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(NOCHMALS) PHÄNOMENOLOGISCHES DENKEN

(1) Der Denkweg von Husserl (1859 – 1938) signalisiert einen Prozess, der zu einzelnen Zeitpunkten eine Fixierung in Form von offiziellen Publikationen erfuhr. Wie die mittlerweile fast vollständige Werkausgabe (Husserliana 1950ff) erkennen lässt, muss man die offiziell publizierten  Werke sehen als ‚gleitende Fixpunkte‘ in einem Strom von begrifflichen Fixierungen und dann auch wieder Modifikationen, Auflösungen, Veränderungen, wie er für ein selbständiges aktives Denken typisch ist.

(2) Vor diesem allgemeinen Hintergrund kann man die Frage stellen, ob es sinnvoll ist, das Werk eines aktiven  Philosophen über seine offiziellen Publikationen hinaus in all seinen Verästelungen zu verfolgen und zu deuten. Sicher mag man im Detail dadurch Präzisierungen vornehmen können, mag man manche schwebende Interpretationen möglicherweise besser auflösen können, zugleich werden sich aber neue Unklarheiten und Fragen einstellen und, nahezu unvermeidlich, wird die in der offiziellen Publikation fixierte Position in Interpretationskontexte gezwungen, die der schreibende Autor mit der offiziellen Publikation gerade hinter sich lassen wollte.

(3) Von einem größeren Zusammenhang her, nämlich dem der umgebenden ‚Kultur‘, stellt sich die Frage ebenso: wenn wir davon ausgehen, dass der Mensch seine biologisch bedingten Verarbeitungskapazitäten bis auf weiteres nicht merklich erweitern kann, dann stellt die gewaltige Vermehrung von Bänden als Teile von uferlosen Werkausgaben eine quantitative Hürde in der möglichen Vermittlung des philosophischen Wissens dar: im akribischen Streben von Herausgebern nach immer ‚Mehr‘ wird es für den möglichen Rezipienten immer schwerer bis unmöglich,   die eigentlichen Inhalte, das philosophische Denken, auffassen zu können. Während man ein Hauptwerk mit ein, zwei Kommentaren vielleicht noch lesen und verarbeiten kann, muss jeder vor 30, 40 und mehr Bänden für einen einzelnen Philosophen schlichtweg kapitulieren. Dazu kommt – theoretisch unbedeutend, praktisch aber sehr bedeutend –, dass die ‚wissenschaftliche‘ Literatur methodisch korrekt bei Zitaten der Werkausgabe folgt. Diese ist aber letztlich nur Spezialisten zugänglich. Welcher normale Mensch kann es sich leisten, nach Bedarf in eine Bibliothek zu gehen, um in eine Werkausgabe Einsicht nehmen zu können, geschweige denn, sich privat Bände aus der Werkausgabe zuzulegen? Aus praktischer Sicht, man muss es klar sagen, sind die modernen Werkausgaben ‚elitär‘ und verhindern eine breitere Rezeption statt sie zu befördern.

