Archiv für den Monat: Dezember 2011

JAHRESRÜCKBLICK 2011

 

(1) Zum Jahresende mehren sich die Jahresrückblicke. Dem Kaleidoskop der Bilder kann man sich kaum entziehen. Schreckliches neben Schönem, Menschliches neben allzu Menschlichem; das soll es gewesen sein, das letzte Jahr? Und so schnell vorbei… der Andruck der aktuellen Situation übertüncht diese Bilder sehr schnell, wieder. Und schon ist man wieder drin im eigenen Ereignisstrom. Was war wirklich besonders? Gab es was Bleibendes? Haben wir zusammen irgendetwas Wichtiges gelernt? Führt Globalisierung zur Nivellierung von allem, auch von allen Werten?

 

 

DIE MENSCHEN, VON DENEN WIR ALLE LEBEN

 

(2) Dort, wo Alltag funktioniert, funktioniert er, weil es so viele Menschen gibt, die trotz aller Umstände ihren ‚Job‘ machen. Die immer da sind, die die richtigen Dinge entscheiden und bewegen, die ihre Emotionen und Gefühle irgendwie im Griff haben, die mit den Problemen ihrer Mitmenschen irgendwie klar kommen, die vielleicht schrullig, aber doch erträglich sind, die mal krank sind, meistens aber da sind; denen man vertrauen kann, die hinreichend ‚berechenbar‘ sind, weswegen man sich auf sie verlassen kann; die in ’schwachen‘ Situationen die aktuelle Schwäche nicht ausnutzen, sondern eher noch Rat und Hilfe bieten; die genügend Kraft haben, ihre Arbeit selbständig durchzuziehen, die Mut und Ideen haben, ihre Arbeit zu organisieren, die hinreichend pünktlich sind, mit denen man reden kann; kurzum, die Helden des Alltags, ohne die man seine eigene Arbeit nur schlecht oder gar nicht tun könnte, ohne die ein ’normaler‘ Alltag zusammenbricht, ohne die es kein ’normales‘ Leben geben kann.

 

DIE GRENZEN DES MENSCHEN, DIE WIR VERDRÄNGEN

 

(3) Wer das große Glück hat, in solch einem Alltag leben zu können, vergisst gerne, dass es anders sein kann. Vielleicht ahnt man es, wenn der eine oder die andere durch Krankheit, Unfall, Lebensschicksal plötzlich ausfällt und nicht mehr ‚dabei‘ ist; man ahnt, wie dünn das Eis ist, auf dem man sich bewegt; wie brüchig der Alltag ist, der da als täglich wiederkehrendes Ritual einen Raum der ‚Normalität‘ aufspannt, der seinen ‚Sinn‘ ‚aus sich selbst‘ empfängt, aus dem faktischen Geschehen, dass es jetzt so geschieht, dass es alle tun, …. Wenn es jeder tut, weil es alle tun, schenken wir uns gegenseitig vordergründig einen ‚Sinn‘, der uns trägt und leitet, der sich aber beim ‚Herausfallen‘ aus dem Ritual schnell in ‚Nichts‘ auflösen kann. Wenn das Ritual des Alltags nur ‚es selbst‘ ist, das faktische Geschehen, dann ist uns das große Nichts immer sehr nahe. Vielleicht spürt man es unbewusst, hat Angst davor.

 

(4) Normale Abläufe sind anstrengend, für jeden. Sie erfordern Kraft, sie erfordern Gesundheit, sie erfordern psychische Stabilität, eine Organisation von alltäglichen Dingen, eine Gestaltung von Kommunikation, Pflege von Beziehungen, Meisterung von praktischen und technischen Problemen, am Limit, täglich. In verschiedenen Phasen unseres Lebens, in verschiedenen Phasen im Jahr, im Monat, in der Woche, am Tag sind wir nicht gleich gesund, sind wir emotional geschwächt, machen wir Fehler in der Organisation, versagt Kommunikation, laufen Beziehungen aus dem Ruder, der Rhythmus stockt, man fühlt sich schwach, krank, verloren; ist wütend, traurig, aggressiv; man taumelt.

 

(5) Obwohl wir wissen, dass es klare Belastungsgrenzen gibt, dass wir Freiraum, Erholung, soziales Leben und Kreativität brauchen, um auf Dauer nicht nur zu ‚funktionieren‘, sondern gute bis sehr gute Leistungen bringen zu können, obwohl wir dies wissen, gibt es eine Tendenz, die Leistungsansprüche immer höher zu schrauben, so, dass genau all das, was einem Menschen guttut, immer weniger bis gar nicht stattfinden kann. Dass dies dann psychische Verwerfungen, Krankheiten, sozialen Unfrieden, psychische Krankheiten, Sucht, und sehr hohe soziale Kosten erzeugen kann, weiß man eigentlich auch. Wer steuert dagegen? Der einzelne, der sich in der Überforderung vorfindet, hat in der Regel am allerwenigsten die Kraft, sich daraus zu befreien. Ihm bleibt dann nur die Flucht in den ‚Zusammenbruch‘, die ‚Krankheit‘ als Vorwand, um sich ‚entfernen‘ zu können. Welch unschöner Abgang, wie viel unnötige psychisch-soziale Störung oder gar Zerstörung. Vor allem, wenn der Alltag nur durch ein Versagen kontrolliert werden kann, was ist dies für ein negatives Lernprogramm: der Betreffende hat gelernt, dass er/sie nur durch ein Scheitern sein Glück finden kann. In der Erinnerung bleibt der Alltag als jene Hürde, die nur unter größten Anstrengungen genommen werden kann, eine Hürde, für die man –wie man erfahren musste– offensichtlich nicht genügend Kraft hatte, weil man –so der falsche Schluss– dafür nicht geeignet erscheint, weil man ein(e) Versager/in ist … Wie will da der einzelne ohne Hilfe, ohne professionelle Betreuung von selbst herausfinden?

 

 

(6) Die Überschriften in unserer Tageszeitungen werden von plakativen Themen beherrscht, wie z.B. dass 30-60% der Jugendliche in Deutschland mittleren bis starken Konsum beim Rauchen, beim Alkohol und bei ‚weichen‘ Drogen aufweisen sollen. Oder dass der Bedarf an Pflegekräften für ältere Menschen immer weniger gedeckt werden kann, was zu entsprechend mehr Belastungen im familiären Umfeld führt, sofern vorhanden. Oder, wie man mit behinderten Kinder in der Erziehung umgeht? Oder dass rechte, linke und orthodoxe Radikale sich ‚terroristisch‘ betätigen; usw. Sehr viele Einzelbilder. Wie hängen diese untereinander zusammen? Gibt es einen Zusammenhang? Was heißt dies für den privaten Lebensstil der Menschen in unserem Land, in den Nachbarländern, weltweit? Was für ein Bild vom Menschen zeigt sich in all diesem? Gibt es ein Menschenbild? Können wir daraus etwas lernen? Wo müssten wir uns korrigieren?

 

(7) Wenn ich lese, dass russische Ermittler und Strafvollzugsbeamten den Tod eines Untersuchungshäftlings verursacht haben sollen, oder ein Gericht in Minsk hat zwei ehemalige Präsidentschaftskandidaten und weitere Oppositionelle zu Bewährungsstrafen verurteilt, was heißt das? Ist das egal, warum wird es berichtet. Wenn es nicht egal ist, was machen wir damit? Ein polnischer Journalist wird in Weissrussland verhaftet. Ja und? Was soll uns dies sagen? Soll es uns etwas sagen? Wem? Hat es irgendwelche Folgen? In Syrien führt die Regierung seit Monaten einen brutalen Krieg gegen die eigenen Bürger. …. Wir werden täglich überschüttet mit solchen und ähnlichen Meldungen. Wer sind die Adressaten? Findet irgendwo eine weitergehende ‚Auswertung‘ statt? Hat es irgendwelche Konsequenzen außer dass gelegentlich ‚Verschwörungstheorien‘ aufkommen, die die Internetforen füllen oder für Auflagen sorgen? Was kann man als einzelner tun? Der einzelne, den wir oben identifiziert haben entweder als jemand, der sich in einer Überarbeitungssituation befindet oder gerade mal erschöpft darnieder liegt und wenig an die Weltrevolution denkt? Ja, irgendwie gehen die Botschaften um, irgendwie erreichen sie unsere Aufmerksamkeit, irgendwie, diffus, wissen wir darum dass…. aber was nützt uns das? Wer redet darüber? Wer sollte das handelnde Subjekt sein? Die Liste knn beliebig lang gemacht werden (siehe weitere Beispiele im Anhang).

 

STRUKTUREN?

 

(8) Die Bedürftigkeit des Menschen muss ein Orientierungspunkt für die Zukunft sein, wenngleich eingeordnet in die übergreifenden Zusammenhänge des Lebens, der Natur, von der wir ein Teil sind und ohne die auch wir nicht leben können. Auf der anderen Seite zeigen die wenigen Beispiele der täglichen Meldungen von überall auf der Erde, dass die Menschen nicht einzelne wenige Baustellen zu meistern haben, sondern sehr, sehr viele gleichzeitig, parallel, und dies nicht mit einem einzigen Wertesystem, sondern mit einer Vielzahl von konkurrierenden Werten, die sich z.T. diametral widersprechen, mit gänzlich verschiedenen Handlungssubjekten –einzelne, Gruppen, Netzwerke, Institutionen…–. Was immer wir erkennen, es muss Handlungssubjekte geben, die diese Erkenntnisse verstehen und umsetzen können. Die heutige ‚Kakophonie‘ der Meldungen muss daher nicht nur und unbedingt negativ gedeutet werden. Dieser Strom an Meldungen ist in gewisser Weise die Voraussetzung für Meinungs- und Wissensbildung. Natürlich spielt die ‚Qualität‘ dieser Meldungen eine Rolle. Aber die Meldungen alleine können niemals ein strukturiertes Wissen ersetzen; Meldungen als solche erzeugen von sich aus keine geordnete Struktur, kein Modell des Ganzen. Es bedarf der denkenden Gehirne, die kontinuierlich und systematisch aus diesem großen Kaleidoskop jene Strukturen extrahieren, die letztlich ‚hinter‘ all dem am Wirken sind, die wichtig sind. Wo sind diese? Gibt es sie? Wie können diese leben? Wie sind diese sozial und politisch eingebettet?

 

(10) …. viele Fragen stellen sich, noch viel mehr. Es bleibt genug Stoff, auch für das Neue Jahr, um Klärungen zu suchen.

 

ETHIK UND MENSCHLICHKEIT

 

KUNST

 

SINN

 

THEMENRAUSCHEN

 

Hier weitere Themen, zufällig aus einer Tageszeitung zusammengestellt:

 

Für viele sieht es so aus, also ob Israel die Palästinenser unter beständigem Druck hält, um die daraus resultierenden radikale Aktionen zum Vorwand nehmen zu können, den Druck nicht mindern zu können. Die Regierung in Bahrein schlägt Demonstrationen blutig nieder. Der Einfluss Chinas wird in allen Bereichen der Erde immer größer. Die türkische Militärführung tritt wegen Ergenekon-Affäre zurück. Immer mehr Journalisten sitzen in der Türkei wegen angeblicher Verstöße gegen die Antiterrorgesetze im Gefängnis. Zusätzlich jene im Umfeld der kurdischen Bevölkerung. Kurdische Erdbebenopfer warten bislang vergeblich auf Hilfe. Junge Afrikanerinnen tauchen nach Fußballturnier in Berlin unter, ohne Papiere. Die Realität in Palästina ist für viele Palästinenser die einer Besatzungszone, eines Gefängnisses. Im Alltag von Schulen und Kindergärten wird Spaltung und Misstrauen gesät. Während Israelis im Palästinensergebiet bauen dürfen, werden palästinensische Bauten sofort abgerissen. Die größten Ölreserven angeblich in Venezuela vor Saudi-Arabien, Iran und Irak. Ein junger Mann tötet in Norwegen Jugendliche. Ecuadors Präsident wütet gegen eine Zeitung. Wiederholt: Hilfsgelder kommen kaum an. Ökologische Probleme in der Bretagne durch Landwirtschaft – politisch zu brisant. Welches politisches Format für Europa? Provisionsexzesse bei Versicherungen. Opposition in Russland auch durch Musiker und Bands. Das Grundgesetz ist eine politische Setzung und gehorcht keinem ewigen Gesetz. Das Internet als wichtiges Kommunikationsmedium wird von einigen wenigen großen Firmen (und Ländern) dominiert. Krankenkassen kontrollieren große Geldströme ohne selber kontrolliert zu werden. Umgang der Behörden mit Rechtsextremismus schwer verständlich. Nutzen der digitalen Technik in Wirtschaft und Gesellschaft sehr unterschiedlich. Im Hochschulbereich Tendenzen: Mehr Technik, weniger Gesellschaft; mehr Produkte, weniger Grundlagen; mehr Masse statt Qualität; mehr Lehrer statt Hochschullehrer; mehr eLearning statt Lehre… Luftverschmutzung unterschätzt, Messungen finden nicht statt. Südafrikas Pressefreiheit gefährdet. Iraels Pressefreiheit bedroht. Digitalisierung des kulturellen Erbes kommerziell schneller als staatlich. Nicaragua kauft freie Presse auf. Virenschutzfirmen – und wer kontrolliert sie? Radikalisierung des obersten israelischen Gerichtes? Die Pharmaindustrie pflegt die Ärzte, regierungsseitig wenig Gegengewicht. Europa und die Welt. Computer, Internet und Privatsphäre – bislang weitgehend ungeschützt. Autoren und Verlage: wenig Rechte für Autoren. Einfluss der Ölländer bleibt vorläufig. Versorgung mit Rohstoffen immer wichtiger. Christliche Tradition keine Einheit durch Schriftauslegung. Machtkampf im ANC; Malewa 5 Jahre suspendiert. Guantanamo weiter im juristischen Graubereich. Irans Atompolitik erzeugt Ängste. Demographischer Wandel und Gesellschaft (Kinder, Jugendliche, Infrastrukturen, Haushalte…) Internet und globale Werte – Politik und Religion als Einschränkungen. Technische Revolutionen und ihre Wirkungen. Ausländische Investoren in Indien und Konflikt mit einheimischen Arbeitnehmern. Immer mehr Bürgerbewusstsein in China. Kann China vom satten Europa lernen? Italien und massive Einwanderungen. In USA marode Infrastrukturen und kaum Geld, dies zu ändern. In Südafrika streiten Arbeiter wegen Goldstaub Erkrankungen. Verkehr. Naturkatastrophen in Asien (Überschwemmungen, Erdbeben,…). Keine Reichensteuer in USA. Kommunikation in der Politik. Staatstrojaner. Forschungsförderung in Deutschland (DFG) wenig transparent. Terrorgruppen in Uganda. Forschung aus Sicht der Pharmaunternehmen auch nicht einfach. Beteiligung von Bürgern/ Arbeitnehmern an Produktionen in Entwicklungsländern. Gedankenpolizei für das Internet. Firmengründungen (Technologieeinsatz, Patente, Recht). Amerikas Drohnenkrieg. Rechtsstaatlichkeit in der EU. NS Vergangenheit. Israel will 30.000 arabisch-stämmige Beduinen umsiedeln, die seit Jahrhunderten in dem Gebiet wohnen. USA und Israel. Verwaltungsgerichte. Piratenpartei. Regierungen und Waffengeschäfte. Facebook. Putin und Medwedjew. Energiewende – Energiepolitik – Technik, autonome. Handyüberwachung. Industrie und Ökologie. China und Sambia wegen Kupfer, Landverkauf. Bankwesen, Ökologie, Minikredite. Finanzaufsicht, Bankenaufsicht – wie. Politik und Inklusion. Afghanistan. Organisierte Kriminalität. Scientology. 11.Sept. In USA und politische Radikalisierung. Geheimdienste leben in einer Parallelwelt. Sarkozy bedroht Journalisten. Drogenkrieg in Mexiko – organisierte Kriminalität. Regierung und Parlament. Steuerfahnder und Klientel. Sexueller Missbrauch von Kindern. Schulen und Beruf. Die Reichen eines Landes und ihre Verantwortung. Öhlborungen und Öltransporte und Umwelt. Lebensschutz. Finanzwirtschaft und Politik. Wirtschaftliche Interdependenzen zwischen Staaten. Ratingagenturen. Schwache Euroländer. Nigeria und Rohstoffe. Deutschland als Schattenfinanzplatz wegen geringer Transparenz. Staatsschulden. Lebensmittelverschwendung – Nahrungsmittelproduktion.

 

 

FORMALE THEORIE DES BEWUSSTSEINS oder BEWUSSTSEINSBASIERTE AGENTEN

(1) Nach einer ersten Diskussion von Husserls Pariser Vorlesung(en) von 1929 (siehe diesen Blog CM III, Teil 1-8) folgt nun eine Zwischenphase, in der ich eine erste Version einer formalen Theorie des Bewusstseins im Kontext selbstlernender Software hinschreiben werde. Die vorausgehenden Versuche der letzten Jahre scheiterten immer wieder an schwer fassbaren ‚Denkknäuel‘.

(2) Wer diese formale Theorie selber nachlesen will, der sei auf mein Skript ‚General (Behavior Based) Computational Learning Theory (GBBCLT)‘ verwiesen. Da sich dieses im beständigen Fluss befindet, kann ich nur die allgemeine Adresse (http://www.uffmm.org/gbbclt.html) angeben und auf das Kapitel ‚Consciousness‘ mit diversen Unterabschnitten verweisen. Dazu sollte man vorher den Abschnitt ‚Philosophy of Engineered Intelligent Systems‘ mit den entsprechenden Unterabschnitten lesen, um den Zusammenhang mit den künstlichen lernenden Softwareagenten verstehen zu können.

(3) Der erste Versuch des Aufschreibens erweckt den Eindruck, dass man die scheinbare Komplexität unseres Bewusstseins eventuell auf recht wenige und einfache Strukturen zurückführen kann (die eigentliche Komplexität liegt ja sowieso ‚hinter‘ dem Bewusstsein, in jener ‚Maschinerie‘, die die Leistungen des ‚erlebbaren‘ Bewusstseins quasi ‚zur Verfügung stellt‘). Sicher müssen hier viele Details noch weiter justiert werden. Doch scheint der ‚Grundprozess‘ alle Eigenschaften zu bieten, die man braucht.

(4) Die Diskussion über das phänomenologische Konzept von Husserl ist natürlich in keiner Weise abgeschlossen. Aber aufgrund der knappen Zeit, weiß ich nicht, wann ich an dieser Stelle fortfahren kann. Die Ausarbeitung der formalen Theorie und ihrer Tests hat in den nächsten Wochen –oder gar Monaten– ‚Vorfahrt‘. Außerdem habe ich das starke Gefühl, dass eine Relektüre der ‚Phänomenologie‘ von Hegel eine Menge interessanter Gedanken in diesem Kontext liefern könnte. Es ist auffällig, wie wenig Husserl auf die vorausgehende Philosophie und die umgebenden Wissenschaften eingegangen ist (die Psychologie ausgenommen, hier aber auch nur anscheinend sehr selektiv). Zudem habe ich den Eindruck, dass das Phänomen der Musik philosophisch höchst brisant ist.

ÜBERBLICK: Einen Überblick über alle Beiträge des Blogs nach Titeln findet sich HIER

CARTESIANISCHE MEDITATIONEN III, Teil 8

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 26.Dezember 2011
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

(114) Den rote Faden der Rationalität, der die ‚universale Philosophie‘ mit den ‚Tatsachenwissenschaften‘ verbindet, formuliert Husserl an einer Stelle auch wie folgt: ‚Alle Rationalität des Faktums liegt ja im Apriori. Apriorische Wissenschaft ist Wissenschaft von dem Prinzipiellen, auf das Tatsachenwissenschaft rekurrieren muss, um letztlich, eben prinzipiell begründet zu werden…‘ (vgl. CM2, S.38, Z28f) Dies klingt auf den ersten Blick so klar. Doch lässt man sich auf die Magie der Worte ein, dann können sich zuvorderst erscheinende Strukturen verschieben, und in der Folge weiteren Nachdenkens können Strukturen sichtbar werden, die einfach anders sind.

(115) Beginnen wir mit den Begriffen ‚Apriorische Wissenschaft‘ und ‚Tatsachenwissenschaft‘. Wie so oft, ist der Begriff der ‚Tatsache‘ nicht wirklich definiert. Aus dem Kontext können wir nur erschließen, dass Husserl jene Gegebenheiten meint, die die empirischen Wissenschaften als ‚gültig‘ beschreiben. Aus Sicht der Phänomenologie sind diese als ‚Tatsachen‘ bezeichneten Gegebenheiten zunächst einmal Phänomene wie alle anderen Phänomene auch. Aus Sicht der Phänomenologie gibt es nur die Menge der Phänomene [Ph], wie sie im Bewusstsein erscheinen unabghängig davon, wie eine bestimme Denkdisziplin eine mögliche Teilmenge von diesen darüber hinaus bezeichnet. Wenn also die empirischen Wissenschaften darüber überein gekommen ist, innerhalb der Menge der Phänomene Ph eine bestimmte Teilmenge auszuzeichnen und dieser Teilmenge den Namen ‚empirische Phänomene [Ph_emp]‘ verleihen, dann kann man dies tun; die Menge der empirischen Phänomene Ph_emp bleibt damit aber dennoch primär eine Menge von Phänomenen Ph, also Ph_emp subset Ph.

(116) Husserl charakterisiert den Übergang vom ’naiven‘ Alltagsbewusstsein zum ’nicht-naiven‘ –sprich ‚kritischen‘– philosophischen (phänomenologischen) Bewusstsein   zuvor durch die Reduktion mittels Epoché, durch die Bewusstwerdung davon, dass alles –insbesondere das Weltliche– nur etwas ist im Bewusstsein, als Gegebenes des transzendentalen ego. (vgl. z.B. CM2, S8f) Damit verschwinden keine Phänomene, auch nicht die, die ‚empirisch‘ genannt werden, es wird nur ihre ‚Interpretation‘ als etwas, das  ein ausserhalb des Bewusstsein Liegendes sei (z.B. der Außenraum, das Andere, die Welt), eingeklammert und aller Sinn beschränkt auf jenen Sinn, der sich aus der Unhintergehbarkeit des ‚Im-Wissen-des-Wissens-um-sich-Selbst-und-seiner-Gegebenheiten‘ (zuvor schon abkürzend transzendentales Subjekt trlS bezeichnet) ergibt.

