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Die Wiederentdeckung Gottes auf dem Planeten Erde für alle denkbaren Universen. Essay.Teil 1

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Wahrheit

  1. Eine Benutzung des Wortes ‚Wahrheit‘ setzt voraus, dass es etwas gibt, was meinem eigenen Denken und Fühlen vorgelagert ist, von meinem eigenen Wollen unabhängig; egal was ich mir wünsche, vorstelle, phantasiere, denke; es ist etwas — ein X, das Andere –, das vorkommt, weil es ‚aus sich heraus‘ vorkommt.
  2. Im Alltag ist es ein Gegenstand, über den ich im Dunklen stolpere, weil ich an dieser Stelle keinen Gegenstand vermutet habe; die Sonne, die mich blendet, weil sie so tief steht; der Kaffee, den ich trinke; der Stuhl, auf dem ich sitze; mein Gegenüber, das auf mich einredet; der Regen, der mit Macht hernieder prasselt …
  3. Diese Selbstverständlichkeit kann schnell ins Wanken geraten, wenn man anfängt, darüber nachzudenken.
  4. Wir wissen, dass wir Menschen phantasieren können, träumen, wir können Halluzinationen haben, Wahnvorstellungen, … oder denken gerade nach. Diesen Beispielen ist gemeinsam, dass derjenige der phantasiert, träumt usw. ‚für sich‘, ’subjektiv‘, etwas erlebt, empfindet, denkt, was ihm in diesem Moment ‚wie wirklich‘ erscheint, obgleich andere Menschen in der Umgebung einer solchen Person zum Schluss kommen könnten, dass die aktuellen Phantasiebilder, Träume usw. nichts mit der aktuellen äußeren Situation dieser Person zu tun haben.
  5. So stellt sich die Person vor, sie sei eine Königin, obwohl sie nach offiziellen Daten nur eine Büroangestellte ist; oder jemand träumt im Schlaf, schreit, schlägt um sich, und wenn dann der Bettnachbar ihn aufweckt, berichtet der Träumer von irgendwelchen Ungeheuern, vor denen er geflohen sei. Jemand anderes hat Drogen genommen und sieht den aktuellen Raum plötzlich ganz anders, umarmt Anwesende oder beschimpft sie, obwohl es keinen äußerlich bekannten Grund dafür gibt. Andere fühlen sich verfolgt, haben panische Ängste, verstecken sich, schließen sich ein, kaufen Waffen, aber es gibt niemand, der ihnen nachstellt. Und dann der Denker: er sitzt scheinbar tatenlos auf einem Stuhl, stiert vor sich hin auf ein Spielbrett, und in seinem Kopf denkt er intensiv über verschiedene Möglichkeiten nach, welche Züge er im Spiel machen könnte, Züge, die nur in seinem Denken existieren, nicht auf dem Spielbrett.
  6. Das innere Erleben eines Menschen kann offensichtlich für den Betreffenden so ‚wirklich‘ erscheinen, wie das, was sich von der ‚Außenwelt‘ in seiner ‚Wahrnehmung‘ niederschlagen kann. Und offensichtlich gibt es hier Zustände, in denen der Betreffende in seinem Erleben nicht mehr so richtig (oder gar nicht?) entscheiden kann, ob das Erlebte nun ’nur innerlich, subjektiv‘ vorkommt, oder auch ‚zugleich äußerlich, objektiv, intersubjektiv‘, so, dass andere diese Sachverhalte von sich aus bestätigen könnten.
  7. Die Dinge werden noch schwieriger, wenn man die Sprache einbezieht.
  8. Die Sprache — gesprochen wie geschrieben (oder noch anders) — hat die Besonderheit, dass sich sprachliche Äußerungen normalerweise in kleinere Einheiten unterteilen lassen, die teilweise als diese kleineren Einheiten eine ‚Bedeutung‘ haben; im Zusammenhang der Äußerung können diese unterscheidbaren kleineren Einheiten eine ‚über die einzelne Einheit hinausgehende‘ Bedeutung besitzen. Zugleich spielt die Situation eine Rolle: die gleiche sprachliche Äußerung kann je nach der Deutung der Situation eine ganz unterschiedliche Bedeutung besitzen.
  9. Eine Äußerung wie ‚Ich bitte Dich, mir zu helfen, das Haus zu verkaufen‘, enthält kleinere Einheiten, die wir gewöhnlich ‚Worte‘ nennen. Einzelne Worte wie z.B. ‚Haus‘ haben eine Bedeutung durch Bezug auf gedachte und dann möglicherweise objektive Gegenstände mit bestimmten Eigenschaften. Andere Worte wie ‚zu‘ und ‚das‘ haben keinen direkten Gegenstandbezug. Für jemand, der die deutsche Sprache kennt, deutet sich in dieser sprachlichen Äußerung an, dass eine Person A (die mit dem ‚Ich‘) eine andere Person B (die mit dem ‚Dich‘) ‚bittet‘ bei einem Hausverkauf zu helfen. Wenn die beiden Personen A und B voneinander gesellschaftlich unabhängig sind, die Person B dem A in keiner Weise verpflichtet ist, dann ist die ausgesprochene Bitte typisch und der Ausgang offen. Wenn aber B dem A irgendwie verpflichtet ist, von A vielleicht sogar sehr direkt abhängt, dann kann diese Bitte eher als ein Befehl verstanden werden, den B dann aus gesellschaftlichen Gründen nicht wirklich ablehnen kann. Dies setzt voraus, dass man die sprachliche Äußerung als Teil eines größeren sozialen Zusammenhangs erkennt, dessen Eigenschaften die Bedeutung beeinflussen können.
  10. Es gibt aber noch weitere Unwägbarkeiten. Wenn in der Äußerung davon gesprochen wird, ‚das Haus‘ zu verkaufen, dann unterstellt A, dass B ‚weiß‘, welches Haus ‚gemeint‘ ist. Wenn die sprachliche Äußerung aber in ‚Abwesenheit des Hause‘ getätigt wird, dann existiert ‚das Haus‘ nur im ‚Wissen‘ der beiden beteiligten Personen A und B. Zumindest unterstellt A, dass B ‚weiß‘, welches Haus A ‚meint‘. Dies funktioniert, wenn es in der Vergangenheit eine Situation gab, durch die eindeutig genug ein ganz bestimmtes Haus identifiziert worden ist, also ‚das Haus‘ von dieser erinnerbaren Situation. Dies kann funktionieren. Wenn diese erinnerbare Situation aber nicht eindeutig war, wenn schon in dieser Situation zwar von ‚dem Haus‘ geredet wurde, aber schon in der damaligen Situation A an ein anderes Haus gedacht hat als B und beide diesen Unterschied nicht bemerkt haben, dann wird B möglicherweise zustimmen und für sich an ein anderes Haus H1 denken als A, der an das Haus H2 denkt. Irgendwann werden beide vielleicht merken, dass sie mit ‚das Haus‘ zwei verschiedene Objekte meinen, spätestens dann, wenn sie zu dem Haus hinfahren würden. Solange sie dies nicht tun leben Sie mit ihren privaten, subjektiven Vorstellungen von einem Hausobjekt H1 bzw. H2, benutzen die gleichen Worte, und merken nicht, dass sie beide etwas ‚Verschiedenes meinen‘.
  11. Ein Bezug zur Außenwelt unter Zuhilfenahme einer Sprache kann also unterschiedlich missverständlich sein. Die Worte können im Kopf, im ‚Innern‘, im Denken eines Sprecher-Hörers, einen Sachverhalt induzieren, hervorrufen, aktivieren, der für ‚wirklich‘ angenommen wird, obgleich sich diese Vorstellungen in den Köpfen verschiedener Sprecher-Hörer unterscheiden können, trotz gleicher Worte.
  12. Bei sogenannten ‚abstrakten Bedeutungen‘, wie sie sich bei Worten finden wie ‚Freiheit‘, ‚Demokratie‘, ‚Bewusstsein‘, ‚das Dasein‘, ‚Existenz‘, ‚Glauben‘, ‚Gott‘, ‚Paradies‘, ‚Mathematik‘ usw. kann man in der Regel nicht von vornherein von einer allen gleichermaßen bekannten ‚Bedeutung‘ ausgehen. Worte mit solchen Bedeutungen haben einen solch vielschichtigen Verwendungszusammenhang, dass man bei ihrem Gebrauch grundsätzlich vorher mit allen Beteiligten klären sollte, welche Verwendungszusammenhänge sie jeweils voraussetzen.
  13. Sprechen wir im Alltag von ‚Wahrheit‘ dann unterstellen wir einen Zusammenhang zwischen Sprecher und Umwelt derart, dass eine Aussage wie ‚Es regnet‘ sich auf einen realen, objektiven Vorgang in der Umwelt bezieht, der von anderen auch so wahrgenommen wird (oder werden kann), der jetzt stattfindet. Bei der Aussage, ‚Ich war gestern in Frankfurt‘ wird es schwieriger. Ob die Aussage als ‚wahr‘ bezeichnet wird, hängt davon ab, ob sich nachweisen lässt, dass der Sprecher einen Tag früher tatsächlich in der Stadt mit Namen Frankfurt war, und dass der Sprecher mit der Aussage ‚Ich war gestern in Frankfurt‘ diesen Sachverhalt meint. Wenn der Sprecher während der Aussage für sich gedacht hat, dass er sich nur vorgestellt hat, dass er in Frankfurt gewesen sei, dann wäre die Aussage nach üblichem Sprachverständnis ‚falsch‘, da man bei solch einer Aussage unterstellt, dass der Sprecher tatsächlich in Frankfurt war. Wenn eine Sprecherin sagen würde ‚Ich werde morgen nach Frankfurt fahren‘, dann wäre der Wahrheitsgehalt noch offen. Sie kündigt ein Ereignis an, das in der Zukunft stattfinden soll. Ob es tatsächlich stattfinden wird, muss man erst mal ’sehen‘. Es ist eher eine ‚Absichtserklärung‘, allerdings eine mit potentiellem Wahrheitsanspruch. Falls die Sprecherin während der Aussage denkt, dass Sie nicht wirklich nach Frankfurt fahren will, wäre ihr Aussage nach normalem Verständnis eine ‚Lüge‘ oder eine ‚Täuschung‘. Allerdings, wenn die Sprechsituation locker ist, man gerade ‚herum spinnt‘, man Möglichkeiten überlegt, es nicht so ganz ernst zugeht, dann wäre die Aussage eine Meinungsäußerung ohne klaren Wahrheitsstatus.
    Fassen wir zusammen: Das Reden von ‚Wahrheit‘ setzt voraus:

