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SPRACHSPIEL und SPRACHLOGIK – Skizze. Teil 1

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 26.-29.Januar 2021
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

KONTEXT

Im vorausgehenden Beitrag Ingenieure und das Glück wird ab dem Abschnitt KOMMUNALE PLANUNG UND BÜRGER? das Problem der Kommunikation zwischen vielen Menschen angesprochen, speziell in dem Kontext, dass diese Menschen — z.B. Bürger einer Kommune — sich auch gemeinsam ein Bild ihrer möglichen Zukunft bzw. ihrer möglichen Zukünfte machen wollen, ist doch Zukunft grundsätzlich unbekannt und der Versuch einer Klärung, welche Ereignisse in der Zukunft planerisch vorweg genommen werden sollten, kann wichtig bis lebenswichtig sein. In diesem Zusammenhang wird das Konzept einer neuen Software [SW] eingeführt, die Menschen bei diesen Kommunikationen und Planungen unterstützend zur Seite stehen soll. Diese Software hat als eine — von mehreren — Besonderheit die, dass sie ausschließlich mit Alltagssprache funktioniert. Dies soll in diesem Text zum Anlass genommen werden, die menschliche Intelligenz am Beispiel von alltäglichen Sprachspielen und der darin waltenden Sprachlogik anhand von Beispielen etwas näher zu betrachten.

ALLTAG UND SPRACHSPIEL(E)

Nimmt man den Begriff Sprachspiel(e) in den Mund, dann ruft dies im modernen philosophischen Denken unweigerlich die Assoziation mit Ludwig Wittgenstein hervor, der im Zeitraum 1936 bis 1946 in Cambridge, in England, dabei war, ein weit verbreitetes Bild vom Funktionieren der Sprache zu zertrümmern. Seine posthum veröffentlichten Philosophischen Untersuchungen [1] sind wie Mahlsteine für jegliches naives Sprachdenken. Aufs Ganze können sie geradezu nihilistisch wirken, da sie zwar alles Gewohnte niederreißen, aber keinerlei Anstalten treffen, zu schauen, wie man denn aus diesem Trümmerfeld einer naiven Sprachauffassung wieder herauskommen kann. Dazu muss man wissen, dass Wittgenstein mit seinem Frühwerk, dem tractatus logico-philosophicus von 1921 [2] selbst dazu beigetragen hatte, unter Voraussetzung des Konzepts der modernen formalen Logik, ein extrem naives Bild von Sprache zu zeichnen. Man darf zumindest die Frage stellen, ob Wittgenstein bei seiner Zertrümmerungsaktion eigentlich weniger die Alltagssprache zertrümmert hat, sondern nur dieses sehr einseitige Bild von Sprache, wie es die moderne formale Logik propagiert.Während die moderne sprach-analytische Philosophie sich in vielfacher Weise abgemüht hat, unter dem Einfluss von Wittgenstein die Alltagssprache neu zu sezieren, hat die moderne formale Logik bis heute in keiner aufweisbaren Weise auf die sprach-kritischen Überlegungen Wittgensteins reagiert.

Anstatt hier jetzt die vielen hundert Artikeln und Bücher in der Nachfolge Wittgensteins zu referieren gehen wir hier zurück auf Start und betrachten verschiedene Alltagssituation, so wie Wittgenstein es getan hat, allerdings mit anderen philosophischen Prämissen als er es tat.

Situation 1: Einfache Alltagssituation mit zwei Personen A und B und einem Tisch.

SITUATION … nach von Uexküll

Über eine Alltagssituation als Situation zu sprechen ist nur so lange trivial, als man nicht darüber nachdenkt.

Im Fall des obigen Bildes fängt es schon mit der Frage an, ob man die Situation von außen, von der Position eines externen Beobachters beschreiben will mit der Fiktion, man könne etwas beobachten ohne Teil der Situation zu sein, oder ob wir uns entscheiden, eine der abgebildeten Personen A oder B als unseren Beobachtungspunkt zu wählen. Ich wähle hier für den Start Person B als unseren Beobachter.

Wie wir spätestens seit von Uexkülls Buch Umwelt und Innenwelt der Tiere, veröffentlicht 1909 [3b], wissen, gibt es für ein biologisches System nicht die Umwelt, sondern nur jene spezifische Umwelt, die diesem biologischen System — hier also A oder B — aufgrund seiner Sensorik, seinen inneren Zuständen, und seiner Handlungsmöglichkeiten zugänglich sind. Aufgrund moderner Messgeräte, anspruchsvoller empirischen Theorien und einem vergleichsweise reich ausgestatteten körperlichen Organismus sind wir als homo sapiens in der Lage, die Fiktion einer objektiven Umwelt aufzubauen, die unabhängig von uns besteht und die weit mehr Eigenschaften umfasst, als wir mit unseren angeborenen Sinnesorganen und Nervenleistungen erfassen können.

Von Uexküll untersucht in seinem Buch sehr viele Lebensformen aus dem Bereich der Wirbellosen, die — verglichen mit einem menschlichen Körper — als ‚einfach‘ oder sogar ’sehr einfach‘ klassifiziert werden könnten. Er betont immer wieder, dass solche Kategorien letztlich am Phänomen vorbeigehen. Entscheidend ist nicht, wie quantitativ komplexer ein Organismus A verglichen mit einem Organismus B ist, sondern ob der Bauplan von z.B. Organismus A zu seiner Umwelt passt. Ein Organismus mag noch so einfach sein — er beschreibt viele schöne Beispiele –, wenn der Organismus mit seiner jeweiligen individuellen Ausstattung (Bauplan) in der jeweiligen Umgebung genügend Nahrung finden kann, sich fortpflanzen kann, dann hat er zunächst mal den Hauptzweck eines biologischen Systems erfüllt. In der Sicht von Uexkülls — die einflussreich war und ist — können also 10 verschiedene biologische Systeme die gleiche äußere Umgebung U teilen und jeder dieser Organismen hat eine komplett anderes inneres Bild B(U)=U* in seinem Inneren und reagiert daher in der Regel anders als einer der anderen Organismen. Für Naturforscher ist es daher immer eine ziemliche Herausforderung, zu ermitteln, was denn die spezifische Umwelt B(U)=U* eines bestimmten Organismus ist.

REALE WELT … als Artefakt

Von der Biologie können wir also lernen, dass die sogenannte reale Welt [RW] aus Sicht eines biologischen System zunächst eine konstruierte Fiktion ist, ein Artefakt des Denkens, ermöglicht durch die neuronalen Aktivitäten im Innern eines Organismus und dass die neuronal kodierte Welt nur so viele Eigenschaften umfasst, wie diese neuronale Kodierung ermöglicht. Anders formuliert: die neuronalen Strukturen fungieren als Repräsentanten von jenen korrespondierenden verursachenden Reizquellen, die von außerhalb des Nervensystems zu neuronalen Erregungsleistungen führen. Die spontan unterstellte Welt da draußen existiert also für den Organismus primär als die Menge der Repräsentationen in unserem Innern (Für eine etwas ausführlichere Erläuterung siehe [8]).

SPRACHLICHE ÄUSSERUNG … Ein Signal von ganz innen

Übernehmen wir diese theoretischen Postulate, dann müssen wir annehmen, dass die Person A nicht weiß, welche inneren Zustände die Person B gerade als ‚die Welt da draußen‘ ansieht, und umgekehrt. Insofern es in der angenommenen Situation aber ein Objekt gibt, das aussieht wie ein Objekt, das wir im Deutschen als Tisch bezeichnen würden, und wir annehmen, dass beide Personen als Menschen über einigermaßen ähnliche Wahrnehmungsstrukturen verfügen und hinreichend viel Deutsch gelernt haben, dann könnte es passieren, dass das Tisch-ähnliche Objekt als Reizquelle genügend korrespondierende neuronale Reizenergie im Innern von Person A aufbaut, die dann möglicherweise die die von A gelernte Bedeutungsfunktion für die Deutsche Sprache aktiviert, die dann wiederum den Sprachapparat aktiviert, was zu der sprachlichen Äußerung führen könnte: Da ist ein Tisch.

Situation 2: Person A macht eine Äußerung über einen Teilaspekt von Situation 1.

Unter den angenommenen Bedingungen besteht dann eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Person B aufgrund der Schallwellen, erzeugt von A, einen Schallreiz empfängt, den B aufgrund seiner gelernten Bedeutungsfunktion des Deutschen mit jenen internen neuronalen Repräsentanten assoziiert, die von dem Tischobjekt durch die visuelle Wahrnehmung erfasst und ins Innere geleitet werden. Falls dies so geschehen würde, dann könnte sich die Person B denken, dass die Person A ein externes Objekt wahrnimmt, das seiner aktuellen Wahrnehmung entspricht. Ansonsten wüsste Person B nicht wirklich, was Person A gerade wahrnimmt bzw. wofür sie sich interessiert.

Dies ist eine — zugegeben — stark vereinfachende Darstellung des Sachverhalts, dass interne Strukturen in uns Menschen uns zu bestimmten Formen von Wahrnehmungen und internen Verarbeitungsprozessen befähigen. Eine etwas ausführlichere Darstellung — wenngleich immer noch vereinfachend — findet sich bei Gage und Baars (2018). [4] Die für unseren Zusammenhang wichtige Botschaft ist allerdings, dass auch wir Menschen keine beliebige Umgebung wahrnehmen und keine beliebigen geistigen Prozesse ausführen können, sondern nur solche, die unser Körperbau und unser zentrales Nervensystem zulassen.

THEORETISCHE ANNAHMEN – Vereinfacht …

Das folgende Schaubild deutet die wirksamen Strukturen an, durch die wir sprachlich kommunizieren.

Schaubild zu internen kognitiven Strukturen. Siehe zusätzlich auch [8].

Es gibt die angenommene reale Welt [RW], in der es einen aktuellen Ort gibt, der für die vorkommenden Organismen eine aktuelle Umwelt [U], eine Situation [S] bildet. Ein wahrnehmender Organismus — hier die Personen A und B — zerlegen diese Situation in jene Grundeinheiten, die sie aufgrund ihrer körperlichen Ausstattung wahrnehmen können. Diese Grundeinheiten werden hier Fakten [F] (eine Kombination von Eigenschaften (Qualitäten), die einen Sachverhalt ergeben) genannt. Während die Phase der Wahrnehmung — das Stattfinden von neuronalen Erregungen als Reizenergie in verschiedenen Verarbeitungsstufen — teilweise bewusst (mit Bewusstsein [BEW]) stattfinden kann, sind die neuronalen Prozesse standardmäßig unbewusst [UBW]. (Das genaue Verhältnis zwischen Bewusstem und Unbewusstem ist bis heute nicht klar bestimmbar. Am Beispiel des Gedächtnisses kann man nur ahnen, dass nahezu alles unbewusst ist, und nur bei Vorliegen von Reizen, werden davon unter bestimmten Bedingungen einige Fragmente bewusst).