(117) Folgt man diesem Gedanken, stellt sich nur die Frage, wie ein so transzendental bezogenes Gegebenes jemals wieder als ‚Bote einer anderen Welt‘, und zwar wenigstens hypothetisch, gedacht werden kann? Wie kann ein trlS ‚in sich‘ bzw. ‚aus sich heraus‘ jenes ‚Andere‘ erkennen, das von ihm weg auf etwas anderes verweist, ohne dabei das Gegebensein im trlS zu verlieren? Sofern ein bestimmtes Gegebenes nicht im Kontext von speziellen Eigenschaften W  vorkommt, die das trlS dazu ‚berechtigen‘, auf ein ‚jenseits von ihm selbst‘ (ein Transzendentes) verweisen zu können, wird man die Frage negativ bescheiden müssen. Und die vorausgehenden Reflexionen zum husserlschen transzendentalen ego haben ja gerade zum Konzept des trlS geführt, weil im tiefsten Innern des Transzendentalen, in seinem ‚Kern‘, in seiner ‚Wurzel‘,…. das ‚Andere‘ schon immer da ist. Nur weil das ‚Wissen um sich selbst‘ als dieses  spezielle Wissen das im Wissen als etwas Gegebenes als ‚etwas von dem Wissen Verschiedenes‘, als ein ‚wesentlich Anderes‘ schon immer denknotwendig vorfindet, kann das trlS sowohl den Begriff des Anderen denken wie auch den Begriff des ‚für sich Seins‘ eines Anderen. Da dieses Andere in vielfältigen Eigenschaftskombination sowie in mannigfaltigen dynamischen Abläufen auftritt, zeigt sich das Andere nicht nur mit einem ‚Gesicht‘; es kann sehr viele verschiedene Namen bekommen.

(118) Wenn also in der Epoché die ‚Weltgeltung‘ bestimmter Phänomene innerhalb des Wissens um sich selbst thematisiert wird und damit dieses Wissen sich seiner ‚kritischen Funktion‘ bewusst wird, ermöglicht sich zwar auf der einen Seite ein spezieller reflektierender Umgang mit diesen Phänomenen, durch diesen reflektierenden Umgang wird aber die jeweilige ‚phänomenologische Qualität‘, die jeweilige Mischung von Eigenschaften, die ein Phänomen konstituieren, nicht ausgelöscht; diese Eigenschaften bleiben, wie sie sind. Die grundsätzliche (transzendentale!) Andersartigkeit jeden Phänomens bleibt erhalten und innerhalb dieser unhintergehbaren Andersartigkeit deutet sich in vielen Phänomenen samt ihrem Kontext ein ‚Jenseits‘, eine ‚Transzendenz‘ an, die den Phänomenen und der Art ihres Erscheinens ‚innewohnt‘. In diesem Sinne muss man sagen, dass der transzendentale Charakter des ‚Anderem im für uns sein‘ ergänzt werden muss um die Eigenschaft der ‚Transzendenz‘ als etwas dem Anderen wesentlich Zukommendes.

(119) Das Wissen um sich ‚besitzt‘ das andere ’nicht‘, sondern es ‚empfängt‘ es. Anders gewendet, im kontinuierlichen Empfangen des transzendental Anderen ‚zeigt sich‘ (revelare, revelatio, Offenbarung) etwas ganz anderes als wesentlicher Teil unseres für uns Seins. Und da dieses sich kontinuierlich Zeigen (Offenbaren) aufgrund der Endlichkeit jeden einzelnen Phänomens im Kommen und Gehen und ‚zusammenbindenden Erinnern‘ eine ’nicht abschließbare Endlichkeit‘ ist, eine ‚unendliche Endlichkeit‘, verweist jedes konkrete Phänomen durch diese ‚gewusste Nichtabschließbarkeit‘ auf ein ‚Jenseits‘ des aktuell Gegebenen, manifestiert sich eine ‚Transzendenz‘, die im Wissen um sich und für sich zu einem ‚Faktum‘ wird, dessen kontinuierliche Endlichkeit ein Begreifen, ein ‚Gefasstwerden‘, einen Abschluss, eine Einheit, eine …. herausfordert.

(120) Innerhalb der allgemeinen Menge der Phänomene Ph  eine spezielle Menge der empirischen Phänomene Ph_emp aussondern zu können setzt somit voraus, dass diesen ausgesonderten Phänomenen qua Phänomene etwas zukommt, das diese Aussonderung rechtfertigt. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass bis auf jene Menschen, die als ‚psychisch gestört‘ klassifiziert werden, zwischen Menschen immer eine Einigung darüber möglich ist, ob ein bestimmtes Phänomen ein empirisches Phänomen x in Ph_emp ist oder nicht x -in Ph_emp. Diese Praxis ist möglich, weil es vorab zu dieser Praxis als notwendige Eigenschaften der empirischen Phänomene etwas gibt, was sie von anderen abhebt und aufgrund deren Gegebenheit Menschen diese Unterscheidung treffen können. Die empirischen Wissenschaften, die sich auf diese Teilmenge Ph_emp der allgemeinen Phänomene Ph berufen, sind in dieser Berufung noch nicht verschieden von der allgemeinen phänomenologischen Philosophie. Die Phänomene als Phänomene sind reell, sind gegeben, unabhängig davon, wie ich sie darüber hinaus ‚interpretiere‘, ob ’naiv‘ hinnehmend oder ‚kritisch‘ einordnend.

(121) Das übliche Kriterium in den empirischen Wissenschaften, mittels dessen die empirischen Phänomene Ph_emp von der allgemeinen Menge der Phänomene Ph ‚ausgesondert‘ wird, ist das ‚Experiment‘. Ein Experiment ist eine Ereignis- bzw. Handlungsfolge,  deren Kennzeichen ist, dass sie jederzeit von jedem wiederholbar sein müssen und dass bei gleichen Ausgangsbedingungen die gleichen (Mess-)Ereignisse  auftreten. Eine detaillierte phänomenologische Beschreibung wäre etwas umfangreicher. An dieser Stelle sollen nur die Kernaussagen festgehalten werden. Dazu bezeichnen wir alle Phänomene, die im Kontext eines Experimentes auftreten, als Ph_exp. Das Experiment als solches ist nicht notwendig, sondern ‚kontingent‘. Man kann ein Experiment durchführen, aber man muss nicht. Allerdings, wenn man ein Experiment durchführt, dann gilt, dass das das zu messende Phänomen Ph_emp  mit ‚Notwendigkeit‘ immer auftritt. Man kann also sagen, die empirischen Phänomene sind eine Schnittmenge aus den allgemeinen Phänomenen und den experimentellen Phänomenen Ph_emp = Ph cut Ph_exp. Mit all diesen Besonderheiten bleiben sie aber genuine Phänomene und fallen nicht aus dem Bereich einer phänomenologischen Reflexion heraus. Ein phänomenologischer Philosoph kann die experimentellen empirischen Phänomne betrachten wie er alle anderen Phänomene auch betrachtet.

(122) Das einzelne empirische Phänomen als solches besagt aber so gut wie nichts. Es gewinnt einen möglichen ‚Sinn‘ erst durch die zusätzliche Eigenschaft, dass es nicht nur ‚kontingent‘ im Sinne von ‚regellos‘, ‚zufällig‘ ist, sondern dass es im Zusammenhang mit anderen empirischen Phänomenen etwas ‚Nicht-Kontingentes‘, etwas ‚Nicht-Zufälliges‘  erkennen läßt. Diese Beschreibung schließt mit ein, dass man sagen kann, wie genau die Eigenschaft ‚Zufällig-Sein‘ (Kontingent-Sein) definiert wird. Wir setzen an dieser Stelle einfach mal voraus, dass dies geht (was alles andere als ‚trivial‘ ist!). Nicht-Zufälliges kann z.B. auftreten in Form von Zufallsverteilungen oder aber sogar bisweilen in Gestalt eines ‚gesetzmäßigen Zusammenhangs‘, dass immer wenn ein Phänomen p_i auftritt, ein anderes Phänomen p_j zugleich mit auftritt oder dem Phänomen p_i ‚folgt‘. In diesem Sinne gibt es im Bereich der Phänomene ’notwendige Zusammenhänge‘, die das Denken im Anderen  ‚vorfindet‘. Wichtig ist aber, dass es sich hier um Eigenschaften handelt, die den Phänomenen als Phänomenen zukommen, die nicht aus dem phänomenologischen Denken herausfallen. Ja, mehr noch, es geht hier nicht um ‚primäre‘ Eigenschaften der Phänomene, sondern um ‚phänomenübersteigende‘ Eigenschaften, die auf Zusammenhänge verweisen, die nicht dem einzelnen Phänomen als solchen zukommen, sondern sie verweisen auf ‚Formen des dynamischen Erscheinens‘ von Phänomenen.

(123) Diese ‚das einzelne Phänomen übersteigende Eigenschaften‘ setzen eine Erinnerungsfähigkeit voraus, die aktuell Gegebenes (Aktuales) ‚im nächsten Moment‘ nicht vollständig vergisst, sondern in der Lage ist, ‚Vorher Aktuales‘ wieder zu ‚erinnern‘ und es darüber hinaus noch mit dem ‚jetzt Aktualen‘ in Beziehung zu setzen, z.B. in einem ‚Vergleich‘. Diese Fähigkeit des impliziten Erinnerns gehört unserem Denken zu, ist eine dem Denken inhärierende Eigenschaft, ohne die wir keinen einzigen Zusammenhang denken könnten. In diesem Sinne ist das Erinnern und aus der Erinnerung heraus ‚Beziehen‘ können denknotwendig, transzendental.

(124) Durch Experimente kann das phänomenologische Denken allerdings ermitteln, dass das, was erinnert wird  [Ph_mem]  mit dem ‚ursprünglich Wahrgenommenen‘ [Ph_aktual] nicht identisch sein muss und in der Regel auch nicht identisch ist. Also  Ph_mem = Erinnern(Ph_aktual) & Ph_mem != Ph_aktual. D.h. das Erinnern ist keine 1-zu-1 Kopie des vorausgehenden Aktualen sondern –im Normalfall– eine ‚Modifikation des Originals‘. Es ist eine eigene Wissenschaft, zu erforschen, ob und in welchem Umfang diese Modifikationen selbst ‚gesetzmäßig‘ sind. Wichtig an dieser Stelle ist nur, dass man sich bewusst ist, dass das dem Denken transzendental innewohnende Erinnern im Normalfall eine Form von ‚Transformation‘ darstellt, die dem Denken zwar ’neue‘ Eigenschaften des Anderen aufscheinen lässt, aber diese ’neuen‘ Eigenschaften resultieren aus dem Denken selbst. Das ‚Einordnen‘ von Phänomenen in einen ‚gedachten Zusammenhang‘ ist primär ein Akt des Denkens und damit genuin phänomenologisch. Gedachte Zusammenhänge sind aber  als ‚gedachte‘ keine ‚primäre‘  Phänomene sondern ‚abgeleitete‘, ’sekundäre‘ Phänomene. Als ‚gewusste‘ sind sie ‚evident‘, in ihrem möglichen Bezug zu primären Phänomenen können sie ‚divergieren‘, ‚abweichen‘, sich ‚unterscheiden‘.

(125) Das, was sich im Denken zeigt, sind die Phänomene. Sehr verbreitet ist die Redeweise, in der bestimmte Phänomenkomplexe in besonderer Weise als ‚Objekte‘ [Obj] aufgefasst werden. Diese können als Wahrnehmungsobjekte [Obj_perc] auftreten, als  Erinnerungsobjekte [Obj_mem] oder als Denkobjekte [Obj_cog]. In aller Spezifikation bleiben sie Phänomene und gehören zum phänomenologischen Denken. Auch die empirischen Wissenschaften benutzen solche speziellen Objektkonzepte wie ‚Atom‘, ‚chemische Verknüpfungen‘ usw.

(126) Charakteristisch für empirische Theorien ist aber letztlich, dass die gefundenen Zusammenhänge zusätzlich  in einem System von Zeichen (Sprache) so abgebildet werden können, dass sich auf der Basis solcher symbolischer Darstellungen sowohl ein Bezug zu den primären Phänomenen herstellen läßt wie auch, dass sich unter Hinzuziehung eines Folgerungsbegriffs   logische Schlüsse ziehen lassen.

(127) Hierzu müsste man erklären, wie man innerhalb einer phänomenologischen Theorie den Begriff des Zeichens einführen kann.  Dies soll an dieser Stelle nicht geschehen. Husserl selbst lässt diesen zentralen Punkt ganz beiseite. Wir halten hier nur fest, dass an dieser Stelle solch eine Einführung stattfinden müsste; ohne sie wäre das Konzept einer (empirischen) wissenschaftlichen Theorie wesentlich unvollständig.

(128) Blicken wir nochmals zurück. Erinnern wir die Feststellung Husserls ‚Apriorische Wissenschaft ist Wissenschaft von dem Prinzipiellen, auf das Tatsachenwissenschaft rekurrieren muss, um letztlich, eben prinzipiell begründet zu werden…‘ (vgl. CM2, S.38, Z28f)  Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass die empirischen Wissenschaften sich zunächst nicht von der phänomenologischen Philosophie unterscheiden. Sie basieren auf den gleichen Phänomenen und sie benutzen das gleiche Denken. Insofern die empirischen Wissenschaften versuchen, im Raum der Phänomene Zusammenhänge aufzuspüren, Regelhaftigkeiten, müssen sie auf allgemeine Eigenschaften des Anderen rekurrieren, indem sie sich dieser Zusammenhänge ‚bewusst werden‘ und diese als ‚denknotwendige Zusammenhänge‘ explizit machen, bewusst machen, und dann konzeptuell und semiotisch benennen. Empirische Wissenschaften tun dies ‚phänomengeleitet‘, aber auch bestimmten Methoden folgend, die ein Minimum an ‚Wissen um‘ Phänomene und allgemeine Eigenschaften des Denkens einschließt.

(129) Eine klare Abgrenzung zu einer phänomenologischen Philosophie dürfte letztendlich schwierig sein, da ja auch ein phänomenologischer Philosoph nie in jedem Augenblick ‚das Ganze‘ denken kann, sondern immer nur schrittweise  Teilaspekte reflektiert, die er dann ebenso schrittweise zu größeren Perspektiven ‚zusammenfügen‘ kann. Mir scheinen vor diesem Hintergrund die eher zur Gegenübersetzung von Philosophie und empirischer Wissenschaft anregenden Formulierungen von Husserl nicht so geeignet zu sein. Stattdessen würde ich eher den ‚inklusiven‘ Charakter betonen. Empirische Wissenschaft ist grundsätzlich ein Denkgeschehen, was ‚innerhalb‘ des phänomenologischen Denkens stattfindet. Empirisches Denken stellt insoweit eine ‚Teilmenge‘ des phänomenologisch-philosophischen Denkens dar, insoweit das empirische wissenschaftliche Denken (i) einmal die Menge der zu betrachtenden Phänomene mittels eines überprüfbaren Kriteriums ‚beschränkt‘ und (ii) bei den reflektierenden Betrachtungen nicht alles reflektiert, was man reflektieren könnte, sondern sich auf jene Aspekte beschränkt, die notwendig sind, um die empirisch motivierten Zusammenhänge angemessen zu denken.  Wie die fortschreitende Entwicklung der empirischen Wissenschaften zeigt, können sich die Grenzen empirisch-wissenschaftlicher Reflexion beständig verschieben in Richtung solcher Inhalte, die traditionellerweise nur in der Philosophie zu finden waren. Dass heutzutage Ingenieure über die Konstruktion eines ‚künstlichen‘ Bewusstseins grübeln, kann sehr wohl geschehen im Einklang einer genuinen phänomenologisch-philosophischen Reflektion aller Gegebenheiten eines transzendentalen Subjekts.

Fortsetzung folgt.

ÜBERSICHT: Eine Übersicht über alle Blog-Beiträge nach Themen findet sich HIER

CARTESIANISCHE MEDITATIONEN III, Teil 7

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 25.Dezember  2011
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

(99) Auf den letzten Seiten der Pariser Vorlesung(en) führt Husserl seine ganzen Überlegungen nochmals verstärkt zusammen und er kommt darin zu Formulierungen, die der Autor dieses Kommentars grenzwertig findet; grenzwertig, da man das Gefühl nicht los wird, dass Husserl hier weniger als der kühle, analysierende Philosoph spricht (schreibt), sondern als ein Redner unter Erwartungsdruck, der zugleich eine ‚philosophie-politische‘ Position –nämlich die einer Phänomenologie– zu vertreten hat, von der die Welt –salopp formuliert– erwartet, dass sie ihre Probleme löst. Vielleicht ist diese Interpretation zu stark, vielleicht tut man Husserl damit sogar Unrecht, aber die sehr emphatischen Formulierungen, in denen er zudem Dinge zusammenführt, die zuvor nicht wirklich sauber analysiert worden sind, erzeugen einen ‚Unterton‘ im Text, den man schwerlich ‚überhören‘ kann.

(100) Nach der Kritik am alltäglich und positiv-wissenschaftlichen naiven Denken schreibt er: ‚Es gibt aber nur eine radikale Selbstbesinnung, das ist die phänomenologische. Radikale und völlig universale Selbstbesinnung ist aber untrennbar, und zugleich völlig untrennbar von der phänomenologischen Methode der Selbstbesinnung in Form der Wesensallgemeinheit. Universale und wesensmäßige Selbstauslegung besagt aber Herrschaft über alle dem ego und seiner transzendentalen Intersubjektivität eingeborenen idealen Möglichkeiten.‘ (vgl. CM2, S37, Z8 -15)

(101) Zu sagen, dass radikale Selbstbesinnung in sich ‚untrennbar‘ ist, erscheint nach den bisherigen Analysen plausibel. Dass die hier einschlägige Methode auf jeden Fall (= untrennbar) die phänomenologische Methode sei, ist anhand der (informellen) Definition von phänomenologischer Methode verständlich. Dass die Selbstbesinnung notwendigerweise in ‚Form von Wesensallgemeinheiten‘ stattfindet, ist dagegen nur bedingt war. Selbstbesinnung erlaubt die Auffassung von allem, was sich im Wissen-um vorfindet; die möglichen Allgemeinheiten sind nur ein Teil davon. Doch ist offensichtlich genau dieser Teil für Husserl an dieser Stelle wichtig, denn hier hebt er dann nochmals ab auf den Punkt, dass eine ‚wesensmäßige Selbstauslegung‘ ‚Herrschaft‘ bedeuten kann, Herrschaft über ‚alle eingeborenen idealen Möglichkeiten‘. Lassen wir den verräterischen Terminus ‚Herrschaft‘ für einen Moment auf der Seite.

(102) Aufmerken lässt der Überstieg von ‚Wesensallgemeinheiten‘ zu ‚allen eingeborenen idealen Möglichkeiten‘. Streng genommen sind die Termini ‚eingeboren‘ und ‚ideal‘ im Rahmen seiner Phänomenologie nicht wirklich definiert (wobei Husserl keinen einzigen Terminus im strengen Sinne definiert; er nutzt alle Termini immer nur ‚informell‘, beiläufig, im Kontext alltäglichen Redens, über dessen Geltungsbedingungen er sich nirgends Rechenschaft gibt).

(103) Wenn ‚phänomenologisch‘ heißt, das Gegebene aufzunehmen, dann wäre ein Terminus wie ‚eingeboren‘ nur möglich, wenn damit etwas Gegebenes gemeint ist, dem eine Eigenschaft anhaftet, anhand deren ich dieses Gegebene von anderem Gegebenen unterscheiden kann, und zwar z.B. die Eigenschaft ‚eingeboren‘ zu sein im Sinne von ‚dem Denken notwendig zugehörig‘ und sich darin unterscheidend von einem konkreten So-Seienden, das sich zwar auch im Denken vorfindet, aber nicht denknotwendig.

(104) In der Kombination von ‚eingeborenen … Möglichkeiten‘ wird es aber schwierig. ‚Möglichkeit‘ unterstellt ’normalerweise‘ die Verfügbarkeit von Alternativen in einem kombinatorischen Raum. Ein ‚kombinatorischer Raum‘ als solcher ist aber niemals eine phänomenologische Gegebenheit im primären Sinne. Er erschließt sich nur ‚im Denken‘, in einem ‚Prozess von verschiedenen Denkzuständen‘, die wiederum gepaart sind mit ‚Erinnerungsleistungen‘, durch die diese verschiedenen unterscheidbaren Zustände ‚zusammengehalten‘ werden. Sicher kommt solchen Denkprozessen samt ihrer ‚Vereinigung‘ mittels der Erinnerung eine gewisse Evidenz zu, aber diese Evidenz ist verglichen mit der primären phänomenologischen Evidenz des unmittelbar Gegebenen eine ‚abgeleitete‘ ’sekundäre‘ Evidenz, deren ‚Wahrheit‘ von der ‚Wahrheit der Denkübergänge‘ abhängt. In der normalen Denkerfahrung wissen wir, dass diese Übergänge –sobald sie erinnerungsabhängig sind– ‚falsch‘ sein können. Dass Husserl diese Problematik nicht sieht –oder zumindest nicht anspricht– erstaunt.

(105) Liegt die Rettung möglicherweise in dem zusätzlichen Terminus ‚ideal‘, wenn er von ‚eingeborenen idealen Möglichkeiten‘ spricht? Wie gesagt, ‚ideal‘ ist nirgends wirklich definiert. Nehmen wir an, Husserl meint damit auch etwas ‚Allgemeines‘ und damit etwas über das konkret So-Seiende Hinausweisendes, ein dem Denken zugehöriges Typisches und darin Denknotwendiges. Dann würde ‚eingeboren ideal‘ gemeinsam auf ein Denknotwendiges zielen, auf solche Möglichkeiten, die ‚denknotwendig‘ sind. Aber was ist ein ‚Mögliches‘, das ‚Notwendig‘ sein soll? Der Unterschied vom Möglichen zum Notwendigen ist ja normalerweise gerade, dass ein Mögliches sein kann, aber nicht sein muss. Ein ’notwendig Mögliches‘ wäre dann evtl. interpretierbar als ein Mögliches, das nicht sein muss, aber wenn es eintreten sollte, dann gibt es vorgegebene Formen, in denen es auftreten wird. Die ‚eingeborenen idealen Möglichkeiten‘ wären dann sozusagen die allgemeinen (idealen) Bedingungen des Auftretens von etwas, falls es auftritt.