    1. Es gibt mindestens einen Sprecher A und mindestens einen Hörer B
    2. Beide benutzen die gleiche Sprache L in einer gemeinsam geteilten Situation S
    3. A und B können zwischen Innen (subjektiv) und Außen (objektiv) unterscheiden.
    4. Für A und B haben die hörbaren und/ oder lesbaren Ausdrücke E der Sprache L eine subjektive Bedeutung Y, die mit Sachverhalten X in der Umgebung korrespondieren können.
    5. Wenn A einen Ausdruck E mit der subjektiven Bedeutung YA(E) — aus der Sicht von A — äußert, und dieser Äußerung von E ein Sachverhalt X korrespondiert, den B auch wahrnehmen kann, so dass durch den Ausdruck E und dem Sachverhalt X bei B die subjektive Bedeutung YB(E) aktiviert wird, dann würde aus Sicht von B eine ‚wahre Aussage E‘ vorliegen, wenn der Sachverhalt X mit seiner Bedeutung YB(E) ‚korrespondiert‘.
    6. Da die subjektive Bedeutung Y eines Ausdrucks E mit einem Sachverhalt X korrespondieren soll, muss der Sachverhalt X auch als eine wahrnehmbare Größe XSprecher-Hoerer so vorliegen, dass die subjektive Bedeutung YSprecher-Hoerer sich direkt mit dem Sachverhalt vergleichen lässt. Dies bedeutet, es bedarf einer subjektiven Vergleichsoperation XSprecher-Hoerer = YSprecher-Hoerer ?. Dies bedeutet, sowohl die subjektive Bedeutung Y wie auch der wahrgenommene Sachverhalt X stellen subjektive Größen dar; sie unterscheiden sich nur durch die Art der Hervorbringung: YSprecher-Hoerer wird durch subjektive Aktivitäten generiert und XSprecher-Hoerer wird durch Sinnesorgane des Körpers über das Gehirn generiert. Die Menge der subjektiven Gegebenheiten soll hier technisch als ‚Phänomenraum (PH)‘ bezeichnet werden. Es würde dann gelten dass alle Arten von aktuell wahrgenommenen Sachverhalten X eine Teilmenge des Phänomenraums PH sind und ebenso alle aktuell generierten subjektiven Bedeutungen Y, als XNOW ⊆ PH und YNOW ⊆ PH.Ferner würde gelten YNOW ∩ XNOW = 0
    7. Dabei muss man sich klar machen, dass es zwischen der jeweiligen subjektiven Bedeutung YSprecher-Hoerer und einem sprachlichen Ausdruck E auch eine hinreichend klare und stabile Korrespondenz geben muss. Dies setzt wiederum voraus, dass der hörbare oder sichtbare sprachliche Ausdruck E eine interne Repräsentation ESprecher-Hoerer haben muss, die mit der subjektiven Bedeutungsrepräsentation YSprecher-Hoerer assoziiert ist. Dabei ist zu beachten, dass es eine sprachliche Bedeutung im engeren Sinne gibt, nur bezogen auf den Ausdruck, und eine Bedeutung im weiteren Sinne, insofern der situative Kontext C(Sprecher,Hoerer) zu berücksichtigen ist. Es muss also eine Beziehung folgender Art geben: Meaning : CSprecher-Hoerer x ESprecher-Hoerer —> YSprecher-Hoerer. Dies führt zu den Erweiterungen: CNOW ⊆ PH sowie YNOW ∩ XNOW ∩ CNOW = 0.
  14. Schon diese stark vereinfachende Rekonstruktion lässt erkennen, wie schwierig es ist, zu wirklich wahren Aussagen im Kontext einer Kommunikation zu kommen. Haben zwei Personen eine unterschiedliche Wahrnehmung, dann kann dies schon zu Missverständnissen führen. Haben Sie bei der Zuordnung zwischen wahrgenommenem Sachverhalt X und Bedeutungskonzept Y Unterschiede, funktioniert es auch nicht. Ferner muss die Situationszuordnung passen, und, am allerwichtigsten, die Zuordnung von Ausdruck und Bedeutung muss gleich sein. Alle diese Bedingungen herzustellen und zu überprüfen, erfordert viel Aufmerksamkeit und vielen guten Willen.
  15. Die vielen Kommunikationsprobleme im Alltag zeigen, dass es in der Tat schwierig ist; dazu kommen die vielfältigen systematischen Manipulationen von Sprache aus unterschiedlichsten Gründen (Lügen, Werbung, Propaganda, Indoktrination, Fälschung, Unterhaltung, Fiktion,…).