Es wird heute davon ausgegangen, dass die Menge des verfügbaren Wissens (hier vereinfacht angenommen als die Menge der möglichen Fakten) zumindest im homo sapiens ergänzt wird um eine zeitlich versetzte Sprachstruktur. Eine Sprachstruktur umfasst sowohl Ausdrücke (Expressions) [E] als auch einen Abbildungsmechanismus [Π], hier auch Bedeutungsfunktion genannt. Der Abbildungsmechanismus ordnet den verfügbaren Ausdrücken E einer Sprache L Wissenselemente F zu und umgekehrt. Dabei ist zu beachten, dass Ausdrücke einer Sprache ein Doppelleben führen: als Ereignis — gesprochen oder geschrieben — sind sie erst einmal Objekte der Wahrnehmung wie alle anderen Objekte auch. Als Objekte, die intern im Einflussbereich einer Bedeutungsfunktion verortet sind, stellt die Bedeutungsfunktion eine Beziehung zu anderen neuronalen Strukturen her; im Grenzfall kann sich ein sprachliches Objekt dadurch sogar auf ein anderes Sprachobjekt beziehen, z.B. Deine Äußerung ‚Da ist ein Tisch‘ trifft zu.

Der Aspekt der zeitlichen Versetzung von Sprache gegenüber allgemeinem Erkennen und Wissen (Kognition) wurde von der Entwicklungspsychologie im Laufe der Jahrzehnte herausgefunden, da das Erlernen von Sprache zeitlich verzögert zur übrigen Entwicklung von Wissen auftritt. Dies erklärt sich daraus, dass die sprachlichen Ausdrücke, die auf Wissen Bezug nehmen, erst dann wirken können, wenn es erste innere Wissensbestände gibt.

Wenn also zwei Personen alt genug sind, dass sie sowohl über Wissen als auch über hinreichend viele gelernte Ausdruckselemente zusammen mit einer Bedeutungsfunktion verfügen, dann kann es zu solchen Sprachereignissen kommen wie jenes, dass Person A äußert Da ist ein Tisch.

Natürlich haben die einschlägigen Disziplinen (wie Psychologie, Sprachpsychologie, Gedächtnispsychologie, Entwicklungspsychologie, Neurolinguistik, Neuropsychologie, usw.) ungeheuer viel mehr Details zu diesem Thema gefunden. Für das grundlegende Verständnis der neuen Software können diese vereinfachenden Annahmen aber vielleicht ausreichen.

SPRACHLICHE FAKTEN

Bevor zum nächsten Aspekt der Veränderung weiter gegangen wird, wird hier noch eine Zwischenreflexion zur besonderen Rolle von Fakten, die sprachliche Ausdrücke sind, eingefügt.

Wenn in Situation 2 Person A die Äußerung Da ist ein Tisch macht, dann hat diese Äußerung einen doppelten Charakter (wie oben schon mal festgestellt): (i) als Äußerung ist sie ein reales Ereignis in der Situation und ist damit ein normales Faktum, so wie der Tisch oder die beiden Personen A und B. (ii) Das Faktum der Äußerung ist aber zugleich auch ein Ausdruck einer Sprache L, die — laut Annahme — A und B beide kennen. D.h. sowohl A und B können aufgrund ihrer erworbenen (= gelernten) Bedeutungsfunktion dieser Sprache L das Faktum der Äußerung mit neuronalen Repräsentationen in ihrem jeweiligen Inneren, als Teil ihres individuellen Weltbildes UA* und UB*, verknüpfen, so dass das Faktum der Äußerung für sie eine Bedeutung bekommt, die sich in diesem Fall auf etwas in der aktuellen Situation bezieht, nämlich auf das Objekt, das beide als Tisch zu bezeichnen gelernt haben.

Ein sprachliches Objekt wie die Äußerung Da ist ein Tisch ist als ein reales Ereignis, ein Faktum, das als solches ’neu‘ ist und als Faktum die bisherige Situation 1 zur neuen Situation 2 ‚verändert‘ — zu Veränderung siehe den nachfolgenden Abschnitt –. Zugleich nimmt die Äußerung Da ist ein Tisch Bezug auf Teilaspekte der aktuellen Situation. Dadurch kann B — falls seine individuelle Welt UB* hinreichend weit mit der individuellen Welt von UA* übereinstimmt — diese Äußerung als eine Botschaft aus dem Innern von A auffassen, die anklingen lässt, was Person A aktuell beschäftigt, und dass Person A etwas wahrnimmt, was er B auch wahrnimmt. Dabei ist zu beachten, dass eine Person keinerlei Zwang hat, alles in Sprache zu fassen, was sie wahrnimmt oder denkt. Innerhalb von konkreten Situationen werden normalerweise nur jene Aspekte (Fakten) der Situation sprachlich thematisiert, die besonders hervorgehoben werden sollen, weil ja ansonsten angenommen wird, dass die konkrete Situation allen Beteiligten gleicherweise zugänglich ist.

Da gesprochene Äußerungen die Eigenschaft haben, nur für die Zeitdauer des Sprechens real in der gemeinsam geteilten realen Situation vorzukommen, und dann nur — vielleicht — als gespeicherte Erinnerung in den Personen, die die gesprochene Äußerung gehört haben, ist die zeitliche Erstreckung von Situation 2 sehr kurz. Sobald der Schall verklungen ist, gibt es wieder nur eine Situation 3, die äußerlich wie Situation 1 aussieht, die aber dennoch anders ist: diese Situation 3 ist eine Folgesituation von Situation 2. Neben diesem zeitlichen Aspekt können sich aber auch die inneren Zustände der beteiligten Personen verändert haben und ’normalerweise‘ haben sie sich verändert.

Situation 3: Nach der Äußerung des gesprochenen Ausdrucks ‚Da ist ein Tisch‘. Äußerlich ähnelt diese Situation 3 der Situation 1, aber sie ist zeitlich später und kann Änderungen in den inneren Zuständen der Beteiligten beinhalten.

Diese inneren Veränderungen können sich z.B. dadurch manifestieren, dass die Person B antworten könnte: Ja, Du hast Recht. Ein Konflikt könnte entstehen, wenn Person B stattdessen sagen würde: Nein, ich sehe keinen Tisch.

Dank der Erfindung von Schrift [7] könnte z.B. Person B sich auch schriftlich notieren, was Person A gesagt hat. Dann gäbe es eine schriftliche Aufzeichnung, die auch dann noch als reales Faktum existieren würde, wenn das Ereignis des Sprechens bzw. dann auch des Schreibens zeitlich vorbei ist. Würden wir die Abkürzungen Fwritten (geschriebenes Faktum) einführen für eine geschriebene Äußerung und Fspoken (gesprochenes Faktum) für eine gesprochene Äußerung, dann könnten wir notieren Fspoken(Da ist ein Tisch) und Fwritten(Da ist ein Tisch). Im gesprochenen Fall dauert das Ereignis nur kurz, im geschriebenen Fall dauert es so lange an, wie das Geschriebene erhalten bleibt.

Hier deutet sich eine weitere Besonderheit sprachlicher Fakten an: (i) gesprochene Fakten Fspoken dauern zwar kurz, aber der Sachverhalt, auf den sie sich aktuell beziehen, kann mit dem Moment des Sprechens korrespondieren. Ein typischer Fall, wo wir sagen könnten: Du hast Recht oder Das stimmt nicht. (ii) Geschriebene Fakten Fwritten können sehr lange andauern, aber das, worauf sie sich beziehen, kann sich zwischenzeitlich geändert haben. Obwohl man ‚zu Beginn‘ der schriftlichen Fixierung vielleicht sagen konnte Das stimmt, wird man irgendwann später vielleicht sagen müssen Das stimmt nicht, etwa wenn es um 12:00 regnet und um 12:15 nicht mehr.

VERÄNDERUNG

Für den weiteren Vorgang nehmen wir an,dass Person A zu Beginn unserer Betrachtungen tatsächlich eine erste schriftliche Fixierung zur Situation 1 vorgenommen hat, die als Faktum Teil der Situation ist und sich auch in einer entsprechenden Beschreibung der Situation manifestiert.

Situation 1*: Wie Situation 1, nur ergänzt um eine schriftliche Aufzeichnung.

Eine Grunderfahrung von uns Menschen ist, dass sich etwas ändern kann. Dies erscheint uns so selbstverständlich, so natürlich, dass wir darüber normalerweise gar nicht nachdenken. Mit den Worten von v.Uexküll im Ohr, kann man sich aber leicht vorstellen, dass es Organismen gibt, deren neuronalen Repräsentationen zwar aktuelle Reize zur Wirkung bringen können (ist das schon Bewusstsein?), die aber nicht in der Lage sind, aktuelle Reize so speichern zu können, dass sie diese bei Bedarf wieder aktivieren und mit anderen gespeicherten oder aktuell wahrgenommenen Reizenergien irgendwie vergleichen können. Für Organismen, die über keine Speicherung (Gedächtnis!) verfügen, gibt es keine Vergangenheit. Anders gesagt, der homo sapiens — wir — verfügt über ausgeklügelte Mechanismen der Speicherung von wahrgenommenen Reizen und zusätzlich über ausgeklügelten neuronalen Prozessen und Strukturen, um diese gespeicherten Reize anzuordnen, in Beziehung zu setzen, zu abstrahieren, zu bündeln und vieles mehr.

Die funktionellen Wirkungen dieser neuronalen Mechanismen werden in der Psychologie, speziell der Gedächtnispsychologie, untersucht und dargestellt. Als Begründer der modernen Gedächtnispsychologie gilt Hermann Ebbinghaus (1850 – 1909), der in jahrelangen Selbstversuchen grundlegende Erkenntnisse über das beobachtbare Funktionieren jener neuronalen Strukturen gewann [5], [5b], die in seinem Gefolge dann von zahllosen Forschern*innen immer weiter verfeinert wurden, und die heute zusätzlich durch neurolinguistische Untersuchungen ergänzt werden.

In diesem Zusammenhang ist die Tatsache wichtig, dass die neuronalen Strukturen des homo sapiens — also unsere — die Reizenergien aus den verschiedenen Sensoren in reizspezifischen Puffern (Buffer) zwischenspeichern, so dass die aktuelle Inhalte der Puffer für einen bestimmten Zeitraum — zwischen 50 bis vielen hundert Millisekunden — bestehen bleiben, um dann mit neuen Reizenergien überschrieben zu werden. Einige dieser Reizenergien aus einem Puffer werden vorher — weitgehend unbewusst — vom Gehirn auf unterschiedliche Weise mit dem bisher gespeicherten Material auf unterschiedliche Weise ‚verarbeitet‘. Eine sehr anschauliche Darstellung dieser Sachverhalte — wenngleich nicht mit den aller neuesten Daten — findet sich in dem Buch von Card, Moran und Newell (1983), die grundlegende Untersuchungen im Bereich Mensch-Maschine Interaktion angestellt und dabei u.a. diese Sachverhalte untersucht haben.[6]( Für neuere Modelle siehe auch [4])

Die entscheidende Erkenntnis aus diesem Komplex der Pufferung von Reizenergie mit partieller anschließender Speicherung besteht darin, dass unser Nervensystem die wahrnehmbare Wirklichkeit — unsere spezielle Umwelt B(U)=U* — letztlich in Zeitscheiben zerlegt, und aus diesen Zeitscheiben Grundeigenschaften (Qualitäten) extrahiert, die in unterschiedlichen Kombinationen dann unsere Fakten über die Umwelt bilden, einschließlich der Differenzierung in Gegenwart und Vergangenheit.