(106) Mit dieser Interpretation der ‚eingeborenen idealen Möglichkeiten‘ wäre ein mögliches begriffliches Konstrukt gefunden, das ‚Denknotwendige‘ im Kontext des ‚Möglichen‘ zu denken, es fragt sich nur, was man damit gewonnen hat? Ist es wirklich realistisch, dass unser Denken seinen eigenen Möglichkeitsraum hinsichtlich allgemeingültiger Kriterien vollumfänglich abstecken kann (so wie ein Goldgräber seinen Claim früher markiert hatte, um dadurch seinen Besitzanspruch zu sichern)? Trifft es zu, dass wir das Allgemeine des Denkens nur anlässlich des Auftretens von irgendetwas ‚Gegebenem‘ erleben können durch die ‚Art und Weise‘, ‚wie‘ wir etwas erleben, dann wäre es zu keinem Zeitpunkt möglich, mit ‚absoluter‘ Sicherheit zu wissen, ob wir schon ‚alle‘ Arten des Denkens kennengelernt haben oder nur einen Teil, weil wir eben unserem Denken noch nicht Gelegenheit gegeben haben, ‚alle‘ seine ‚eingeborenen‘ Eigenschaften zu ‚zeigen‘. Als Denknotwendiges wäre solch ein Allgemeines des Denkens zwar ‚transzendental‘, aber ‚ob‘ es sich im Denken zeigt, das ist für das jeweilige Wissen ‚kontingent‘, weil das Denken nicht denken muss! Ich kann denken, ich muss aber nicht, ebenso: ein Etwas ‚kann‘ sich ereignen, es muss aber nicht. Das Denknotwendige steht damit auf einem ‚wackligen Grund‘. Im ‚Sein‘ zeigt es sich als etwas ‚Allgemeines‘, aber dieses Sein als solches ist kein notwendiges, es ist als erfahrbares Sein ein kontingentes Sein, bis hin zum trlS selbst!

(107) Außerdem können wir 82 Jahre nach Husserls Vorlesung wissen, dass aufgrund von fortgeschritteneren Denkoperationen das phänomenologische Wissen nur auffassen kann, was sich im Erleben zeigt. Was immer sich hier an allgemeinen Strukturen enthüllt, das phänomenologische Denken verbleibt letztlich in einer ‚passiven‘ Rolle des hinnehmenden Aufnehmens. In diesem Kontext das Wort ‚Herrschaft‘ zu benutzen, wie Husserl es tut, wirkt wie das Wort eines Süchtigen, der versucht seine Sucht mit beschönigenden Worten zu ‚verdecken‘. Das phänomenologische Wissen herrscht nicht, es nimmt passiv hin und versucht das sich darin Zeigende zu ’sortieren‘, versucht sich aus all diesen ‚Fragmenten‘ einen ‚Reim zu machen‘. Die Neurowissenschaften in Gestalt von Neuropsychologie, die evolutionäre Biologie und Psychologie sowie alle an der evolutionären Sicht beteiligten Wissenschaften haben Indizien zusammengetragen, die die Hypothese nahelegen, dass die allgemeinen Formen des Denkens (und darin eingeschlossenen auch die konkreten Qualitäten der So-Seiend-Gegebenen) Wirkungen von physiologischen Mechanismen des Körpers und des das Gehirn ‚einhüllenden‘ Körpers sind, der eine ‚Produkt‘ von mehr als 3 Milliarden Jahren ‚Konstruktionsprozess‘ ist. D.h. was immer wir überhaupt von Ereignissen in der Umgebung des Körpers erfassen können und wie wir es erfassen können, hängt ab von physiologischen Strukturen, in denen physikalische Energie hundertfach, tausendfach immer wieder umgeformt und korreliert wird, damit wir bestimmte Gegebenheiten in einer bestimmten Weise erleben können. So wenig das originäre phänomenologische Erleben und Denken durch die anderen Disziplinen ersetzt werden kann, so wenig kann das phänomenologische Denken alleine, ganz für sich genommen, zu letzten Klarheiten und allgemeinen Erkenntnissen führen, die über seinen individuellen Reflexionsprozess hinausweisen.

(108) Um die Bedeutung des individuell Erkannten für ein ‚größeres Ganzes‘ sichtbar machen zu können, muss das phänomenologische Denken Strukturelemente wie z.B. ‚einzelnes individuelles Bewusstsein‘, ‚fremdes Bewusstsein‘, ‚Körper‘, ‚Außenwelt‘ usw. in einem konsistenten Zusammenhang explizieren, um den –möglicherweise unterschiedlich geltenden– verschiedenen Wissensformen einen logischen Zusammenhang zu geben, der es erlaubt, ihre Aussagen wechselseitig zu beziehen, um damit einen ‚je größeren‘ Zusammenhang sichtbar zu machen. Dies wäre keine neue Art von Philosophie, sondern die Anwendung des phänomenologischen Denkens auf alle heute verfügbare Wissensformen, einschließlich der sogenannten ‚empirischen Wissenschaften‘.

(109) Die empirischen Wissenschaften fallen nicht aus dem Rahmen des phänomenologischen Wissens heraus (!!!), sondern sie definieren sich selbst als ein Teilbereich innerhalb (!!!) des phänomenologischen Denkens. Leider hat die phänomenologische Philosophie bislang ihre Energie darauf verschwendet, diese Form phänomenologischen Denkens eher zu ‚verteufeln‘ anstatt die hier vorliegenden Eigenheiten zu reflektieren und unter Berücksichtigung dieser Eigenheiten diese in das größere Ganze zu ‚integrieren‘.

(110) Terme wie ‚Herrschaft‘ ausüben mögen nichts Besonderes bedeuten, sie können aber ‚Indizien‘ sein für ein tieferliegendes ‚psychologisches‘ Motiv des ‚Herrschen‘, sprich ‚Kontrollieren Wollens‘, das dem Ideal philosophischen Erkennens letztlich fremd ist. Dieses ‚Herrschen Wollen‘ hat natürlich –wie immer im historischen Leben– mehr Chancen auf Erfolg, wenn ich all das ‚ausgrenze‘, was sich meiner Kontrolle möglicherweise widersetzen könnte. Empirisches Wissen hat diese Eigenschaft, eine vollständig umfassende Kontrolle zu verhindern, falsche Allmachtsansprüche zu entlarven, Denknotwendiges als dann letztlich doch ‚kontingentes Denken‘ erscheinen zu lassen, usw. Kontrollbedürfnis und narzistische Momente einer individuellen Psyche sind immer gefährdet, sich ein ’sperriges Ganzes‘ so ‚zurecht‘ zu schneiden, dass es möglichst ‚pflegeleicht‘ wird, so eine Art ‚Philosophie der sauberen Denkräume‘, Philosophie als ‚persönlicher Besitzt des jeweiligen Philosophen‘, und dergleichen mehr. Ob und wieweit solche Momente bei Husserl unterstellt werden können (oder müssten), soll hier nicht entschieden werden. Die von ihm gelieferten Indizien in Richtung kontrollierende Herrschaft und Ausgrenzung des widerspenstigen Empirischen sollten aber auf jeden Fall notiert werden.

(111) Fassen wir (vorläufig) zusammen, Husserls Formulierung von der ‚Herrschaft über alle dem ego … eingeborenen idealen Möglichkeiten.‘ (vgl. CM2, S37, Z8 -15) erscheint schon für den Bereich des individuellen Bewusstseins problematisch. In der vollständigen Formulierung kommt aber auch das ‚Intersubjektive‘ vor: ‚Herrschaft über alle dem ego und seiner transzendentalen Intersubjektivität …‘. (vgl. CM2, S37, Z8 -15) Hatten wir zuvor schon angemerkt, dass der Ausweis des transzendentalen Charakters der Intersubjektivität, so wie Husserl sie beschrieben hat, in keiner Weise überzeugen kann, so wirft die fraglose Einbeziehung des Terminus ‚Intersubjektivität‘ in den transzendentalen Status des transzendentalen ego alle die zuvor gestellten Fragen wieder neu auf. Hier nun verstärkt durch den Kontext, dass die denknotwendigen Eigenschaften alles Möglichen auch für das Intersubjektive so erkannt werden können, dass sie im Denken ‚beherrscht‘, sprich ‚kontrolliert‘ werden können.

(112) Nun hat Husserl –wie bei allen anderen wichtigen Termen– es versäumt, sauber zu erklären, was er genau unter dem ‚Intersubjekiven‘ versteht. Am Beispiel des ‚alter ego‘ sprach er von einer ‚Ähnlichkeitsapperzeption‘, die ‚miterfahren‘ wird, ‚konsequent indiziert, sich dabei einstimmig bewährend‘.( vgl. CM2, S.35, Z9-11) Eine Erklärung kann man dies nicht nennen, eine Definition auch nicht, außerdem ist es beschränkt auf einen Teilaspekt von Intersubjektivität. Eine ernsthafte Diskussion darüber, ob und wieweit also die vorausgehenden Aussagen über die Herrschaft im Kontext des Intersubjektiven zutreffen oder nicht, erscheint mir von daher kaum möglich.

(113) Trotz der Schwierigkeiten der Auslegungen im Detail ist erkennbar, dass Husserl auf den letzten 2-3 Seiten versucht, der Vision einer ‚universalen Philosophie‘ trotz aller noch bestehenden methodischen Problemen Namen und Struktur zu verleihen. Sich abgrenzend gegenüber ‚positiven Wissenschaften in der Weltverlorenheit‘ auf der einen Seite sowie von den  ‚universalen Systemen deduktiver Theorie‘ auf der anderen Seite sieht er den wahren Weg einer letztbegründeten (philosophischen) Erkenntnis in einer ‚universalen Selbsterkenntnis, zunächst einer monadischen, dann einer intermonadischen.‘ (vgl. CM2, S.39, Z12-25) Dieses Konzept schliesst für Husserl nicht aus, dass es unterschiedliche ‚phänomenologische Disziplinen‘ geben kann, die untereinander ‚korreliert sind‘. (vgl. CM2, S39, Z17f)

Zur Fortsetzung siehe CM3, Teil 8.

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CARTESIANISCHE MEDITATIONEN III, Teil 6

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 23.Dezember 2011
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

(86) Es wundert dann nicht, wenn Husserl in dieser Radikalisierung des Bewusstseinsstandpunktes für sich die Frage nach dem ‚alter ego‘ stellt, ob dieser Denkstandpunkt nicht in einem ‚transzendental-phänomenologischen Solipsismus‘ endet. (vgl. CM2, S.34, Z18, 12f) Denn im ‚psychologischen‘ Erleben des Alltäglichen ist das ‚Außen‘, sind die ‚Anderen‘ ‚wirklich‘. (vgl. CM2, S34, Z21-35) Im Zwiespalt zwischen dem Standpunkt des transzendentalen ego, innerhalb dessen das ‚alter ego‘ keine direkte Selbsterfahrung des alter ego besitzt, und der alltäglichen Erfahrung ‚in der Weise einer eigentümlichen Ähnlichkeitsapperzeption…, konsequent indiziert, sich dabei einstimmig bewährend‘, entscheidet sich Husserl dafür, dem ‚alter ego‘ einen transzendentalen Status zu verleihen! Er sagt ‚Das transzendentale ego setzt in sich nicht willkürlich, sondern notwendig ein transzendentales alter ego‘. (vgl. CM2, S.35, Z17-19). Doch, dem nicht genug, verwandelt sich damit scheinbar die Erkenntnis der ganzen Welt zu einer transzendentalen: ‚… damit erweitert sich die transzendentale Subjektivität zur Intersubjektivität, zur intersubjektiv-transzendentalen Sozialität, die der transzendentale Boden ist für die intersubjektive Natur und Welt überhaupt und nicht minder für das intersubjektive Sein aller idealen Gegenständlichkeiten.‘ (vgl. CM2, S.35, Z20-26)

(87) Obwohl wir also weder das ‚alter ego‘ noch die eigentliche Sozialität direkt so erfahren können wie das sich selbst denkende Denken, ist Husserl nun bereit, die Qualität des ‚Transzendentalen‘ auf jene Gegenständlichkeiten auszuweiten. Und diese Ausweitung findet statt, obgleich Husserl im direkten Anschluss an die Ausweitung der Transzendentalität ausdrücklich feststellt, dass es hier einen Qualitätsunterschied gibt zwischen transzendentalen ego und alter ego: ‚Das erste ego, auf das die transzendentale Reduktion führt, entbehrt noch der Unterscheidungen zwischen dem Intentionalen, das ihm ursprünglich eigen ist, und dem, was in ihm Spiegelung des alter ego ist. Es bedarf erst einer weitgeführten konkreten Phänomenologie, um die Intersubjektivität als transzendentale zu erreichen.‘ (vgl. S35, Z26-31).

(88) Verwickelt sich Husserl hier in Widersprüche oder hat er einfach die Bedeutung des Terminus ‚transzendental‘ geändert (oder hat der Autor dieser Kommentierung seine Verwendungsweise des Terminus ‚transzendental‘ von Anfang an falsch aufgefasst?)?

(89) Ein Widerspruch läge dann vor, wenn mit ‚transzendental‘ jene Gegebenheiten des Denkens gemeint wären, die jeglichem Inhalt des Denkens voraus liegen, ohne die sich nichts denken ließe. Im Wissen des Denkens ‚um sich‘ –von Husserl im transzendentalen ego fixiert, das keinem gewöhnlichen ‚Gegenstand‘ entspricht noch überhaupt einem etwas entsprechen muss– liegt solch ein Sachverhalt vor: was immer inhaltlich gegeben sein mag, es ist gegeben im Apriori eines Denkhorizontes, innerhalb dessen es als ‚es‘ aufgefasst wird, das sich in seiner Bezogenheit nicht anders ableiten, begründen, erklären lässt. Im ‚Wissen um sich selbst‘ findet das Denken einen Fixpunkt, der für das Denken unhintergehbar erscheint und deshalb als ‚transzendental‘ qualifiziert wurde. Die jeweils konkreten Inhalte, die innerhalb dieses Denkens auftreten können sind zwar bzgl. ihres Auftretens und Verschwindens auch einer direkten ‚Kontrolle‘ durch das Wissen um sich entzogen, sind diesem Wissen um sich aber ‚äußerlich‘, ‚fremd‘, ‚anders‘. D.h. das Wissen um sich selbst und die in diesem Wissen als wesentlich unterschiedene Gegebenheiten sind koexistent. Das Wissen um sich selbst gibt es nicht isoliert, nicht separiert, sondern immer nur in der Gegenwart des jeweils anderen, was im Wissen um sich selbst als das ‚es‘ des Gewussten aufscheint und in dieser Unterschiedenheit auch unhintergehbar ist. Nicht das jeweils konkret so-seiende Andere ist transzendental, sondern der Unterschied zwischen Wissen-um-sich und dem grundsätzlich davon Unterschiedenem. Von daher wäre es vielleicht besser nicht von dem transzendentalen ego zu sprechen (was ein Super-Etwas suggeriert, das es so nicht gibt), sondern von der ‚transzendentalen Differenz‘ zwischen dem ‚Wissen-um-sich‘ einerseits und dem zugleich gegebenen jeweils ‚Anderem-des-Im-Wissen-Seienden‘. Man kann dies ‚Intentionalität‘ nennen, wie Husserl es getan hat, läuft dann aber Gefahr, dass man ein irgendwie geartetes ‚Subjekt‘ (das transzendentale ego) unterstellt, das sich ‚auf etwas‘ ‚richtet‘. Das ‚Wissen um sich‘ ist aber zunächst mal gegenstandslos, benötigt kein Subjekt als ‚etwas‘.

(90) Zu sagen, ein ‚Wissen-um-sich‘, in dem notwendig verschiedene Erscheinungen stattfinden können, bilde in dieser Einheit von beidem (!) ein ‚Subjekt‘ wäre formal möglich. Es hätte den großen Vorteil, nicht ‚mehr‘ sagen zu müssen als wir tatsächlich sagen können. Das so verstandene ‚transzendentale Subjekt‘ (nicht mehr identisch mit dem ‚transzendentalen ego‘!) wäre dann nicht ein mystisches Etwas auf der einen Seite, dem auf der andere Seiten irgendwelche ‚Typen‘ begegnen, die sich durch immer neue Konkretionen realisieren, sondern das transzendentale Subjekt [trlS] wäre genau jene Einheit von beidem, die für uns unauflösbare Koexistenz von Wissen um sich und Erscheinungen von etwas als etwas in diesem Wissen um sich. Diese vorgegebene transzendentale Einheit ist das Apriori unseres Erlebens und Denkens. Was immer uns begegnen mag innerhalb dieses trlS , es ist ein Gewusstes. Und wenn ich verschiedene gewusste Etwasse durch ein anderes gewusstes Etwas ‚repräsentiere‘, dann wird diese repräsentierende Beziehung als gewusste wieder ein gewusstes Etwas. Entsprechend, wenn ich ein Gewusstes mit sprachlichen Ausdrücken belege, dann wird die gewusste Beziehung zwischen Ausdruck und Gemeintem selbst wieder zu einem gewussten Etwas, das sich neu verknüpfen lässt. Usw.

(91) Halten wir fest: die ursprüngliche Definition des transzendentalen ego bei Husserl fundierte eine ‚Kluft‘ zum erscheinenden Anderen, deren ‚Überbrückung‘ erst über die Typen versucht wurde, dann zusätzlich durch eine ‚Ähnlichkeitsapperzeption‘, die als ‚konsequent bewährte Indikation‘ innerhalb der transzendentalen Apperzeption mit ‚Notwendigkeit‘ zu einem ‚transzendentalem alter ego‘ mutierte. (vgl. CM2, S.35, Z7-19) Das wirkt ‚gezwungen‘, lässt keine ‚harte‘ Logik erkennen, kann nicht überzeugen.

(92) Andererseits sind es gerade diese verschiedenen Formulierungen von Husserl, die das Denken provozieren, die dazu anregen, jene Hypothese zu formulieren, die hier mit dem Begriff des trlS versucht wurde. Unter der Annahme eines trlS gibt es zwar ‚Allgemeinheiten‘ und ‚Denknotwendigkeiten‘, diese führen aber nicht dazu, dass das jeweils Erscheinende im Wissen um sich seine letzte ‚Fremdheit‘ verliert. Die Struktur der Koexistenz als solche ist zwar denknotwendig und darin transzendental, ihre jeweiligen Komponenten als solche –das um sich wissende Wissen wie auch die konkret Erscheinenden– sind es nicht. Es gibt keinen ‚Grund‘, warum sie
’sein sollen‘. Das trlS ‚findet sie vor‘, aber es hat keine Fundierung für diese; letztlich sind sie zunächst einmal ‚kontingent‘; sie müssten nicht sein. Und daraus resultiert eine eigentümliche Spannung von ‚Nicht sein müssen‘ sowie ‚Sich im Sein vorfinden‘ und zwar auf eine bestimmte (strukturelle) Weise, die ein unaufhebbares Bezogensein von jeweils Gegebenem und einem darum Wissen als einem Etwas.

(93) ‚Sein‘ und ‚Nichtsein‘ sind also schon in der Wurzel unseres bewussten Denkens koexistent gegeben als Grundeigenschaften unseres Vorkommens als trlS. Fundamentale Kontingenz als Bestandteile der fundamentalen Transzendentalität des trlS. Das Wissen um Nicht-sein-Können setzt allerdings implizit die ‚Erinnerung‘ an ‚einmal Dasein und dann wieder nicht da sein‘ voraus, jener ‚Schablone‘ ‚innerhalb des Denkens‘, die als ‚Eigenschaft des Denkens erfahrbar wird, die aber strukturell auf ‚Mechanismen hinter dem Denken‘ verweisen können. Doch diese möglicherweise ‚hinter dem Denken‘ wirkenden Mechanismen sind dem phänomenologischen Denken nicht ‚direkt‘ zugänglich, nur über eine lange Kette von Erscheinungen und geeigneten Denkoperationen, die schrittweise mögliche Strukturen ‚hinter den Phänomenen‘ als ‚hypothetisch wirkende Strukturen‘ aufscheinen lassen. Dies müßte innerhalb eines weiteres Diskurses erklärt werden.

(94) Husserl thematisiert diese Sachverhalte von impliziten Strukturen/ Eigenschaften des Denkens und deren Bewusstwerdung im Anschluss. (vgl. CM2, S36f) Im ’naiven‘ praktischen Leben vollziehen sich nach Husserl ‚all die intentionalen Leistungen des Erfahrens … anonym, der Erfahrende weiß von ihnen nichts.‘ Und die positiven Wissenschaften klassifiziert Husserl als ‚Naivitäten höherer Stufe‘, da auch sie die verborgenen Leistungen des Denkens unbewusst benutzt, und ‚… ihre Kritik ist nicht letzte Erkenntniskritik…‘, da ‚die Urbegriffe, die durch die ganze Wissenschaft hindurchgehen… naiv entsprungen [sind].‘ (vgl. CM2, S36, Z14-38)

(95) Die husserlschen Formulierungen zum praktischen Alltagsleben klingen ein wenig negativ. Im Kontext der philosophischen Analyse sind sie verständlich, geht es hier doch um begriffliche Klärung von Gegebenheiten und Voraussetzungen. In der ‚Praxis‘ des Lebens ist es über weite Strecken aber (überlebens-)notwendig, dass ein Handeln aus einem ‚direkten‘ naiven Denken möglich ist. Reflektieren und zugleich zielgerichtet und effektiv Handeln ist für uns Menschen strukturell nicht möglich. Wir können dies nur alternierend zwischen Phasen der Aktivität und Phasen des Reflektierens.

(96) Die Aussagen über die positiven Wissenschaften dürften 82 Jahre später differenzierter ausfallen. Ein Großteil (mehr als 90%?) der Wissenschaftler dürfte auch heute wenig mit der kritischen Reflexion gemein haben, die Husserl als phänomenologische Analyse bezeichnet. Aber es gibt seit dem frühen 20.Jahrhundert immer wieder wissenschaftsphilosophische Bewegungen, die auf unterschiedlicher Art versucht haben (und es immer noch versuchen), die innere Logik des spezifischen wissenschaftlichen Denkens kritisch zu hinterfragen oder gar begrifflich aufzuarbeiten. Eine abschließende Beurteilung des aktuellen Standes traue ich mir nicht zu.