Eine  Fortsetzung findet sich HIER.

Pausenmusik 🙂

PS: Eine Ergänzung zu diesen Überlegungen könnte das Memo zur Philosophiewerkstatt vom 8.Oktober sein.

KONTEXT BLOG

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Philosophie im Kontext – Teil2 – Irrtum!

Das Diagramm im letzten Beitrag über Philosophie im Kontext ist falsch, nicht so sehr in den Details, sondern in der grundlegenden Logik.

Philosophie im Kontext - FalschBild 1

Eine korigierte Version könnte wie folgt aussehen:

Philosophie im Kontext - NeuBild 2

 

(1) In dem vorausgehenden Beitrag hatte ich versucht, auf der Basis der philosophischen Überlegungen seit Januar (letztlich natürlich noch Monate und Jahre weiter zurück) in einem Diagramm die grundsätzlichen Verhältnisse zu skizzieren, die man berücksichtigen muss, will man über das Zusammenspiel all der verschiedenen möglichen wissenschaftlichen und philosophischen Theorien sprechen, einschließlich des alltäglichen Denkens.

 

(2) Dabei ist mir ein gravierender Fehler unterlaufen, der natürlich nicht zufällig ist, sondern aus der Art und Weise resultiert, wie unser Denken funktioniert.

 

 

(3) Das Bild, so wie es jetzt ist (siehe Bild 1), zeigt — wie in einer Landkarte — das erkennende Individuum aus einer ‚Draufsicht‘ (3.Person) mit seinem Körper, darin enthalten sein Gehirn, und innerhalb des Gehirns irgendwo die subjektiven Erlebnisse als ‚Phänomene [PH]‘.

 

(4) Der Fehler liegt darin begründet, dass das subjektive Erkennen niemals als ‚Objekt einer dritten Person-Perspektive‘ auftreten kann. Das ist ja gerade das Besondere der subjektiven Erkenntnis, dass sie die ‚Innenansicht‘ eines Gehirns ist, das subjektive Erleben eines bestimmten Menschen (oder auch mit Abwandlungen eines Tieres), ’seines‘ Erlebens, bei Husserl dem ‚transzendentalen ego‘ zugeordnet. D.h. das ‚primäre Erkennen‘ ist in einem subjektiven Erleben verortet, das als solches kein Objekt einer dritten Person sein kann.

 

(5) Diesem Sachverhalt trägt Bild 2 Rechnung. Das Erkennen startet dort bei der Menge der Phänomene. Wie Husserl – und auch viele andere – zurecht herausgestellt hat, sind die Phänomene aber nicht nur ‚in sich geschlossene Objekte‘, sondern ‚phänomenologische Tatbestände‘ in dem Sinne, dass ihr ‚Vorkommen/ Auftreten‘ begleitet ist von einem ‚Wissen über sie‘; jemand, der ‚etwas erkennt‘, ‚weiß‘ dass er erkennt. Das wird im Diagramm durch den Pfeil mit dem Label ‚Reflexion‘ ausgedrückt: Im ‚Wissen um etwas‘ – Husserl nennt dies ‚Intentionalität‘ des Erkennens – können wir alles, was der Inhalt dieses primären Wissens ist, hinsichtlich möglicher unterscheidbarer Eigenschaften ‚explizit unterscheiden‘ und ‚bezugnehmende Konzepte‘ bilden.

 

 

(6) Und da der Mensch – in Ansätzen auch einige Tierarten – die wundersame Fähigkeit besitzt, ‚Gewusstes‘ [PH_Non-L] in Beziehung zu setzen (assoziieren, Assoziation) zu anderem Gewussten, das als ‚verweisenden Etwas‘ (Zeichen) [PH_L] dienen soll, kann der erkennende Mensch die ‚Inhalte seines Bewusstseins‘ – die Phänomene [PH] – mit Hilfe solcher verweisender Zeichen ‚kodieren‘ und dann unter Verwendung solcher kodierender Zeichen ‚Netzwerke solcher Zeichen‘ bilden, die – je nach ‚Ordnungsgrad‘ – mehr oder weniger ‚Modelle‘ oder gar ‚Theorien‘ bilden können.

 

(7) Da das begleitende Wissen, die Reflexion, in der Lage ist, auch ‚dynamische Eigenschaften‘ der Phänomene zu erfassen (‚Erinnern‘, ‚Vorher – nachher‘,…) kann diese Reflexion auch – nach sehr vielen Reflexionsschritten – unterscheiden zwischen jenen Phänomenen, die geschehen ‚ohne eigenes Zutun‘ (ohne eigenes ‚Wollen‘) und den anderen. Das ‚ohne eigenes Zutun‘ kann aus jenen Bereichen des ‚eigenen Körpers‘ herrühren, die die Reflexion ’nicht unter Kontrolle‘ hat oder aus Bereichen ‚außerhalb des Körpers‘, den wir dann auch ‚intersubjektiv‘ nennen bzw. neuzeitlich ‚empirisch‘ [PH_emp].

 

 

(9) In einer phänomenologischen Theorie [TH_ph], deren Gegenstandsbereich die subjektiven Erlebnisse [PH] sind, kann man daher die charakteristische Teilmenge der empirischen Phänomene [PH_emp] identifizieren. Daneben – und zugleich – kann man all die anderen Eigenschaften der Phänomene samt ihrer ‚Dynamik‘ unterscheiden und begrifflich ausdrücklich machen. Eine genaue Beschreibung aller möglicher Unterscheidung ist sehr komplex und ich habe nicht den Eindruck, dass irgend jemand dies bis heute erschöpfend und befriedigend zugleich geleistet hat. Möglicherweise kann dies auch nur als ein ‚Gemeinschaftswerk‘ geschehen. Dazu müsste man eine geeignete Methodik finden, die dies ermöglicht (vielleicht sind wir Menschen technologisch erst jetzt (2012, ca. 13.7 Milliarden Jahre nach dem Big Bang, ca. 3.7 Milliarden Jahre nach dem ersten Auftreten von lebensrelevanten Molekülen auf der Erde…) langsam in der Lage, eine solche Unternehmung einer ‚gemeinsamen Theorie des menschlichen phänomenalen Bewusstseins‘ in Angriff zu nehmen).