Betrachtet man das Bild von Situation 1 und das Bild von Situation 2, dann werden wir als Betrachter beider Bilder sofort spontan sagen, dass zwischen beiden Situationen eine Veränderung festgestellt werden kann: In Bild zwei gibt es das neue Symbol für eine Äußerung ‚Da ist ein Tisch‘. Die Person B im Bild wird — angenommen sie sei ein ‚normaler‚ Mensch — ebenfalls eine Veränderung wahrnehmen, da sie aktuell, gegenwärtig, jetzt etwas hört, was sie zuvor nicht gehört hat, d.h. in ihrem Gedächtnis der vorausgehenden Zeit (wie lange vorausgehend?) kann sie sich nicht an eine vergleichbare Äußerung ‚erinnern‘. Wäre die Person B schwerhörig oder gar taub, würde sich für Person B aber dennoch nichts ändern, da diesem Fall die persönliche Umwelt BB(U)=UB* von Person B grundsätzlich keine Schallereignisse enthält.

Nimmt man die Bilder von Situation 1 und 2 als Darstellungen der realen Situation S, wie sie von dem jeweiligen Organismus — hier A oder B — als S* wahrgenommen werden, also z.B. BB(S)=SB*, dann könnte die Menge der Ausdrücke der deutschen Sprache zu Situation 1, die eine Beschreibung der Situation 1 darstellen, vielleicht so aussehen (umgesetzt in Situation 1*):

Beschreibung zu S1*:

{Es gibt eine Person A., Es gibt eine Person B.}

Person A empfindet diese Beschreibung als unvollständig und ergänzt die Beschreibung durch die Äußerung: ‚Da ist ein Tisch‘.

Dies ist eine Veränderung in der Beschreibung (!), die aber mit der Situation 1* korrespondiert.

Situation 2*: Neben der schriftlichen Aufzeichnung gibt es jetzt auch eine gesprochene Äußerung.

Wir erhalten:

Beschreibung zu 2*:

{Fwritten(Es gibt eine Person A.), Fwritten(Es gibt eine Person B.) , Fspoken(Da ist ein Tisch.)}

Eine Veränderung drückt sich also dadurch aus, dass man den vorhandenen Ausdrücken einen neuen Ausdruck hinzufügt. Während im Bild Situation 2* die reale Situation sich nicht geändert hat, nur die Intention des Sprechers, mehr zu sagen als bislang, kann sich die Situation 2* ja auch real durch ein neues Ereignis zu Situation 3 ändern, was Sprecher B zu einer neuen Aussage veranlasst.

Situation 3: Ein neues Ereignis führt zur Veränderung der Situation 2*.

Damit ändert sich auch die Beschreibung der Situation 2* zu der Äusserungsmenge:

Beschreibung zu 3:

{Es gibt eine Person A., Es gibt eine Person B. , Unsere Katze ist da.}

Katzen haben die Angewohnheit, dass sie genauso plötzlich auch wieder verschwinden, wie sie gekommen sind.

Situation 4: Die Katze ist wieder weg

Während die Frage der Vollständigkeit einer Beschreibung zu einer realen wahrgenommenen Situation in das Belieben der beteiligten Personen gestellt ist — man kann, man muss aber nicht notwendigerweise etwas sagen –, soll für die Korrektheit einer Beschreibung gelten, dass nichts gesagt werden soll, was nicht auch in der Situation zutrifft. Wenn also die Katze plötzlich wieder verschwunden ist, dann sollte die Beschreibung der Situation S4 entsprechend angepasst werden. Dies bedeutet: Veränderungen können je nach Gegebenheiten entweder (i) durch Hinzufügung einer Aussage angezeigt werden oder (ii) durch Entfernen einer Aussage. Dies führt zu dem Ergebnis:

Beschreibung von S4:

{Es gibt eine Person A., Es gibt eine Person B. }

VERÄNDERUNGSREGELN

Wenn man eine Beschreibung einer aktuellen Situation S vorliegt, dann kann man eine gewünschte oder eine stattgefundenen Veränderung durch folgende Veränderungsregel beschreiben:

Bedingung —> +Eplus -Eminus

  • Die Bedingung beinhaltet eine Menge von Ausdrücken, die in S vorkommen müssen
  • Eplus umfasst Ausdrücke, die zu S hinzugefügt werden sollen
  • Eminus umfasst Ausdrücke, die von S entfernt werden sollen

Beispiele:

(1) {Es gibt eine Person A.} —> {Da ist ein Tisch}, {}

Wenn die Bedingung ‚Es gibt eine Person A.‘ in einer aktuellen Situation S zutrifft, dann soll für die Nachfolgesituation S‘ die Äußerung ‚Da ist ein Tisch‘ hinzugefügt werden. Zum Entfernen wird nichts gesagt.

(2) {Es gibt eine Person A., Es gibt eine Person B.} —> {Unsere Katze ist da.}{}

Wenn die Bedingung ‚Es gibt eine Person A. Es gibt eine Person B.‘ in einer aktuellen Situation S zutrifft, dann soll für die Nachfolgesituation S‘ die Äußerung ‚Unsere Katze ist da‘ hinzugefügt werden. Zum Entfernen wird nichts gesagt.

(3) {Unsere Katze ist da.} —> {}{Unsere Katze ist da.}

Wenn die Bedingung ‚Unsere Katze ist da.‘ in einer aktuellen Situation S zutrifft, dann soll für die Nachfolgesituation S‘ die Äußerung ‚Unsere Katze ist da.‘ entfernt werden. Zum Hinzufügen wird nichts gesagt.

FORTSETZUNG

Im zweiten Teil wird ein konkretes Beispiel mit der Software gezeigt.

QUELLENANGABEN

[1] Ludwig Wittgenstein (1989 – 1951),Entstanden in den Jahren 1936 bis 1946, veröffentlicht 1953, zwei Jahre nach dem Tod des Autors: Philosophische Untersuchungen. Kritisch-genetische Edition. Herausgegeben von Joachim Schulte. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Frankfurt 2001

[2] Ludwig Wittgenstein (1989 – 1951), 1918 fertig, 1921 erste Veröffentlichung, 1992 offizielle kritische Ausgabe: Logisch-philosophische Abhandlung. (Tractatus Logico-Philosophicus), bei Kegan Paul, Trench, Trubner & Co. in London in der Reihe International Library of Psychology, Philosophy and Scientific Method

[3] Jakob Johann Baron von Uexküll (1864 – 1944) : https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_Johann_von_Uexk%C3%BCll (zuletzt: 11.1.2021)

[3b] Jakob von Uexküll, 1909, Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin: J. Springer. (Download: https://ia802708.us.archive.org/13/items/umweltundinnenwe00uexk/umweltundinnenwe00uexk.pdf )(Zuletzt: 26.Jan 2021)

[4] Gage, Nicole M. und Baars, Bernard J., 2018, Fundamentals of Cognitive Neuroscience: A Beginner’s Guide, 2.Aufl., Academic Press – Elsevier, London – Oxford – San Diego – Cambridge (MA), ISBN = {ISBN-10: 0128038136, ISBN-13: 978-0128038130}

[5] Hermann Ebbinghaus (1850 – 1909): Er gilt als Pionier der kognitiv-psychologischen Forschung. Ebbinghaus begründete die experimentelle Gedächtnisforschung mit seinen Arbeiten zur Lern- und Vergessenskurve und bereitete den Weg für die empirische Lehr-, Lern- und Bildungsforschung: https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Ebbinghaus (zuletzt: 27.Jan 2021)

[5b] Hermann ‚Ebbinghaus (1885), Über das Gedächtnis. Leipzig: https://www.deutschestextarchiv.de/book/show/ebbinghaus_gedaechtnis_1885

[6] Stuart K.Card, Thomas P.Moran, Allen Newell [1983], The Psychology of Human-Computer Interaction, Lawrence ERlbaum Associates, Inc.; Mahwah, New Jersey

[7] Zur Entstehung der Schrift, ein erster Ansatz: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Schrift (zuletzt: 28.Jan 2021)

[8] Gerd Doeben-Henisch, (1.Febr.2021), REAL-VIRTUELL. Ein Einschub, https://www.cognitiveagent.org/2021/02/01/real-virtuell-ein-einschub/

DER AUTOR

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MENSCH-MENSCH COMPUTER. Gemeinsam Planen und Lernen. Erste Notizen

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 2.-9.Oktober 2020
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

ÜBERBLICK

Der folgende Text entstand unter dem Eindruck der theoretischen und
praktischen Arbeiten, wie sie in meinem Engineering-Blog bislang dokumentiert
sind. Letztlich geht es darum, das aktuelle Paradigma der Informatik
und der übergreifenden Digitalisierung der Gesellschaft umzudrehen:
statt den Menschen nur als Datenfutter für anonyme Algorithmen zu benutzen,
ihn als digitalen Sklaven zu behandeln, der weitgehend zu einem
rechtlosen Spielball von internationalen Konzernen geworden ist, deren
Interessen weder die Interessen der Benutzer noch derjenigen von demokratischen
Gesellschaften sind, soll wieder der Mensch in das Zentrum
der Betrachtung gerückt werden und die Frage, was können wir tun, um
den Menschen mehr zu befähigen, gemeinsam mit anderen die mögliche
Zukunft besser zu verstehen und vielleicht besser zu gestalten. Der moderne
Mensch begreift sich als Teil der umfassenden Biosphäre auf diesem
Planeten und trägt eine besondere Verantwortung für diese.

Letzte Änderung: 9.Okt.2020

PDF-Dokument

Änderung 9.Okt.2020: Die Rahmenbedingungen von einer gegebenen Situation (hier als Problem) zu einer möglichen zukünftigen Situation (hier als positive Vision) werden etwas genauer analysiert.

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DAS NEUE ALS PROBLEM DER WAHRHEIT – Zwischenbemerkung

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Überblick

Im Spannungsfeld zwischen intelligenten Maschinen und dem Menschen entwickelt sich das Bild vom Menschen in jede Richtung als atemberaubend. Hier eine kurze Werkstattnotiz beim Versuch, dies alles weiter zu denken. Hier der Punkt ’Wahrheit und Neues’.

           II. KONTEXT

Seit einiger Zeit fokussieren sich die Themen bei cagent ja auf die beiden Pole intelligente Maschinen einerseits und Menschenbild andererseits. Beides beeinflusst sich im täglichen Leben gegenseitig.

Während die Position der ’intelligenten Maschinen’ trotz aller methodischen Probleme der aktuellen Künstlichen Intelligenz Forschung – letztlich leicht abgrenzbar und überschaubar ist [(1) Anmerkung: Im Grundsätzlichen, nicht was die schier unübersehbare Fülle der Publikationen betrifft, einschließlich der Software.], erweist sich dasThema Menschenbild als umso differenzierter und komplexer, je mehr man hinschaut.

Das eine Segment des Menschenbildes repräsentieren die neuen empirischen Erkenntnisse innerhalb der Disziplinen Psychologie, Biologie (inklusive Gehirnforschung), Molekularbiologie, und Astrobiologie. Ein anderes Segment repräsentieren die Wissenschaften zum Verhalten des Menschen in historisch-kultureller Sicht. Zur Kultur rechne ich hier auch Formen des Wirtschaftens (Ökonomie), Formen der Technologie, Formen politischer Strukturen, Formen des Rechts, usw.