(97) Es ist also die Aufgabe einer phänomenologischen Philosophie, die impliziten Eigenschaften und Voraussetzungen des Denkens begrifflich explizit zu machen. Dazu muss das Denken von seiner Möglichkeit des ‚Wissens um sich selbst‘ Gebrauch machen und das Erscheinende ‚als‘ Erscheinendes erfassen. Dies sind einmal Eigenschaften des So-Seienden in seiner Mannigfaltigkeit, die ‚abstrahiert‘ und ‚bezeichnet‘ werden können, wie auch die ‚allgemeine Art und Weise‘ des Erscheinens, die nicht an ein bestimmtes So-Seiendes gebunden ist, sondern ‚generisch‘ für ganze Teilmengen der Erscheinungen gilt, und zwar ‚konstitutiv‘, ‚denknotwendig‘, als eine ‚Weise‘, wie das Wissen um sich die Dinge ‚weiß‘. Dies sind die allgemeinen Formen, die Typen, von denen Husserl zuvor auch immer wieder gesprochen hat. Die Typen gehören dem Denken, dem Wissen zu; es sind ‚Eigenschaften‘ des Denkens, ‚wie es denkt‘. Wir kennen nicht das ‚Denken an sich‘, sondern nur das Denken, wie es sich anlässlich des konkret So-Seienden ereignet, sich im Ereignis zeigt. Darin manifestiert sich wiederholt der koexistentiale (duale) Charakter des trlS. Das ‚Wissen-um‘ gibt es nur mit dem ‚anderen Gewussten‘ und das ‚andere Gewusste‘, das erscheint, gibt es nur im Modus des ‚Wissen-um‘, das nicht ‚beliebig‘ ist, sondern impliziten Regeln, Formen folgt, die sich in der Genese des Wissens dann indirekt, implizit ‚zeigen‘. Dieses sich ‚implizit zeigen‘ der Formen des Wissens sind wiederum im Wissen-um-sich ‚Inhalte‘, ‚Gegenstände‘ des Wissens, wenngleich als ‚Eigenschaften des Denkens‘ Gegenstände einer besonderen Art.

(98) Eigenschaften des Denkens lassen sich daher zwischen verschiedenen Bewusstseinen nur dadurch kommunizieren, dass jedes kommunizierende Bewusstsein solche Denkprozesse vollzieht, die notwendig sind, um spezifische Eigenschaften des Denkens ’sichtbar‘ zu machen. In der Kommunikation kann man diese Eigenschaften des Denkens dann als ‚Kontext‘ benutzen, um jene Eigenschaften des Denkens hypothetisch zu identifizieren, die der andere möglicherweise gemeint hat. Dies setzt allerdings ein hinreichend ‚ähnliches‘ Denken voraus. Eine Voraussetzung, die wir zwar ständig machen, deren wir uns aber letztlich nie vollständig vergewissern können. Vertrauen ist von daher die erste Voraussetzung von Intersubjektivität.

Zur Fortsetzung siehe HIER

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CARTESIANISCHE MEDITATIONEN III, Teil 5

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 18.Dezember 2011
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

ÄNDERUNGEN: Letzte Änderungen Di, 20.Dez.2011, vor 10:15h

(73) Während der Diskurs von CM3 darauf hinaus zu laufen scheint, den Geltungsbereich des transzendentalen ego eher zu ‚beschränken‘, erweckt der Schlußteil von CM2 eher den Eindruck, die Geltung des transzendentalen ego durch Aufspüren von transzendental relevanten Strukturen in Form von Typen, von objektunabhängigen Strukturen zu ‚erweitern‘.

(74) Zu dieser Hypothese passt die Feststellung Husserls, dass der eigentliche Inhalt der Phänomenologie ein ‚ungeheures eingeborenes Apriori‘ sei, das auf ‚Wesenstypen‘ beruht (vgl. CM2,S28,Z5ff). Diese transzendentalen, das ego prägenden, Strukturen nennt er zuvor schon mehrfach  ‚egologische Strukturen‘ (vgl. CM2,S27,Z34). Interessant ist in diesem Kontext auch seine Unterscheidung  zwischen passiver und aktiver Genese. (vgl. CM2,S30)  Denn hier erkennt er implizit an, dass es Erscheinungen gibt, an denen das ego nicht aktiv beteiligt zu sein scheint, wie es das Phänomen  des ‚Verharrens von Überzeugungen anzeigt. Nach unserer Interpretation ist dieses ‚Verharren‘ eine Form des ‚Erinnerns auf Basis des erinnerungsfähigen Unbewusstseins, das dem Zugriff des ego entzogen ist. Das ego kann ‚zuschauen‘. Husserl will es offensichtlich dem ‚ego‘ zuschlagen.
(75) Ergänzend zur passiven Genesis identifiziert Husserl eine ‚höherstufige Genesis‘, durch die mittels  ‚Ich-Akte Geltungsgebilde erwachsen und in eins damit das zentrale Ich spezifische Ich-Eigenheiten … annimmt‘.  (vgl. CM2, S.29, Z23-27) Diese Formulierung erweckt den Eindruck, als ob das Ich ‚aktiv‘ sein kann und mittels konkreter ‚Akte‘ (man assoziiert unfreiwillig den  Körper (=Ich), der mittels der Körperglieder Handlungen (=Akte) vornimmt) den Strom der Ereignisse verändert. Hier stellen sich viele Fragen. Eine betrifft den Begriff des ‚Ich‘, andere die Vorstellungen der ‚Ich-Aktionen‘.
(76) Bislang wurde unterschieden zwischen dem transzendentalen ego als dem transzendentalen Ich und dem ego als konkreter Monade, dem personalen Ich. Diese Aufspaltung resultierte bei Husserl aus der Einbeziehung der allgemeinen Typen mit ihren veränderlichen Objektvielfalten in die ‚Sphäre‘ des transzendentalen ego. Wie zuvor reflektiert, sollte man all jene Momente, die zu ihrem Sein die Erinnerung und über die Erinnerung das Unbewusste einbeziehen, aus der ‚Leistung‘ der transzendentalen Synthese ausklammern, da diese dem transzendentalen ego ‚vorgegeben‘ sind, ohne dass es darauf wirklich Einfluss nehmen kann. Da sich in diesem Anteil des Bewusstseins auch viele Formen (Typen, Wesen) zeigen (die meisten, alle?) finden, kann man die Frage stellen, wie denn diese sich zum transzendentalen ego verhalten. Wie oben schon ausgeführt, sind diese Phänomene so grundverschieden vom transzendentalen ego, dass es aus Sicht dieser Kommentierung keinen Sinn macht, sie dem transzendentalen ego in irgend einer Weise zuzurechnen. Dass all diese konkreten (und allgemeinen) Phänomene mit dem transzendentalen ego ‚korrelieren‘ erscheint nicht als hinreichender Grund, sie ‚in eins‘ zu setzen. Die Einführung des Terminus ‚Ich‘ sowohl für das transzendentale ego wie für die Gesamtheit der Erscheinungen innerhalb der transzendentalen Synthese ist vor diesem Hintergrund verständlich‘, aber sachlich möglicherweise irreführend. Wie oben schon ausgeführt wird das ‚psychologische Ich‘ zwar meistens über die konkreten Phänomene in der Einheit der Synthese eingeführt, quasi als ‚Klammer‘ für all dieses, aber dieser ‚Sammelbegriff‘ ‚personales Ich‘ ist in diesem Kontext nur ein ‚Mengenbegriff‘ für eine Vielzahl von unterschiedlichen Phänomenen, die durch diese Etikettierung nicht wirklich erklärt werden; eher wird damit ein tiefer gehendes Verständnis des tatsächlichen Geschehens verhindert. Eine Formulierung wie ‚Erst durch die Philosophie der Genesis wird das ego als unendlicher Zusammenhang von synthetisch zusammengehörigen Leistungen verständlich, und zwar von konstitutiven…‘ (CM2, S29, Z28-31) legt diese Sicht einer ‚Klammer‘ weiter nahe.

(77) Durch die Etikettierung von transzendentalem ego und konkreter Monade jeweils als Ich (transzendental und personal) wird aber nicht nur die wesenhafte Unterschiedlichkeit verdeckt, sondern mit der Annahme einer ‚aktiven Genesis‘ wird der Eindruck erweckt, als ob dieses ‚Ich‘ sowohl passiv hinnehmen als auch aktiv  handeln kann. Während das transzendentale ego selbst primär als die Struktur des Wissens um das intentionale Wissen (= Selbstbewusstsein, Selbstreflexion)  erscheint, innerhalb dessen all das ‚vorkommt‘, was vorkommt, so ist der Bereich möglicher Aktivitäten beschränkt auf den Strom der Ereignisse, die sich als veränderliche Vielfalt ‚zeigen‘. Diese hat mit dem transzendentalen ego als der allgemeinen Struktur des überhaupt Vorkommens nichts zu tun. Diese veränderliche Vielfalt ereignet sich unter Voraussetzung dieser allgemeinen Struktur ‚innerhalb‘ dieser. In diesem Kontext den Begriff einer ‚Aktion‘ zu definieren induziert Fragen.  Zunächst ist in keiner Weise klar, was man sich überhaupt unter einer Aktion des transzendentalen ego vorstellen kann. Die einzigen Anhaltspunkte für mögliche Aktionen sind die aufscheinenden ‚Veränderungen‘. Die Definition einer transzendentalen Aktion müsste also bei den Veränderungen ansetzen, etwa in dem Sinne, dass man diese Veränderungen auffasst als die ‚Wirkungen‘ der postulierten transzendentalen Aktionen. Beobachtbare Veränderungen sind das ‚Auftreten‘ von etwas und das ‚Verschwinden‘. Auftreten und Verschwinden können nur ‚konkrete Phänomene‘. Anlässlich von konkreten Phänomenen, die auftreten und verschwinden werden zugleich ‚implizite‘ (emergente?) Eigenschaften sichtbar, die ‚allgemeine Eigenschaften‘ betreffen, die über das Konkrete hinausgehen. Da das Auftreten und Verschwinden von konkreten Phänomenen per definitionem nicht dem transzendentalen ego zugerechnet werden können (für das transzendentale ego werden diese einfach ‚passiv‘ sichtbar), bleiben nur die allgemeineren Eigenschaften (Typen,…), die anlässlich der konkreten Eigenschaften aufscheinen. Bleibt also die Frage, ob diese allgemeineren Eigenschaften als ‚Wirkung‘ von einer ‚verborgenen Aktion‘ aufgefasst werden können, deren ‚Verursacher‘ das transzendentale ego ist.

(78) Hält man an dem Verständnis fest, dass das ‚transzendentale ego‘ jene Struktur ist, die sich zeigt, wenn das Bewusstsein sich ’seiner selbst‘ durch die Reflexion ‚bewusst‘ wird, dann ist das transzendentale ego eine Struktur von ‚Bezogenheit‘ von etwas sich Ereignendem als etwas Gewusstem (Etwas als Intendiertem). Diese Struktur von Bezogenheit, dieses Vorkommen als ‚gewusstes Vorkommen‘ ist selbst kein Objekt, es ist eine ‚Beziehung‘, die allerdings ‚qua gewusste Beziehung‘ das darin Vorkommende x in C als ‚Gegenstand‘ hat, der ‚benannt‘ werden könnte. Wenn nun diese ‚bewussten Objekte‘ in der Beziehung eine Doppelnatur von Konkretheit und Allgemeinheit zeigen und man sich fragt, ob das aufscheinende Allgemeine eine ‚Wirkung dieser transzendentalen Struktur‘ sein könnte, und zwar immer wieder und –entsprechend den verschiedenen Typen von Allgemeinheit– unterschiedlich, dann kann man diese Frage streng genommen nur aus dem Vorkommen selbst heraus nicht beantworten. Für das transzendentale ego ‚ereignet‘ sich auch die Allgemeinheit. Die formale Klammer des transzendentalen ego bietet keinerlei ‚Anknüpfungspunkte‘ für irgendwelche ‚Motive‘, ‚Interessen‘ oder was auch immer, was zu einer ‚Aktion‘ im Sinne eines irgendwie gearteten ‚gerichteten Veränderns‘ Anlass bieten könnte. Das transzendentale ego als solches ist wirklich ‚leer‘, wie Husserl es an verschiedenen Stellen selbst formuliert hat. Nur scheint er sich damit nicht zufrieden geben wollen. In dieser Kommentierung wird keinerlei Anknüpfungspunkt dafür gesehen, dass das Auftreten und Verschwinden von allgemeinen Eigenschaften anlässlich des Auftretens und Verschwindens von Konkretem vom transzendentalem ego verursacht sein sollte. Das transzendentale ego wird hier gesehen als die formale Klammer aller Ereignisse als ‚Gewusste‘.

(79) Halten wir also fest: während die Reflexion von CM3 dahin tendiert, die Struktur des transzendentalen ego von der Vielfalt der Erscheinungen ‚innerhalb‘ der transzendentalen Einheit zu ‚trennen‘,  so scheint Husserl dahin zu tendieren, die Vielfalt –zumindest in ihren typischen Strukturen– als eine Leistung dieses transzendentalen ego zu interpretieren. So auch in der Formulierung: ‚Vollziehen wir radikale Selbstbesinnung… jeder für sich auf sein absolutes ego, so sind all das Bildungen der frei-tätigen Ich-Aktivität, eingeordnet in die Stufen der egologischen Konstitutionen [:=  der allgemeine Typen, Formen in den Erscheinungen]…‘. (vgl. CM2, S.30,Z14-19). In dieser seiner Interpretation ‚gewinnt‘ Husserl die ‚logische‘ Möglichkeit, die vielfältigen Beziehungsgeflechte, die im Strom der Ereignisse entstehen, zu großen (wie großen?) Teilen als ‚eigene Sinnesschöpfungen‘ zu interpretieren (vgl. CM2,S29,Z36), um damit –indirekt– den Geltungsanspruch einer transzendentalen Analyse zu erweitern. Wohlgemerkt als ‚logischer Schluss‘ aus diesen seinen speziellen ‚Annahmen‘ aufgrund seiner Weise der Analyse.

(80) Da das, ‚Was‘ in einer Analyse erkannt wird  weitgehend davon abhängt, ‚Wie‘ man analysiert, sollte man sich bei diesen zunehmenden Divergenzen in der Beurteilung nochmals fragen, was denn diese ‚phänomenologische Sicht‘ ist.
(81) Husserl begann seine Kritik an Descartes mit der Einführung der phänomenologischen Reduktion (Epoché). Wie sich im  weiteren Verlaufe zeigte, wurde dieser Aspekt dann erweitert um die generelle intentionale Struktur des Erkennens, durch die Einbeziehung des transzendentalen ego als allgemeinster Klammer allen Erkennens.’Alles, was für mich ist, ist es dank meinem erkennendem Bewusstsein… es ist für mich nur als intentionale Gegenständlichkeit meiner cogitationes…. Wir brauchen dazu keine phänomenologische Reduktion..‘. (vgl. CM2,S.31,Z4-15) Und ‚Alles, was für den Menschen, alles, was für mich ist und gilt, tut das im eigenen Bewusstseinsleben, das in allem Bewußt-haben einer Welt und in allem wissenschaftlichen Leisten bei sich selbst verbleibt. Alle Scheidungen … verlaufen in meiner Bewusstseinsspäre selbst…‘. (vgl. CM2, S31,Z15-21) Diese Formulierungen sind teilweise ‚Metaformulierungen‘ über das reflektierende ego, deren Berechtigungen und Eigenheiten nicht eigentlich von Husserl begründet wurden. Sie zeigen aber rein faktisch, dass das ‚Wissen um sich selbst‘ eine Reflexionsform ist, die in sich selbst keinen Fixpunkt trägt; alles, was gedacht wird, kann ‚als Gedachtes‘ (cogitatum) wiederum ‚weiter reflektiert‘ werden, solange, bis keine Unterscheidungen mehr greifbar werden. D.h. Das ‚Denken als Denken‘ ist jener Beziehungsraum, der für das Denken selbst ein ‚Apriori‘ ist, ‚in dem‘ es sich ‚vorfindet‘ als Denken (als transzendentales ego). Der Terminus ‚Menschen‘, den Husserl benutzt, ist letztlich kein ‚einfaches Gegebenes‘, sondern ein ‚Konstrukt‘ innerhalb des Denkens, das im Prozess des Scheidens und Zusammenfügens jedwede Gegebenheit kombinieren kann. Sofern das Denken in der Konkretheit der Gegebenheiten und deren wahrnehmbaren ‚Veränderungen‘ ’sich zeigt‘, ’sichtbar‘ wird –wie Teilchen in einer Nebelkammer (wobei hier das Denken der Nebel wäre)–, kann es implizit ‚Formen‘ erkennen lassen (Typen…), die der Art des Denkens zueigen sind. Man ist geneigt, diese aufscheinenden ‚Formen‘ ebenfalls der Art des Apriori zuzurechnen, zu dem das Denken selbst gehört; ein Apriori des für das Denken Vorfindlichen. Die aufscheinenden Veränderungen betreffen die Konkretheiten anlässlich des ‚umgebenden Allgemeinen‘. Diese sind dem Denken nicht weniger apriori gegeben wie die Typen oder das Denken selbst, dennoch sind sie ‚anders‘. Wie anders?
(82) Hier kann eine Frage weiter helfen, die Husserl sich selbst stellt, die Frage nach der Objektivität. ‚Dass ich in meinem Bewusstseinsbereich … zu Gewissheiten, ja zu zwingenden Evidenzen komme, das ist verständlich [nicht notwendigerweise!]. Aber wie kann dieses ganz in der Immanenz des Bewusstseinslebens verlaufende Spiel objektive Bedeutung gewinnen?‘ (vgl. CM2,S.31, Z31-36)
(83) Wieder ein Bündel von Annahmen. Zentral ist  die Formulierung ‚objektive Bedeutung‘. Der Terminus ‚Bedeutung‘ ist im Normalfall gebunden an den Kontext von ‚Sprache‘, an die Unterscheidung von ‚Ausdrucksmittel‘ (Sprachlaute, Gesten, Schriftzeichen,….), und dem ‚Anderen‘, das kraft einer ‚gewussten Beziehung‘ zwischen Ausdrucksmittel und dem gewussten Anderen dann der Status einer ‚Bedeutung‘ im Kontext des gewählten Ausdrucksmittels zukommt. Husserl hat sich bislang nicht zu diesen Begriffen bzw. nicht zur Thematik sprachlicher Bedeutung überhaupt geäußert. Ohne diese Vorklärung spricht er jetzt sogar von einer speziell qualifizierten Bedeutung, nämlich von einer ‚objektiven‘ –wohl im vermuteten Gegensatz zu einer ’subjektiven‘– Bedeutung.  Was aber soll dies sein, das ‚Objektive‘? Bislang hat er sich ausschließlich in der Innensicht des Bewusstseins bewegt.  Der Begriff des ‚Objektiven‘ wurde nicht motiviert (genau so wenig wie vorher der Begriff der/des ‚Menschen‘). Wenn nach seinen eigenen Aussagen alles ‚im‘ Bewusstsein ist, wie kann denn überhaupt etwas nicht subjektiv sein, d.h. nicht im Bewusstsein, sondern ‚außerhalb‘ des Bewusstseins? Oder was meint er mit ‚objektiv‘?
(84) An dieser Stelle ist die Frage nach dem ‚Objektiven‘ außerhalb des Bewusstseins nur eine rhetorische Frage von Husserl, um Gelegenheit zu geben, um nochmals umfassender und radikaler  zu sagen, dass jedwede Form von ‚Transzendenz‘ ein ‚immanenter, sich innerhalb des ego konstituierender Seinscharakter ist‘. (vgl. CM2,S32,Z31-33) Verstärkend ‚…ein Außerhalb… ist Unsinn….jeder Unsinn ist ein Modus des Sinnes und hat seine Unsinnigkeit in der Einsehbarkeit‘. (vgl. CM2,S33,Z6f) Oder ‚…damit … wird jede Art Seiendes, reales und ideales, verständlich als eben in dieser Leistung konstituierendes Gebilde der transzendentalen Subjektivität. Diese Art … ist die höchste erdenkliche Form der Rationalität…. ein Idealismus, der nichts weiter ist als in Form systematischer egologischer Wissenschaft konsequent durchgeführte Selbstauslegung.‘ (vgl. CM2, S33, Z19-23, 33-36).

(85) Mit diesen gewaltigen Formulierungen scheint die Frage nach der ‚Objektivität‘ als etwas ‚da draußen‘ vom Tisch zu sein. Doch ist dies nur eine vordergründige Lösung. Die Begriffe ‚objektiv‘, ‚Welt‘, ‚Anderer‘, ‚Mensch‘ usw. gibt es ja. Und dass wir diese Begriffe mit einer Bedeutung von ‚außen‘ verknüpfen ist auch allenthalben feststellbar. Allerdings, mit der Einsicht Husserls, dass letztlich alle Bestimmungen innerhalb des Bewusstseins stattfinden, bedeutet dies, man muss innerhalb (!) des Bewusstsein die Unterscheidung von ‚innen‘ und ‚außen‘ erklären,  als ein ‚Innen‘ und ‚Außen‘ innerhalb des Bewusstseins. Husserl selbst benutzt ja auch den Terminus ‚Transzendenz‘ um damit auf Eigenschaften hinzuweisen, die ‚im‘ Bewusstsein auf ein ‚außerhalb‘ hindeuten.

