Archiv der Kategorie: Tradition

Worte aufschreiben … sonst nichts …

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 15.November 2021 – 17.Nov 2021, 08:30h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

KONTEXT

In diesem Blog mit seinen geschätzten mehr als 6000 Seiten, die bislang geschrieben worden sind, fand — äußerlich betrachtet — ein einfacher Vorgang stand: es wurden ‚Worte aufgeschrieben‘. … sonst nichts …

Wären wir Maschinen …

Wären wir eine ‚Maschine‘, vielleicht sogar eine ‚intelligente Maschine‘, dann würden die maschinellen Strukturen uns vorgeben, ob wir schreiben, was und wie. Mit ein bisschen ‚künstlicher Intelligenz‘ könnten wir Datenquellen beimischen, ‚Variationen‘ einbauen, mit Satzformen ’spielen‘, und wir könnten vielleicht sogar den einen oder anderen Menschen verblüffen, bei ihm den Eindruck erwecken, hier schreibt ein Mensch.

Menschen brechen das Klischee

Menschen haben allerdings die Besonderheit, dass für sie die Ausdrücke einer Sprache — vornehmlich der ‚Alltagssprache‘ — nie isoliert stehen, sondern eingewoben sind in ein unfassbares Netzwerk von Eindrücken der Außenwelt, des eigenen Körpers, des eigenen ‚Inneren‘, eingebettet in eine Vielzahl von wahrnehmbaren Veränderungen … aber auch darüber hinaus: da das Gehirn sich selbst gegenüber weitgehend unbewusst arbeitet (was nicht gleichzusetzen ist mit ’sinnlos‘), sind die meisten Vorgänge ‚in uns‘ nicht bewusst zugänglich, obwohl sie für uns — soweit wir heute sehen — fundamental zu sein scheinen. Dazu gehört auch die Sprache mit ihrer ‚Bedeutungswolke‘.

Wenn Kinder in die Welt eintauchen …

Wenn Kinder in diese Welt ‚eintauchen‘, wenn sie anfangen, die Luft des Planeten zu atmen, den ‚Rausch ihrer Sinne‘ erleben, ihren eigenen Körper in einer ‚Wolke von Eindrücken‘ erspüren, dann formt das Gehirn aus all diesen Eindrücken, Muster, Abstraktionen, Kategorien als Teil assoziativer Netze, konnotiert mit einer Unzahl von Bedürfnissen und Gefühlen. Dies macht das Gehirn ‚voll automatisch‘, in ‚eigener Regie‘, folgt seiner ‚eingebauten Logik der Wahrscheinlichkeiten‘. So entsteht langsam aber stetig nicht nur ein unfassbares Netzwerk von verbundenen Ereignissen, sondern das Netzwerk wirkt wie ein ‚Bild‘, eine ‚Gesamtschau‘, wie ein ‚Modell‘ dessen ‚was ist‘: das virtuelle Bild einer Welt im Gehirn, die für das Kind, für uns, die ‚primäre Welt‘ ist.

Virtuelle Welt im Gehirn

Die Ausdrücke unserer Alltagssprache beziehen sich in ihrer ‚Bedeutungsdimension‘ ausschließlich auf diese ‚virtuelle Welt des Gehirns‘ als ‚ihrer Welt‘. Und — falls jemand darauf achtet — man kann leicht beobachten, dass die Ausdrücke der Alltagssprache meistens ‚Allgemeinbegriffe‘ sind (‚Haus‘, ‚Stuhl‘, ‚Auto‘, ‚Handy‘, ‚Tasse, …), wohingegen die Gegenstände in unserer realen Umgebung ‚konkret‘ sind, ’speziell‘, ‚einzigartig‘, usw. Wenn ich zu jemandem sage: „Kannst Du mir bitte meine Tasse rüber reichen“, dann kann das Wort (der Ausdruck) ‚Tasse‘ auf tausende verschiedene konkrete Objekte angewendet werden, in der aktuellen Situation aber — falls man über ein aktuelles ‚Situationswissen‘ verfügt — wissen alle Beteiligten, welche der vielen konkreten Gegenstände ‚meine Tasse‘ ist und genau dieses konkrete Objekt wird dann rüber gereicht.