Sowohl die empirischen Disziplinen haben unser Wissen um den Menschen als Teil des biologischen Lebens explodieren lassen, aber auch die historisch-kulturellen Erkenntnisse. Das Eigenschaftswort atemberaubend’ ist eigentlich noch eine Untertreibung für das Gesamtbild, das sich hier andeutet.

Was bislang aber nicht – noch nicht – stattfindet, das ist eine Verknüpfung der empirischen Erkenntnisse mit den historisch-kulturellen Einsichten. Für diese Trennung gibt es sicher viele Gründe, aber letztlich kann es keine wirkliche Rechtfertigung für diese anhaltende Spaltung des Denkens geben. Das historisch-kulturelle Phänomen mit dem homo sapiens als Kernakteur ist letztlich nur möglich und verstehbar unter Voraussetzung  der empirisch erkannten Strukturen und – das wird mit dem Wort von der ’Koevolution’ bislang nur sehr schwach thematisiert – die im Historisch-Kulturellen auftretenden Phänomene sind nicht nur irgendwie Teile der biologischen Evolution’, sondern sie sind wesentliches Moment an dieser. Von daher erscheint jeder Versuch, von biologischer Evolution zu sprechen, ohne das Historisch-Kulturelle einzubeziehen, im Ansatz als  ein methodischer Fehler.

In einem längeren Artikel für ein deutschlandweites Presseorgan hatte cagent versuchsweise das Verhältnis zwischen dem Konzept der ’Künstlichen Intelligenz’ und dem ’Glauben an Gott’ ausgelotet [(2) Anmerkung: Demnächst auch hier im Blog in einer erweiterten Fassung.]  Der Begriff Glaube an Gott’ ist natürlich vom Ansatz her vieldeutig, vielschichtig, abhängig vom jeweiligen Betrachter, seinem Ort, seiner Zeit. In dem Beitrag hat cagent das Thema ’Glauben an Gott’ am Beispiel der jüdisch-christlichen Überlieferungsbasis, der Bibel, diskutiert [(3) Anmerkung: Beispiele für Übersetzungen sind einmal die deutsche ökumenische Einheitsübersetzung [BB81], die griechische Version des Alten Testamentes bekannt als Septuaginta (LXX) [Rah35], sowie eine Ausgabe in hebräischer Sprache [KKAE66]. Es gibt auch noch die berühmte lateinische Ausgabe bekannt als ’Vulgata’ [Tvv05] (Als online-Ausgabe hier http://www.wilbourhall.org/pdfs/vulgate.pdf).]

Da die Bibel selbst eine Art ’Überlieferungsmonster’ darstellt, das sich aus einer viele Jahrhunderte andauernden mündlichen Überlieferungsphase speist, die dann ca. zwischen -700 und +200 verschriftlicht wurde, um dann weitere Jahrhunderte zu brauchen, um zu fixierten Textsammlungen zu führen [(4) Anmerkung: Siehe dazu z.B. [ZO98].]  konnte die Diskussion natürlich nur exemplarisch geführt werden. Dazu bot sich das erste Buch des alten Testaments an, das als Buch ’Genesis’ bekannt ist. In den ersten 11 Kapiteln trifft der Leser auf eine Textfolge, die offensichtlich vorschriftliche Traditionsquellen verarbeitet haben. Das Besondere an den Stoffen ist ihre globale Sicht: es geht um die Welt als ganze, um die Menschheit, um ein sehr ursprüngliches Verhältnis der Menschen zu einem X genannt ’Gott’, und diese Stoffe finden sich in ganz vielen Kulturen des mittleren Ostens, Afrikas, und Indiens. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird weitere Forschung noch mehr Parallelen in noch vielen anderen Kulturen finden (oder hat sie bereits gefunden; cagent ist kein Spezialist für vergleichende Kulturgeschichte).

Was sich unter dem Strich in all diesen wunderbaren Zeugnissen menschlichen Handelns, Verstehens und Schreibens zeigt, das ist das Ringen des Menschen, seine jeweils aktuelle Sichten der Welt mit all der aufbrechenden Vielfalt des Lebens irgendwie zu versöhnen’. Dies führt zu der angekündigten Zwischenbemerkung.

II. WAHRHEIT UND NEUES

Im Zeitalter der Fake-News kann man den Eindruck gewinnen, dass ein Begriff wie Wahrheit sehr ausgehöhlt wirkt und von daher weder die Rolle von Wahrheit noch die mit der Wahrheit einhergehende Dramatik  überhaupt wahrgenommen,  geschweige denn erkannt wird.

Es gibt viele Gründe in der Gegenwart, warum selbst angestammte Bereiche der Wahrheit wie die empirischen Wissenschaften Erosionserscheinungen aufweisen; von anderen Bereichen ganz zu schweigen. Dennoch können all diese Verformungen und Entartungen nicht gänzlich darüber hinwegtäuschen, dass – selbst wenn traditionelle Wahrheits-Begriffe möglicherweise korrigiert, adjustiert werden müssen (im öffentlichen Bewusstsein) die grundlegenden Sachverhalte der Übereinstimmung unseres virtuellen Denkens mit einer jenseits dieses Denkens unterstellten objektiven Wirklichkeit weiterhin von grundlegender Bedeutung und lebenswichtig sind.

Jenseits aller allgemein philosophischen und speziell wissenschaftsphilosophischen Überlegungen zu Wahrheit’ weiß jeder einzelne, dass er in seinem Alltag nicht weit kommt, wenn das, was er persönlich von der Welt zu wissen glaubt, nicht zutrifft. Nach dem Aufwachen folgen viele, viele Stunden von Verhaltensweisen, die sich beständig dadurch speisen, dass man Wissen über eine Welt hat, die sich in den konkreten Handlungen dann auch bestätigen. Das ist unser primärer, alltäglicher Wahrheitsbegriff: Es verhält sich im Handeln so, wie wir in unserem Denken annehmen.

Zu dieser Alltagserfahrung gehört auch, dass wir uns manchmal irren: wir haben im Kopf einen Termin, der aber z.B. Tage, Zeiten, Orte verwechselt. Wir wollen einen Gegenstand mitnehmen, und er ist nicht dort, wo wir ihn erinnern. Wir fahren einen Weg, und stellen plötzlich fest, wir sind an einem Ort, der nicht wirklich zu unserer Zielvorstellung passt; usw.

Alle diese Irrtumserfahrungen lassen uns aber nicht grundsätzlich an unserer Fähigkeit zweifeln, dass wir ein handlungstaugliches Bild von der Welt haben können. Dieses Bild, sofern es funktioniert, nennen wir wahr.

Von anderen Menschen erfahren wir gelegentlich, dass sie die Orientierung im Alltag verloren haben. Ärzte sagen uns, dass diese Menschen ’krank’ seien, dass ihre Psyche oder/ und ihr Gehirn beschädigt sei. Das haken wir dann ab als mögliche Störungen, die vorkommen können; das tangiert dann aber nicht unbedingt unsere eigene Überzeugung, dass wir Wahrheitsfähig sind.

Hier gibt es nun einen (natürlich gäbe es sehr viele) interessanten Punkt: wenn wir die Wahrheit über die Handlungstauglichkeit definieren, die eine Art von Übereinstimmung zwischen Wissen/ Denken und der erfahrbaren Welt (einschließlich des eigenen Körpers) beinhaltet, wie gehen wir dann mit Neuem um?

Neues’ definiert sich ja gerade dadurch, dass es mit dem bisher Bekannten nichts oder nur wenig zu tun hat. Wirklich ’Neues’ lässt ein Stück Wirklichkeit aufbrechen, das wir so bislang nicht kennen.

Historisch und psychologisch können wir bei uns Menschen eine gewisse Tendenz erkennen, uns eher im Bekannten einzurichten, da dies überschaubar und berechenbar ist. Je mehr Vorteile ein Mensch aus einer bestimmten gegebenen Situation zieht, je mehr Sicherheit er mit ihr verbindet, umso weniger ist der Mensch geneigt, die Situation zu verändern oder sie zu verlassen. Je schlechter es Menschen geht, umso eher sind sie bereit, das Bekannte zu verlassen, denn es kann möglicherweise nur noch besser werden. Aber auch die Wissenschaft kennt solche Beharrungstendenzen. In allen Bereichen findet man eine große Zähigkeit, erworbene Anschauungen über Jahrhunderte zu tradieren, auch wenn schon längst klar ist, dass diese Anschauungen ’vorne und hinten’ nicht so wirklich passen. Im Grunde genommen ist die gesamte Geschichte eine Geschichte des Kampfes zwischen den beharrenden Anschauungen und den Abweichlern’ (politisch, moralisch, religiös, künstlerisch, )

Wenn man sich dann klar macht, dass das biologische Leben (soweit wir es heute verstehen können) im innersten Kern einen Generator für Neues fest eingebaut hat, wenn wir wissen, wie jedes einzelne Lebewesen über Zeugung, Geburt, älter werden, Sterben kontinuierlichen Wandlungsprozessen unterworfen ist; wenn wir wissen, dass die Erde, auf der wir leben, beständig massiven Veränderungen unterliegt, dazu das Sonnensystem, unsere Heimatgalaxie, die Milchstraße, das ganze bekannte Universum, … dann müsste eigentlich klar sein, dass das Neue eigentlich der wichtigste Rohstoff des Wissens und des Handelns und aller kulturellen Systeme sein müsste. Genau das Gegenteil scheint aber bislang der Fall zu sein. Firmen kennen zwar das Problem der Innovation, um am Markt überleben zu können; im militärischen Bereich gibt es einen Innovationsdruck aufgrund unterstellter (oder auch realer) Konkurrenz um die Macht; die Unterhaltungsindustrie kommt nicht ohne Innovationen aus; und dennoch, die offizielle Kultur, die offiziellen Erziehungsprozesse sind nicht auf eine Kultur des Neuen ausgerichtet. Offizielle Literatur verdaut Vergangenheit, Gegenwart und Unmengen an subjektiven Gefühlen, nur in den kulturell eher immer noch geächteten Science- Fiction Werken blitzt Neues auf, Verarbeitung möglicher Zukunft, Auseinandersetzung zwischen Heute und Morgen, Auseinandersetzung zwischen Natur, Technik und Geist.

In einem vorausgehenden Eintrag   hatte cagent über Offenbarung geschrieben, nicht als Kategorie der Religionen, sondern vorab zu allen Religionen als Grundkategorie des menschlichen In-Der-Welt-Seins. Das hier angesprochene Neue ist ein Aspekt dieser grundlegenden Kategorie der Offenbarung als Weise, wie wir Menschen uns in dieser Welt vorfinden. Wir sind in jedem Moment vollständig in jeder Hinsicht einer Wirklichkeit ausgesetzt, die uns in jeder Hinsicht übersteigt in ihren Möglichkeiten. Unser Körper ist Teil dieser vorfindlichen Wirklichkeit und wer kann behaupten, dass wir die 5-10 Billionen (10^12) Zellen eines einzelnen homo-sapiens-Körpers wirklich verstehen? Unser Gehirn ist Teil davon und wer kann schon behaupten, er verstehe sein eigenes Gehirn, geschweige denn sein eigenes Denken? Und dies ist ja nur ein winziger Bruchteil jener Wirklichkeit, in der wir uns vorfinden.