Zur Fortsetzung siehe HIER

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CARTESIANISCHE MEDITATIONEN III, Teil 4

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 13.Dezember 2011
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

ÄNDERNGEN: Letzte Änderung 17.Dez.2011 vor 16:35h

(57) Husserl betont ferner wiederholt, dass man nach den ‚möglichen Wegen‘ fragen kann, auf denen ein Gegenstand in einer Kette von Evidenzen als ‚wirklich‘, als ‚Fantasiegebilde‘, oder als ’seiend‘ bzw. ’nicht seiend‘ ausgewiesen werden kann.(vgl. CM2,S23,Z5-10)
(58) Sofern sich der Begriff der ‚Evidenz‘ –wie zuvor analysiert– auf die Selbstgewissheit des denkenden Ich bezieht, das um das Gegebensein von einem cogitatum als cogitatum ‚weiß‘, dann kann man die Aussage über die ‚Kette‘ so interpretieren,  dass die Aufeinanderfolge des jeweils Gegebenseins eines cogitatum im Denken ‚evident gewusst‘ ist. Was auf eine gewisse Tautologie hinausläuft, da ja das ‚evident sein‘ per definitionem mit dem ‚cogitatum selbst‘, sprich: dem ‚Wissen um das cogitatum als cogitatum‘, zusammen fällt. Das eigentliche Problem beginnt nach dieser Feststellung: angenommen wir haben solche eine Aufeinanderfolge (Kette) von jeweils gewussten Gegebenheiten <cog_1, …, cog_n>. Während jedes einzelne gewusste cog_i ein bewusstes x in C ist, ist aber diese cog_i ‚im nächsten Moment‘, wenn cog_i+1 bewusst ist –also ein x in C– nicht mehr bewusst! Das zuvor bewusste cog_i verwandelt sich in ein ‚unbewusstes x* in C*‘, also cog_i in C —> cog_i in C*. Es verschwindet damit aus dem Bewusstsein. Möglicherweise gibt es noch ein explizites Bewusstsein davon, dass das cog_i+1 auf das cog_i ’nachgefolgt ist‘ auf cog_i, die Eigenschaft eines ‚Nachfolgers auf cog_i‘ besitzt –etwa succ(cog_i) = cog_i+1–, doch das cog_i selbst ist nicht mehr bewusst, noch weniger das cog_i-1, usw. Und auch das unterstellte Wissen um das ‚Nachfolgersein‘ dürfte sich auf die Präsenz des cog_i+1 beschränken. Man hätte also im bewussten Wissen ein Zugleich von {succ(cog_i) = cog_i+1, cog_i+1} subset C. Im ‚darauf folgenden Moment‘ etwa {succ(cog_i+1) = cog_i+2, cog_i+2} subset C, usw.
(59) Als ‚wirklich bewusst‘ existiert in dieser Rekonstruktion nicht die ‚Kette‘, sondern nur jeweils ein einzelnes ‚Glied dieser Kette‘ angereichert mit dem Wissen um ein ‚Nachfolger in der Kette sein‘.
(60) Husserls Formulierung ‚…nach den Wegen [:= Kette] in denen er [:= der Gegenstand] konsequent sich als als seiend auswiese, in einstimmiger Kontinuität von Evidenzen erreichbar…‘ (vgl. CM2,S23,Z7-9) legt die Interpretation nahe, dass er davon ausgeht, dass diese einzelnen Evidenzen …{cog_i in C, succ(cog_i-1) = cog_i}, {cog_i+1 in C, succ(cog_i) = cog_i+1}, … eine ‚Kontinuität‘ bilden und deshalb ein cog_n am ‚Ende der Kette‘ quasi als ‚Ergebnis‘ erscheint, als eine Art ‚Produkt‘. Dies ’suggerieren‘ die Formulieren, wenngleich dies nicht explizit behauptet wird. Die nachfolgenden Seiten (vgl. CM2, S.23ff) kreisen alle um diese Thematik.
(61) Husserl benutzt allerdings andere Begriffspaare, um diesen Sachverhalt zu umschreiben: Einmal geht es um das ‚Aktuale (Wirkliche)‘, das dem ‚Potential (dem Möglichen)‘ gegenübersteht, dann ist es das (reine) transzendentale ego, das kontinuierlich ‚für sich‘, seiner selbst gewiss sein kann trotz aller wechselnden Ausprägungen des So-Seins, das dem ‚ego in voller Konkretion‘ gegenübersteht, das er als ‚konkrete Monade‘ bezeichnet. (vgl. CM2, S.26,Z31-35) Und es ist diese Spanne zwischen dem aktual Gewissen –symbolisch hier dargestellt als {…}– für das transzendentale ego in seiner Intentionalität und dem potentiell Möglichen –symbolisch hier dargestellt als —> (…)–, das dem aktual Gegebenen durch die Intentionalität in der Identität des ego zugeordnet werden kann und durch diese Zuordnung den wahren Sinn erschließt; nicht das einzelne Gewusste cog_i in C für sich alleine ergibt den Sinn sondern ‚das endlos offene System möglicher Wahrnehmungen‘.  (vgl. CM2,S.23,Z31 – S.24,Z6). Letzteres kann auf eine Vielzahl von Ketten/ Pfaden hinweisen, die möglicherweise untereinander wie in einem Graphen/ Netzwerk verknüpft sind,
(62)  Nach allem, was Husserl zuvor über transzendentales ego, Selbstgewissheit usw. gesagt hat, gibt es eigentlich keinen direkten Weg vom Aktualem zum Potentialem.  Dass es hier ein Problem geben kann, deuten seine eigenen Fragen zumindest an: ‚Wie kommt das ego dazu, ein solches System [:= möglicher Erfahrungen] als verfügbaren Besitz zu haben, auch wenn keine Erfahrung von ihm aktuell ist? … was bedeutet es für mich, dass Gegenstände für mich sind, was sie sind, ohne dass ich von ihnen weiß und wußte?‘ (vgl. CM2,S.25,Z5-9)
(61) Nach dem zuvor herausgearbeiteten Problem der ‚lokalen‘ Evidenz bezogen auf eine ‚Kette‘ von  bewussten Ereignissen ist bislang nicht zu sehen, wie es zu einer Art ‚Hyper-Evidenz‘ kommen kann, die alle lokalen Evidenzen nicht nur zusammenfasst, sondern dann auch noch die ‚möglichen Evidenzen‘ gleich mit einschließt.
(62) Obwohl Husserl diese Probleme irgendwie bemerkt haben muss (siehe seine zuvor zitierte Fragen), war er offensicht fixiert auf die Idee, dass ‚aller Seinssinn‘ in der ‚unmittelbaren und mittelbaren Intentionalität beschlossen‘ sein muss. (vgl. CM2,S24,Z13-16) Und in diesem Zusammenhang benutzt er den in der Tat ‚verführerischen‘ Begriff der ‚phänomenologischen Konstitution‘. (vgl. CM2,S23,Z30) Tatsächlich gibt es eigentlich keinen Weg vom ‚aktuell‘ Bewusstem zur Gesamtheit von ’schon mal‘ Bewusstem bzw. auch noch zur Gesamtheit von ‚möglichem‘ Bewusstem. ‚Phänomenologische Konstitution eines Gegenstandes, das besagt: Betrachtung der Universalität des ego unter dem  Gesichtspunkt der Identität dieses Gegenstandes, nämlich in der Frage nach der systematischen Allheit von wirklichen und möglichen Bewusstseinserlebnissen, die als auf ihn beziehbare in meinem ego vorgezeichnet sind und für mein ego eine feste Regel möglicher Synthesen bedeuten‘. (vgl. CM2,S24,Z30-36)
(63) Diese Worte legen die Interpretation nahe, dass Husserl tatsächlich annimmt, dass die ‚möglichen‘ Erlebnisse im transzendentalen ego ‚vorgezeichnet‘ sind, und zwar so, dass ihre Entfaltung nach ‚festen Regeln‘ erfolgt.
(64) Es ist dabei nicht völlig klar, ob Husserl mit diesen Bemerkungen meint, dass die allgemeine Struktur, in der überhaupt –im transzendentalen Sinne– Erlebnisse auftreten können, also die Struktur der Möglichkeit, ‚gewusst‘ sein kann, oder gar  der ‚Ausweis‘ der Geltung eines bestimmten Erlebnisses cog_i, das in einer ‚Kette‘ von entweder schon ‚vergangenen‘ Erlebnissen auftritt oder aber als Ausgangspunkt von ’noch möglichen‘ Erlebnissen. Die Formulierungen auf den Seiten CM2,SS24ff sind nicht ganz eindeutig.
(65) Der harte Kern seiner Annahmen scheint um das Phänomen des ‚Möglichen‘ zu kreisen, das er als wesentlichen Bestandteil des transzendentalen ego begreift. Innerhalb der transzendentalen Intentionalität gibt es nicht nur das Aktuale als sich ereignendes cogitatum, sondern beständig auch das aus dem Aktualem heraustretende nächste Aktuale, das als Potential im Aktualen, in der transzendentalen Intentionalität notwendig angelegt ist. ‚Das ego …hat immer Seiendes und möglicherweise Seiendes, und so ist seine Wesenheit die, immerfort Systeme der Intentionalität zu bilden und gebildete schon zu haben, deren Index die von ihm gemeinten, gedachten … zu phantasierenden Gegenstände sind usw.‘. (vgl. CM2, S.25,Z21-27).
(66) Bezogen auf das ego gibt es also Dinge, die erscheinen, die heraustreten, die in ihrer Erscheinung eine Struktur zeigen und zugleich So-Sein, Konkret-Sein haben. In diesem Sinne erscheint das ego ‚konstituierend‘. Doch schon dieses Wissen, das Wissen um das Aktuale als ‚hervorgehend‘ setzt voraus, dass es neben dem Wissen um das  Aktuale auch ein Wissen um das Vor-Aktuale relativ zu dem  Aktualen geben muss, durch das das Aktuale als ein ‚Nachfolgendes‘ erscheint. Und es ist auch wiederum dieses Wissen um ein Vorher-Nachher vom Standpunkt des Aktualen aus, das den Begriff des Potentials ermöglicht, das Reden vom ‚Möglichen‘, vom ‚Horizont‘, der jedem Seienden zukommen soll. Dieses Vorher-Nachher-Wissen ist nicht identisch mit dem Wissen um das Aktuale als reell Gegebenes. Rein phänomenologisch ist diese Unterscheidung nicht auflösbar, höchstens hinnehmbar. Bei Husserl hat man den Eindruck, dass er sie ’nivelliert‘, da sie nicht so recht zu passen scheint in sein umfassendes Konzept der transzendentalen Einheit, die selbst das Vergangene und Mögliche aus sich heraussetzt, konstituiert und darin einer umfassenden (und erschöpfenden!) Analyse zugänglich macht.
(67) Würde man, wie vorher schon angedeutet, die Unterscheidung von ‚bewusst‘ x in C, ‚unbewusst‘ x in C* und ’nicht bewusst‘ x in C‘, beibehalten mit der Interpretation, dass das Unbewusste der Bereich des ‚zuvor einmal Gewussten‘ ist, das unter bestimmten Bedingungen ‚zurückkommen‘ kann als ‚Erinnertes‘ bzw. ‚Gewusstes‘, dann würde das ‚Vorher‘ dieser allgemeine, nur partiell zugängliche, darin meist weniger klare Anteil des Unbewussten sein, das partiell ‚zurückkehrt‘ und das Aktuale in einer ‚Perspektive erscheinen lässt, die unterschiedliche Formen des ‚Nachher‘ erkennbar macht. Das Aktuale vor dem wabernden Hintergrund des Erinnerbaren läßt die Konstituierung von Typen zu, von allgemeinen Formen, von ‚Clustern‘, von ‚Vernetzungen‘, ‚Ereignisketten‘ usw. auf deren Basis sich unterschiedliche ‚Regelhaftigkeiten‘ (induktiv) ‚ableiten‘ lassen, die dann dazu benutzt werden können, um mögliche Fortsetzungen (potentiell, Horizont…) zu fantasieren, zu denken, zu berechnen usw. Das transzendentale ego wäre dann zwar immer noch jene Einheit, in der sich dies alles abspielt, aber es wäre nicht mehr denknotwendig die einzige ‚treibende Kraft‘, die dies alles bewirkt.
(68) 82 Jahre nach Husserls Vorlesung kann das reflektierende Denken wissen, dass das ‚Unbewusste‘ möglicherweise ein komplexes Gedächtnissystem ist, das ‚in sich‘ komplexe Verarbeitungen vornimmt, ohne (!) dass diese bewusst sein müssen bzw. sogar, ohne dass diese jemals bewusst sein können. Zu diesen Verarbeitungsprozessen gehören diverse Abstraktionsleistungen, Assoziationsleistungen, Sortierungen nach unterschiedlichen Kriterien, Verstärkungen und Abschwächungen in der Wahrscheinlichkeit von ‚Inhalten‘, aus dem Bereich des Unbewussten wieder ‚heraus zu treten‘. Wenn dies zutrifft –und alles spricht bislang dafür– dann wären sowohl die allgemeinen Strukturen, die in der transzendentalen Einheit sichtbar werden, wie auch die konkreten Inhalte nicht wirklich ‚Leistungen‘ des transzendentalen ego; sie würden vielmehr ’nur‘ innerhalb dieser transzendentalen Einheit ‚aufscheinen‘, ‚hervortreten‘, ’sich zeigen‘. Ihr ‚Erkenntniswert‘ würde durch solch eine reflektierende ‚Einordnung‘ nicht gemindert (schließlich hat das ego sonst nichts zum Erkennen; ohne diese Inhalte wäre es ‚leer‘). Allerdings würde  diese Interpretation andeuten, dass hier das transzendentale ego mindestens  in einem zweifachen Sinne ein ‚empfangendes ego‘ ist: (i) die konkreten Gegebenheiten, bevor sie ins Unbewusste übergehen,  produziert es nicht selbst, sondern ‚findet sie‘ in seiner Bewusstheit ‚vor‘; (ii) die konkreten Gegebenheiten als ‚Erinnerte‘ folgen in ihren ‚Modifikationen‘ Regeln, die das ego nicht selbst aktiv bestimmt, sondern die es selbst auch wieder rein passiv ‚empfängt‘. Es kann zur Kenntnis nehmen, es kann aber die Art und Weise des Erinnerns in keiner Weise beeinflussen. Hier ist eine Struktur ‚am Werke‘ die jenseits seiner Möglichkeiten liegt. Das Vorkommen dieser konkreten So-Seienden im Konkreten wie in ihrer Typik ist transzendental, die Konkretheit selbst wie auch ihre Typik wäre dann nicht (!) transzendental, sondern ‚kontingent‘ in dem Sinne, wie auch alle empirischen Tatsachen DAT_emp der empirischen Wissenschaften als kontingent bezeichnet werden (die ja wie oben festgestellt nur eine echte Teilmenge der phänomenologischen Tatsachen DAT_ph sind). Der Stellenwert des Transzendentalen wird damit in einer Hinsicht deutlich eingeschränkt, aber eben nicht gänzlich aufgehoben. Das, was hier im ersten Moment als Verlust erscheinen mag, kann sich –siehe weiter unten–  möglicherweise als ein unverhoffter Gewinn erweisen.
(69) Wenn Husserl schreibt, dass das ego kein bloßer leerer Pol sei, sondern das ’stehende und bleibende Ich der verharrenden Überzeugungen, der Habitualitäten, in deren Veränderung sich allererst Einheit des personalen Ich und seines personalen Charakters konstituiert‘ (vgl. CM2, S26,Z27-30), so mag man ihm nach den vorausgehenden Überlegungen zustimmen bzgl. des Punktes, dass sich die Einheit des Ich erst in durch die Veränderungen konstituiert (da wir diese Einheit ohne diese Veränderungen gar nicht erfahren können), man mag ihm aber nicht zustimmen, dass das ego sich gerade in den ‚verharrenden Überzeugungen‘ als bleibendes Ich konstituiere. Das transzendentale ego ist nicht identisch mit seinen Inhalten, sondern höchstens ‚korrelativ‘ zu diesen, und diese Erinnerungen selbst sind nicht transzendental, sondern kontingent, treten auf, passieren, ereignen sich; zwar als Momente am transzendentalen ego aber nicht als substantiellen Momente sondern als periphere Momente, die kommen und gehen. Ihre Stetigkeit im Festgehaltenwerden durch das Unbewusste ist eine abgeleitete, die ihre Form nicht vom transzendentalen ego empfängt. Im Gegensatz zu Husserl muss man sagen, dass das transzendentale ego –nach den bisherigen Erkenntnissen– als transzendentales wirklich ‚leer‘ ist. Es ist jene allgemeine Bedingung, unter der überhaupt etwas erscheinen kann, für das, was erscheint ist es jedoch konkret weder Bedingung noch Ursache noch Form.

(70) Wenn Husserl mit dem Begriff der ‚konkreten Monade‘ das ‚ego in voller Konkretion‘ (vgl. CM2, S.26, Z31, Z35) für die Phänomenologie zu ‚retten‘ versucht, dann kann dies nach dem Vorausgehenden nicht überzeugen. ‚Psychologisch‘ mag das Ich sich –eingebettet in die Konkretheit der begleitenden Erscheinungen– als dieses konkrete Ich empfinden, aber diese Konkretheiten sind strukturell verschieden von dem transzendentalen ego als notwendiger Bedingung alles Erscheinens. Durch diese unzulässige Vereinnahmung des Konkreten in das Transzendentale deckt Husserl eine ‚Kluft‘ zu, die sich in der transzendentalen Erkenntnis auftut: es ist die Kluft zwischen allgemein-Transzendenalem und konkret-soseiendem Gegebenem als Aktuales, als Erinnertes oder als Visioniertes. Für das individuelle Denken ist das allgemein Transzendentale ein nicht weiter verrückbarer Referenzpunkt des Denkens. Das in Beziehung auf dieses transzendentale ego aufscheinende Konkrete samt seinen Typen, Formen, Verkettungen usw. dagegen ist diesem transzendentalem ego gegenüber ein ‚Fremdes‘, ein sich ‚Unabhängig Ereignendes‘, das man in dieser Unabhängigkeit auch als ‚transzendental‘ bezeichnen kann. Vom Standpunkt des transzendentalen ego hat die Unverfügbarkeit des konkret Erscheinenden etwas Bedingendes,  in dem sich grundlegend jedwedes Andere, jedwedes ‚fremde Selbst‘ zeigen kann, aber nicht muss.

(71) Versucht man diese Kluft nicht zu nivellieren –wie es Husserl zu tun scheint–, sondern nimmt man diese Kluft als eine grundlegende Gegebenheit unseres Daseins an, dann trifft das transzendentale ego ‚quasi in sich selbst‘ auf das zu ihm ganz andere, an dem es sich in seiner Verschiedenheit bewusst wird. Voraussetzung für diese substantielle Erkenntnis ist die Reflektion des Denkens auf sich selbst. Diese Selbst-Reflexion ist mehr al nur Epoché! (vgl. CM2, S.31,Z15-30) Die Epoché bezieht sich nur auf die Einklammerung gewisser ‚Geltungsansprüche‘ im Rahmen der Denkautomatismen.  Jemand, der Epoché praktisch ausführt muss nicht notwendigerweise seiner selbst im vollen Umfang bewusst sein. Epoché ist eine partielle Selbstreflexion, sie führt nicht zwangsweise zu einer vollen Selbstreflexion.

(72) In der Selbstreflexion findet das transzendentale ego sich vor als unausweichlich (transzendental) korreliert mit einem ganz Anderem, das nicht ‚fest‘ ist, ’nicht begrenzt‘, ’nicht einzeln‘, sondern ein ‚Strom‘ von Vielheit, darin sich zeigenden ‚Formen‘, ‚Regelhaftigkeiten‘, die zu einer Fülle von ‚Gestalten‘ Anlaß bieten, in die es über das Denken und einem Körper vielfach ‚eingewoben‘ ist. All dies ‚gehört‘ auf unterschiedliche Weise ‚zu ihm‘ und ist doch wesenhaft ‚verschieden‘. Vordergründig erscheint das Andere in seiner Konkretheit endlich zu sein; als sich kontinuierlich ereignender ‚Strom‘ von Ereignissen zeigt es sich jedoch als eine ‚unendliche Endlichkeit‘ von endlichen Gegebenheiten, die in der punktuellen Benennung punktuell ‚wahr‘ ist, im Fluss der Ereignisse sich aber als ‚falsch‘ erweist. Ein ‚Wahres‘ gibt es hier nur als ein ‚Allgemeines‘, das über das Punktuelle hinausreicht durch seine Verankerung im Erinnerten eines Vorher mit Bezug auf ein gegebenes Aktuales. Diese Allgemeinheiten sind jedoch  ‚gewordene‘ Allgemeinheiten, sich aus dem Fluss der Ereignisse ‚heraus‘ Zeigende, Induktionen, hypothetische Verallgemeinerungen, Auswürfe in die Zukunft, die vom Erinnerten gespeist werden. Gewordenes Allgemeines kann falsch sein bzw. werden. In der Selbstgewissheit des Denkens ist das gewordene Allgemeine ‚gewiss‘, ‚evident‘, zugleich aber auch ‚markiert‘ als ‚geworden‘ und von daher nicht endgültig, ‚vorläufig‘, ‚hypothetisch‘. Das evident Gewordene ist die allgemeinste Form des ‚Empirischen‘, das in den empirischen Wissenschaften auf eine Teilmenge von Ereignissen eingeschränkt wird.

Zur Fortsetzung siehe CM3, Teil 5

HINWEIS: Einen Überblick über alle Blog-Einträge von Autor cagent nach Titeln findet sich hier: Übersicht nach Titeln

CARTESIANISCHE MEDITATIONEN III, Teil 3

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 11.Dezember 2011,
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

ÄNDERUNGEN: Letzte Änderung Mo, 13. Dez. 2011, vor 10:30h

(40) Zurück zu Husserl. Bei der phänomenologischen Analyse der allgemeinen (intentionalen) Strukturen des Erlebens bilden die sich im Denken  automatisch bildenden Einheiten (jedes einzelne cogitatum ist eine ‚Identitätssynthese‘ (vgl. CM2,S21,Z9-11) jeweils einen ‚Leitfaden für die subjektiven Mannigfaltigkeien‘. (vgl. CM2,S21,Z12f) In der entstehenden Abstraktion auf der Grundlage der phänomenologischen  ‚Typen‘ spielen diese konstituierenden Mannigfaltigkeiten dann aber keine wichtige Rolle mehr; es geht dann um die gefundenen allgemeinen Strukturen.

(41)  Nehmen wir einmal an, dass es diese allgemeine Strukturen sind, die in eine phänomenologische Theorie Th_ph eingehen würden (mir ist niemand bekannt, der bislang solch eine phänomenologische Theorie Th_ph tatsächlich ausgearbeitet hätte; Husserl selbst war weit entfernt davon).