Abstrakt – Konkret

Dies ist eines der vielen Geheimnisse von sprachlicher Bedeutung: die reale Welt um uns herum — die Alltagswelt — zeigt sich uns als eine ‚Meer an konkreten Eigenschaften‘, und unser Gehirn filtert daraus ‚Teilmengen‘ heraus, transformiert diese in einfache (abstrakte) Strukturen, die dann das ‚Baumaterial‘ für mögliche ‚abstrakte virtuelle kognitive ‚Objekte‘ sind. Das tieferliegende ‚Wunder‘ dieses Prozesses ist aber, dass das Gehirn in der Lage ist, zu späteren Zeitpunkten die ’neu erworbenen abstrakten Strukturen (Objekte)‘ auf einer unbewussten Ebene mit aktuellen sinnlichen Eindrücken so zu ‚vergleichen‘, dass es — einigermaßen — entscheiden kann, ob irgendwelche der aktuell sinnlich wahrgenommenen konkreten Strukturen zu irgendwelchen dieser neu erworbenen Strukturen ‚als Beispiel‘ passen! Also, auch wenn wir mittels Sprache immer nur mit Allgemeinbegriffen operieren können (eine geniale Erfindung), kann unser Gehirn jederzeit eine Beziehung des Allgemeinen zum aktuell sinnlich Besonderen herstellen. Es ist halt so ‚gebaut‘.[1]

Dies ist nur die ‚Spitze des Eisbergs‘ vom ‚Wunder des Gehirns‘. Wie man schon ahnen kann, gibt es ja noch die Dimension ‚der anderen Menschen‘ aus Sicht eines einzelnen Menschen.

Gehirn-Kooperationen

Man kann — muss — sich die Frage stellen, wie kann denn ein Gehirn im Körper eines Menschen A mit dem Gehirn im Körper eines Menschen B ‚kooperieren‘? Wie können beide ‚umeinander wissen‘? Wie kann das Gehirn von A, das seine eigene individuelle ‚Lerngeschichte‘ hat, seine ‚Inhalte‘ mit dem Gehirn von B ‚teilen‘?

‚Besoffen‘ vom Alltag mögen diese Fragen im ersten Moment sehr ‚künstlich‘ klingen, ‚unwirklich‘, vielleicht gar sinnlos: Reden wir nicht ständig miteinander? Tun wir denn nicht ständig etwas miteinander? Unterricht in Schulen? Projektarbeit in Firmen? Mannschaftssport? Management eines größeren Unternehmens? …

Der Verweis auf solche ‚Praxis‘ ersetzt aber keine Antwort auf die Frage. Der Alltag deutet nur an, ‚dass‘ wir es irgendwie können, sagt aber nichts darüber, warum und wie wir das können.

Offensichtlich benutzen wir sprachliche Ausdrücke, die wir ‚austauschen‘ (Sprechen, Schreiben, …). Wie oben schon angedeutet wurde, sind Ausdrücke nicht in eins zu setzen mit ihren Bedeutungen. Letztere sind ‚im‘ Sprecher-Hörer‘ lokalisiert, im jeweiligen Gehirn. Die moderne Forschung mit vielen Fachdisziplinen legt nahe, dass es koordinierende‘ Mechanismen gibt, wodurch zwei Gehirne sich für den Bereich der realen Außenwelt einigermaßen verständigen können, welche ‚Aspekte er realen Außenwelt‘ mit welchen Ausdrücken assoziiert werden. Und diese ‚Koordinierung‘ basiert nicht alleine auf den konkreten Aspekten der Außenwelt, sondern wesentlich auch auf jene ‚im Gehirn‘ anhand der Außenweltereignisse prozedural aufgearbeiteten Strukturen. Nur so kann Sprache zugreifen. Die wechselseitige Zustimmung, dass dies konkrete weiße, runde Ding da mit einer inneren Aushöhlung und einem Henkel die ‚Tasse von Gerd‘ ist, setzt also ziemlich viele ‚individuellen Lernprozesse‘ voraus, die sich in hinreichend vielen strukturellen Eigenschaften hinreichend stark ‚ähneln‘. Irrtum inbegriffen.