Wer das Neue scheut, ist im realen Leben noch nicht angekommen. Was aus all dem folgt, ist natürlich entsprechend offen. Das mag niemand, es sei denn …

QUELLEN

  • [BB81] Katholisches Bibelwerk and Deutsche Bibelgesellschaft. Die Heilige Schrift. Einheitsübersetzung. Verlag Katholisches Bibelwerk & Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, 1981.
  • [KKAE66] Rudolg Kittel, P. Kahle, A. Alt, and O. Eissfeldt. Biblia Hebraica. Würthembergische Bibelanstalt, Stuttgart, 7.Aufl., 1966.
  • [Rah35] Alfred Rahlfs. Septuaginta. Würthembergische Bibelanstalt, Stuttgart, 9.Aufl., 1935.
  • [Tvv05] Michaele Tvveedale, editor. BIBLIA SACRA JUXTA VULGATAM CLEMENTINAM. Bishops’ Conference of England and Wales, London (UK), Elektronische Ausgabe, 2005.
  • [ZO98] Erich Zenger et.al.. Einleitung in das Alte Testament. W.Kohlhammer, Stuttgart, 3.Aufl., 1998.

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Buch: Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab? – Kapitel 3-neu

VORBEMERKUNG: Der folgende Text ist ein Vorabdruck zu dem Buch Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab?, das im November 2015 erscheinen soll.

Hinter den Augen …

Das eingesperrte Gehirn

Die Antwort auf die Frage, warum Menschen so unterschiedlich wahrnehmen, warum sie dies tun und anderes lassen, liegt irgendwo da im ‚Inneren‘ des Menschen, dort, hinter seinen Augen, hinter seinem Gesicht, das mal lächelt, mal weint, mal zürnt; dort gibt es ‚geheimnisvolle Kräfte‘, die ihn, uns, Dich und mich, dazu bringen uns so zu verhalten, wie wir es erleben.

Wie die moderne Biologie uns in Gestalt der Gehirnforschung lehrt, ist es vor allem das Gehirn, in dem ca. 100 Milliarden einzelne neuronale Zellen miteinander ein Dauergespräch führen, dessen Nebenwirkungen die eine oder andere Handlung ist, die wir vornehmen.

Wenn wir uns auf die moderne Biologie einlassen, auf die Gehirnwissenschaft, erkennen wir sehr schnell, dass das Gehirn, das unser Verhalten bestimmt, selbst keinen Kontakt mit der Welt hat. Es ist im Körper eingeschlossen, quasi abgeschottet, isoliert von der Welt jenseits des Körpers.

Das Gehirn bezieht sein Wissen über die Welt jenseits der Gehirnzellen von einer Art von ‚Mittelsmännern‘, von speziellen Kontaktpersonen, von Übersetzern; dies sind unsere Sinnesorgane (Augen, Ohren, Haut, Geschmackszellen, Gleichgewichtsorgan, die bestimmte Ereignisse aus der Welt jenseits der Gehirnzellen in die ‚Sprache des Gehirns‘ übersetzen.(Anmerkung: Siehe: Sinnesorgan, Sensory Receptor, Sensory System)

Wenn wir sagen, dass wir Musik hören, wunderschöne Klänge, harmonisch oder dissonant, laut oder leise, hoch oder tief, mit unterschiedlichen Klangfarben, dann sind dies für das Gehirn ’neuronale Signale‘, elektrische Potentialänderungen, die man als ‚Signal‘ oder ‚Nicht-Signal‘ interpretieren kann, als ‚An‘ oder ‚Aus‘, oder einfach als ‚1‘ oder ‚0‘, allerdings zusätzlich eingebettet in eine ‚Zeitstruktur‘; innerhalb eines Zeitintervalls können ‚viele‘ Signale auftreten oder ‚wenige‘. Ferner gibt es eine ‚topologische‘ Struktur: das gleiche Signal kann an einem Ort im Gehirn ein ‚Klang‘ bedeuten, an einem anderen Ort eine ‚Bild‘, wieder an einem anderen Ort ein ‚Geschmack‘ oder ….

Was hier am Beispiel des Hörens gesagt wurde, gilt für alle anderen Sinnesorgane gleichermaßen: bestimmte physikalische Umwelteigenschaften werden von einem Sinnesorgan so weit ‚verarbeitet‘, dass am Ende immer alles in die Sprache des Gehirns, in die neuronalen ‚1en‘ und ‚0en‘ so übersetzt wird, so dass diese Signale zeitlich und topologisch geordnet zwischen den 100 Mrd Gehirnzellen hin und her wandern können, um im Gehirn Pflanzen, Tiere, Räume, Objekte und Handlungen jenseits der Gehirnzellen neuronal-binär repräsentieren zu können.

Alles, was in der Welt jenseits des Gehirns existiert (auch die anderen Körperorgane mit ihren Aktivitäten), es wird einheitlich in die neuronal-binäre Sprache des Gehirns übersetzt. Dies ist eine geniale Leistung der Natur(Anmerkung: Dass wir in unserem subjektiven Erleben keine ‚1en‘ und ‚0en‘ wahrnehmen, sondern Töne, Farben, Formen, Geschmäcker usw., das ist das andere ‚Wunder der Natur‘.) (siehe weiter unten.).

Die Welt wird zerschnitten

Diese Transformation der Welt in ‚1en‘ und ‚0en‘ ist aber nicht die einzige Übersetzungsbesonderheit. Wir wissen heute, dass die Sinnesinformationen für eine kurze Zeitspanne (in der Regel deutlich weniger als eine Sekunde) nach Sinnesarten getrennt in einer Art ‚Puffer‘ zwischen gespeichert werden. (Anmerkung: Siehe Sensory Memory) Von dort können sie für weitere Verarbeitungen übernommen werden. Ist die eingestellte Zeitdauer verstrichen, wird der aktuelle Inhalt von neuen Daten überschrieben. Das voreingestellte Zeitfenster (t1,t2) definiert damit, was ‚gleichzeitig‘ ist.

Faktisch wird die sinnlich wahrnehmbare Welt damit in Zeitscheiben ‚zerlegt‘ bzw. ‚zerschnitten‘. Was immer passiert, für das Gehirn existiert die Welt jenseits seiner Neuronen nur in Form von säuberlich getrennten Zeitscheiben. In Diskussionen, ob und wieweit ein Computer das menschliche Gehirn ’nachahmen‘ könnte, wird oft betont, der Computer sei ja ‚diskret‘, ‚binär‘, zerlege alles in 1en und 0en im Gegensatz zum ‚analogen‘ Gehirn. Die empirischen Fakten legen hingegen nahe, auch das Gehirn als eine ‚diskrete Maschine‘ zu betrachten.

Unterscheiden sich die ‚Inhalte‘ von Zeitscheiben, kann dies als Hinweis auf mögliche ‚Veränderungen‘ gedeutet werden.

Beachte: jede Sinnesart hat ihre eigene Zeitscheibe, die dann vom Gehirn zu ’sinnvollen Kombinationen‘ ‚verrechnet‘ werden müssen.

Die Welt wird vereinfacht

Für die Beurteilung, wie das Gehirn die vielen unterschiedlichen Informationen so zusammenfügt, auswertet und neu formt, dass daraus ein ’sinnvolles Verhalten‘ entsteht, reicht es nicht aus, nur die Gehirnzellen selbst zu betrachten, was zum Gegenstandsbereich der Gehirnwissenschaft (Neurowissenschaft) gehört. Vielmehr muss das Wechselverhältnis von Gehirnaktivitäten und Verhaltenseigenschaften simultan betrachtet werden. Dies verlangt nach einer systematischen Kooperation von wissenschaftlicher Verhaltenswissenschaft (Psychologie) und Gehirnwissenschaft unter der Bezeichnung Neuropsychologie. (Anmerkung: Siehe Neuropsychology)

Ein wichtiges theoretisches Konzept, das wir der Neuropsychologie verdanken, ist das Konzept des Gedächtnisses. (Anmerkung: Memory) Mit Gedächtnis wird die generelle Fähigkeit des Gehirns umschrieben, Ereignisse zu verallgemeinern, zu speichern, zu erinnern, und miteinander zu assoziieren.

Ausgehend von den oben erwähnten zeitlich begrenzten Sinnesspeichern unterteilt man das Gedächtnis z.B. nach der Zeitdauer (kurz, mittel, unbegrenzt), in der Ereignisse im Gedächtnis verfügbar sind, und nach der Art ihrer Nutzung. Im Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis kann eine kleine Zahl von Ereignissen im begrenzten Umfang verarbeitet und mit dem Langzeitgedächtnis in begrenztem Umfang ausgetauscht werden (speichern, erinnern). Die Kapazität von sinnespezifischen Kurzzeitspeicher und multimodalem Arbeitsgedächtnis liegt zwischen ca. 4 (im Kurzzeitgedächtnis) bis 9 (im Arbeitsgedächtnis) Gedächtniseinheiten. Dabei ist zu beachten, dass schon im Übergang vom oben erwähnten Sinnesspeichern zum Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis eine starke Informationsreduktion stattfindet; grob von 100% auf etwa 25%.

Nicht alles, was im Kurz- und Arbeitsgedächtnis vorkommt, gelangt automatisch ins Langzeitgedächtnis. Ein wichtiger Faktor, der zum Speichern führt, ist die ‚Verweildauer‘ im Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis, und die ‚Häufigkeit‘ des Auftretens. Ob wir nach einer Speicherung etwas ‚wiederfinden‘ können, hängt ferner davon ab, wie ein Ereignis abgespeichert wurde. Je mehr ein Ereignis sich zu anderen Ereignissen in Beziehung setzen lässt, umso eher wird es erinnert. Völlig neuartige Ereignisse (z.B. die chinesischen Schriftzeichen in der Ordnung eines chinesischen Wörterbuches, wenn man Chinesisch neu lernt) können Wochen oder gar Monate dauern, bis sie so ‚verankert‘ sind, dass sie bei Bedarf ‚mühelos‘ erinnern lassen.

Ein anderer Punkt ist die Abstraktion. Wenn wir über alltägliche Situationen sprechen, dann benutzen wir beständig Allgemeinbegriffe wie ‚Tasse‘, ‚Stuhl‘, ‚Tisch‘, ‚Mensch‘ usw. um über ‚konkrete individuelle Objekte‘ zu sprechen. So nennen wir ein konkretes rotes Etwas auf dem Tisch eine Tasse, ein anderen blaues konkretes Etwas aber auch, obgleich sie Unterschiede aufweisen. Desgleichen nennen wir ein ‚vertikales durchsichtiges Etwas‘ eine Flasche, ein vertikales grünliches Etwas auch; usw.

Unser Gedächtnis besitzt die wunderbare Eigenschaft, alles, was sinnlich wahrgenommen wird, durch einen unbewussten automatischen Abstraktionsprozess in eine abstrakte Struktur, in einen Allgemeinbegriff, in eine ‚Kategorie‘ zu übersetzen. Dies ist extrem effizient. Auf diese Weise kann das Gedächtnis mit einem einzigen Konzept hunderte, tausende, ja letztlich unendlich viele konkrete Objekte klassifizieren, identifizieren und damit weiter arbeiten.

Welt im Tresor

Ohne die Inhalte unseres Gedächtnisses würden wir nur in Augenblicken existieren, ohne vorher und nachher. Alles wäre genau das, wie es gerade erscheint. Nichts hätte eine Bedeutung.