(42) Husserl behauptet nun, dass das ‚Phänomen der Welt‘ einen eigenen Typus, bildet, nämlich den ‚wundersamen Typus universale Weltwahrnehmung‘, der uns als dieser Typus ‚bewusst‘ sei. (vgl. CM2,S21,Z18-21) Er bildet den ‚Leitfaden‘ zur Analyse der ‚Unendlichkeitsstruktur der Erfahrungsintentionalität‘ von der Welt. (vgl. CM2,S21,Z22-27) Innerhalb der phänomenologischen Analyse von der einen Welt gibt es aber viele unterscheidbare Einzelobjekte, die in diesem größeren Zusammenhang so vorkommen, dass sie aus diesem Zusammenhang ’nicht weggedacht‘ werden können. (vgl. CM2,S21,Z35f)

(43) Dass jedes erkennbare Einzelobjekt samt zugehöriger Typik und intentionaler Potentialität im Kontext der synthetischen Einheit des transzendentalen ego ohne diesen Zusammenhang nicht gedacht werden kann, ist gewissermaßen eine Tautologie, da Husserl die transzendentale Analyse genau über jenen unauflöslichen –letztlich a priori vorgegebenen– Denkzusammenhang definiert. Davon zu unterscheiden ist aber die phänomenbezogene Aussage, dass es über diese im Denken verankerte Einheit auch noch eine durch die Sachen selbst induzierte Einheit geben soll. Dass wir in allen Wahrnehmungen eine raum-zeitliche Struktur vorfinden (über die Husserl hier nicht spricht), durch die unsere unterschiedlichen Gegenstände, Objekte in einem Beziehungsgeflecht vorkommen, das wir nicht weg-denken können, ist eine Sache. Zusätzlich dazu ein ‚Superobjekt‘ Welt als vorfindliche Erkenntnis annehmen zu müssen, ist eine Feststellung, die sich –zumindest mir– nicht ohne weiteres erschließt. Diese Unsicherheit zeigt an, dass die Inhalte einer phänomenologischen Analyse, selbst dort, wo sie versucht, ‚allgemeine‘ Strukturen der vorfindlichen Gegebenheitstypen aufzugreifen, zu analysieren und zu beschreiben, nicht immer und überall diese Transparenz und Evidenz besitzt, die Husserl fordert (und bei seinen Aussagen auch unterstellt). Im Zweifelsfall würde ich dafür plädieren, solche unklaren Allgemeinheits-Feststellungen dann zurück zu stellen. Ferner zeigt diese Unsicherheit die Besonderheit einer möglichen phänomenologischen Theoriebildung: dadurch, dass es sich bei den ‚Gegenständen‘ einer phänomenologischen Analyse um Eigenschaften unseres bewussten Denkens handelt, die nicht ‚direkt‘ vorzeigbar sind, sondern nur indirekt im Rahmen einer Kommunikation ‚erschlossen‘ werden können, ist jede phänomenologische Feststellung eine kommunikationsabhängige Hypothese, die voraussetzt, dass es in jedem Kommunikationsteilnehmer prinzipiell die gleichen allgemeinen Strukturen des Denkens gibt. Die von Husserl programmatisch geforderte Letztbegründung von Philosophie wird auf diese Weise trotz ihrer subjektiven Denknotwendigkeit durch ihre Sprachabhängigkeit zu einem relativierbaren kulturellen Phänomen. Zwischenmenschlich kann Philosophie niemals absolut sein, nur individuell-subjektiv für die persönliche Orientierung.

(44) Kommen wir zurück zur formalen Seite der phänomenologischen Analyse. Generell bezieht die phänomenologische Analyse ihre Denknotwendigkeit aus der vorfindlichen Einheit des Denkens. Innerhalb dieser allgemeinen Einheit postuliert Husserl aber weitere begrenztere Einheiten,  die aus der Mannigfaltigkeit des Gegebenen als ‚Objekte‘ und zugleich als ‚Objekttypen‘ entstehen. Und er stellt explizit fest ‚Jedes Objekt bezeichnet eine Regelstruktur für die transzendentale Subjektivität‘. (vgl. CM2,S22,Z5-7) Hier stellen sich sehr viele Fragen. Einige seien genannt.

(45)  Der Ausdruck ‚Regelstruktur für die transzendentale Subjektivität‘ ist nicht ohne weiteres klar, da Husserl bislang noch nirgends erklärt hat, was eine ‚Regel‘ sein soll, er hat den Begriff ‚Struktur‘ ebenfalls nicht explizit erklärt, geschweige denn den neuen Begriff ‚Regelstruktur‘. Aus der Vielzahl möglicher Interpretationen wird hier versuchsweise angenommen, dass es Husserl darauf ankam, zu erklären, dass die durch die Objekteinheit gegebene Typik im Rahmen der transzendentalen Synthese etwas ‚Nicht-Zufälliges‘, etwas ‚Nicht-Kontingentes‘ hat. Damit wäre die Basis  für eine Grundlegung der Philosophie über die allgemeine transzendentale Einheit hinaus durch Ausdifferenzierung der allgemeinen Einheit ‚erweitert‘. Diese Annahme macht nur Sinn, wenn die auf die Objekt-Typik bezogene Einheit vom einzelnen Objekt ‚unabhängig‘ ist. Die vorausgehenden Abschnitte legen diese Interpretation nahe. Daraus folgt, dass diese Objekt-Typik durch die Art des Denkens selbst (DLOG) ‚induziert‘ wird. D.h. egal, welches einzelne Objekt durch die Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung sich im Denken ‚zeigt‘, jede dieser objektbezogenen Typen ergibt sich aus der Art und Weise, wie das Denken Mannigfaltigkeiten ‚organisiert‘, ‚verarbeitet‘, ‚aufbereitet‘ –oder wie immer man die Leistung des Denkens bezeichnen möchte–. Mit solch einem Interpretationsansatz erscheint die Einheit der Objekte als denknotwendig, sprich von transzendentaler Natur. Es bleibt dann nur die Frage nach dem ‚Sachanteil‘ der Erkenntnis. Wenn die Mannigfaltigkeit, die letztlich die Unterscheidung zwischen Objekten möglich macht und die die Voraussetzung für sprachliche Benennungen ist, im ‚eigentlichen‘ Denken keine Rolle mehr zu spielen scheint, dann fragt man sich, was denn letztlich den ‚Inhalt‘ des denknotwendigen Denkens ausmacht?

(46) Eine weitere Interpretation könnte sein, dass diese allgemeinen Strukturen des Denkens zwar vom Denken selbst induziert sind, aber nur gelegentlich des Auftretens von Mannigfaltigkeiten ’sichtbar‘ werden. Damit hätten die Mannigfaltigkeiten zumindest eine Art ‚Triggerfunktion‘.  Dies scheint der Weise unseres Denkens zu entsprechen. Wir können über die Strukturen unseres Denkens nur anlässlich des aktiven Denkens ‚denken‘. Der ‚Inhalt‘ dieses Denkens wird aber nur in dem Masse ’nutzbar‘, als es uns gelingt, diesen Inhalt zu analysieren und zu beschreiben (als Th_ph). Das Gleiche gilt natürlich auch von den eher ‚kontingenten Inhalten‘, anlässlich deren die allgemeinen Strukturen sichtbar werden. Auch diese kann man in ihrer Eigenart analysieren und beschreiben. Die ‚Daten‘ DAT_ph einer phänomenologischen Theorie Th_ph enthalten also sowohl Beschreibungen von ‚kontingenten‘ Daten wie auch Daten über ‚allgemeine Struktureigenschaften‘ des Denkkontextes, in dem diese Daten auftraten. Diese Daten DAT_ph zu einer konsistenten phänomenologischen Theorie Th_ph auszuarbeiten stellt dann die eigentliche theoretische (und philosophische) Leistung dar.

(47) Bzgl. der Feststellung über das Super-Objekt Welt (bei Husserl ‚universale Weltwahrnehmung‘) hatte ich angemerkt, dass die Behauptung der universalen Gültigkeit dieser Erkenntnis mir nicht direkt zwingend erscheint. Husserl läßt hier aber nicht locker. Für ihn resultiert die Einheit des Phänomens ‚Natur‘ bzw. ‚Welt‘ als transzendentale Einsicht aus dem Kontext von ‚Vernunft und Unvernunft‘; letztere gehören für ihn zur ‚allgemeinsten Strukturform der transzendentalen Subjektivität überhaupt‘. (vgl. CM2,S22,Z8-17)

(48) Trotz dieser Wiederholung ist nicht erkennbar, woher Husserl die hierzu notwendigen Evidenzen rekrutiert.  Das Wort ‚überhaupt‘ im Ausdruck ‚transzendentale Subjektivität überhaupt‘  lässt zwar Emphase‘ erkennen, deutet an, dass sein Autor auf die immanenten ‚Grenzen‘ des Gemeinten zielt, doch ist die ‚transzendentale Subjektivität‘ von Husserl auf die apriorische Einheit des transzendentalen ego bezogen, die als solche ‚eine‘ ist und nicht weiter hintergehbar. In diese letzte Einheit eine noch allgemeinere Einheit mit der Formulierung ‚transzendental überhaupt‘  hinein zu projizieren, erscheint wenig überzeugend. Zumal Begriffe wie ‚Vernunft‘ und ‚Un-Vernunft‘ hochgradig unbestimmt und ‚leer‘ sind. Von etwas Unbestimmtem und Undefiniertem wie ‚Vernunft‘ zu sagen es sei die ‚allgemeinste Form‘ und zugleich die ‚Einheit überhaupt‘ überzeugt mich nicht. Es mag sein dass der Begriff ‚Vernunft‘ in anderen begrifflichen Kontexten einen fassbaren Sinn haben kann, in dem von Husserl bislang skizzierten Zusammenhang einer transzendentalen Phänomenologie sehe ich dies nicht.

(49) Husserl spricht dann über ‚Evidenz‘ im Kontext des Transzendentalen als etwas ’nicht zufällig Vorkommendes‘.(vgl. CM2,S22,Z18-21) Er benutzt dabei das Wort ’selbst‘ fast inflatorisch (analog dem Wort ‚überhaupt‘ in vorausgehenden Abschnitten), etwa nach dem Schema nicht nur ein ‚X‘, sondern das ‚X selbst‘, oder –mit Husserls Worten– ‚das cogitatum als es selbst habend‘.(vgl. CM2,S22,Z22f) Was aber macht den Unterschied aus zwischen einem ‚X‘ und dem ‚X selbst‘? Nach den bisherigen Ausführungen zur transzendentalen Phänomenologie ist sich das transzendentale ego entweder ’seiner selbst‘ nicht bewusst sondern ist  ‚bei‘ oder ‚in‘ den cogitata als den intentionalen Gegenständen des Denkens (ohne epoché) oder das transzendentale ego ist sich seiner bewusst und damit werden die cogitata eingebettet in eine intentionale Beziehung, die sich ihrer bewusst ist und die ‚in sich‘ oder ‚aus sich heraus‘ alle cogitata innerhalb der Einheit des Denkens ‚als cogitata‘ bewusst denken kann. In diesem Schema wäre eine Interpretationsmöglichkeit, den Fall ‚X‘ zu assoziieren mit dem ‚bei/ in den cogitata‘ sein ohne eingeschaltete kritische Reflexion und den Fall ‚X selbst‘ zu assoziieren mit der eingeschalteten Reflexion, in der die cogitata als Momente einer intentionalen Beziehung ‚bewusst‘ sind, darin ’sie selbst‘. Dies scheint Husserl gemeint zu haben, wenn er sagt ‚…alle Intentionalität ist… selbst ein Evidenzbewusstsein, das ist das cogitatum als es selbst habend…‘. (vgl. CM2,S22,Z21-23)

(50) Man kann natürlich fragen, ob es glücklich ist, das cogitatum, sofern es in der Reflexion als ein ‚Eingebettetes in einer größeren Einheit‘ erscheint, als ‚es selbst‘ zu bezeichnen, aber es entspricht dem Sprachgebrauch deutscher Bewusstseinsphilosophen.

(51) Schwierig wird es, wenn Husserl von dem unmittelbar im Denken Gegebenen ‚X selbst‘ auf das potentielle X rekurriert, auf das vor jeder Klarheit gegebene ‚vage, leere, unklare‘ Bewusstsein, (vgl. CM2,S22,Z25) das ‚auf dem Weg der Klärung‘ dann als Vorgestelltes, Fantasiertes, Gedachtes, Erinnertes usw. bewusst und darin wirklich, reell wird. Da man sich sofort fragt, wie etwas nicht Bewusstes Gegenstand des bewussten Denkens sein kann (nicht bewusst ist ja gerade das Gegenteil von bewusst), hakt man sich fest an der Formulierung Husserls, dass ein leeres Bewusstsein nur ‚Bewusstsein von dem und dem‘ sein kann, ’sofern es auf einen Weg der Klärung verweist‘.(vgl. CM2,S22,Z26f) Dies wirkt mindestens paradox, wenn nicht gar falsch.

(52) Wenn wir zunächst mal davon ausgehen, dass das Komplementäre zum Bewusstsein C das Nicht-Bewusstsein C‘ ist, d.h. Alle jene ‚Dinge‘ die es zwar ‚irgendwie geben mag‘, die aber eben per definitionem nicht bewusstseinsmässig zugänglich sind, dann gibt es für das Bewusstsein C keinerlei Möglichkeit auf irgendein x‘ in C‘ zu schließen. Die Formulierung von Husserl ’sofern es auf einen Weg der Klärung verweist‘ ist also bei Annahme der Definition von Bewusstsein und Nicht-Bewusstsein im vorausgehenden Sinne im Ansatz nicht möglich. Im Nichtbewusstsein C‘ gibt es kein etwas x‘ in C‘, das in irgendeiner Weise dem Bewusstsein C zugänglich ist.

(53) Will man die Aussage Husserls retten, dann könnte man ein ‚Drittes‘ postulieren, nämlich einen Zwischenbereich zwischen Bewusstsein C und Nichtbewusstsein C‘; nennen wir dieses Dritte hypothetisch ‚Un-Bewusstes‘ C*. Das Un-Bewusste wäre dann ein etwas x* in C*, dessen konkrete Ausgestaltung als solche aktuell nicht gerade bewusst ist, aber ‚irgendwie‘ gibt es ein ‚leeres, vages‘ Bewusstsein von seiner Verfügbarkeit. Ein möglicher Zusammenhang (Hypothese) zwischen einem bewussten Phänomen x in C und einem unbewussten x* in C* wäre möglicherweise, dass jedes bewusstes Phänomen x in den ‚Zustand‘ eines unbewussten x* übergehen kann und umgekehrt. Die Details dieser Übergänge von x nach X* und zurück lassen wir an dieser Stelle einmal offen. Wichtig ist nur, dass es keinerlei Übergänge von einem nicht bewussten x‘ in C‘ zu einem bewussten x in C geben kann. Möglicherweise aber von einem unbewussten x* in C* zu einem nicht bewussten x‘ in C‘. Die Formulierung von Husserl ‚Jedes vage Bewusstsein kann ich befragen, wie sein Gegenstand aussehen müsste‘, kann man als Bekräftigung der Hypothese zum Un-Bewussten C* lesen.

(54) In diesem Zusammenhang führt Husserl auch die Begriffe ‚Bestätigung‘, ‚Erfüllung‘ einerseits ein wie auch die Begriffe ‚Enttäuschung‘, ‚Aufhebung‘, ‚Negation‘ andererseits ein.(vgl. CM2,S22,Z36-38) Alle diese Begriffe setzen eine Beziehung (Relation) voraus: Ich habe ein X, das sich in einem Zustand befindet, von dem ich noch nicht sagen kann, dass er ‚bestätigt‘ oder ‚enttäuscht‘ sei oder ich habe –zeitlich danach– einen Zustand, in dem ich von X sagen kann, er sei bestätigt oder er sei enttäuscht.

(55) Man kann sich jetzt fragen, wo und wie sich dieses Schema innerhalb der transzendentalen Phänomenologie ‚interpretieren‘ lässt. Da man von den allgemeinen Strukturen annehmen muss, dass sie ’sind wie sie sind‘, kann ein Bestätigen bzw. Enttäuschen nur bei jenen Gegebenheiten (Tatsachen) des Bewusstseins auftreten, die in einer Beziehung vorkommen können, in denen sich etwas ändert. Dies sind eigentlich nur jene Objekte, die auf kontingenten Mannigfaltigkeiten beruhen, die mal so und mal so sein können. Während ‚Erinnerbares‘ (das ein Bewusstes x in C war, das zu einem unbewussten x* in C* überging und von dort wieder zu einem bewussten x in C werden kann) tendenziell eher seine Beschaffenheit ‚bewahrt‘ (obgleich wir heute wissen, dass das Erinnerte immer Verschieden ist von dem initialen Bewussten), ist es das sinnlich Wahrgenommene, das sich ‚autonom‘ ändert. Man könnte also ein erinnertes bewusstes x_mem in C mit einem sinnlich wahrgenommenen x_emp in C vergleichen. In der Tat sagt unsere Erfahrung, dass zwischen Erinnertem x_mem und sinnlich Wahrgenommenen x_emp Bestätigung oder Enttäuschung stattfinden kann (z.B. bestaetigung(x_mem, x_emp) = 1 oder  bestaetigung(x_mem, x_emp) = 0). Natürlich kann sowohl unsere ‚Fantasie‘ wie auch unser ‚rationales Denken‘ als Teile von DLOG eine Menge von bewussten x_i in C ‚verarbeiten‘ zu einem ’neuen‘ x_neu in C. Auch bzgl. eines solchen ’neuen‘ x_neu kann man einen Vergleich mit einem x_emp anstellen (oder auch einem x_mem):  bestaetigung(x_neu, x_emp) = 1 oder  bestaetigung(x_neu, x_emp) = 0.

(56) Husserl benutzt im vorausgehenden Kontext das Begriffspaar ‚anschaulich‘ und ‚unanschaulich‘.(vgl. CM2,S23,Z3f) Der systematische Bezug zur Themaik ‚Bestätigung‘ und ‚Enttäuschung‘ ist nicht ganz klar.

Zur Fortsetzung siehe CM3, Teil 4

HINWEIS: Einen Überblick über alle Blog-Einträge nach Titeln findet sich hier: Übersicht nach Titeln

CARTESIANISCHE MEDITATIONEN III, Teil 2

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 5.Dez.2011
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

ÄNDERUNGEN: Letzte Änderung 11.Dez.2011 vor 12:00h

CM III, Teil 2

(16) Husserl spricht länger über das Beispiel mit dem Hexaeder (CM2, 16-18). Im Rahmen seines Intentionalitätsmodells gibt es die übergreifende Einheit des cogito, das sich in seinem bewusst Sein auf ein Gegebenes als ‚cogitatum‘ bezieht, das sich in vielerlei ‚Erscheinungsweisen‘  (verknüpft mit einem Seinsmodus und einem Bewusstseinstypus)  darbietet. Dennoch sind diese unterscheidbaren Gegebenheiten nicht isoliert denkbar, sondern nur als Momente einer im cogito vorfindlichen Einheit. Zu dieser im cogito fundierten Einheit gehört auch die phänomenologische Zeitlichkeit, die die einzeln unterscheidbaren Gegebenheiten des cogitatum als ‚Dahinströmen‘, als kontinuierliche Aneinanderreihung erscheinen lassen, deren gedankliche Aufteilung wieder ein Dahinströmendes ergibt und das auch seinen Bewusstseinstypus (hier: Wahrgenommenes) beibehält. Nach Husserl werden eben nicht ‚Dinge‘ in das Wahrnehmen hineingesteckt, sondern diverse konkrete Gegebenheiten werden in der synthetischen Einheit des cogito miteinander zu einem Gedachten‘ verknüpft, und das jeweils Verknüpfte ist selbst wieder Teil dieser Einheit des cogito.

(17)Nimmt man diese Darstellung von Husserl und versucht sie innerhalb des bisherigen Rekonstruktionsmodells (TEgo: Ph_(*) x DLOG[+ONT] —> Ph_(*) x DLOG[-ONT]) einzuordnen, dann ergibt sich folgendes: das jeweilige cogitatum mit seinen unterschiedlichen Gegebenheitsweisen gehört als Phänomen ph_i zur Menge der Phänomene Ph_(t). Die ‚zeitliche Dimension‘ des Aufeinanderfolgens  soll aber  ‚koexistent‘ sein mit dem einzelnen Phänomen, hebt es einerseits nicht auf, aber ist so verfügbar, dass ich das einzelne als Teil eines ‚Ganzen‘ ‚erleben‘ kann. Nach der bisherigen Annahme ist ein Phänomen ein komplexes Gegebenes mit den Momenten  ph = <e,p,m,c>. Eine genaue Definition gibt es noch nicht, da Husserls Ausdrucksweise hier nicht sehr präzise ist. Würden wir ‚e‘ als das sich einzeln (?) ereignende Gegebene annehmen, das hier einerseits ein sinnlich Wahrgenommenes ist –z.B. p_vis– im Seinsmodus eines ‚Wahrgenommenen‘ m_wahrg, das begleitet ist von dem Wissen um ein Eines –also etwa c als ‚Ergebnis‘ aus dem bisherigen c(t-1) und dem ’neuen‘  c(t)–   dann wären die Momente ‚e,p,m,c(t-1)‘ der ‚Input‘ und ‚e,p,m,c(t)‘ wäre der ‚Output‘  durch den Bezug zum cogito. Die ‚Herstellung‘ der Einheit würde dann eine Leistung des Denkens DLOG sein: was immer zu einem bestimmten Augenblick das Wissen um einen bestimmten Gegenstand –wie z.B. ein Hexaeder– ausmachte, sobald ein neues Moment <e‘,p‘,m‘> auftritt, das mit dem bisherigen cogitatum <e,p,m,c(t-1)> in einen Zusammenhang (aufgrund von ‚Ähnlichkeiten‘) gebracht werden kann, wird das neue Moment über DLOG mit dem bisherigen vereint zu <e‘,p‘,m‘,c(t)> mit DLOG: C(t-1) —> C(t) und c in C. Generell gilt aber bislang, dass innerhalb der Synthese des cogito alle Aspekte der Phänomene ‚verarbeitet‘ werden können (DLOG: Ph_(*) —> Ph_(*)), selbst das sich ‚ereignende‘ einzelne Phänomen kann bzgl. seines Auftretens ‚e,p,c‘ streng genommen eine Veränderung dahingehend erfahren, dass das cogito die ursprüngliche Wahrnehmung schon so abändert, dass das Wahrgenommene selbst mehr ‚Interpretiertes‘ ist als ‚induziertes Ereignis‘ unabhängig vom Denken.

(18) Zeilen wie die von CM2,18,Zeilen 22-30 mit dem Kernsatz ‚..einheitlich und in der Form der immanenten Zeit sich beständig objektivierend‘ (CM2,18,Z29f) können in dem bisherigen Rekonstruktionsmodell jedenfalls eine Interpretation finden.

(19) Husserl kommt dann auf jene wundersame Eigenschaft des transzendentalen ego zu sprechen, durch die das konkret ‚reell erlebte‘ Einzelne in einer übergeordneten Einheit so erlebt werden kann, dass das einzelne in einem (Sinn-)Zusammenhang mit anderen einzelnen gelangt, durch den ein einzelnes mit einem Mal Teil eines ‚Gegenstandes‘ werden kann, oder Ausgangspunkt eines möglichen Zustandes, den es geben könnte, oder ein Zustand  erscheint als Alternative zu einem anderen aktuell gegebenem oder vorstellbaren Zustand. (vgl. CM2,SS18f).  Dieses über die Aktualität Hinausgehen können in eine reell vorgestellte/ gedachte Möglichkeit nennt Husserl ‚Potentialität‘ und mit Bezug auf das reelle Erleben spricht er in diesem Zusammenhang auch von dem ‚Horizont‘ des Erlebens (z.B. CM2,S19,Z22-27).