 

(10) Vieles spricht dafür, dass die unterschiedlichen Versuche von Philosophen, die Vielfalt der Reflexionsdynamik (und deren ‚Wirkungen‘ auf den Bewusstseinsinhalt) mit Hilfe von sogenannten ‚Kategorientafeln‘ zu strukturieren (keine gleicht wirklich völlig der anderen), in diesen Kontext der Bildung einer ‚phänomenologischen Theorie‘ [TH_ph] gehört. Idealerweise würde man – zumindest einige der bekanntesten (Aristoteles, Kant, Peirce, Husserl,…) – vor dem aktuellen Hintergrund neu vergleichen und analysieren. Sofern diese die Struktur der Dynamik des ’sich ereignenden Denkens‘ beschreiben, müssten diese Kategorientafeln letztlich alle ’strukturell gleich‘ sein. Dabei unterstellen wir, dass die Dynamik des Denkens der einzelnen Menschen aufgrund der Gehirnstruktur ‚hinreichend ähnlich‘ ist. Dies ist aber streng genommen bis heute nicht erwiesen. Die vielen neuen Erkenntnisse zur Gehirnentwicklung und zum individuellen Lernen (einschließlich der emotionalen Strukturen) legen eher die Vermutung nahe, dass es sehr wohl individuelle Unterschiede geben kann in der Art und Weise, wie einzelne Menschen die Welt ‚verarbeiten‘. Träfe dies zu, hätte dies natürlich weitreichende Folgen für die Alltagspraxis und die Ethik (und die Moral und die Gesetze…).

 

 

(11) Hat man sich dies alles klar gemacht, dann wundert es nicht mehr, dass die Bildung wissenschaftlicher empirischer Theorien [TH_emp] nicht ‚außerhalb‘ einer phänomenologischen Theoriebildung stattfinden kann, sondern nur ‚innerhalb‘, und zwar aus mindestens zwei Gründen: (i) die Menge der empirischen Phänomene [PH_emp] ist eindeutig eine echte Teilmenge aller Phänomene [PH], also PH_emp subset PH. (ii) Die empirische Theorie TH_emp entsteht im Rahmen und unter Voraussetzung der allgemeinen Reflexion, die unser primäres Denken ermöglicht und ausmacht; wir haben kein ‚zweites‘ Denken daneben oder ‚jenseits‘ im ‚Irgendwo‘. Dies erklärt auch sehr einfach das häufig bemerkte Paradox der Metatheorie: Theorien sind nur möglich, weil wir ‚über‘ (Alt-Griechisch: ‚meta‘) sie ’nachdenken‘ können. Dieses ‚Nachdenken über‘ (Metareflexion‘) ist unter Annahme der allem Denken vorausgehenden und begleitenden primären Reflexion keine Überraschung. Was immer wie uns ‚ausdenken‘, es geschieht im Rahmen der primären Reflexion und von daher kann auch alles und jedes, was wir jemals gedacht haben oder uns gerade denken beliebig miteinander in Beziehung gesetzt werden. Bezogen auf diese vorausgehende und begleitende Reflexion ist jeder ‚Denkinhalt‘ grundsätzlich ‚unabgeschlossen‘; die primäre Reflexion ermöglicht eine ‚endliche Unendlichkeit‘, d.h. der prinzipiell nicht abgeschlossene Denkprozess kann – als ‚Prozess‘ – jede endliche Struktur immer wieder und immer weiter ‚erweitern‘, ‚ausdehnen‘, usf.

 

(12) Kennzeichen von neuzeitlichen empirischen Theorien ist ihre Fundierung in ‚empirischen Messverfahren‘ [MEAS]. Kennzeichen dieser empirischen Messverfahren ist es, dass sie unabhängig vom Körper eines Menschen und auch unabhängig von seinem individuellen Erkennen, Fühlen und Wollen bei gleicher ‚Durchführung‘ immer wieder die ‚gleichen Messergebnisse‘ [DATA_emp] liefern sollen. Ob und wieweit solche ‚unabhängigen‘ Messungen tatsächlich durchgeführt werden können ist eine ‚praktische‘ und ‚technologische‘ Frage. Die Geschichte zeigt, dass dieses Konzept auf jeden Fall trotz aller Probleme im Detail bislang extrem erfolgreich war.

 

(13) Allerdings ist hier folgender Umstand zu beachten: obwohl die Messergebnisse [DATA_emp] als solche idealerweise ‚unabhängig‘ vom Fühlen, Denken und Wollen eines Menschen erzeugt werden sollen, gelangen dieses Messergebnisse erst dann zu einer ‚theoretischen Wirkung‘, wenn es irgendwelche Menschen gibt, die diese Messergebnisse DATA_emp ‚wahrnehmen‘ (Englisch: perception, abgekürzt hier als ‚perc‘) können, damit sie als ‚auftretende Phänomene‘ – und zwar hier dann als empirische Phänomene [PH_emp] – in den Bereich des ‚Wissens‘ eintreten, also perc: DATA_emp —> PH_emp. Dies bedeutet, der besondere Charakter von empirischen Phänomenen haftet ihnen nicht als ‚gewussten Eigenschaften‘, nicht qua ‚Phänomen‘ an, sondern nur im Bereich ihrer ‚Entstehung‘, ihres ‚Zustandekommens‘ (aus diesem – und nur aus diesem – Grund ist es so wichtig, beim Umgang mit Phänomenen jeweils klar zu kennzeichnen, ‚woher diese stammen), der ihrem ‚Phänomensein‘ ‚vorausliegt‘.

 

 

(14) In dem Masse nun, wie wir mittels empirischer Messungen Daten über das beobachtbare menschliche Verhalten [DATA_sr], über physiologische Eigenschaften des Körpers [DATA_bd] bzw. auch über Eigenschaften des Nervennetzes im Körper (‚Gehirn‘) [DATA_nn] gewonnen haben, können wir versuchen, basierend auf diesen verschiedenen Daten entsprechende wissenschaftliche Theorien TH_sr, TH_bd, TH_nn zu formulieren, die die Gesetzmäßigkeiten explizit machen, die durch die Daten sichtbar werden.