Durch die Möglichkeit des ‚Speicherns‘ von Ereignisse (auch in den abstrakten Formen von Kategorien), und des ‚Erinnerns‘ können wir ‚vergleichen‘, können somit Veränderungen feststellen, können Abfolgen und mögliche Verursachungen erfassen, Regelmäßigkeiten bis hin zu Gesetzmäßigkeiten; ferner können wir Strukturen erfassen.

Eine Besonderheit sticht aber ins Auge: nur ein winziger Teil unseres potentiellen Wissens ist ‚aktuell verfügbar/ bewusst‘; meist weniger als 9 Einheiten! Alles andere ist nicht aktuell verfügbar, ist ’nicht bewusst‘!

Man kann dies so sehen, dass die schier unendliche Menge der bisher von uns wahrgenommenen Ereignisse im Langzeitgedächtnis weggesperrt ist wie in einem großen Tresor. Und tatsächlich, wie bei einem richtigen Tresor brauchen auch wir selbst ein Codewort, um an den Inhalt zu gelangen, und nicht nur ein Codewort, nein, wir benötigen für jeden Inhalt ein eigenes Codewort. Das Codewort für das abstrakte Konzept ‚Flasche‘ ist ein konkretes ‚Flaschenereignis‘ das — hoffentlich — genügend Merkmale aufweist, die als Code für das abstrakte Konzept ‚Flasche‘ dienen können.

Wenn über solch einen auslösenden Merkmalscode ein abstraktes Konzept ‚Flasche‘ aktiviert wird, werden in der Regel aber auch alle jene Konzepte ‚aktiviert‘, die zusammen mit dem Konzept ‚Flasche‘ bislang aufgetreten sind. Wir erinnern dann nicht nur das Konzept ‚Flasche‘, sondern eben auch all diese anderen Ereignisse.

Finden wir keinen passenden Code, oder wir haben zwar einen Code, aber aus irgendwelchen Emotionen heraus haben wir Angst, uns zu erinnern, passiert nichts. Eine Erinnerung findet nicht statt; Blockade, Ladehemmung, ‚blackout‘.

Bewusstsein im Nichtbewusstsein

Im Alltag denken wir nicht ‚über‘ unser Gehirn nach, sondern wir benutzen es direkt. Im Alltag haben wir subjektiv Eindrücke, Erlebnisse, Empfindungen, Gedanken, Vorstellungen, Fantasien. Wir sind ‚in‘ unserem Erleben, wir selbst ‚haben‘ diese Eindrücke. Es sind ‚unsere‘ Erlebnisse‘.

Die Philosophen haben diese Erlebnis- und Erkenntnisweise den Raum unseres ‚Bewusstseins‘ genannt. Sie sprechen davon, dass wir ‚Bewusstsein haben‘, dass uns die Ding ‚bewusst sind‘; sie nennen die Inhalte unseres Bewusstseins ‚Qualia‘ oder ‚Phänomene‘, und sie bezeichnen diese Erkenntnisperspektive den Standpunkt der ‚ersten Person‘ (‚first person view‘) im Vergleich zur Betrachtung von Gegenständen in der Außenwelt, die mehrere Personen gleichzeitig haben können; das nennen sie den Standpunkt der ‚dritten Person‘ (‚third person view‘) (Anmerkung: Ein Philosoph, der dies beschrieben hat, ist Thomas Nagel. Siehe zur Person: Thomas Nagel. Ein Buch von ihm, das hir einschlägig ist: ‚The view from nowhere‘, 1986, New York, Oxford University Press).

Nach den heutigen Erkenntnissen der Neuropsychologie gibt es zwischen dem, was die Philosophen ‚Bewusstsein‘ nennen und dem, was die Neuropsychologen ‚Arbeitsgedächtnis‘ nennen, eine funktionale Korrespondenz. Wenn man daraus schließen kann, dass unser Bewusstsein sozusagen die erlebte ‚Innenperspektive‘ des ‚Arbeitsgedächtnisses‘ ist, dann können wir erahnen, dass das, was uns gerade ‚bewusst‘ ist, nur ein winziger Bruchteil dessen ist, was uns ’nicht bewusst‘ ist. Nicht nur ist der potentiell erinnerbare Inhalt unseres Langzeitgedächtnisses viel größer als das aktuell gewusste, auch die Milliarden von Prozessen in unserem Körper sind nicht bewusst. Ganz zu schweigen von der Welt jenseits unseres Körpers. Unser Bewusstsein gleicht damit einem winzig kleinen Lichtpunkt in einem unfassbar großen Raum von Nicht-Bewusstsein. Die Welt, in der wir bewusst leben, ist fast ein Nichts gegenüber der Welt, die jenseits unseres Bewusstseins existiert; so scheint es.

Außenwelt in der Innenwelt

Der Begriff ‚Außenwelt‘, den wir eben benutzt haben, ist trügerisch. Er gaukelt vor, als ob es da die Außenwelt als ein reales Etwas gibt, über das wir einfach so reden können neben dem Bewusstsein, in dem wir uns befinden können.

Wenn wir die Erkenntnisse der Neuropsychologie ernst nehmen, dann findet die Erkenntnis der ‚Außenwelt‘ ‚in‘ unserem Gehirn statt, von dem wir wissen, dass es ‚in‘ unserem Körper ist und direkt nichts von der Außenwelt weiß.

Für die Philosophen aller Zeiten war dies ein permanentes Problem. Wie kann ich etwas über die ‚Außenwelt‘ wissen, wenn ich mich im Alltag zunächst im Modus des Bewusstseins vorfinde?

Seit dem Erstarken des empirischen Denkens — spätestens seit der Zeit Galileis (Anmerkung: Galilei) — tut sich die Philosophie noch schwerer. Wie vereinbare ich die ‚empirische Welt‘ der experimentellen Wissenschaften mit der ’subjektiven Welt‘ der Philosophen, die auch die Welt jedes Menschen in seinem Alltag ist? Umgekehrt ist es auch ein Problem der empirischen Wissenschaften; für den ’normalen‘ empirischen Wissenschaftler ist seit dem Erstarken der empirischen Wissenschaften die Philosophie obsolet geworden, eine ’no go area‘, etwas, von dem sich der empirische Wissenschaftler fernhält. Dieser Konflikt — Philosophen kritisieren die empirischen Wissenschaften und die empirischen Wissenschaften lehnen die Philosophie ab — ist in dieser Form ein Artefakt der Neuzeit und eine Denkblokade mit verheerenden Folgen.

Die empirischen Wissenschaften gründen auf der Annahme, dass es eine Außenwelt gibt, die man untersuchen kann. Alle Aussagen über die empirische Welt müssen auf solchen Ereignissen beruhen, sich im Rahmen eines beschriebenen ‚Messvorgangs‘ reproduzieren lassen. Ein Messvorgang ist immer ein ‚Vergleich‘ zwischen einem zuvor vereinbarten ‚Standard‘ und einem ‚zu messenden Phänomen‘. Klassische Standards sind ‚das Meter‘, ‚das Kilogramm‘, ‚die Sekunde‘, usw. (Anmerkung: Siehe dazu: Internationales Einheitensystem) Wenn ein zu messendes Phänomen ein Objekt ist, das z.B. im Vergleich mit dem Standard ‚Meter [m]‘ die Länge 3m aufweist, und jeder, der diese Messung wiederholt, kommt zum gleichen Ergebnis, dann wäre dies eine empirische Aussage über dieses Objekt.

Die Einschränkung auf solche Phänomene, die sich mit einem empirischen Messstandard vergleichen lassen und die von allen Menschen, die einen solchen Messvorgang wiederholen, zum gleichen Messergebnis führen, ist eine frei gewählte Entscheidung, die methodisch motiviert ist. Sie stellt sicher, dass man zu einer Phänomenmenge kommt, die allen Menschen(Anmerkung: die über gleiche Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Denkens verfügen. Blinde Menschen, taube Menschen usw. könnten hier Probleme bekommen!“> … in gleicher Weise zugänglich und für diese nachvollziehbar ist. Erkenntnisse, die allen Menschen in gleicher Weise zugänglich und nachprüfbar sind haben einen unbestreitbaren Vorteil. Sie können eine gemeinsame Basis in einer ansonsten komplexen verwirrenden Wirklichkeit bieten.

Die ‚Unabhängigkeit‘ dieser empirischen Messvorgänge hat im Laufe der Geschichte bei vielen den Eindruck vertieft, als ob es die ‚vermessene Welt‘ außerhalb und unabhängig von unserem Bewusstsein als eigenständiges Objekt gibt, und dass die vielen ‚rein subjektiven‘ Empfindungen, Stimmungen, Vorstellungen im Bewusstsein, die sich nicht direkt in der vermessbaren Welt finden, von geringerer Bedeutung sind, unbedeutender ’subjektiver Kram‘, der eine ‚Verunreinigung der Wissenschaft‘ darstellt.

Dies ist ein Trugschluss mit verheerenden Folgen bis in die letzten Winkel unseres Alltags hinein.

Der Trugschluss beginnt dort, wo man übersieht, dass die zu messenden Phänomene auch für den empirischen Wissenschaftler nicht ein Sonderdasein führen, sondern weiterhin nur Phänomene seines Bewusstseins sind, die ihm sein Gehirn aus der Sinneswahrnehmung ‚herausgerechnet‘ hat. Vereinfachend könne man sagen, die Menge aller Phänomene unseres Bewusstseins — nennen wir sie PH — lässt sich aufteilen in die Teilmenge jener Phänomene, auf die sich Messoperationen anwenden lassen, das sind dann die empirischen Phänomene PH_EMP, und jene Phänomene, bei denen dies nicht möglich ist; dies sind dann die nicht-empirischen Phänomene oder ‚rein subjektiven‘ Phänomene PH_NEMP. Die ‚Existenz einer Außenwelt‘ ist dann eine Arbeitshypothese, die zwar schon kleine Kindern lernen, die aber letztlich darauf basiert, dass es Phänomene im Bewusstsein gibt, die andere Eigenschaften haben als die anderen Phänomene.

In diesen Zusammenhang gehört auch das Konzept unseres ‚Körpers‘, der sich mit den empirischen Phänomenen verknüpft.

Der Andere als Reflektor des Selbst

Bislang haben wir im Bereich der Phänomene (zur Erinnerung: dies sind die Inhalte unseres Bewusstseins) unterschieden zwischen den empirischen und den nicht-empirischen Phänomenen. Bei genauerem Hinsehen kann man hier viele weitere Unterscheidungen vornehmen. Uns interessiert hier nur der Unterschied zwischen jenen empirischen Phänomenen, die zu unserem Körper gehören und jenen empirischen Phänomenen, die unserem Körper ähneln, jedoch nicht zu uns, sondern zu jemand ‚anderem‘ gehören.

Die Ähnlichkeit der Körperlichkeit des ‚anderen‘ zu unserer Körperlichkeit bietet einen Ansatzpunkt, eine ‚Vermutung‘ ausbilden zu können, dass ‚in dem Körper des anderen‘ ähnliche innere Ereignisse vorkommen, wie im eigenen Bewusstsein. Wenn wir gegen einen harten Gegenstand stoßen, dabei Schmerz empfinden und eventuell leise aufschreien, dann unterstellen wir, dass ein anderer, wenn er mit seinem Körper gegen einen Gegenstand stößt, ebenfalls Schmerz empfindet. Und so in vielen anderen Ereignissen, in denen der Körper eine Rolle spielt(Anmerkung: Wie wir mittlerweile gelernt haben, gibt es Menschen, die genetisch bedingt keine Schmerzen empfinden, oder die angeboren blind oder taub sind, oder die zu keiner Empathie fähig sind, usw.“> … .