Fehleranfällige Kommunikation

Das alles erscheint bei näherer Betrachtung alles ’schwindelerregend komplex‘, aber nach vielen Millionen Jahren kontinuierlichen Veränderungen scheint es ‚einigermaßen‘ zu funktionieren. Allerdings weiß jeder aus seinem eigenen Alltag auch wie ‚fragil‘ solche Kommunikation ist. Selbst unter Paaren, die schon viele Jahre, gar Jahrzehnte, zusammen leben, können noch Irrtümer und Missverständnisse auftreten. Umgekehrt weiß jeder, wie aufwendig es ist, aus verschiedenen Menschen ein ‚Team‘ zu formen, das angesichts von komplexen Aufgaben in der Lage ist, sich jederzeit hinreichend gut zu koordinieren. Die hohe Quote an Projektabbrüchen spricht eine eigene Sprache.

Ähnlichkeit als Gefahr

Bei Gruppen, Teams tritt noch ein ganz anderer Aspekt hervor: die partielle ‚Ähnlichkeit‘ der Bedeutungsstrukturen der einzelnen Teammitglieder, die im Laufe der gemeinsamen Arbeit in der Regel weiter zunimmt, vereinfacht zwar die Kommunikation und Abstimmung im Team, sie bietet aber auch eine Gefahr, die umso größer wird, je länger ein Team ‚unter sich‘ ist. Dies hat wiederum damit zu tun, wie unsere Gehirne arbeiten.

Ohne unser bewusstes Zutun sammelt unser Gehirn beständig Eindrücke, verarbeitet sie, und bildet vernetzte abstrakte Einheiten. Dies ist aber nicht alles. Dieser sehr aufwendige Prozess hat den Nebeneffekt, dass die ‚aktuellen‘ sinnlichen Eindrücke mit dem, was ‚bisher Bekannt geworden ist‘ kontinuierlich ‚abgeglichen‘ wird. Das berühmte Glas, das ‚halbvoll‘ oder ‚halbleer‘ erscheinen kann, ist keine Fata Morgana. Dieses Beispiel demonstriert — wenn auch vereinfacht –, dass und wie unser Gehirn seine ‚gespeichertes Wissen‘ (Alt) mit den ‚aktuellen Eindrücken‘ (Neu) ‚abgleicht‘. Je mehr ein Gehirn weiß, um so größer die Wahrscheinlichkeit, dass es ’nichts Neues‘ mehr gibt, weil alles ’scheinbar Neue‘ mit dem ‚Alten‘ ‚erklärt‘ werden kann. [3] Dies — zur Erinnerung — immer auch mit Bedürfnissen, Emotionen und sonstigen Gefühlen/ Stimmungen ‚konnotiert‘.[2]

Tendenz zur ‚Verfestigung‘

Zwar gibt es viele Verhaltenseigenschaften und Strategien, mit denen man dieser Tendenz des Gehirns zur ‚Verfestigung‘ gegensteuern kann, aber sowohl die Geschichte wie die Gegenwart zeigen, dass es immer starke Strömungen gab und gibt, die auf dieser ‚Selbstabschließung‘ des Gehirns basieren (so eine Art ‚mentales locked-in Syndrom‘).

Da es für ein Gehirn (und damit für eine Person) ‚leichter‘ und ‚bequemer‘ ist, das Bild von der Welt — mit all den daran geknüpften Verhaltensgewohnheiten — ‚konstant‘ zu halten, ‚einfach‘, tendieren die meisten Menschen dazu, sich vorzugsweise mit solchen Menschen zu treffen, die ihnen ähnlich sind; solche Meinungen zu teilen, die die eigene Meinung verstärken; das zu tun, was die Mehrheit tut; und vieles dergleichen.

Wenn einzelne Menschen, ganze Gruppen ihr Leben so gestalten, dass sie ‚Neues‘ eher — oder sogar ‚grundsätzlich‘! — ausblenden, verurteilen, ‚verdammen‘, dann reduzieren sie ihr eigenes Potential um grundlegend wichtige Eigenschaften für eine nachhaltige Zukunft: Vielfalt, Diversität, Kreativität, Neugierde, Experimente, Alternativen. Die Biosphäre heute — und damit uns — gibt es nur, weil diese grundlegenden Eigenschaften über 3.5 Milliarden Jahre stärker waren als die reduktiven Tendenzen.