 

(15) Der wichtige Punkt hier ist, dass alle diese Theorien nicht ‚unabhängig‘ oder ‚jenseits von‘ einer phänomenologischen Theorie zu verorten sind, sondern ‚innerhalb‘ von dieser! Jede beliebige Theorie kann immer nur eine Theorie ‚innerhalb‘ der umfassenden und zeitlich wie logisch vorausgehenden phänomenologischen Theorie sein. Eine spezifische empirische Theorie [TH_i] zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie sich auf eine echte Teilmenge [PH_i] aller verfügbarer Phänomene [PH] beschränkt. Gerade in dieser methodischen Beschränkung liegt – wie der Gang der Geschichte uns lehrt – der große Erfolg dieser Art von Theoriebildung. Zugleich wird aber auch deutlich, dass jede dieser speziellen Theorien TH_i aufgrund ihrer speziellen Datenmengen DATA_i (denen die entsprechenden Phänomenmengen PH_emp_i] korrespondieren) zunächst einmal nichts mit einer der vielen anderen speziellen Theorien TH_j TH_i zu tun hat. Es ist eine eigene theoretische Leistung, Querbeziehungen herzustellen, strukturelle Ähnlichkeiten aufzuzeigen, usw. Dies fällt dann in den Bereich ‚interdisziplinärer Theoriebildung‘, ist ‚Metatheorie‘. Diese Art von metatheoretischen Aktivitäten ist aber nur möglich, da die primäre Reflexion alle Arten von speziellen Reflexionen zeitlich und logisch vorausgeht und das entsprechende ‚Instrumentarium‘ zur Verfügung stellt.

 

(16) In diesem Kontext ist unmittelbar einsichtig, dass subjektives Wissen prinzipiell kein Gegenstand empirischer Theoriebildung sein kann. Im Umfeld der modernen Neurowissenschaften (einschließlich Neuropsychologie) sowie im Bereich der Psychologie ist dieser grundsätzliche Tatbestand – so scheint es – bislang methodisch nicht wirklich sauber geklärt. In unzähligen Experimenten mischen sich klare empirische Vorgehensweisen mit der Benutzung von subjektiven Daten, was methodisch ungeklärt ist. Dies durchzieht alle ‚Kreise‘.

 

(17) Will man von der einzigartigen Datenquelle des primären Wissens PH für wissenschaftliche empirische Forschung PH_emp profitieren, bietet sich bislang einzig ein ‚hybrides‘ Vorgehen an, in dem ein Mensch sein eigenes subjektives Wissen PH auf der Basis einer ‚zeitlichen Korrelation‘ (t,t‘) mit empirischen Daten PH_emp, die von anderen Wissenschaftlern mittels Messungen über seinen Körper und sein Nervennetz erhoben werden. Also etwa CORR((t,t‘), PH, PH_emp). Dies ist zwar mühsam und fehleranfällig, aber die einzige methodische Möglichkeit, mit diesen ungleichen Phänomenmengen zurecht zu kommen (Mir ist nicht bekannt, dass irgendjemand diese scharfe methodische Forderung bislang erhebt geschweige denn, dass irgend jemand danach tatsächlich vorgeht).

 

(18) Für die weiteren Überlegungen soll versucht werden, diesen methodologischen Anforderungen gerecht zu werden.

 

(19) Es zeigt sich nun auch sehr klar, dass und wie das philosophische Denken gegenüber allen anderen theoretischen Erklärungsansätzen tatsächlich eine Sonderstellung einnimmt. Das philosophische Denken ist das fundamentale Denken, das jeglichem speziellen Denken zeitlich und logisch voraus liegt, nicht als Gegensatz oder als etwas ganz Anderes, sondern als das primäre Medium innerhalb dessen sich alles andere ‚abspielt‘. Während ich eine spezielle empirische Theorie als ‚Objekt des Wissens‘ klar abgrenzen und beschreiben kann, ist die dazu notwendige Metareflexion als solche kein ‚Objekt des Wissens‘, sondern immer nur ein nicht weiter hintergehbares ‚Medium‘, eben das ‚Denken‘, in dem wir uns immer schon vorfinden, das wir nicht erst ‚machen‘, das wir nur ‚benutzen‘ können. Die ‚Eigenschaften‘ dieses unseres Denkens ‚zeigen‘ sich damit auch nur ‚indirekt‘ durch die ‚Wirkung‘ der Denkaktivität auf die Inhalte des Bewusstseins (Eine Kooperation von empirischer Psychologie TH_emp_psych und phänomenologischer Analyse TH_ph kann hilfreich sein, allerdings sind die Gegenstandsbereiche DATA_emp_psych als PH_emp_psych und PH komplett verschieden und wirklich interessant würde es erst dann, wenn wir eine TH_emp_psych einer TH_ph gegenübersetzen könnten (bislang sehe ich nirgends – nicht einmal in Ansätzen – eine phänomenologische Theorie, die diesen Namen verdienen würde, noch eine wirkliche empirische psychologische Theorie, und das im Jahr 2012).

 

 

Ein Überblick über alle bisherigen Einträge findet sich hier.

 

 

In dem Online-Skript General Computational Learning Theory versuche ich, diese erkenntnisphilosophischen Aspekte zu berücksichtigen. Ich kann in diesem Skript allerdings nur einen Teilbereich behandeln. Aber aus diesen sehr abstrakt wirkenden Überlegungen ist meine ‚Rückkehr zur Philosophie‘ entscheidend mitbeeinflusst worden.

 

 

 

 

 

CARTESIANISCHE MEDITATIONEN III, Teil 6

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 23.Dezember 2011
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

(86) Es wundert dann nicht, wenn Husserl in dieser Radikalisierung des Bewusstseinsstandpunktes für sich die Frage nach dem ‚alter ego‘ stellt, ob dieser Denkstandpunkt nicht in einem ‚transzendental-phänomenologischen Solipsismus‘ endet. (vgl. CM2, S.34, Z18, 12f) Denn im ‚psychologischen‘ Erleben des Alltäglichen ist das ‚Außen‘, sind die ‚Anderen‘ ‚wirklich‘. (vgl. CM2, S34, Z21-35) Im Zwiespalt zwischen dem Standpunkt des transzendentalen ego, innerhalb dessen das ‚alter ego‘ keine direkte Selbsterfahrung des alter ego besitzt, und der alltäglichen Erfahrung ‚in der Weise einer eigentümlichen Ähnlichkeitsapperzeption…, konsequent indiziert, sich dabei einstimmig bewährend‘, entscheidet sich Husserl dafür, dem ‚alter ego‘ einen transzendentalen Status zu verleihen! Er sagt ‚Das transzendentale ego setzt in sich nicht willkürlich, sondern notwendig ein transzendentales alter ego‘. (vgl. CM2, S.35, Z17-19). Doch, dem nicht genug, verwandelt sich damit scheinbar die Erkenntnis der ganzen Welt zu einer transzendentalen: ‚… damit erweitert sich die transzendentale Subjektivität zur Intersubjektivität, zur intersubjektiv-transzendentalen Sozialität, die der transzendentale Boden ist für die intersubjektive Natur und Welt überhaupt und nicht minder für das intersubjektive Sein aller idealen Gegenständlichkeiten.‘ (vgl. CM2, S.35, Z20-26)

(87) Obwohl wir also weder das ‚alter ego‘ noch die eigentliche Sozialität direkt so erfahren können wie das sich selbst denkende Denken, ist Husserl nun bereit, die Qualität des ‚Transzendentalen‘ auf jene Gegenständlichkeiten auszuweiten. Und diese Ausweitung findet statt, obgleich Husserl im direkten Anschluss an die Ausweitung der Transzendentalität ausdrücklich feststellt, dass es hier einen Qualitätsunterschied gibt zwischen transzendentalen ego und alter ego: ‚Das erste ego, auf das die transzendentale Reduktion führt, entbehrt noch der Unterscheidungen zwischen dem Intentionalen, das ihm ursprünglich eigen ist, und dem, was in ihm Spiegelung des alter ego ist. Es bedarf erst einer weitgeführten konkreten Phänomenologie, um die Intersubjektivität als transzendentale zu erreichen.‘ (vgl. S35, Z26-31).