(20) Im Rekonstruktionsmodell TEgo: Ph_(*) x DLOG[+ONT] —> Ph_(*) x DLOG[-ONT]ist dieses Aktualität mit Horizont und intentional realisierte Potentialität dadurch gegeben, dass innerhalb des transzendentalen Ego TEgo die ‚eingebaute‘ Denklogik DLOG die Möglichkeit bietet, jedes beliebige Phänomen als ‚reell Erlebtes‘ in beliebige Zusammenhänge einordnen zu können, sowohl als Teil eines größeren Ganzen, als logische Alternative, als mögliche (zeitlich) Fortsetzung, usw. ‚Horizont‘ und ‚Potentialität‘ folgen aus de Grundannahme des TEgo als einer partiell rekursiven Abbildung. Damit ist jegliche Einheit von jeglicher Vielheit möglich, als intentionales Etwas, das nur im Bewusstsein ist.

(21) Für Husserl eröffnet sich für die phänomenologische Deskription und Methodik hier eine ’neue Methode‘, nämlich die Erforschung von möglichem Sinn und Sein durch ‚Enthüllen‘ und  ‚Herausstellen‘ des im Horizont, in der Potentialität ‚implizit‘ Gemeinten (vgl. CM2,S19,Z28ff). Dieses implizit Gemeinte wird ‚evident‘ durch Ausfaltung des im Horizont beschlossenen Potentials, indem das Denken eine ‚Folge von möglichen Wahrnehmungen‘ erzeugt, durch die sich potentieller Sinn enthüllt. Solche potentiellen Enthüllungen sind der Gegenstand von phänomenologischer Deskription und Analyse. Natürlich dann nicht beschränkt auf einzelne Sinne (als Plural von ‚Sinn‘), sondern final bezogen auf die allgemeine, universale Struktur von Sinn im Bewusstsein (vgl. CM2,S19f).

(22) Will man von diesen letzten Überlegungen Husserls einen Bezug zum Rekonstruktionsmdell TEgo: Ph_(*) x DLOG[+ONT] —> Ph_(*) x DLOG[-ONT] herstellen, dann ergibt sich ein interessantes Paradox: (i) einerseits müsste man erklären, wie eine phänomenologische Deskription und Analyse innerhalb des Rekonstruktionsmodells möglich ist, andererseits (ii) musss man annehmen, dass das Ergebnis einer solchen phänomenologischen Deskription und Analyse der universalen Strukturen letztlich genau dem Rekonstruktionsmodell entsprechen müsste, andernfalls wäre das Rekonstruktionsmodell unzulänglich.

(23) Was die Möglichkeit einer phänomenologische Deskription und Analyse innerhalb des Rekonstruktionsmodells angeht, so würde man fordern müssen, dass es innerhalb der umfassenden Synthese des transzendentalen ego als ‚Teil‘ der Denklogik DLOG eine ‚Komponente‘ geben muss, die sowohl den auftretenden Phänomenen wie auch ihrer ‚logischen Dynamik‘ sprachliche Ausdrücke so zuordnen kann, dass diese zusammengenommen eine ’sinnvolle Beschreibung‘ ergeben. Prinzipiell ist klar, wie ein solcher ‚Mechanismus‘ aussehen müsste. Wie ‚leicht‘ er sich in einem ‚funktionierenden Bewusstsein‘ ‚realisieren‘ lassen würde, ist eine andere Frage (ein Bewusstsein wie das von Husserl gehört ja bekanntlich nicht zu einem ‚Massenphänomen‘ und selbst dieses Bewusstsein hat immerhin mehrere Jahrzehnte benötigt, um eine ‚Form‘ zu finden, die dann in der Lage war, die Pariser Vorlesungen zu halten).

(24) Bezüglich der Konsequenz, dass das Ergebnis einer phänomenologischen Deskription und Analyse der universalen Strukturen letztlich genau dem Rekonstruktionsmodell entsprechen sollte, muss man die Frage klären, was denn eigentlich eine ‚adäquate Form‘ einer phänomenologischen Darstellung sein sollte? Husserl hat bislang nichts dazu gesagt. Er spricht immer nur über die ‚Inhalte‘ der Analyse. Dennoch benutzt er für seine Gedanken über diese Inhalte und die phänomenologische Deskription und Analyse wie selbstverständlich eine Sprache, hier die deutsche Sprache (selbst für seine Pariser Vorlesungen). Die deutsche Sprache ist aber bekanntlich als ’natürliche‘ Sprache beliebig ‚vieldeutig‘. Sie gewinnt ihre ‚gemeinte Bedeutung‘ durch Identifizierung jener Inhalte, die Husserl ‚gemeint hat‘, als er die Ausdrücke niederschrieb. Da es sich bei dem von Husserl ‚Gemeinten‘ nicht um einfache ‚Gegenstände der intersubjektiven Außenwelt‘ gehandelt hat (meistens nicht), sondern um ‚Gegebenheiten seines individuellen Denkens‘ in seinem ‚individuellen Bewusstsein‘ sind diese ‚gemeinten Inhalte‘ zunächst mal streng genommen für jeden anderen vollständig unzugänglich. Dass er dennoch die Hoffnung hegen konnte, dass das von ihm ‚Gemeinte‘  den  Lesern seiner Zeilen zumindest ‚potentiell zugänglich‘ sein könnte, muss einen ‚Grund‘ haben (andernfalls wäre Husserl ein ‚Verrückter‘, der ‚herumspinnt‘). Husserl hat sich zu diesem ‚Grund‘ bislang nicht geäußert (was von heute aus auffällt, zu seiner Zeit aber den normalen Denkgewohnheiten entsprach). Es ist unklar, ob und wieweit Husserl sich dieser Problematik überhaupt bewusst war. Ziemlich sicher kann man sagen, dass er zu seiner Zeit kaum eine Chance gehabt hätte, diese Frage befriedigend zu beantworten (soweit wir heute die Ideenlandschaft seiner Zeit kennen und beurteilen).

(25) Parallel zu Husserl und dann natürlich noch nach ihm entwickelte sich die moderne formale Logik, die moderne Mathematik und Wissenschaftstheorie, die Denkansätze freilegten, mit denen sich einige der Fragen, die Husserl unbeantwortet lies, beantworten lassen. Allerdings muss man festhalten, dass diese Disziplinen sich mit den gedanklichen Bereichen einer phänomenologischen Deskription und Analyse nahezu überhaupt nicht beschäftigt haben. Das Desinteresse der modernen Wissenschaftstheorie für inhaltsfundierte Analysen hat (meine persönliche Einschätzung) letztlich auch wieder zu ihrer ‚Selbstauflösung‘ geführt. Bis heute hat die Wissenschaftstheorie (im Englischen eher ‚Philosophy of Science‘, was aber die deutsche Bedeutung nicht ganz wiedergibt) jedenfalls keine allzu große Bedeutung für die Wissenschaften gewonnen, was man auf Schritt und Tritt schmerzlich merken kann.

(26) Kommen wir zurück zum ‚Gemeinten‘ von Husserl und zur Frage nach einem ‚Grund‘ für die Unterstellung Husserls, irgendein Leser seiner Texte könnte ‚verstehen‘, was er ‚gemeint‘ hat, wo er doch vornehmlich ’nur‘ über die Tatsachen seines eigenen individuellen Bewusstseins spricht/ schreibt. Generell ist klar, dass seine ‚gelebte Unterstellung‘ nur ‚Sinn‘ ergibt, wenn jeder (oder wenigstens die meisten?) Leser in seinem –von Husserl verschiedenem– Bewusstsein ‚hinreichend Ähnliches‘ vorfinden kann wie Husserl selbst.

(27) Nennen wir ein einzelnes Bewusstsein C_h_i in C_h mit ‚C_h‘ als der Menge aller möglichen ‚Husserl-Ähnlichen Bewusstseine‘. Husserl muss also unterstellt haben, dass –im idealen Fall– jedes dieser einzelnen Bewusstseine C_h_i ‚im Prinzip‘ so ähnlich ist mit seinem eigenen C_h_*, dass alles, was er über die Strukturen seines eigenen Bewusstseins C_h_* sagt mit ‚hinreichender Ähnlichkeit‘ auch in jedem dieser anderen Bewusstseine ‚vorkommt’/ ‚reell erlebbar‘ ist.

(28) Da es klar ist, dass Husserl nicht die jeweils konkreten Inhalte gemeint haben kann, die sich bei jedem einzelnen aufgrund von individuell konkreten Umständen real unterscheiden, muss es um die allgemeinen Strukturen gehen, in denen konkrete Inhalte auftreten, vorkommen, wahrgenommen, erinnert, vorgestellt usw. werden. Also, alltäglich-praktisch: wenn zwei Betrachter auf eine Tasse schauen, die zwischen ihnen steht, hat zwar jeder aufgrund seines unterschiedlichen Wahrnehmungspunktes einen anderen konkreten Eindruck von dieser Tasse, beide können aber anlässlich dieses –und weiterer– Eindrucks offensichtlich ein ‚inneres Konzept‘ von ‚Tasse‘ bilden, das in den unterschiedlichsten konkreten Kontexten ‚hinreichend ähnlich‘ funktioniert. Das deutet auf ‚allgemeine Strukturen‘ ‚in‘ den einzelnen Bewusstseinen hin, die die unterschiedlichen konkreten Ereignisse auf eine allgemeine Struktur hin ‚transformieren‘, die hypothetisch in den verschiedenen Bewusstseinen ‚hinreichend ähnlich‘ funktioniert. Solche allgemeinen Strukturen kann man recht gut mit Hilfe von formalen Modellen beschreiben. Würde also Husserl (was nun leider nicht mehr geht) die von ihm unterstellten allgemeinen Strukturen des Bewusstseins, die für jedes Bewusstsein in gleicher Weise gelten (Arbeitshypothese), mit Hilfe solcher formaler Modelle beschreiben wollen, so könnte er dies z.B. mittels des bisherigen  Rekonstruktionsmodells TEgo: Ph_(*) x DLOG[+ONT] —> Ph_(*) x DLOG[-ONT] tun. Dieses Modell unterstellt genau solche ‚universalen Strukturen‘ von Wahrnehmung, Erinnerung usw. in jedem beteiligten Bewusstsein.

(29) Husserl stellt zwar nicht explizit die Frage nach ‚Strukturen‘ im Erleben, aber er spricht darüber im Kontext: ‚…im Fluß [des Bewusstseinslebens] herrscht eine sehr wohl ausgeprägte Typik. Wahrnehmung… Wiedererinnerung… [retentionales] Leerbewusstsein… dergleichen sind allgemeine, scharf ausgeprägte Typen… Jeden solchen Typus kann ich, allgemein beschreibend,  nach seiner Struktur befragen, und zwar nach seiner intentionalen Struktur, da es eben ein intentionaler Typus ist…wie der eine in einen anderen übergeht…sich bildet…abwandelt…'(vgl. CM2,S20,Z21-34).

(30) Dieses Sprechen Husserls über implizit vorfindliche Strukturen im Fluss des Bewusstseins  bedeutet, dass er diese –ohne dies so ausdrücklich zu sagen– letztlich für jedes einzelne Bewusstsein c_h_i voraussetzt (anders macht seine Rede keinen Sinn).

(31) Schließlich benutzt Husserl hier sogar den Begriff der ‚Theorie‘: ‚Das ergibt also transzendentale Theorie der Wahrnehmung,…transzendentale Theorie der Erinnerung und des Zusammenhangs der Anschauung überhaupt, aber auch transzendentale Urteilstheorie, Willenstheorie, usw.‘ (CM2, S20f,Z37-Z2)

(32) Husserl liefert im Rahmen seiner Vorlesung bis zu dieser Stelle keine Definition –oder vergleichbare Erklärung– des Begriffs ‚Theorie‘. Man weiss an dieser Stelle daher nicht genau, was er meint, wenn er von ‚Theorie‘ spricht. Offensichtlich setzt er aber voraus, dass es diese Strukturen im Erleben sein müssen, die den Ausgangspunkt für das bilden, was er ‚Theorie‘ nennt. Die nachfolgenden Zeilen scheinen dies zu bestätigen, werfen dabei aber auch ein eigentümliches Licht auf seinen Theoriebegriff.

(33) ‚Immer kommt es darauf an, nicht wie objektive Tatsachenwissenschaften bloße Erfahrung <zu> betätigen und das Erfahrungsdatum reell zu analysieren, sondern den Linien intentionaler Synthese nachzugehen, wie sie intentional und horizontmäßig vorgezeichnet sind, wobei die Horizonte selbst aufgewiesen, dann aber auch enthüllt werden müssen‘. (CM2,S21,Z2-8)

(34) Nach diesen Zeilen scheinen die objektiven Tatsachenwissenschaften sich nur mit ‚bloßen Erfahrung‘ zu beschäftigen, dieses ‚reell zu analysieren‘ ohne –so legen es diese Worte nahe– sich mit den darin vorfindlichen Regelhaftigkeiten bzw. Strukturen zu beschäftigen. Schon zu Zeiten Husserls gab es sehr wohl das Konzept allgemeiner formaler Strukturen als Werkzeug, um mittels solcher formaler  Strukturen ‚auffindbare‘ Regelhaftigkeiten zu repräsentieren. Diese formale Strukturen kombiniert mit ihrem jeweiligen empirischen Bezug zusammen wurden als ‚Theorien‘ gehandelt. D.h. auch die sogenannten objektiven Tatsachenwissenschaften sind nur interessant, weil sie Einzelereignisse durch Bezug auf ‚darin sich zeigende Regelhaftigkeiten (= Typen, Strukturen)‘ in Form von formalen (mathematischen) Strukturen repräsentieren und die unterstellten Strukturen als das ‚Wahre‘ nehmen, an dem man das Messbare ‚misst‘. Insofern macht Husserl hier die Tatsachenwissenschaften ‚kleiner‘ als sie wirklich sind (bzw. damals schon waren).

(35) Man könnte jetzt noch einwenden, dass die Tatsachenwissenschaften zwar aus den Einzelereignissen Strukturen ‚herausziehen‘ und diese dann benutzen, aber dass sie dies tun  in einem ‚unreflektierten Kontext‘ eines sich selbst nicht bewussten Denkens und in diesem Sinne seien sie eingeschränkt und trotz Sachbezugs Seinsvergessen.

(36) Schaut man sich die Geschichte der empirischen Wissenschaften an, wird man  feststellen (müssen!), dass die scheinbar ‚unreflektierte‘ Methode der Strukturbildung unter Berücksichtigung der jeweiligen Geltungsbedingungen (!) schrittweise nicht nur den Horizont der zu untersuchenden Sachen in alle Richtungen ausgeweitet hat, sondern auch durch kontinuierliche Transparentmachung von Geltungsbedingungen immer mehr jene Strukturen des Denkens thematisiert hat, die an den Reflexionsbereich des ‚klassischen‘ philosophischen Denkens heranreichen. Die Entdeckung des ‚Subjekts‘ als konstitutiver Faktor im Kontext  physikalischer (aber auch psychologischer, soziologischer usw.) empirischer Theorien ist vielleicht nicht in eins zu setzen mit einer bewussten Selbstreflexion des Bewusstseins aber immerhin Aufdeckung des Bewusstseins als ‚Faktor‘, der in die Theoriebildung ‚konstitutiv‘ (damit letztlich als ein transzendentaler Faktor) eingeht. Mit Neurowissenschaften und speziell Neuropsychologie werden diese Geltungsbedingungen von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Theorien kontinuierlich ‚verfeinert‘ bis dahin, dass man bestimmte kognitive Leistungen bestimmten physiologischen Strukturen und deren Funktionen zuordnen kann. Durch zugleich vermehrt eingesetzten Computersimulationen von kognitiven Strukturen in überprüfbaren experimentellen Räumen können diese Modelle von kognitiven Strukturen zusätzlich überprüft und sogar weiter entwickelt werden.

(37) So gesehen muss man wohl sagen, dass die von Husserl gescholtenen objektiven Tatsachenwissenschaften offensichtlich sehr wohl einen erheblichen Beitrag zur fortschreitenden Aufhellung der Strukturen von Wirklichkeit leisten können (wenngleich zu Zeiten Husserls die ganze Tragweite dieser Wissenschaften noch nicht so erkennbar waren wie heute, allerdings mehr als er zur Kenntnis genommen hat).
(38) Es bleibt die Frage nach dem ‚Rest‘, nach der trotz aller Erkenntniserfolge zu konstatierende ‚Differenz‘ des Erkenntnisstandpunktes. Die empirischen Wissenschaften definieren sich generell über die Selbstbeschränkung, nur solche Phänomene zu untersuchen, deren ‚Außengeltung‘ durch wiederholbare Experimente von jedem nachprüfbar sind. Aus dieser Definition folgt mit –soweit in diesem Rahmen möglicher– Denknotwendigkeit, dass ein Denkstandpunkt, der diese Beschränkung nicht akzeptiert, grundsätzlich mehr Phänomene ‚im Blick hat‘  und zu Strukturerkenntnissen kommen kann, die ‚anderer Natur‘ sind, eben philosophischer Art (oder innerhalb des allgemein Philosophischen  phänomenologisch Philosophisch, wenngleich die Definition von Phänomenologie wiederum ‚das Philosophische‘ ganz abzudecken scheint). Daraus würde ich folgern, dass objektive Tatsachenwissenschaften –eben die empirischen Wissenschaften– und philosophische Theorien gemeinsam haben, dass sie ihre Gegebenheiten in Form formaler (mathematischer) Strukturen Th darstellen können, dass sie sich aber bzgl. ihres ‚Gegenstandsbereiches  darin unterscheiden, dass gilt Ph_emp subset Ph_ph (und ’subset‘ ist hier eine ‚echte‘ Teilmenge mit Ph_ph – Ph_emp != 0).

(39) Während die Philosophie als Phänomenologie auf diese Weise die Strukturen des Denkens aus der inneren Bewusstseinsperspektive enthüllen  und darin beschreiben kann als eine phänomenologische Theorie Th_ph, tun dies die empirischen Wissenschaft  als empirische Theorie Th_emp, dabei unentrinnbar verwurzelt in der (inneren) Bewusstseinsperspektive. Durch die methodische Beschränkung auf eine Teilmenge der Phänomene (die die innere Denktätigkeit ausklammert) können die empirischen Wissenschaften das menschliche Denken trotz ihrer inneren Verwurzelung in diesem Denken nicht direkt beschreiben. Es bleibt ihnen nur der Umweg über die empirischen Phänomene und den darin implizit enthaltenen Strukturen (z.B. Gehirnaktivitäten zeitlich korreliert mit bestimmten beobachtbaren Verhaltensweisen und/oder korreliert mit empirischen ‚Selbstaussagen‘ von Personen zu ihrer ‚Selbstwahrnehmung‘, wobei der ‚Inhalt‘ der Selbstaussagen nicht empirisch ist!). Sofern solche empirischen Beschreibungen systematisiert als Th_emp vorliegen und gleichzeitig systematisierte phänomenologische Beschreibungen Th_ph kann man versuchen,  beide Theorien aufeinander abzubilden. Dies kann z.B. dahin führen, dass die empirischen Strukturen erkannt werden als jene Prozesse, die im bewussten Denken vorausgesetzt werden müssen, um ‚erklären‘ zu können, warum die phänomenologischen Strukturen so sind, wie sie ‚erlebt‘ werden.  In diesem speziellen Sinne könnte man dann sagen, dass die  empirischen Wissenschaften die Geltungsbedingungen unseres phänomenologisch beschriebenen Denkens durch ihre wissenschaftliche Beschreibungen enthüllen und damit erweitern. Statt sich also gegenseitig zu bekämpfen können beide Erkenntnisstile voneinander profitieren. Dies kann zu einer wechselseitigen Erhellung führen, durch die die ‚Geistigkeit der Materie‘ sichtbar wird.

Zur Fortsetzung siehe CM3, Teil 3

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CARTESIANISCHE MEDITATIONEN III

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 3.Dezember 2011
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

ÄNDERUNGEN: Letzte Änderung 4.Dez.2011 vor 13:00h

(1) Wie in den vorausgehenden Notizen festgestellt worden ist, kann man die ‚Cartesianischen Meditationen‘ von Husserl, die mit seinen berühmten Pariser Vorlesungen von 1929 eingeleitet wurden, als ‚Herzstück‘ seiner Version einer ‚Phänomenologischen Philosophie‘ – kurz: Phänomenologie – ansehen. Wenn jemand nach gut 30 Jahren intensivster philosophischer Arbeit, so wie Husserl es getan hat, nochmals eine ‚Begründung‘ seiner bisherigen Arbeit versucht (so Strasser 1948 in der Einleitung zur textkritischen Ausgabe Husserliana Bd.1, XXII), dann kommt diesen Gedanken eine besondere Stellung zu, zumal er danach nur noch Teile der ‚Krisis der europäischen Wissenschaften‘ veröffentlichen konnte.

(2) Husserl beginnt seine Ausführungen ausdrücklich mit Bezugnahme auf die ‚meditationes de prima philosophia‘ (1641/42) von Descartes. Diese ‚meditationes…‘ von Descartes sollen hier ‚Cartesianische Meditationen I‘ [CM1] genannt werden. Die Pariser Vorträge (1929, veröffentlicht 1931) nenne ich hier ‚Cartesianische Meditationen II‘ [CM2] samt dem späteren erweiterten Text von Husserl ‚Cartesianische Meditationen IIb'[CM2b]. Den aktuellen Text nenne ich einfach ‚Cartesianische Meditationen III‘ [CM3], da ich mich auf die beiden vorausgehenden beziehe.

(3) Husserl erkennt in den CM1 als Ziel die Idee eines radikalen Neubaues der Philosophie als universaler Einheit der Wissenschaften, selbst zusammengehalten durch eine Einheit absolut rationaler Begründung (CM2,3). Um dieses Ziel zu erreichen postuliert er einen ‚absolut sicheren Anfang‘ und von da ab ‚eine Methode des Fortgangs‘ ‚ohne die Stütze vorgegebener Wissenschaften‘ (CM2,4). Nach Husserl sieht Descartes diesen Anfang im ‚Rückgang auf das ego der reinen cogitationes‘, das ‚einzig apodiktisch-gewiss Seiende‘ (CM2,4). Husserl sieht in dieser Denkwendung von Descartes eine ‚radikale Wendung vom naiven Objektivismus‘ hin zu einem ‚transzendentalen Subjektivismus‘ (CM2,5). Während Husserl die meisten der  Folgerungen, die Descartes aus seiner Grundeinsicht gezogen hat, nicht übernehmen will, möchte er sehr wohl bei der Grundeinsicht von Descartes nochmals ansetzen und von da aus einen Weg gehen, der zur Erneuerung der Philosophie als transzendentaler Phänomenologie führen soll (CM2, 4f). Es soll auch für Husserl nur dasjenige gelten, dessen Evidenz sich durch ‚Rückgang auf die Sachen … selbst in ursprünglicher Erfahrung und Einsicht‘ begründet (CM2,6).