(4) Natürlich ist es aus Sicht des einzelnen Denkers, dem es  primär um die Wahrheit geht, und zwar um die möglichst allgemeine und prinzipiell gültige, kein Motiv, die Summe seines Denkens mit Blick auf die umgebende Kultur — oder gar noch mit Blick auf eine mögliche Nachwelt – ‚lesbar‘ und ‚kompakt‘ in möglichst wenige Publikationen zusammen zu fassen, womöglich in ein einziges Buch, sozusagen sein ‚Personal Summary‘. Von der Natur des Denkprozesses her ist es vermutlich auch nur begrenzt möglich, da ja die Erlangung bestimmter Einsichten an einen konkreten Denkprozess gebunden ist, dessen aktive ‚Durchlebung‘ notwendig ist. Zu sagen, man soll einen Denkprozess, der womöglich Monate oder Jahre umfasst, auf wenige Seiten zusammen fassen, klingt im ersten Moment für manche schockierend. Auf der anderen Seite sehen wir im Bereich der Wissenschaften und der Technologie, dass dasjenige was die Zeiten verändert und gestaltet, letztlich die Ergebnisse sind; die Wege zum Ergebnis sind zwar für den einzelnen unumgehbar und wesentlich, sind meistens auch ‚erlebnisstark‘, aber dennoch zählt nachher vor allem die tatsächlich gewonnene Einsicht in einen neuen Zusammenhang. Die Frage einer ‚Zusammenfassung‘ wäre von daher nicht ganz so abwegig, wenngleich vermutlich lebensfremd; ein aktiver Denker denkt nicht in Zusammenfassungen, sondern primär in Prozessen; darin ist er ein ‚Getriebener‘. Von sich aus wird er Zusammenfassungen nur schreiben, insoweit er sie selbst benötigt, um sich immer wieder mal zu vergewissern, welche der bislang gedachten Zusammenhänge denn nun gerade wichtig sein sollen für den weiteren Prozess.  Prozess: ich selbst habe in meinem Leben  bestimmt schon mehr als 50 Notizbücher vollgeschrieben (und gemalt), aber ich kann mich nicht entsinnen,  dass ich jemals nochmals in eines dieser Notizbücher hineingeschaut habe. Z.T. Hab ich sie schon weggeschmissen oder gar verbrannt. Die ‚Leiter‘ ist zwar notwendig, um an einen bestimmten Punkt zu kommen, aber dann, wenn man ihn erreicht hat, wird sie ‚überflüssig‘.

(5) Husserls Philosophie ist charakterisiert als ‚Phänomenologie‘. In der Einleitung zum Husserl-Lexikon (Gander et al. Hrsg, 2010) stellt Gander fest (S.8), dass Husserl den Begriff der Phänomenologie nicht von Hegel übernommen habe sondern von der Psychologie des 19.Jahrhunderts. Diese Feststellung wirft Fragen auf: selbst wenn es so wäre, dass die Psychologie des 19.Jahrhunderts Ansatzpunkte für eine entsprechende Terminologie geboten hatte, so wundert es dennoch, dass der Philosoph Husserl, der sich ja vehement gegen den Vorwurf des ‚Psychologismus‘ zur Wehr gesetzt hat,  ausgerechnet dasjenige philosophische System nicht zur Kenntnis genommen haben soll, das vor ihm den Gedanken der Phänomenologie intensiv und extensiv entwickelt hat, faktisch sogar weit über den Punkt hinaus, den Husserl in seinem eigenen Werk erreicht hat? Dieser Sachverhalt bedarf weiterer Klärung.

(6) Nach Gander (ebd., S.8) zeichnet sich die phänomenologische Methode dadurch aus, dass alle Erkenntnisansprüche durch eine ‚reflexive und vorurteilsfreie‘ Analyse der ‚Gegebenheitsweisen von Gegenständen im Bewusstsein‘ aufgeklärt werden sollen. Dies impliziert, dass ‚Bewusstsein‘ immer schon  ‚Bewusstsein von etwas‘ (‚Intentionalität‘) ist. Damit verlagert sich auch das ‚transzendente‘ Objekt ‚außerhalb des Bewusstseins‘ als ‚Erlebnisimmanenz‘ ‚in‘ das Bewusstsein. Das ‚Andere‘ ist nicht das ‚ganz andere‘ sondern nur ein Anderes, das als Erlebtes anders ist innerhalb des Bewusstseins. Aussagen über ‚transzendente Geltungsansprüche‘ müssen also innerhalb der Reflexion des Bewusstseins entschieden werden. Eine phänomenologische Analyse kann also nur durch Analyse sowohl der vorfindlichen Gegenstände (und ihrer Eigenschaften) wie auch durch die Art und Weise ihres Auftretens innerhalb eines ‚Erkenntnisaktes‘ zu ‚Erkenntnissen‘ kommen. Anders gesagt: durch die Art und Weise, wie sich das Bewusstsein auf vorfindliche Gegenstände beziehen kann. Husserl erhebt mit seiner phänomenologischen Methode den Anspruch, die Philosophie als ’strenge Wissenschaft‘ zu begründen (S.8).