(88) Verwickelt sich Husserl hier in Widersprüche oder hat er einfach die Bedeutung des Terminus ‚transzendental‘ geändert (oder hat der Autor dieser Kommentierung seine Verwendungsweise des Terminus ‚transzendental‘ von Anfang an falsch aufgefasst?)?

(89) Ein Widerspruch läge dann vor, wenn mit ‚transzendental‘ jene Gegebenheiten des Denkens gemeint wären, die jeglichem Inhalt des Denkens voraus liegen, ohne die sich nichts denken ließe. Im Wissen des Denkens ‚um sich‘ –von Husserl im transzendentalen ego fixiert, das keinem gewöhnlichen ‚Gegenstand‘ entspricht noch überhaupt einem etwas entsprechen muss– liegt solch ein Sachverhalt vor: was immer inhaltlich gegeben sein mag, es ist gegeben im Apriori eines Denkhorizontes, innerhalb dessen es als ‚es‘ aufgefasst wird, das sich in seiner Bezogenheit nicht anders ableiten, begründen, erklären lässt. Im ‚Wissen um sich selbst‘ findet das Denken einen Fixpunkt, der für das Denken unhintergehbar erscheint und deshalb als ‚transzendental‘ qualifiziert wurde. Die jeweils konkreten Inhalte, die innerhalb dieses Denkens auftreten können sind zwar bzgl. ihres Auftretens und Verschwindens auch einer direkten ‚Kontrolle‘ durch das Wissen um sich entzogen, sind diesem Wissen um sich aber ‚äußerlich‘, ‚fremd‘, ‚anders‘. D.h. das Wissen um sich selbst und die in diesem Wissen als wesentlich unterschiedene Gegebenheiten sind koexistent. Das Wissen um sich selbst gibt es nicht isoliert, nicht separiert, sondern immer nur in der Gegenwart des jeweils anderen, was im Wissen um sich selbst als das ‚es‘ des Gewussten aufscheint und in dieser Unterschiedenheit auch unhintergehbar ist. Nicht das jeweils konkret so-seiende Andere ist transzendental, sondern der Unterschied zwischen Wissen-um-sich und dem grundsätzlich davon Unterschiedenem. Von daher wäre es vielleicht besser nicht von dem transzendentalen ego zu sprechen (was ein Super-Etwas suggeriert, das es so nicht gibt), sondern von der ‚transzendentalen Differenz‘ zwischen dem ‚Wissen-um-sich‘ einerseits und dem zugleich gegebenen jeweils ‚Anderem-des-Im-Wissen-Seienden‘. Man kann dies ‚Intentionalität‘ nennen, wie Husserl es getan hat, läuft dann aber Gefahr, dass man ein irgendwie geartetes ‚Subjekt‘ (das transzendentale ego) unterstellt, das sich ‚auf etwas‘ ‚richtet‘. Das ‚Wissen um sich‘ ist aber zunächst mal gegenstandslos, benötigt kein Subjekt als ‚etwas‘.

(90) Zu sagen, ein ‚Wissen-um-sich‘, in dem notwendig verschiedene Erscheinungen stattfinden können, bilde in dieser Einheit von beidem (!) ein ‚Subjekt‘ wäre formal möglich. Es hätte den großen Vorteil, nicht ‚mehr‘ sagen zu müssen als wir tatsächlich sagen können. Das so verstandene ‚transzendentale Subjekt‘ (nicht mehr identisch mit dem ‚transzendentalen ego‘!) wäre dann nicht ein mystisches Etwas auf der einen Seite, dem auf der andere Seiten irgendwelche ‚Typen‘ begegnen, die sich durch immer neue Konkretionen realisieren, sondern das transzendentale Subjekt [trlS] wäre genau jene Einheit von beidem, die für uns unauflösbare Koexistenz von Wissen um sich und Erscheinungen von etwas als etwas in diesem Wissen um sich. Diese vorgegebene transzendentale Einheit ist das Apriori unseres Erlebens und Denkens. Was immer uns begegnen mag innerhalb dieses trlS , es ist ein Gewusstes. Und wenn ich verschiedene gewusste Etwasse durch ein anderes gewusstes Etwas ‚repräsentiere‘, dann wird diese repräsentierende Beziehung als gewusste wieder ein gewusstes Etwas. Entsprechend, wenn ich ein Gewusstes mit sprachlichen Ausdrücken belege, dann wird die gewusste Beziehung zwischen Ausdruck und Gemeintem selbst wieder zu einem gewussten Etwas, das sich neu verknüpfen lässt. Usw.

(91) Halten wir fest: die ursprüngliche Definition des transzendentalen ego bei Husserl fundierte eine ‚Kluft‘ zum erscheinenden Anderen, deren ‚Überbrückung‘ erst über die Typen versucht wurde, dann zusätzlich durch eine ‚Ähnlichkeitsapperzeption‘, die als ‚konsequent bewährte Indikation‘ innerhalb der transzendentalen Apperzeption mit ‚Notwendigkeit‘ zu einem ‚transzendentalem alter ego‘ mutierte. (vgl. CM2, S.35, Z7-19) Das wirkt ‚gezwungen‘, lässt keine ‚harte‘ Logik erkennen, kann nicht überzeugen.

(92) Andererseits sind es gerade diese verschiedenen Formulierungen von Husserl, die das Denken provozieren, die dazu anregen, jene Hypothese zu formulieren, die hier mit dem Begriff des trlS versucht wurde. Unter der Annahme eines trlS gibt es zwar ‚Allgemeinheiten‘ und ‚Denknotwendigkeiten‘, diese führen aber nicht dazu, dass das jeweils Erscheinende im Wissen um sich seine letzte ‚Fremdheit‘ verliert. Die Struktur der Koexistenz als solche ist zwar denknotwendig und darin transzendental, ihre jeweiligen Komponenten als solche –das um sich wissende Wissen wie auch die konkret Erscheinenden– sind es nicht. Es gibt keinen ‚Grund‘, warum sie
’sein sollen‘. Das trlS ‚findet sie vor‘, aber es hat keine Fundierung für diese; letztlich sind sie zunächst einmal ‚kontingent‘; sie müssten nicht sein. Und daraus resultiert eine eigentümliche Spannung von ‚Nicht sein müssen‘ sowie ‚Sich im Sein vorfinden‘ und zwar auf eine bestimmte (strukturelle) Weise, die ein unaufhebbares Bezogensein von jeweils Gegebenem und einem darum Wissen als einem Etwas.