(4) Husserl setzt da ein, wo er Descartes als ‚ewig‘ identifiziert hat, nämlich bei seiner Wendung zum EGO COGITO als dem apodiktisch gewissen und LETZTEN URTEILSBODEN, auf dem jede radikale Philosophie neu zu gründen ist‘ (CM2,7). Diese Wendung zum COGITO schließt unter dem Titel ‚Epoché‘ eine grundsätzliche Einklammerung der ontologischen Geltung von weltbezogener Erfahrung ein (vgl. CM2,7f). In diesem Kontext gilt, dass die Welt ‚ihren ganzen Sinn … ausschließlich aus solchen cogitationes [Anmk: verstehbar als bei sich seienden Gegebenheiten]‘ hat (CM2, 8). Durch eine solche Epoché verschwinden die Gegebenheiten nicht sondern sie verbleiben als ‚Phänomene‘, als Gegebenheiten ‚für mich‘ (vgl. CM2, 8). Der so Denkende gewinnt sich ‚als das reine ego‘ mit dem ‚reinen Strom seiner cogitationes‘ (CM2, 8). In diesem Ich gewinnt die  Welt als Teil des Bewusstseins Sinn und Seinsgeltung (vgl. CM2,9).

(5a) Husserl kritisiert an Descartes, dass dieser die Grundeinsicht zur transzendentalen Philosophie zwar erreicht,  dann aber das transzendentale ego gewissermaßen ‚ontologisiert‘ habe, um es mittels weiterer Prinzipien (‚Schlüsse nach dem Kausalprinzip‘) verrechnen  zu können (vgl. CM2,9f). Wenn Husserl allerdings dann kontrastierend folgert, dass ‚ich und mein Leben in meiner Seinsgeltung unberührt bleibt‘ (CM2,10), dann kann – und muss? — man an dieser Stelle fragen, ob er nicht selbst eine fundamentale Fehleinschätzung begeht. Zu sagen, dass das ‚eventuelle Nicht-sein [von Welt] mein reines Sein nicht aufhebt‘, sondern höchstens ‚voraussetzt‘ (CM2,11), hat eine gewisse Berechtigung, da das ‚Nicht-sein‘ nur als ein ‚Gedachtes‘ auftreten kann, welches  das Denken –und damit das transzendentale ego– voraussetzt; das ‚Sein‘ von im Bewusstsein Gegebenem mit Weltbezug als phänomenal Unterscheidbares von ‚anderem‘ phänomenal Gegebenem ohne Weltbezug kann man aber auch so qualifizieren wie das transzendentale ego selbst: als ein Gegebenes, über das das Denken genau so wenig verfügen kann wie über seine eigene (transzendentale) Struktur. Nicht das Veränderliche am Phänomen ist die entscheidende Qualität, sondern dessen ‚Unverfügbarkeit‘, die dem des transzendentalen Ego in keiner Weise nachsteht. Infiziert durch das Interesse an einem absoluten Grund des Erkennens war Husserl von der Entdeckung des transzendentalen Ego offensichtlich so fasziniert, dass er die ‚Kleinigkeit‘ der Unverfügbarkeit von Gegebensein als solchem nicht ausdrücklich gewürdigt hat.

(5b) Natürlich ist die Frage der ‚unberechtigten‘ Geltung eines Phänomens über sein ‚reines Phänomenseins‘ hinaus wichtig. Da die Phänomene –wie eine anschließende Reflexion auf diese Phänomene zeigen kann– unterschiedliche Verursachungen enthüllen (Körperinneres, Außenwelt…) ist es für die Phänomene als Gegebenheiten im Bewusstsein zunächst wichtig, diese als Gegebenheiten ‚für das denken Ich‘ wahrzunehmen und in ihrer Eigenart als ‚Inhalte des Bewusstseins‘ zu beschreiben. Was nun die Identifizierung der unterschiedlichen ‚Herkünfte‘ angeht, muss man aber dennoch die Frage stellen, inwieweit eine Charakterisierung wie ‚verweist auf etwas in der Außenwelt‘ oder ‚verweist auf etwas in meinem Körper‘ aufgrund von unterschiedlichen Erfahrungen ‚gelernt‘ werden muss oder ob diese grundsätzliche Unterscheidung nach der Herkunft nicht eine Leistung unseres Denkens selbst ist? Denn die ‚Art und Weise‘, die ‚Form‘, die ‚Logik‘ wie unser Denken uns ‚erscheint‘, ‚uns denken lässt‘, die ist uns a priori vorgegeben; weder müssen wir sie erst erfinden noch können wir sie verändern, noch können wir sie ‚hintergehen‘. In diesem Sinne ist die ‚Logik unseres Denkens‘ transzendental.  Sollte also  (i) die Charakterisierung eines Phänomens nach seiner Herkunft eine ’natürliche‘ Leistung unserer Denklogik sein, dann wäre klar, warum wir überhaupt diese Unterschiedlichkeit erkennen können; wir könnten sie auffassen, beschreiben, und darüber nachdenken. Sollten wir dagegen (ii) annehmen, dass eine solche Charakterisierung nicht zu den primären Gegebenheiten unserer Bewusstseinsinhalte gehört, sondern erst nachträglich durch Denken (und in diesem allgemeinen Sinne durch ‚Lernen‘) ‚erschlossen‘ werden muss, dann könnte man nicht ausschließen, dass es Menschen gibt, die diese Zuordnung von Phänomenen nach ihren unterschiedlichen Herkünften anders lernen als die Mehrheit. Würden wir Fall (ii) annehmen, dann müssten wir für alle Menschen in ihren ersten Lebensjahren die Verfügbarkeit eines Lernkriteriums annehmen, das es den Kindern ermöglicht, die fundamentale Unterscheidung von ‚außen‘ und ‚innen‘ zu lernen. Ein solches ‚Lernkriterium‘ –das sagen die bisherigen Forschungen–  kann nur dann in allen Kindern ‚hinreichend Ähnliches‘ bewirken, wenn es Teil des ‚Lernmechanismus‘ des Kindes ist, sprich Teil der ‚Denklogik‘. Ohne eine grundsätzliche Eigenschaft des Denkens selbst, ein Phänomen hinsichtlich seiner unterschiedlichen ‚Herkünfte‘ –und damit unterschiedlicher ‚Gegebenheitsweisen‘– qualifizieren zu können, gäbe es bzgl. Herkunft unterschiedslose Phänomene, die das Denken zwar kombinieren kann, aber die Frage unterschiedlicher Gegebenheitsweisen (Außenwahrnehmung, Innenwahrnehmung; bei Innenwahrnehmung ‚Traum‘, ‚Erinnerung‘, ‚Schmerzen‘, ‚Körperstellungen‘ usw.) wären daraus nur mittelbar, im Nachhinein, durch Reflexionen, erschließbar. Eine letzte philosophische Klärung steht für mich noch aus; meine bisherige ‚Arbeitshypothese‘ ist,  dass (ii) falsch ist.

(5c) Wie immer man die Frage –Variante (i) oder (ii)– entscheiden mag, von der Frage der phänomenologisch Beschaffenheit eines  Phänomens ist die grundsätzliche ‚Verfügbarkeit‘ zu unterscheiden (siehe oben). Diese ‚Verfügbarkeit‘ bzw. ‚Unverfügbarkeit‘ von Phänomenen ist etwas sehr Grundsätzliches. Sofern es Phänomene gibt, die nicht ‚unser Denken erzeugt‘, sondern die unser Denken ‚vorfindet‘, die es ‚auffindet‘, die in ihrer ‚Unverfügbarkeit‘ ‚anders‘ sind, gehört diese ‚Unverfügbarkeit‘ zu ihrer ‚Gegebenheitsweise‘, die für diese Art von Phänomenen ‚konstitutiv‘ ist. Zwar tritt diese konstitutive Unverfügbarkeit ‚zugleich‘ mit unserem Denken auf, zeigt sich ‚in‘ unserem Denken in Form des ‚für mich seins‘, ‚im Bewusstsein sein‘, als ‚Gegenstand des Bewusstseins‘, doch ist das konstitutiv Unverfügbare ‚unabhängig vom Denken‘; es ist ‚koexistent‘. Wenn wir das Denken ‚transzendental‘ nennen, weil es in seiner Art und Weise ‚vorgegeben‘ ist, so müssen wir die Qualifizierung auch auf das konstitutiv Unverfügbare anwenden: im konstitutiv Unverfügbaren haben wir ein ‚Anderes‘, das ‚für uns‘ ebenfalls transzendental ist.  So sehr ich ‚Anderes‘ nur denken kann, weil ich ‚überhaupt denken‘ kann, so sehr kann ich anderes aber auch nur denken, weil sich das ‚Andere‘ als Anderes – unabhängig von meinem Denken (und ‚Wollen‘)   ‚zeigt‘. Mein Denken kann das ‚Andere‘ nicht erzwingen(vgl. CM2,10f).

(6) Die Entscheidung von Husserl, das Moment der Unverfügbarkeit an den Phänomenen mit Weltbezug mit Bezug auf das transzendentale Ego ungleichgewichtig ‚auszuklammern‘, führt zu einem radikalen Solipsismus (’solus ipse‘, CM2,12) des transzendentalen Ego, zur Idee einer reinen ‚Egologie‘ (CM2,12). Da auch eine reine Egologie die Phänomene des Bewusstseins nicht völlig ausklammert, sondern sie letztlich ’nur‘ anders ‚bewertet‘, verschwindet die ‚Welt‘ im phänomenologischen Denken nicht völlig. Jedoch ist von der besonderen Husserlschen ‚philosophischen Anfangskonfiguration‘ aus absehbar, dass er sich im weiteren Verlauf in tiefliegende logische Konflikte verwickeln wird, die er unter Beibehaltung dieser Anfangskonfiguration nicht wird auflösen können.  Sein weiterer Denkweg illustriert dies sehr deutlich.

(7) Schon die nächst große Annahme Husserl’s, die von der ‚Intentionalität‘ des Bewusstseins (vgl. CM2,13) zeigt, dass die Unverfügbarkeit des Anderen als das, wovon ein transzendentales Ich Bewusstsein hat, so hervorstechend ist, dass er Intentionalität als ‚Grundeigenschaft‘ konstatieren muss. Spätestens jetzt hätte Husserl merken müssen, dass diese Grundeigenschaft etwas ist, was sich nicht aus einem ‚Ego‘ ‚ableiten‘ lässt, sondern dass das Ego als ‚transzendentales Ego‘ nur aufscheinen kann, weil es in einer ‚Beziehung‘ aufscheint, die durch die Koexistenz von ‚Anderem‘ und ‚Ego‘ aufgespannt wird (vgl. CM2, 13).

(8) Auffällig ist, dass Husserl an dieser Stelle neben dem allgemeinen Gegebensein der Phänomene unterschiedliche ‚Sinnesarten‘, unterschiedliche ‚Seinsmodi‘ und unterschiedliche ‚Bewusstseinsarten‘  postuliert (CM2,13). Ferner unterscheidet er im Bereich der Bewusstseinsarten zwischen ‚gegenständlichen‘ und  ’nicht-gegenständlichen‘ Bewusstseinsarten, wobei er die ’nicht-gegenständlichen‘ auch ’subjektive‘ nennt (CM2,14).

(9) Tatsächlich sind diese Begriffe an dieser Stelle nicht wirklich ‚erklärt‘. Husserl unterstellt damit, dass jeder Leser seiner Zeilen (bzw. jeder Zuhörer seiner Vorlesungen) diese Sachverhalte in seinem eigenen Bewusstsein vorfinden kann. Ohne diese Unterstellung wäre seine Kommunikation unsinnig. Da Husserl kaum unterstellen kann, dass die einzelnen wechselnden Phänomenen bei jedem gleich sind, muss sich diese Unterstellung auf allgemeine Strukturen des Erlebens als ‚im Bewusstsein für mich sein‘ beziehen. Und dazu müssen mindestens die Sinnesarten, Seinsmodi und Bewusstseinsarten gehören. Wäre dem nicht so, dann wäre eine Verständigung über Phänomene grundsätzlich ausgeschlossen; es gäbe keine hinreichend ähnliche Bedeutungskorrelate. Ein Phänomen ph ist dann nicht nur einfach ein ‚Gegebenes‘ sondern ein Gegebenes e einer bestimmten Sinneserfahrung p, in einem bestimmten Seinsmodus m und in einer bestimmten Bewusstseinsart c (was immer Husserl sich bei diesen verschiedenen Begriffen im Einzelnen gedacht haben mag). Ein Phänomen als Gegebenes wird damit zu einer komplexen Struktur ph = <e,p,m,c>. Nur alle Momente zusammen ergeben eine vollständige Charakteristik dessen was ein Phänomen ist. Lässt man ein Moment aus, dann fehlt ein wesentliches Bestimmungsstück. Während die Momente ‚p,m,c‘ zur ‚Struktur des Bewusstseins‘ gehören, zur ‚Logik des Denkens‘, bildet das Moment ‚e‘ den für die Struktur des Denkens jenen Bereich, in dem  ‚unverfügbare‘ ‚fremde‘ Anteil, das ‚Andere‘,  auftreten können. Etwas, das zwar wahrnehmbar und durch seine ‚Eigenschaften‘ beschreibbar ist, aber eben nicht durch die Struktur des Bewusstseins erzeugt werden kann.

(10) Nach Husserl muss  eine phänomenolgische Analyse innerhalb der Bewusstseinserfahrung dem ‚beständigen Fluss des cogitierenden Seins und Lebens‘ nachgehen (CM2,14). Dies bedeutet, dass man sowohl in jedem Augenblick (Zeitpunkt) eine endliche Menge von Phänomenen ph_i in Ph_(t) haben kann wie auch, dass ein Augenblick in den ’nächsten‘ Augenblick übergehen kann, also von Ph_(t) zu Ph_(t+1).  Unter Voraussetzung solcher ‚anschaulicher Bestände‘ (CM2,14) soll ein Philosoph sich alles ‚ansehen‘, soll es ‚explizierend‘ analysieren, soll es mittels ‚Begriffen‘ und ‚Urteilen‘ beschreiben (CM2,14).

(11) Wenn also der Strom des cogitierenden Seins der ‚Gegenstand‘ der Bewusstseinsanalyse ist einschließlich all der phänomen-inherierenden Eigenschaften, dann wäre dies alles jeweils der intentionale Gegenstand eines ‚Denkstandpunktes‘, der diesem Gegenstand irgendwie ‚gegenüber‘ steht, der einen ‚Blickpunkt‘ konstituiert, von dem aus dieser intentionale Gegenstand so gegeben ist, wie er es ist. Das ‚im Bewusstsein sein‘ stellt sich damit grundlegend als eine Beziehung, Relation dar zwischen dem ‚transzendentalen ego‘ Tego einerseits und  den  anschaulichen Beständen Ph_(*) mit den unterschiedlichen Aktivitäten Ansehen, Explizieren und Beschreiben andererseits,  also etwa TEgo subset Ph_(*) x (ANS x EXPL x BESCHR).

(12) Zusätzlich gilt aber auch, dass die ‚Tätigkeiten‘ des Denkens die Inhalte teilweise verändern, es ist also nicht nur einfach eine Relation, sondern partiell auch eine Abbildung, etwa TEgo : Ph_(*) x (ANS x EXPL x BESCHR) —> Ph_(*), d.h. in einem Augenblick hat das transzendentale ego TEgo als intentionalen Gegenstand eine endliche Folge von Phänomenen –im Grenzfall nur eine Menge Ph_(t)– sowie eine Menge möglicher Denktätigkeiten   ANS x EXPL x BESCHR. Wird mindestens eine dieser Denktätigkeiten angewendet, dann verändert sich die Folge der Phänomene von Ph_(t) zu Ph_(t+1).

(13) Was immer also im einzelnen das transzendentale ego sein mag, es setzt voraus, dass die ‚Betrachtungsebene‘ des TEgo eine andere ist als die Gegenstände von Ansehen, Explizieren und Beschreiben. Man könnte sich auch auf den Standpunkt stellen, dass man sagt, dass das transzendentale Ego letztlich nur die formale Einheit der verschiedenen Denktätigkeiten ist, also etwa TEgo = ANS u EXPL u BSCHR, so dass gelten würde TEgo : Ph_(*) —> Ph_(*) mit den Teilabbildungen ANS: Ph_(*) —> Ph_(*), EXPL: Ph_(*) —> Ph_(*), BSCHR: Ph_(*) —> Ph_(*). Dies würde besagen, dass die intentionalen Inhalte Ph_(*) von einer ‚höher gelegenen Ebene‘ aus auf unterschiedliche Weise ‚verarbeitet‘ werden können und dass die Verarbeitungsergebnisse wiederum intentionale Gegenstände werden können. Ganz allgemein kann man ja offen lassen, ob die Liste der bislang von Husserl genannten Verarbeitungsweisen vollständig ist (Er spricht auf der gleichen Seite auch noch von ‚Wahrnehmen‘, ‚Sich-erinnern‘, ‚eben-noch-im-Bewußtsein-haben‘, ‚Vorerwarten‘, ‚Wünschen‘,’Wollen‘, ‚prädikative Aussage‘,…(CM2,14)). Nennt man die Gesamtheit aller möglichen Verarbeitungsweisen die Denklogik DLOG, dann wäre das transzendentale ego in einer vereinfachenden Interpretation  die Summer all dieser Denklogiken und man könnte auch schreiben DLOG : Ph_(*) —> Ph_(*). So betrachtet könnte es unterschiedliche Sammlungen von Verarbeitungsweisen, also unterschiedliche Denklogiken, geben. Mit Blick auf eine Kommunikation zwischen verschiedenen ‚Bewußtseinen‘ muss man annehmen, dass eine sprachliche Kommunikation voraussetzt, dass die Denklogiken der Beteiligten ‚hinreichend ähnlich‘ sind, andernfalls ist eine Verständigung ausgeschlossen.

(14) Das Bewusstsein stellt sich also bislang dar als ein Übergang von einer Anschauung Ph_(t) zur nächsten Ph_(t+1), und die möglichen Änderungen werden induziert entweder von dem anschaulichen Anteil Ph_(t) selbst oder aber von der Denklogik DLOG der transzendentalen Perspektive, die Abbildungsprozesse in den Fluss der Anschauung induzieren kann. Unter anderem bedeutet dies, dass unser Denken den Gegenstand unseres Denkens beständig verändern kann.

(15) Die ‚kritische‘ Wende vom sogenannten ’natürlichen‘ Denken (mit automatischer Seins-Unterstellung bestimmter Phänomene) soll durch die Epoché herbeigeführt werden, indem  die automatischen Seins-Unterstellungen ‚außer Kraft‘ gesetzt werden (CM2,14f). Entscheidend ist hier der Wechsel des ‚Blickpunktes‘: nicht die intentionalen Gegenstände des Denkens stehen jetzt im Fokus sondern das Denken selbst, das mit den intentionalen  Gegenständen als Gegebenheiten des Bewusstseins Veränderungen vornehmen kann. Insofern die ‚Seinsgeltung‘ bestimmter (empirischer) Phänomene Ph_emp(t) subset Ph_(t) ‚eingeklammert‘ werden soll, bedeutet dies, dass diejenige Leistung des Denkens, die solche Geltung möglich macht –ONT subset DLOG–, als solche ‚identifiziert‘ und ‚aufgehoben‘ werden muss. Dies impliziert aber, dass die Perspektive der verschiedenen Denkaktivitäten DLOG doch noch nicht die ‚letzte‘ Perspektive des transzendentalen Denkens ist, schließlich wird DLOG darin selbst zu einem ‚möglichen Gegenstand‘! Man muss also doch zu der ursprünglichen Unterscheidung zurückkehren und sagen, ja, es gibt einerseits eine Abbildungsbeziehung zwischen DLOG und den anschaulichen Phänomenen DLOG:  Ph_(*) —> Ph_(*), aber es gibt darüberhinaus noch eine weitere Ebene, die des reinen transzendentalen ego, das sowohl die intentionalen Gegenstände des Denkens wie auch das Denken selber zum Gegenstand machen kann, also TEgo: Ph_(*) x DLOG —> Ph_(*) x DLOG. Insbesondere möchte Husserl, dass die ‚Generierung einer ontologischen Geltung‘ [ONT] ‚deaktiviert‘ wird  TEgo: Ph_(*) x DLOG[+ONT] —> Ph_(*) x DLOG[-ONT]. In dieser Interpretation wäre die wesentliche Eigenschaft des ‚kritischen‘ transzendentalen Denkens NICHT die Einklammerung der ontologischen Geltung, sondern der grundsätzliche Perspektivenwechsel vom Fokus intentionaler Gegenstände hin zum Fokus intentionale Gegenstände und zugehörige Denkprozesse. Die Zu- oder Absprechung einer ontologischen Geltung wäre dann nur ein kleiner Aspekt im komplexen Gebäude möglicher Denkaktivitäten. Streng genommen kann man in dieser Interpretation  auch transzendental Philosophieren ohne die Abschaltung der ontologischen Geltung, da ein ’sich selbst bewusstes‘ transzendentales Denken um die Spezifität ontologischer Geltung ‚weiß‘ und nur die Schlüsse zieht, die kontextabhängig ’sinnvoll‘ sind. Die Fixierung von Husserl auf die Abschaltung der ontologischen Geltung erscheint in diesem Kontext nicht nur wie das Verhalten eines überängstlichen Vaters, seiner jungen Tochter der transzendentalen Philosophie nur nicht zu viel zu erlauben, sondern darüber hinaus auch als unglücklich Akzentsetzung. Denn die Forderung, dass sich der Philosoph ‚über die weltlichen Interessen stellt‘ (CM2, 16) kann er primär nur erfüllen, wenn er den grundlegenden Perspektivenwechsel vollzieht. Eine ‚gewusste‘ unterstellte Geltung auszuschalten, bringt in diesem Fall nicht nur keinen zusätzlichen Vorteil, sondern wirft sogar die Frage auf, ob der Philosoph sich dadurch nicht künstlich ‚blind‘ macht. Eine ‚Ausklammerung‘ würde letztlich bedeuten, diese Geltung verschwindet aus dem Horizont; damit würde aber gerade eine wesentliche Eigenschaft des Phänomens abhanden kommen. Das wäre dann das Gegenteil von ‚kritisch‘, nämlich ‚unwissend‘, ’naiv‘ im vollen Sinne.

Zur Fortsetzung siehe CM3, Teil 2

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