Sprache als System

Betrachtet man die Sprache von einem ‚übergeordneten‘ Standpunkt aus z.B. als ein System ‚als solches‘, dann sind die einzelnen Sprecher-Hörer individuelle Akteure, die von der Sprache individuell ‚Gebrauch machen‘. Ein Akteur kann dann Sprache lernen, weil er/sie/x die Sprache vorfindet, und der Akteur wird einen Teil der ‚möglichen Bedeutungszuordnungen‘ ‚lernen‘. Je nach Lerngeschichte können dann die verschiedenen individuellen Bedeutungsräume sich mehr oder weniger ‚überlappen‘. In dieser Perspektive ist dann klar, dass ein einzelner Akteur nicht die Sprache als solche verändern kann, es sei denn, er/sie/x ist sehr ‚prominent‘ und einzelne seiner Formulierungen werden von einer großen Teilpopulation übernommen. Entsprechend können sich in Teilpopulationen ‚Sprachmoden’/ ‚Sprachtrends‘ ausbilden, die dann zumindest partiell für eine bestimmte Zeit ‚Teil der Sprache‘ werden können.

Diese ‚Eigenwirklichkeit‘ von Sprache hat verschiedene Nebeneffekte. Einer verbindet sich mit erstellten Texten, Textsammlungen, die als Texte den individuellen Autor übersteigen/ überdauern können. Selbst wenn ein Text so alt ist, dass ein potentieller Leser aus der Gegenwart die ‚Bedeutungswelt des Autors‘ kaum oder gar nicht kennt, können Texte ‚Wirkung‘ entfalten. So zeigt z.B. die Interpretation des Buches, das allgemein als ‚Bibel‘ bezeichnet wird, im Laufe von ca. 2000 Jahren eine große Vielfalt und Breite mit offensichtlich z.T. gänzlich konträren Positionen, die selbst ca. 2000 Jahre später noch Wirkungen bei Menschen zeigen.

Tradition ist ambivalent

Dies bedeutet, nicht nur das einzelne Gehirn kann zur Ausbildung von bestimmten ‚Bildern von der Welt‘ kommen, die es mit anderen ‚Gleichgesinnten‘ teilen kann, sondern die konservierten Texte können solche Weltbilder über Jahrhunderte wenn nicht gar Jahrtausende hinweg ‚transportieren‘. Dies kann im Einzelfall konstruktiv sein, es kann aber auch ‚destruktiv‘ sein, wenn alte Weltbilder den Aufbau neuer Weltbilder in einer sich verändernden Welt verhindern.

Wunder des Schreibens

Nach diesen — keinesfalls vollständigen — Hinweisen auf sehr viele eher ‚technische‘ Aspekte von Sprache/ Sprechen/ Schreiben hier doch auch für einen Moment ein paar Worte zum ‚Wunder des Schreibens‘ selbst.

Wenn ich also Worte aufschreibe, jetzt, dann gibt es eigentlich keine bestimmte ‚Regel‘, nach der ich schreibe, kein klar definiertes ‚Ziel‘ (wie sollte solch eine Zielbeschreibung aussehen?), keine …. es ist ziemlich hoffnungslos hier eine endliche Liste von klar definierten Kriterien zu formulieren. Ich selbst bin ‚mir‘ ‚undurchsichtig‘ … ein Nebeneffekt der Tatsache, dass nahezu alles ‚in mir‘ im Jetzt ‚unbewusst‘ ist… Zu keinem Zeitpunkt weiß ich (= ist mir explizit bewusst), was ich ‚tatsächlich weiß‘. Wie denn? Unser Gedächtnis ist eine unfassbar große Sammlungen von dynamischen Strukturen, die entweder nur bei expliziten Aufgaben ‚reagieren‘ (aber nicht zuverlässig), oder aber ein gedanklicher Prozesse in mir läuft unbewusst ab und dieser tritt zu einem bestimmten Zeitpunkt an die ‚Oberfläche‘ indem ich Worte wie diese aufschreibe. Bevor ich diese Worte aufschreibe, weiß ich nicht, was ich aufschreibe. Ich kann dieses Aufschreiben auch nicht planen.’Es‘ denkt in mir, ‚es‘ schreibt… dieses ‚Es‘ ist aber nur scheinbar etwas ‚Fremdes‘; es ist Teil von mir, ich fühle mich damit verbunden, ich bin es, …. die Zuordnung von sprachlichen Ausdrücken zu ‚inneren Vorgängen‘ ist prinzipiell schwierig und ungenau. Ich selbst bin ein ganzer Kosmos von unterschiedlichen Dingen, weitgehend unbewusst, fokussiert in meinem Körper ….

