relativierung der individuellen Würde durch Rückbeziehung auf etwas ‚Anderes‘ (‚Heteronomes‘). In der Stoa ist es die vorgegebene Ordnung, die sich aus dem Logos ergibt und an der der menschliche Geist Anteil hat; diese soll gegenüber der Triebwelt umgesetzt werden.

9. In der christlichen Theologie (wie weit ist dies ‚philosophisch‘?) ist es ‚Gott‘, der mit den geoffenbarten ‚Geboten‘ eine Ordnung erkennen lässt, der sich der Mensch ‚anzugleichen‘ hat. Damit trägt der Mensch seiner Stellung als ‚Geschöpf‘ Rechnung: im rechten Gebrauch seiner Wahlfreiheit wird die ‚Ebenbildlichkeit‘ zu Gott real. Trotz geschenkter Gottesähnlichkeit darf der Mensch aber bestraft werden – bis hin zum Tode –, wenn er seine Wahlmöglichkeiten nicht in der rechten Weise wahrnimmt.

10. Im naturalistischen Naturrecht, das man als historische Antwort auf die vorausgehenden blutigen Religionskriege verstehen kann, wird die Würde zwar auch in der grundlegenden Wahlmöglichkeit des Menschen angesiedelt, aber anstatt diese Wahlmöglichkeit an einem göttlichen Gebot zu messen, wird dieses rückgebunden an die vorgegebene Gemeinschaft: zwar muss die Gemeinschaft das Individuum achten, aber das Individuum hat keine absoluten Rechte gegenüber der Gemeinschaft.

NEGATIVE SCHLUSSFOLGERUNGEN VON PAUL TIEDEMANN

11. Bedenkt man, dass der Ausflug in die philosophische Vergangenheit des Begriffs ‚Menschenwürde‘ von Paul Tiedemann damit motiviert worden war, dass die aktuelle Diskussion mit ihren unterschiedlichen Interpretationsstandpunkten widersprüchlich, verwirrend erscheint, so wird man zusammen mit ihm auch enttäuscht sein können, dass auch dieser Ausflug mit einer Verwirrtheit endet: für Paul Tiedemann erscheint eine Verknüpfung zwischen der autonomischen und der heteronomischen Position zu einer einzigen Position ‚unmöglich‘. „Beide Konzepte stehen zueinander im Widerspruch“. (S.66)

12. Tiedemann diagnostiziert, dass der Begriff der ‚Menschenwürde‘ nicht ‚ambivalent‘ sei, sondern ‚mehrdeutig‘, und in dieser Mehrdeutigkeit stehen sie ‚unversöhnlich nebeneinander‘. (vgl. S.66)

DISKUSSION

13. Eine umfassendere Diskussion soll zwar erst es am Schluss dieser reflektierenden Lektüre erfolgen, doch hier wiederum ein paar erste Gedanken.

14. Für mich ist die Abgrenzung von einer ‚ambivalenten‘ Bedeutung zu einer ‚mehrdeutigen, widersprüchlichen‘ Bedeutung nicht zwingend; aber vielleicht ist dies hier auch nicht so wichtig. Entscheidend erscheint jedenfalls für Paul Tiedemann das Faktum zu sein, dass die von ihm identifizierten ‚Bedeutungen‘ widersprüchlich sind.

15. Dieser identifizierte Widerspruch wird darin lokalisiert, dass die autonomische Position auf eine allgemeine Eigenschaft des Menschen rekurriert, die ihm als Mensch zukommt, vor allem anderen und die ‚aus sich heraus‘ eine Würde konstituiert, die durch nichts anderes in Frage gestellt werden kann.

16. Demgegenüber sieht die heteronomische Position im Kontext des Individuums eine Ordnung, die zum Individuum mindestens gleichwertig ist und die aus diesem Grund eine Beachtung verlangt. Die ‚wahre Sittlichkeit‘ zeigt sich dann daran, dass das Individuum seine grundlegende Wahlmöglichkeit im ‚Einklang‘ mit dieser vorfindlichen Ordnung ausübt.

17. Aus Sicht der autonomen Position bietet die Anerkennung einer verbindlichen Ordnung im Kontext des Individuums die Gefahr, dass die grundlegende Wahlfreiheit zerstört wird (falls die erkannte Ordnung ‚falsch‘ sein sollte). Aus Sicht der heteronomischen Position hingegen bietet die autonomische Position die Gefahr, dass die Willkürlichkeit (= Wahl ohne Verpflichtung) jedwede bestehende Ordnung zerstören kann.

18. Bei Mirandola gibt es den Hinweis auf das ‚Neue‘, was jeder Mensch schaffen kann, etwas, das es bislang noch nicht gegeben hat. Und die Geschichte der letzten Jahrtausende – sofern sie uns bekannt wurde – legt den Schluss nahe, dass nicht nur die Natur als Ganze (letztlich das ganze bekannte Universum) ‚im Werden‘ begriffen ist, d.h. beständig ‚Altes vergeht‘, ‚Altes zerstört wird‘, damit das ‚Neue‘, das ‚Leben‘ entstehen konnte und entsteht. Zwar spricht man auch oft von ‚der Ordnung der Natur‘, diese ‚Ordnung‘ ist aber keine ’statische‘ Ordnung sondern – wie wir heute wissen können – ein dynamischer Prozess, dessen ‚Gesetze‘ das ‚Unvorhersehbare‘ mit einschließen.

19. Bedenkt man nun, dass das menschliche Individuum ja ein ‚Teil‘ dieses Prozesses ist, und zwar ein ‚gewordener‘ Teil, ein ’noch nicht abgeschlossener‘ Teil, dann fällt es schwer, nachzuvollziehen, warum eine – historisch – punktuelle Eigenschaft an einem einzelnen Individuum einen ‚absoluten‘ Wert haben soll. Ohne ‚Kontext‘ gibt es dieses Individuum überhaupt nicht und ohne Kontext ist dieses Individuum gar nicht verständlich. Wie wir wissen können, besteht ein sogenanntes Individuum aus mehr als 4 Billionen Zellen, die permanent mit weiteren zig Billionen anderen Zellen kooperieren, die wiederum eingebettet sind in diesen gigantischen Prozess genannt Natur, so dass es fast willkürlich erscheint, einem winzigen Ausschnitt aus diesem ganzen ‚Wunderwerk‘ eine spezielle abgehobene Stellung zuzusprechen.

20. Allerdings, und dieser Punkt wird sehr selten beachtet, folgt aus dieser scheinbaren ‚Einebnung‘ eines menschlichen Individuums NICHT – wie Kant und viele andere es unterstellen –, dass dies auf eine Beliebigkeit hinauslaufe, die ein ernsthaftes sittliches Verhalten unmöglich mache. Das Gegenteil ist richtig. Aber schauen wir erst einmal, was die weitere Lektüre an Einsichten bringen wird.

Fortsetzung von Teil 4 findet sich HIER

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