(93) ‚Sein‘ und ‚Nichtsein‘ sind also schon in der Wurzel unseres bewussten Denkens koexistent gegeben als Grundeigenschaften unseres Vorkommens als trlS. Fundamentale Kontingenz als Bestandteile der fundamentalen Transzendentalität des trlS. Das Wissen um Nicht-sein-Können setzt allerdings implizit die ‚Erinnerung‘ an ‚einmal Dasein und dann wieder nicht da sein‘ voraus, jener ‚Schablone‘ ‚innerhalb des Denkens‘, die als ‚Eigenschaft des Denkens erfahrbar wird, die aber strukturell auf ‚Mechanismen hinter dem Denken‘ verweisen können. Doch diese möglicherweise ‚hinter dem Denken‘ wirkenden Mechanismen sind dem phänomenologischen Denken nicht ‚direkt‘ zugänglich, nur über eine lange Kette von Erscheinungen und geeigneten Denkoperationen, die schrittweise mögliche Strukturen ‚hinter den Phänomenen‘ als ‚hypothetisch wirkende Strukturen‘ aufscheinen lassen. Dies müßte innerhalb eines weiteres Diskurses erklärt werden.

(94) Husserl thematisiert diese Sachverhalte von impliziten Strukturen/ Eigenschaften des Denkens und deren Bewusstwerdung im Anschluss. (vgl. CM2, S36f) Im ’naiven‘ praktischen Leben vollziehen sich nach Husserl ‚all die intentionalen Leistungen des Erfahrens … anonym, der Erfahrende weiß von ihnen nichts.‘ Und die positiven Wissenschaften klassifiziert Husserl als ‚Naivitäten höherer Stufe‘, da auch sie die verborgenen Leistungen des Denkens unbewusst benutzt, und ‚… ihre Kritik ist nicht letzte Erkenntniskritik…‘, da ‚die Urbegriffe, die durch die ganze Wissenschaft hindurchgehen… naiv entsprungen [sind].‘ (vgl. CM2, S36, Z14-38)

(95) Die husserlschen Formulierungen zum praktischen Alltagsleben klingen ein wenig negativ. Im Kontext der philosophischen Analyse sind sie verständlich, geht es hier doch um begriffliche Klärung von Gegebenheiten und Voraussetzungen. In der ‚Praxis‘ des Lebens ist es über weite Strecken aber (überlebens-)notwendig, dass ein Handeln aus einem ‚direkten‘ naiven Denken möglich ist. Reflektieren und zugleich zielgerichtet und effektiv Handeln ist für uns Menschen strukturell nicht möglich. Wir können dies nur alternierend zwischen Phasen der Aktivität und Phasen des Reflektierens.

(96) Die Aussagen über die positiven Wissenschaften dürften 82 Jahre später differenzierter ausfallen. Ein Großteil (mehr als 90%?) der Wissenschaftler dürfte auch heute wenig mit der kritischen Reflexion gemein haben, die Husserl als phänomenologische Analyse bezeichnet. Aber es gibt seit dem frühen 20.Jahrhundert immer wieder wissenschaftsphilosophische Bewegungen, die auf unterschiedlicher Art versucht haben (und es immer noch versuchen), die innere Logik des spezifischen wissenschaftlichen Denkens kritisch zu hinterfragen oder gar begrifflich aufzuarbeiten. Eine abschließende Beurteilung des aktuellen Standes traue ich mir nicht zu.

(97) Es ist also die Aufgabe einer phänomenologischen Philosophie, die impliziten Eigenschaften und Voraussetzungen des Denkens begrifflich explizit zu machen. Dazu muss das Denken von seiner Möglichkeit des ‚Wissens um sich selbst‘ Gebrauch machen und das Erscheinende ‚als‘ Erscheinendes erfassen. Dies sind einmal Eigenschaften des So-Seienden in seiner Mannigfaltigkeit, die ‚abstrahiert‘ und ‚bezeichnet‘ werden können, wie auch die ‚allgemeine Art und Weise‘ des Erscheinens, die nicht an ein bestimmtes So-Seiendes gebunden ist, sondern ‚generisch‘ für ganze Teilmengen der Erscheinungen gilt, und zwar ‚konstitutiv‘, ‚denknotwendig‘, als eine ‚Weise‘, wie das Wissen um sich die Dinge ‚weiß‘. Dies sind die allgemeinen Formen, die Typen, von denen Husserl zuvor auch immer wieder gesprochen hat. Die Typen gehören dem Denken, dem Wissen zu; es sind ‚Eigenschaften‘ des Denkens, ‚wie es denkt‘. Wir kennen nicht das ‚Denken an sich‘, sondern nur das Denken, wie es sich anlässlich des konkret So-Seienden ereignet, sich im Ereignis zeigt. Darin manifestiert sich wiederholt der koexistentiale (duale) Charakter des trlS. Das ‚Wissen-um‘ gibt es nur mit dem ‚anderen Gewussten‘ und das ‚andere Gewusste‘, das erscheint, gibt es nur im Modus des ‚Wissen-um‘, das nicht ‚beliebig‘ ist, sondern impliziten Regeln, Formen folgt, die sich in der Genese des Wissens dann indirekt, implizit ‚zeigen‘. Dieses sich ‚implizit zeigen‘ der Formen des Wissens sind wiederum im Wissen-um-sich ‚Inhalte‘, ‚Gegenstände‘ des Wissens, wenngleich als ‚Eigenschaften des Denkens‘ Gegenstände einer besonderen Art.

(98) Eigenschaften des Denkens lassen sich daher zwischen verschiedenen Bewusstseinen nur dadurch kommunizieren, dass jedes kommunizierende Bewusstsein solche Denkprozesse vollzieht, die notwendig sind, um spezifische Eigenschaften des Denkens ’sichtbar‘ zu machen. In der Kommunikation kann man diese Eigenschaften des Denkens dann als ‚Kontext‘ benutzen, um jene Eigenschaften des Denkens hypothetisch zu identifizieren, die der andere möglicherweise gemeint hat. Dies setzt allerdings ein hinreichend ‚ähnliches‘ Denken voraus. Eine Voraussetzung, die wir zwar ständig machen, deren wir uns aber letztlich nie vollständig vergewissern können. Vertrauen ist von daher die erste Voraussetzung von Intersubjektivität.

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CARTESIANISCHE MEDITATIONEN III

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 3.Dezember 2011
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

ÄNDERUNGEN: Letzte Änderung 4.Dez.2011 vor 13:00h

(1) Wie in den vorausgehenden Notizen festgestellt worden ist, kann man die ‚Cartesianischen Meditationen‘ von Husserl, die mit seinen berühmten Pariser Vorlesungen von 1929 eingeleitet wurden, als ‚Herzstück‘ seiner Version einer ‚Phänomenologischen Philosophie‘ – kurz: Phänomenologie – ansehen. Wenn jemand nach gut 30 Jahren intensivster philosophischer Arbeit, so wie Husserl es getan hat, nochmals eine ‚Begründung‘ seiner bisherigen Arbeit versucht (so Strasser 1948 in der Einleitung zur textkritischen Ausgabe Husserliana Bd.1, XXII), dann kommt diesen Gedanken eine besondere Stellung zu, zumal er danach nur noch Teile der ‚Krisis der europäischen Wissenschaften‘ veröffentlichen konnte.