Generalisiert heißt dies, dass wir dazu neigen, beim Auftreten eines Anderen Körpers unser eigenes ‚Innenleben‘ in den Anderen hinein zu deuten, zu projizieren, und auf diese Weise im anderen Körper ‚mehr‘ sehen als nur einen Körper. Würden wir diese Projektionsleistung nicht erbringen, wäre ein menschliches Miteinander nicht möglich. Nur im ‚Übersteigen‘ (‚meta‘) des endlichen Körpers durch eine ‚übergreifende‘ (‚transzendierende‘) Interpretation sind wir in der Lage, den anderen Körper als eine ‚Person‘ zu begreifen, die aus Körper und Seele, aus Physis und Psyche besteht.

Eine solche Interpretation ist nicht logisch zwingend. Würden wir solch eine Interpretation verweigern, dann würden wir im Anderen nur einen leblosen Körper sehen, eine Ansammlung von unstrukturierten Zellen. Was immer der Andere tun würde, nichts von alledem könnte uns zwingen, unsere Interpretation zu verändern. Die ‚personale Wirklichkeit des Anderen‘ lebt wesentlich von unserer Unterstellung, dass er tatsächlich mehr ist als der Körper, den wir sinnlich wahrnehmen können.

Dieses Dilemma zeigt sich sehr schön in dem berühmten ‚Turing Test'(Anmerkung: Turing-Test, den Alan Matthew Turing 1950 vorgeschlagen hatte, um zu testen, wie gut ein Computer einen Menschen imitiere kann. (Anmerkung: Es war in dem Artikel: „Alan Turing: Computing Machinery and Intelligence“, Mind 59, Nr. 236, Oktober 1950, S. 433–460) Da man ja ‚den Geist‘ selbst nicht sehen kann, sondern nur die Auswirkungen des Geistes im Verhalten, kann man in dem Test auch nur das Verhalten eines Menschen neben einem Computer beobachten, eingeschränkt auf schriftliche Fragen und Antworten. (Anmerkung: heute könnte man dies sicher ausdehnen auf gesprochene Fragen und Antworten, eventuell kombiniert mit einem Gesicht oder gar mehr“) Die vielen Versuche mit diesem Test haben deutlich gemacht — was man im Alltag auch ohne diesen Test sehen kann –, dass das beobachtbare Verhalten eines Akteurs niemals ausreicht, um logisch zwingend auf einen ‚echten Geist‘, sprich auf eine ‚echte Person‘ schließen zu können. Daraus folgt nebenbei, dass man — sollte es jemals hinreichend intelligente Maschinen geben — niemals zwingend einen Menschen, nur aufgrund seines Verhaltens, von einer intelligenten Maschine unterscheiden könnte.

Rein praktisch folgt aus alledem, dass wir im Alltag nur dann und solange als Menschen miteinander umgehen können, solange wir uns wechselseitig ‚Menschlichkeit‘ unterstellen, an den ‚Menschen‘ im anderen glauben, und mein Denken und meine Gefühle hinreichend vom Anderen ‚erwidert‘ werden. Passiert dies nicht, dann muss dies noch nicht eine völlige Katastrophe bedeuten, aber auf Dauer benötigen Menschen eine minimale Basis von Gemeinsamkeiten, auf denen sie ihr Verhalten aufbauen können.

Im positiven Fall können Unterschiede zwischen Menschen dazu führen, dass man sich wechselseitig anregt, man durch die Andersartigkeit ‚Neues‘ lernen kann, man sich weiter entwickelt. Im negativen Fall kann es zu Missverständnissen kommen, zu Verletzungen, zu Aggressionen, gar zur wechselseitigen Zerstörung. Zwingend ist keines von beidem.

Fortsetzung mit Kapitel 4 (neu).

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CARTESIANISCHE MEDITATIONEN III, Teil 5

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 18.Dezember 2011
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

ÄNDERUNGEN: Letzte Änderungen Di, 20.Dez.2011, vor 10:15h

(73) Während der Diskurs von CM3 darauf hinaus zu laufen scheint, den Geltungsbereich des transzendentalen ego eher zu ‚beschränken‘, erweckt der Schlußteil von CM2 eher den Eindruck, die Geltung des transzendentalen ego durch Aufspüren von transzendental relevanten Strukturen in Form von Typen, von objektunabhängigen Strukturen zu ‚erweitern‘.

(74) Zu dieser Hypothese passt die Feststellung Husserls, dass der eigentliche Inhalt der Phänomenologie ein ‚ungeheures eingeborenes Apriori‘ sei, das auf ‚Wesenstypen‘ beruht (vgl. CM2,S28,Z5ff). Diese transzendentalen, das ego prägenden, Strukturen nennt er zuvor schon mehrfach  ‚egologische Strukturen‘ (vgl. CM2,S27,Z34). Interessant ist in diesem Kontext auch seine Unterscheidung  zwischen passiver und aktiver Genese. (vgl. CM2,S30)  Denn hier erkennt er implizit an, dass es Erscheinungen gibt, an denen das ego nicht aktiv beteiligt zu sein scheint, wie es das Phänomen  des ‚Verharrens von Überzeugungen anzeigt. Nach unserer Interpretation ist dieses ‚Verharren‘ eine Form des ‚Erinnerns auf Basis des erinnerungsfähigen Unbewusstseins, das dem Zugriff des ego entzogen ist. Das ego kann ‚zuschauen‘. Husserl will es offensichtlich dem ‚ego‘ zuschlagen.
(75) Ergänzend zur passiven Genesis identifiziert Husserl eine ‚höherstufige Genesis‘, durch die mittels  ‚Ich-Akte Geltungsgebilde erwachsen und in eins damit das zentrale Ich spezifische Ich-Eigenheiten … annimmt‘.  (vgl. CM2, S.29, Z23-27) Diese Formulierung erweckt den Eindruck, als ob das Ich ‚aktiv‘ sein kann und mittels konkreter ‚Akte‘ (man assoziiert unfreiwillig den  Körper (=Ich), der mittels der Körperglieder Handlungen (=Akte) vornimmt) den Strom der Ereignisse verändert. Hier stellen sich viele Fragen. Eine betrifft den Begriff des ‚Ich‘, andere die Vorstellungen der ‚Ich-Aktionen‘.
(76) Bislang wurde unterschieden zwischen dem transzendentalen ego als dem transzendentalen Ich und dem ego als konkreter Monade, dem personalen Ich. Diese Aufspaltung resultierte bei Husserl aus der Einbeziehung der allgemeinen Typen mit ihren veränderlichen Objektvielfalten in die ‚Sphäre‘ des transzendentalen ego. Wie zuvor reflektiert, sollte man all jene Momente, die zu ihrem Sein die Erinnerung und über die Erinnerung das Unbewusste einbeziehen, aus der ‚Leistung‘ der transzendentalen Synthese ausklammern, da diese dem transzendentalen ego ‚vorgegeben‘ sind, ohne dass es darauf wirklich Einfluss nehmen kann. Da sich in diesem Anteil des Bewusstseins auch viele Formen (Typen, Wesen) zeigen (die meisten, alle?) finden, kann man die Frage stellen, wie denn diese sich zum transzendentalen ego verhalten. Wie oben schon ausgeführt, sind diese Phänomene so grundverschieden vom transzendentalen ego, dass es aus Sicht dieser Kommentierung keinen Sinn macht, sie dem transzendentalen ego in irgend einer Weise zuzurechnen. Dass all diese konkreten (und allgemeinen) Phänomene mit dem transzendentalen ego ‚korrelieren‘ erscheint nicht als hinreichender Grund, sie ‚in eins‘ zu setzen. Die Einführung des Terminus ‚Ich‘ sowohl für das transzendentale ego wie für die Gesamtheit der Erscheinungen innerhalb der transzendentalen Synthese ist vor diesem Hintergrund verständlich‘, aber sachlich möglicherweise irreführend. Wie oben schon ausgeführt wird das ‚psychologische Ich‘ zwar meistens über die konkreten Phänomene in der Einheit der Synthese eingeführt, quasi als ‚Klammer‘ für all dieses, aber dieser ‚Sammelbegriff‘ ‚personales Ich‘ ist in diesem Kontext nur ein ‚Mengenbegriff‘ für eine Vielzahl von unterschiedlichen Phänomenen, die durch diese Etikettierung nicht wirklich erklärt werden; eher wird damit ein tiefer gehendes Verständnis des tatsächlichen Geschehens verhindert. Eine Formulierung wie ‚Erst durch die Philosophie der Genesis wird das ego als unendlicher Zusammenhang von synthetisch zusammengehörigen Leistungen verständlich, und zwar von konstitutiven…‘ (CM2, S29, Z28-31) legt diese Sicht einer ‚Klammer‘ weiter nahe.

(77) Durch die Etikettierung von transzendentalem ego und konkreter Monade jeweils als Ich (transzendental und personal) wird aber nicht nur die wesenhafte Unterschiedlichkeit verdeckt, sondern mit der Annahme einer ‚aktiven Genesis‘ wird der Eindruck erweckt, als ob dieses ‚Ich‘ sowohl passiv hinnehmen als auch aktiv  handeln kann. Während das transzendentale ego selbst primär als die Struktur des Wissens um das intentionale Wissen (= Selbstbewusstsein, Selbstreflexion)  erscheint, innerhalb dessen all das ‚vorkommt‘, was vorkommt, so ist der Bereich möglicher Aktivitäten beschränkt auf den Strom der Ereignisse, die sich als veränderliche Vielfalt ‚zeigen‘. Diese hat mit dem transzendentalen ego als der allgemeinen Struktur des überhaupt Vorkommens nichts zu tun. Diese veränderliche Vielfalt ereignet sich unter Voraussetzung dieser allgemeinen Struktur ‚innerhalb‘ dieser. In diesem Kontext den Begriff einer ‚Aktion‘ zu definieren induziert Fragen.  Zunächst ist in keiner Weise klar, was man sich überhaupt unter einer Aktion des transzendentalen ego vorstellen kann. Die einzigen Anhaltspunkte für mögliche Aktionen sind die aufscheinenden ‚Veränderungen‘. Die Definition einer transzendentalen Aktion müsste also bei den Veränderungen ansetzen, etwa in dem Sinne, dass man diese Veränderungen auffasst als die ‚Wirkungen‘ der postulierten transzendentalen Aktionen. Beobachtbare Veränderungen sind das ‚Auftreten‘ von etwas und das ‚Verschwinden‘. Auftreten und Verschwinden können nur ‚konkrete Phänomene‘. Anlässlich von konkreten Phänomenen, die auftreten und verschwinden werden zugleich ‚implizite‘ (emergente?) Eigenschaften sichtbar, die ‚allgemeine Eigenschaften‘ betreffen, die über das Konkrete hinausgehen. Da das Auftreten und Verschwinden von konkreten Phänomenen per definitionem nicht dem transzendentalen ego zugerechnet werden können (für das transzendentale ego werden diese einfach ‚passiv‘ sichtbar), bleiben nur die allgemeineren Eigenschaften (Typen,…), die anlässlich der konkreten Eigenschaften aufscheinen. Bleibt also die Frage, ob diese allgemeineren Eigenschaften als ‚Wirkung‘ von einer ‚verborgenen Aktion‘ aufgefasst werden können, deren ‚Verursacher‘ das transzendentale ego ist.