Wir wissen, dass wir sehr viele Abläufe explizit, Schritt für Schritt, so trainieren können, dass sie zu scheinbar ‚automatisch ablaufenden Prozessen‘ werden. Die eigentliche Dynamik ‚dahinter‘ ist aber etwas ganz anderes. Sie bedient sich der vielen Gegebenheiten ’nach Belieben’… sie ‚ereignet sich‘ und ‚im Ereignen‘ ist sie ‚real‘ und darin partiell fassbar …. Menschen sind in ihrem ‚Inneren‘ der totale ‚Anti-Gegenstand‘. Ich kenne kein einziges Bild, keine einzige Metapher, kein irgendwie bekanntes Muster/ Schema, keine bekannte Formel, die dieser un-realen Realität irgendwie nahe kommt … [4],[5]

In diesem Konzert, ab ca. Minute 41, der Song ‚Wind of Change‘ daran erinnernd, dass es auch in Moskau einmal geschah, wenngleich die Ängste der Mächtigen wieder mal stärker waren als die Kraft der Zukunft, die in jedem Menschen anwesend ist …

ANMERKUNGEN

[1] Die Formulierung ‚ist halt so gebaut‘ ist eine ‚Abkürzung‘ für die komplexen Erkenntnisse der Evolutionsbiologie, dass sich das Gehirn des Menschen als Teil des ganzen Körpers mit diesem Körper über nicht nur Millionen, sondern hunderte von Millionen Jahre schrittweise ‚entwickelt‘ hat. Der Begriff ‚entwickelt‘ ist eine weitere Abkürzung für einen komplexen Mechanismus, durch den sich biologische Populationen aus einem Zustand zum Zeitpunkt T in einen ‚anderen Zustand‘ zu einem späteren Zeitpunkt T ‚verändern‘ können. Ob solche Veränderungen nun in irgendeinem Sinne ‚gut‘ oder ’schlecht‘ sind, entscheidet sich in erster Linie an der Frage, ob die Population zum späteren Zeitpunkt T+ noch ‚existiert‘. Die Fähigkeit ’nachhaltig zu existieren‘ ist primär eine ‚Leistungseigenschaft‘: in einer sich ständig veränderten Welt — nicht zuletzt auch deswegen, weil sich die Biosphäre selbst kontinuierlich weiter entwickelt — können nur jene Populationen überleben, die den Anforderungen einer solchen komplexen dynamischen Umwelt gerecht werden

[2] Die Psychologie kennt zahllose Beispiele, wie eigentlich ‚zufällige Ereignisse‘, in denen Menschen entweder etwas ‚Schönes‘, ‚Positives‘ erlebt haben oder umgekehrt etwas ‚Ungutes‘, ‚Trauriges‘, ‚Schreckliches‘, dass sich dann die Gefühle an konkrete Dinge/ Handlungen/ Situationen ‚anheften‘ können, und dann zukünftig die Wahrnehmung, das Verstehen und das Verhalten beeinflussen.

[3] Leute die ‚bewusst anders‘ sein wollen als ‚alle anderen‘ denken oft, sie wären damit ‚besonders‘. Das stimmt, sie sind ‚besonders‘ weil sie ‚für sich‘ sind. Vielfalt im Sinne der Nachhaltigkeit heißt aber nicht, individuell ‚für sich sein‘, sondern individuelle in einem Verbund leben, in dem man seine ‚Besonderheit‘ — so man eine hat! — im Kontext mit anderen so einbringt, dass sie auf die anderen real einwirken kann und umgekehrt. Dieses Interaktionsgeschehen realisiert einen Prozess mit ‚Zustandsfolgen‘, die so sein sollten, das nach einer gewissen Zeit möglichst alle ‚dazu gelernt haben‘. … was allerdings nicht ‚erzwingbar‘ ist … Menschen sind in einem unfassbar radikalen Sinne ‚frei‘ …

[4] Die ‚Beschreibbarkeit‘ eines Phänomens hängt generell von der Frage ab, welche Ausdrücke einer Sprache verfügbar sind, um sich auf Gegenstände, Sachverhalte, Ereignisse der Alltagswelt oder auf ‚innere Zustände‘ eines Menschen beziehen zu lassen. Hier lassen sich leicht Beispiele finden von ‚einfachen Beschreibungen von beobachtbaren Gegenständen‘ („Die Ampel da vorne ist auf Rot“) bis hin zu Asdrücken, wo man nicht mehr so richtig weiß, was gemeint sein kann („Die Demokratie ist gefährdet“; „Mein Gefühl sagt mir, dass dies nicht geht“; „Ich denke“… ).