(7) Folgt man Andrea Staiti im gleichen Buch (S.50ff), dann beschreibt die Reduktion auf die Immanenz des Bewusstseins mit der Ausklammerung  (epochä) transzendenter Geltungen nur   den ‚cartesianischen‘ Weg (C.W.) in das phänomenologische Denken. Sie unterscheidet noch den ‚psychologischen‘ Weg (P.W.) sowie den ‚lebensweltlichen‘ Weg (L.W.). Der cartesianische Weg (in Anlehnung an die ‚meditationes de prima philosophia‘ (1641/2) von Descartes) ist der grundlegendste von allen dreien, führte bei Husserl aber zum  Problem des nahezu vollständigen  ‚Verlustes‘ von Welt und Intersubjektivität. Für Husserl bot die phänomenologische Methode für dieses Problem nahezu keinen Ausweg. Seine späteren Versuche über den psychologischen Weg, der seinen Ausgangspunkt bei der ‚Fülle‘ psychologischer Phänomene‘ nimmt, führten letztlich, wollte man sie für die phänomenologische Philosophie nutzbar machen, doch wieder zum cartesianischen Weg, der alle ‚unrechtmäßigen‘ Geltungsansprüche ausklammert. Bleibt noch der lebensweltlich Weg, der in seinen späten unveröffentlichten Schriften als der ‚bessere‘ charakterisiert wird (vgl. Staiti, S.55). Es fehlt aber ein klarer Aufweis, wie ein lebensweltlich orientierter Weg mit der phänomenologischen Methode tatsächlich vereinbar ist.

Fortsetzung 1:

(8) Will man diesen Fragen genauer nachgehen, muss man sich selbst in die Texte Husserls vertiefen. Angesichts der Breite seines Werkes fragt sich dann, wo man ansetzen soll.

(9) Folgt man den Worten der Einleitung in die 2.Auflage  der Cartesianischen Meditationen von Husserl (Husserliana, Bd.1, The Hague: Netherlands, Martinus Nijhoff, 1973), dann sieht Husserl  in der deutschen  Bearbeitung der beiden Pariser Vorträge vom 23. und 25.Februar 1929 gleichsam die Krönung seines Lebenswerkes in der Darstellung der transzendentalen Phänomenologie als ‚universaler Philosophie, die voll ausgebildet alle Ontologien (‚aller‘ apriorischen Wissenschaften) und alle Wissenschaften überhaupt – in letzter Begründung – umspannen würde‘ (ebd., S.XXVIII). Das Manuskript mit dem deutschen Text, das am 17.Mai 1929 nach Straßburg zum Zwecke der Übersetzung (durch Levinas, Pfeiffer) ins Französische übersandt wurde (und der im März 1931 bei Colin in Paris erschien) ist verschollen. Es gibt ein anderes Manuskript, das Husserl selbst Ende 1932 Dorion Cairns (New York) geschenkt hatte, das nach allen Erkenntnissen dem ursprünglichen Manuskript für die französische Übersetzung weitgehend entspricht. Ferner gibt es natürlich Manuskripte im Besitz des Husserl Archivs, die die originalen Texte enthalten (für Details lese man den textkritischen Anhang von Husserliana, Bd.1). Alles in allem kann man sagen, dass die Inhalte der cartesianischen Meditationen in der Textgestalt von Husserliana I in hinreichend klarer Fassung vorliegen. Dieser Text erscheint daher geeignet, einen ersten Einstieg in das philosophische Konzept von Husserl zu bieten. Die späteren Versuche von Husserl, eine erweiterte und vertiefte Fassung der cartesianischen Meditationen für das deutsche Publikum vorzubereiten (mit starker Unterstützung durch Fink),  kamen zu keinem endgültigen Abschluss. Wohl veröffentlichte er noch einen größeren Text (Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Philosophie), doch wurden nur Teil 1+2 veröffentlicht; den dritten Teil hatte er wieder zurückgezogen, um ihn nochmals zu überarbeiten, wozu es durch seinen Tod aber nicht mehr kam).

Fortsetzung siehe HIER