(78) Hält man an dem Verständnis fest, dass das ‚transzendentale ego‘ jene Struktur ist, die sich zeigt, wenn das Bewusstsein sich ’seiner selbst‘ durch die Reflexion ‚bewusst‘ wird, dann ist das transzendentale ego eine Struktur von ‚Bezogenheit‘ von etwas sich Ereignendem als etwas Gewusstem (Etwas als Intendiertem). Diese Struktur von Bezogenheit, dieses Vorkommen als ‚gewusstes Vorkommen‘ ist selbst kein Objekt, es ist eine ‚Beziehung‘, die allerdings ‚qua gewusste Beziehung‘ das darin Vorkommende x in C als ‚Gegenstand‘ hat, der ‚benannt‘ werden könnte. Wenn nun diese ‚bewussten Objekte‘ in der Beziehung eine Doppelnatur von Konkretheit und Allgemeinheit zeigen und man sich fragt, ob das aufscheinende Allgemeine eine ‚Wirkung dieser transzendentalen Struktur‘ sein könnte, und zwar immer wieder und –entsprechend den verschiedenen Typen von Allgemeinheit– unterschiedlich, dann kann man diese Frage streng genommen nur aus dem Vorkommen selbst heraus nicht beantworten. Für das transzendentale ego ‚ereignet‘ sich auch die Allgemeinheit. Die formale Klammer des transzendentalen ego bietet keinerlei ‚Anknüpfungspunkte‘ für irgendwelche ‚Motive‘, ‚Interessen‘ oder was auch immer, was zu einer ‚Aktion‘ im Sinne eines irgendwie gearteten ‚gerichteten Veränderns‘ Anlass bieten könnte. Das transzendentale ego als solches ist wirklich ‚leer‘, wie Husserl es an verschiedenen Stellen selbst formuliert hat. Nur scheint er sich damit nicht zufrieden geben wollen. In dieser Kommentierung wird keinerlei Anknüpfungspunkt dafür gesehen, dass das Auftreten und Verschwinden von allgemeinen Eigenschaften anlässlich des Auftretens und Verschwindens von Konkretem vom transzendentalem ego verursacht sein sollte. Das transzendentale ego wird hier gesehen als die formale Klammer aller Ereignisse als ‚Gewusste‘.

(79) Halten wir also fest: während die Reflexion von CM3 dahin tendiert, die Struktur des transzendentalen ego von der Vielfalt der Erscheinungen ‚innerhalb‘ der transzendentalen Einheit zu ‚trennen‘,  so scheint Husserl dahin zu tendieren, die Vielfalt –zumindest in ihren typischen Strukturen– als eine Leistung dieses transzendentalen ego zu interpretieren. So auch in der Formulierung: ‚Vollziehen wir radikale Selbstbesinnung… jeder für sich auf sein absolutes ego, so sind all das Bildungen der frei-tätigen Ich-Aktivität, eingeordnet in die Stufen der egologischen Konstitutionen [:=  der allgemeine Typen, Formen in den Erscheinungen]…‘. (vgl. CM2, S.30,Z14-19). In dieser seiner Interpretation ‚gewinnt‘ Husserl die ‚logische‘ Möglichkeit, die vielfältigen Beziehungsgeflechte, die im Strom der Ereignisse entstehen, zu großen (wie großen?) Teilen als ‚eigene Sinnesschöpfungen‘ zu interpretieren (vgl. CM2,S29,Z36), um damit –indirekt– den Geltungsanspruch einer transzendentalen Analyse zu erweitern. Wohlgemerkt als ‚logischer Schluss‘ aus diesen seinen speziellen ‚Annahmen‘ aufgrund seiner Weise der Analyse.

(80) Da das, ‚Was‘ in einer Analyse erkannt wird  weitgehend davon abhängt, ‚Wie‘ man analysiert, sollte man sich bei diesen zunehmenden Divergenzen in der Beurteilung nochmals fragen, was denn diese ‚phänomenologische Sicht‘ ist.
(81) Husserl begann seine Kritik an Descartes mit der Einführung der phänomenologischen Reduktion (Epoché). Wie sich im  weiteren Verlaufe zeigte, wurde dieser Aspekt dann erweitert um die generelle intentionale Struktur des Erkennens, durch die Einbeziehung des transzendentalen ego als allgemeinster Klammer allen Erkennens.’Alles, was für mich ist, ist es dank meinem erkennendem Bewusstsein… es ist für mich nur als intentionale Gegenständlichkeit meiner cogitationes…. Wir brauchen dazu keine phänomenologische Reduktion..‘. (vgl. CM2,S.31,Z4-15) Und ‚Alles, was für den Menschen, alles, was für mich ist und gilt, tut das im eigenen Bewusstseinsleben, das in allem Bewußt-haben einer Welt und in allem wissenschaftlichen Leisten bei sich selbst verbleibt. Alle Scheidungen … verlaufen in meiner Bewusstseinsspäre selbst…‘. (vgl. CM2, S31,Z15-21) Diese Formulierungen sind teilweise ‚Metaformulierungen‘ über das reflektierende ego, deren Berechtigungen und Eigenheiten nicht eigentlich von Husserl begründet wurden. Sie zeigen aber rein faktisch, dass das ‚Wissen um sich selbst‘ eine Reflexionsform ist, die in sich selbst keinen Fixpunkt trägt; alles, was gedacht wird, kann ‚als Gedachtes‘ (cogitatum) wiederum ‚weiter reflektiert‘ werden, solange, bis keine Unterscheidungen mehr greifbar werden. D.h. Das ‚Denken als Denken‘ ist jener Beziehungsraum, der für das Denken selbst ein ‚Apriori‘ ist, ‚in dem‘ es sich ‚vorfindet‘ als Denken (als transzendentales ego). Der Terminus ‚Menschen‘, den Husserl benutzt, ist letztlich kein ‚einfaches Gegebenes‘, sondern ein ‚Konstrukt‘ innerhalb des Denkens, das im Prozess des Scheidens und Zusammenfügens jedwede Gegebenheit kombinieren kann. Sofern das Denken in der Konkretheit der Gegebenheiten und deren wahrnehmbaren ‚Veränderungen‘ ’sich zeigt‘, ’sichtbar‘ wird –wie Teilchen in einer Nebelkammer (wobei hier das Denken der Nebel wäre)–, kann es implizit ‚Formen‘ erkennen lassen (Typen…), die der Art des Denkens zueigen sind. Man ist geneigt, diese aufscheinenden ‚Formen‘ ebenfalls der Art des Apriori zuzurechnen, zu dem das Denken selbst gehört; ein Apriori des für das Denken Vorfindlichen. Die aufscheinenden Veränderungen betreffen die Konkretheiten anlässlich des ‚umgebenden Allgemeinen‘. Diese sind dem Denken nicht weniger apriori gegeben wie die Typen oder das Denken selbst, dennoch sind sie ‚anders‘. Wie anders?
(82) Hier kann eine Frage weiter helfen, die Husserl sich selbst stellt, die Frage nach der Objektivität. ‚Dass ich in meinem Bewusstseinsbereich … zu Gewissheiten, ja zu zwingenden Evidenzen komme, das ist verständlich [nicht notwendigerweise!]. Aber wie kann dieses ganz in der Immanenz des Bewusstseinslebens verlaufende Spiel objektive Bedeutung gewinnen?‘ (vgl. CM2,S.31, Z31-36)
(83) Wieder ein Bündel von Annahmen. Zentral ist  die Formulierung ‚objektive Bedeutung‘. Der Terminus ‚Bedeutung‘ ist im Normalfall gebunden an den Kontext von ‚Sprache‘, an die Unterscheidung von ‚Ausdrucksmittel‘ (Sprachlaute, Gesten, Schriftzeichen,….), und dem ‚Anderen‘, das kraft einer ‚gewussten Beziehung‘ zwischen Ausdrucksmittel und dem gewussten Anderen dann der Status einer ‚Bedeutung‘ im Kontext des gewählten Ausdrucksmittels zukommt. Husserl hat sich bislang nicht zu diesen Begriffen bzw. nicht zur Thematik sprachlicher Bedeutung überhaupt geäußert. Ohne diese Vorklärung spricht er jetzt sogar von einer speziell qualifizierten Bedeutung, nämlich von einer ‚objektiven‘ –wohl im vermuteten Gegensatz zu einer ’subjektiven‘– Bedeutung.  Was aber soll dies sein, das ‚Objektive‘? Bislang hat er sich ausschließlich in der Innensicht des Bewusstseins bewegt.  Der Begriff des ‚Objektiven‘ wurde nicht motiviert (genau so wenig wie vorher der Begriff der/des ‚Menschen‘). Wenn nach seinen eigenen Aussagen alles ‚im‘ Bewusstsein ist, wie kann denn überhaupt etwas nicht subjektiv sein, d.h. nicht im Bewusstsein, sondern ‚außerhalb‘ des Bewusstseins? Oder was meint er mit ‚objektiv‘?
(84) An dieser Stelle ist die Frage nach dem ‚Objektiven‘ außerhalb des Bewusstseins nur eine rhetorische Frage von Husserl, um Gelegenheit zu geben, um nochmals umfassender und radikaler  zu sagen, dass jedwede Form von ‚Transzendenz‘ ein ‚immanenter, sich innerhalb des ego konstituierender Seinscharakter ist‘. (vgl. CM2,S32,Z31-33) Verstärkend ‚…ein Außerhalb… ist Unsinn….jeder Unsinn ist ein Modus des Sinnes und hat seine Unsinnigkeit in der Einsehbarkeit‘. (vgl. CM2,S33,Z6f) Oder ‚…damit … wird jede Art Seiendes, reales und ideales, verständlich als eben in dieser Leistung konstituierendes Gebilde der transzendentalen Subjektivität. Diese Art … ist die höchste erdenkliche Form der Rationalität…. ein Idealismus, der nichts weiter ist als in Form systematischer egologischer Wissenschaft konsequent durchgeführte Selbstauslegung.‘ (vgl. CM2, S33, Z19-23, 33-36).

(85) Mit diesen gewaltigen Formulierungen scheint die Frage nach der ‚Objektivität‘ als etwas ‚da draußen‘ vom Tisch zu sein. Doch ist dies nur eine vordergründige Lösung. Die Begriffe ‚objektiv‘, ‚Welt‘, ‚Anderer‘, ‚Mensch‘ usw. gibt es ja. Und dass wir diese Begriffe mit einer Bedeutung von ‚außen‘ verknüpfen ist auch allenthalben feststellbar. Allerdings, mit der Einsicht Husserls, dass letztlich alle Bestimmungen innerhalb des Bewusstseins stattfinden, bedeutet dies, man muss innerhalb (!) des Bewusstsein die Unterscheidung von ‚innen‘ und ‚außen‘ erklären,  als ein ‚Innen‘ und ‚Außen‘ innerhalb des Bewusstseins. Husserl selbst benutzt ja auch den Terminus ‚Transzendenz‘ um damit auf Eigenschaften hinzuweisen, die ‚im‘ Bewusstsein auf ein ‚außerhalb‘ hindeuten.

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