[5] Ein Beispiel zur Frage der Zuschreibung des Ausdrucks ‚Geist‘ zum Phänomen unseres ‚Inneren‘, sofern es ‚erfahrbar‘ ist, kann das Buch von Friedhelm Decher sein „Handbuch der Philosophie des Geistes„, das ich in vier einzelnen Posts diskutiere: (i) https://www.cognitiveagent.org/2015/12/28/decher-handbuch-philosophie-des-geistes-einleitung-diskurs/, (ii) https://www.cognitiveagent.org/2016/01/05/decher-handbuch-philosophie-des-geistes-vorsokratiker-diskurs-teil-2/, (iii) https://www.cognitiveagent.org/2016/01/18/decher-handbuch-philosophie-des-geistes-platon-diskurs-teil-3/, (iv) https://www.cognitiveagent.org/2016/01/25/decher-handbuch-philosophie-des-geistes-aristoteles-diskurs-teil-4/.

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

DENKEN: FLUCH UND SEGEN – DENKSCHEMATA– SOZIALE DIKTATUREN – KASERNIERUNG DES LEBENS

DENKEN VIELSCHILLERND

  1. Wer sich auf diesen Blog einlässt (siehe z.B. die Themenüberblicke von Autor cagent oder von der Philosophiewerkstatt), der kann sehen, wie vielfältig Denken sein kann (obwohl auch dieser Blog nur ein winziger Ausschnitt aus dem Denkbaren ist), und ein solcher Sucher wird viele Einträge finden, in deren Überschrift das Wort Denken vorkommt.

RAUM DES DENKENS

  1. Im Raum des Denkens steigen Gedanken auf wie Gasbläschen in einer Flüssigkeit; irgendwie sind sie da, werden sichtbar, erstaunen, verwundern, erschrecken, machen erregt, beängstigen; vielleicht kann man abschalten, vielleicht kann man sich still stellen, abblocken, sich verweigern, das innere Auge schließen. Dann wird es ruhig, still. Eine trügerische Ruhe, eine tödliche Stille, eine Dunkelheit, die verdorren lässt. Macht man nicht zu, schaltet man nicht ab, lässt man es geschehen, entstehen Bilder, Szenarien, Ereignisketten, Strukturen, die die Dinge des Alltags möglicherweise in ein anderes Licht tauchen können; die die Gegenwart von einer Vergangenheit her beleuchten (oder umgekehrt); Bilder in denen mögliche Alternativen sichtbar werden zum Hier und Jetzt… Die Ruhe ist dann dahin. Das Gegebene ist nicht mehr einfach selbsterklärend, selbstverständlich.

PHILOSOPHIE ALS ROTER FADEN

  1. In Hegels Phänomenologie beginnt das Denken die aktuelle sinnliche Erfahrung zu befragen, zu hinterfragen, das konkrete Hier und Jetzt auf ein Allgemeineres hin zu befragen; immer mehr Strukturen zu entdecken und damit einen Raum aufzuspannen, der weiter, tiefer, lebendiger, dynamischer ist als alles, was das Auge uns so jeden Moment liefert. Alle Philosophen vor und nach Hegel haben das Gleiche erlebt und in ihrem Denken und Sprechen-Schreiben versucht fest zu halten. Dass sie sich im Detail unterscheiden und zugleich in den Strukturen gleichen enthält den Hauch von Wahrheit, die in allem anwesend ist, untötbar, unzerstörbar, allem Denken voraus, alles Denken begleitend und darin auch unsere einzige Zukunft im Denken…

DENKSCHABLONEN

  1. Was passiert, wenn ein Islamist einen anderen Menschen als Nicht-Menschen erklärt, ihm Gewalt antut, ihn tötet? Was geschieht, wenn ein jüdischer Orthodoxer einem anderen jüdischen Bürger das Recht abspricht, in Israel außerhalb der religiösen Institutionen zu heiraten? Was geschieht, wenn ein fundamentalistischer Christ den Worten der Bibel nur eine einzige Bedeutung zugesteht, eben seine eigene, aktuelle, unter Absehung all der anderen bisherigen und sonstigen möglichen Bedeutungen? Was geschieht wenn russische Propaganda über Medien Sachverhalte behaupten, die so nicht stattgefunden haben? Was geschieht, wenn eine US-Regierung die internationale Gemeinschaft mit gefälschten Beweisen in einen Krieg lockte, der bislang unendliches Leid hervor gebracht hat, ohne Sicht auf Besserung? Was geschieht, wenn ein Arzt die Symptome eines Körpers falsch deutet? Was geschieht, wenn internationale Autokonzerne Autos als umweltfreundliche deklarieren und Millionen von Autobesitzern hochgiftige Abgase in die Luft blasen, weil sie falsche Informationen haben? Was geschieht, wenn Heerscharen von Lobbyisten täglich Mitglieder von Parlamenten und Regierungen belagern, um ihnen ihre spezielle Sicht der Welt zu vermitteln? Was geschieht, wenn die Hochschullehrer und Forscher nicht das erforschen können, was sie als wichtig erkannt haben, weil es Forschungsgelder nur von Förderprogrammen gibt, in denen Interessenvertretern forschungsfremde Vorgaben machen? Was geschieht mit Menschen, wenn sie ihr ganzes Leben immer nur trainiert werden, immer und überall Feinde zu sehen … und diesen Menschen immer mehr Macht gegeben wird? ….

ORT DS DENKENS

  1. Ja, Menschen können die Welt, ihren Alltag, andere Menschen in vielerlei Weise betrachten, einschätzen, bewerten, mit ihnen umgehen. Und ja, der Ursprung dieser verschiedener Sehweisen liegt in ihrem Denken, das im Körper stattfindet, im Gehirn. Und ja, dieses Gehirn ist beeinflussbar, in jedem Moment, von jedem Ereignis: jedes Ereignis hinterlässt eine Spur von Veränderung im Gehirn. Liebevolle Situationen versammeln sich genauso wie Gewalt, Schönes wie Schreckliches; Worte verfangen sich im Gehirn mit den Situationen ihres Auftretens; das gleiche Wort ‚Hi‘ kann freundlich sein, ängstlich, aggressiv, gefährlich. Was auch immer, es tritt ein in uns, in unser Gehirn, in die Maschinerie unsres Denkens und färbt uns. Und wenn wir handeln wollen, dann handeln wir auf der Basis unseres Gehirns: sind wir angefüllt mit Freundlichkeiten, sehen wir die Welt, den anderen, freundlich, hoffnungsvoll, einladend. Wurden wir vollgepumpt mit Gewalt, Betrug, Krieg, Hass, dann überlagert dies alles andere, füllt uns aus, treibt uns an; dann können wir immer weniger Freunde sehen, dafür immer mehr Feinde.

UMGEBUNGEN KÖNNEN KONSERVIEREN – UND ZERSTÖREN

  1. Die Bilder in unserem Kopf – sie sind weitgehend zufällig angeregt von der Umgebung, in der wir leben. Wenn man in Umgebungen lebt, die gleichförmig sind, die sich gegenseitig bestärken, dann kann man dies positiv sehen als Wahrung der Tradition. Doch wir wissen, dass Traditionen wie stehende Gewässer sind: sie stehen still, bewegen sich nicht mehr, verrotten, ihre Bilder werden im Laufe der Zeit schal und falsch; in einer Tradition können falsche Bilder lange leben, können falsche Bilder viel Unheil anrichten, ohne gestört zu werden. Das Leben selbst, das biologische, ist anders, ist explosiv, ist risikofreudig, ist spielerisch kreativ, wer es ausklammert, betrügt sich selbst, verweigert Leben. Abschottungen jeglicher Art – ob ethnisch, religiös, politisch, kastenbedingt, vermögensbedingt … – sind in sich Verweigerungen und Orte anwachsender Lügen.. Sie zerstören das Leben, das ihnen anvertraut wurde.

DENKEN ALS MÖGLICHE ZUKUNFT

  1. Was immer von außen auf uns eindringt, in uns hinein, in unser Gehirn, in unser Fühlen, Erinnern und Denken, es trifft auf einen potentiell elastischen Raum. Unser Gehirn mit seinen Fähigkeiten kann die Ereignismengen auf vielfältige Weise abstrahieren, assoziieren, transformieren, bewerten, abändern, neu anordnen, … es kann die Bilder verändern. Wenn unsere Umgebung uns bestimmte Menschen als Feinde verkauft, kann unser Denken diese Interpretation grundsätzlich in Frage stellen. Wenn unsere Umgebung die Versklavung von Menschen als normal hinstellt, dann können wir dies in Frage stellen. Wenn unsere Umgebung behauptet, die Sonne drehe sich um die Erde, so können wir dies hinterfragen. Wenn die Reichen behaupten, die krasse Umverteilung der Vermögen sei schon OK, dann kann man dies hinterfragen. Wenn globale IT-Unternehmen ihre Kunden gegen ihren Willen immer mehr in digitale Abhängigkeiten zwingen, so kann man dies hinterfragen…

ANDERS DENKEN – SOZIALER WIDERSTAND

  1. Anders denken ist meistens anstrengend. Man erntet soziale Ablehnung, sozialen Widerstand: man lächelt, man regt sich auf, man wird gemobbed, oder gar verfolgt, verhört, eingesperrt, bedroht, verliert seine Arbeit …. Eine Gesellschaft kann sich auf diese Weise selbst ersticken, sich selbst fesseln, sich selbst einfrieren, sich selbst töten …. oder man hört einfach nicht zu, hält die Medien klinisch rein, druckt nur Gefälligkeiten und bezahlte Botschaften …
  2. Wenn also das menschlich-soziale Umwelt Denk-unfreundlich ist, negativ reagiert, gleichgültig, dann gibt es wenig Unterstützung für die Nutzung des potentiell elastischen Raum des Denkens, der Alternativen, der kreativen Experimente. Es braucht keinen Diktator, um ein Volk in Denkstarre zu versetzen; der Mainstream, der allgemeine Way-of-Life, die Volksmeinung, die gemachten Modetrends, die Macher von Medienkanälen, die von partikulären Interessen gesteuerten Webseiten, …. alle sind dann kleine Diktatoren, die darüber wachen, dass nur ja keiner anders ist als man selbst, als die Art und Weise, die üblich ist. Die anderen sind dann aus Gewohnheit die Bösen, die Feinde, oder die Guten, die Freunde.
  3. Wir sind gewohnt, dass es z.B. in jedem nationalen Haushalt einen Posten für Militär gibt (Im Jahr 2014 sollen die USA einen Militärhaushalt von 610 Mrd US-Dollar gehabt haben bei einem Bruttosozialprodukt von ca. 1.600 Mrd, das wären 38%, also mehr als ein Drittel). Ein Militärhaushalt macht aber nur Sinn, wenn man unterstellt, dass es potentielle Feinde gibt. Andererseits können wir wissen, dass der Mensch grundsätzlich beides sein kann: Freund oder Feind. Das, was einen Menschen zu einem Feind macht, sind sehr spezielle Bedingungen. Es könnte also auch Sinn machen, neben einem Militärhaushalt einen Freundschaftshaushalt zu haben, der dazu dient, jene Faktoren zu überwinden, die aus Menschen Feinde machen. Einen offiziellen Freundschaftshaushalt findet sich nirgends. Private Spenden von US-Amerikanern und gemeinnützigen Institutionen beliefen sich in 2013 auf ca. 2 Mrd US-Dollar, das wären ca. 1.2% vom Bruttosozialprodukt 2013. Diese Zahlen müssen nichts besagen. Man könnte sie aber versuchsweise interpretieren als Indikatoren für eine Einstellung zum Umgang mit anderen: der Glaube an den Feind im Anderen wäre dann im politischen System der USA ca. 30x stärker als der Glaube an den potentiellen Freund. Was lässt dies hoffen?
  4. Ich hatte noch mehr Punkte, aber die sind spezieller und sollten dann vielleicht besser in einem anderen Blogeintrag behandelt werden.