(2) Husserl beginnt seine Ausführungen ausdrücklich mit Bezugnahme auf die ‚meditationes de prima philosophia‘ (1641/42) von Descartes. Diese ‚meditationes…‘ von Descartes sollen hier ‚Cartesianische Meditationen I‘ [CM1] genannt werden. Die Pariser Vorträge (1929, veröffentlicht 1931) nenne ich hier ‚Cartesianische Meditationen II‘ [CM2] samt dem späteren erweiterten Text von Husserl ‚Cartesianische Meditationen IIb'[CM2b]. Den aktuellen Text nenne ich einfach ‚Cartesianische Meditationen III‘ [CM3], da ich mich auf die beiden vorausgehenden beziehe.

(3) Husserl erkennt in den CM1 als Ziel die Idee eines radikalen Neubaues der Philosophie als universaler Einheit der Wissenschaften, selbst zusammengehalten durch eine Einheit absolut rationaler Begründung (CM2,3). Um dieses Ziel zu erreichen postuliert er einen ‚absolut sicheren Anfang‘ und von da ab ‚eine Methode des Fortgangs‘ ‚ohne die Stütze vorgegebener Wissenschaften‘ (CM2,4). Nach Husserl sieht Descartes diesen Anfang im ‚Rückgang auf das ego der reinen cogitationes‘, das ‚einzig apodiktisch-gewiss Seiende‘ (CM2,4). Husserl sieht in dieser Denkwendung von Descartes eine ‚radikale Wendung vom naiven Objektivismus‘ hin zu einem ‚transzendentalen Subjektivismus‘ (CM2,5). Während Husserl die meisten der  Folgerungen, die Descartes aus seiner Grundeinsicht gezogen hat, nicht übernehmen will, möchte er sehr wohl bei der Grundeinsicht von Descartes nochmals ansetzen und von da aus einen Weg gehen, der zur Erneuerung der Philosophie als transzendentaler Phänomenologie führen soll (CM2, 4f). Es soll auch für Husserl nur dasjenige gelten, dessen Evidenz sich durch ‚Rückgang auf die Sachen … selbst in ursprünglicher Erfahrung und Einsicht‘ begründet (CM2,6).

(4) Husserl setzt da ein, wo er Descartes als ‚ewig‘ identifiziert hat, nämlich bei seiner Wendung zum EGO COGITO als dem apodiktisch gewissen und LETZTEN URTEILSBODEN, auf dem jede radikale Philosophie neu zu gründen ist‘ (CM2,7). Diese Wendung zum COGITO schließt unter dem Titel ‚Epoché‘ eine grundsätzliche Einklammerung der ontologischen Geltung von weltbezogener Erfahrung ein (vgl. CM2,7f). In diesem Kontext gilt, dass die Welt ‚ihren ganzen Sinn … ausschließlich aus solchen cogitationes [Anmk: verstehbar als bei sich seienden Gegebenheiten]‘ hat (CM2, 8). Durch eine solche Epoché verschwinden die Gegebenheiten nicht sondern sie verbleiben als ‚Phänomene‘, als Gegebenheiten ‚für mich‘ (vgl. CM2, 8). Der so Denkende gewinnt sich ‚als das reine ego‘ mit dem ‚reinen Strom seiner cogitationes‘ (CM2, 8). In diesem Ich gewinnt die  Welt als Teil des Bewusstseins Sinn und Seinsgeltung (vgl. CM2,9).

(5a) Husserl kritisiert an Descartes, dass dieser die Grundeinsicht zur transzendentalen Philosophie zwar erreicht,  dann aber das transzendentale ego gewissermaßen ‚ontologisiert‘ habe, um es mittels weiterer Prinzipien (‚Schlüsse nach dem Kausalprinzip‘) verrechnen  zu können (vgl. CM2,9f). Wenn Husserl allerdings dann kontrastierend folgert, dass ‚ich und mein Leben in meiner Seinsgeltung unberührt bleibt‘ (CM2,10), dann kann – und muss? — man an dieser Stelle fragen, ob er nicht selbst eine fundamentale Fehleinschätzung begeht. Zu sagen, dass das ‚eventuelle Nicht-sein [von Welt] mein reines Sein nicht aufhebt‘, sondern höchstens ‚voraussetzt‘ (CM2,11), hat eine gewisse Berechtigung, da das ‚Nicht-sein‘ nur als ein ‚Gedachtes‘ auftreten kann, welches  das Denken –und damit das transzendentale ego– voraussetzt; das ‚Sein‘ von im Bewusstsein Gegebenem mit Weltbezug als phänomenal Unterscheidbares von ‚anderem‘ phänomenal Gegebenem ohne Weltbezug kann man aber auch so qualifizieren wie das transzendentale ego selbst: als ein Gegebenes, über das das Denken genau so wenig verfügen kann wie über seine eigene (transzendentale) Struktur. Nicht das Veränderliche am Phänomen ist die entscheidende Qualität, sondern dessen ‚Unverfügbarkeit‘, die dem des transzendentalen Ego in keiner Weise nachsteht. Infiziert durch das Interesse an einem absoluten Grund des Erkennens war Husserl von der Entdeckung des transzendentalen Ego offensichtlich so fasziniert, dass er die ‚Kleinigkeit‘ der Unverfügbarkeit von Gegebensein als solchem nicht ausdrücklich gewürdigt hat.

(5b) Natürlich ist die Frage der ‚unberechtigten‘ Geltung eines Phänomens über sein ‚reines Phänomenseins‘ hinaus wichtig. Da die Phänomene –wie eine anschließende Reflexion auf diese Phänomene zeigen kann– unterschiedliche Verursachungen enthüllen (Körperinneres, Außenwelt…) ist es für die Phänomene als Gegebenheiten im Bewusstsein zunächst wichtig, diese als Gegebenheiten ‚für das denken Ich‘ wahrzunehmen und in ihrer Eigenart als ‚Inhalte des Bewusstseins‘ zu beschreiben. Was nun die Identifizierung der unterschiedlichen ‚Herkünfte‘ angeht, muss man aber dennoch die Frage stellen, inwieweit eine Charakterisierung wie ‚verweist auf etwas in der Außenwelt‘ oder ‚verweist auf etwas in meinem Körper‘ aufgrund von unterschiedlichen Erfahrungen ‚gelernt‘ werden muss oder ob diese grundsätzliche Unterscheidung nach der Herkunft nicht eine Leistung unseres Denkens selbst ist? Denn die ‚Art und Weise‘, die ‚Form‘, die ‚Logik‘ wie unser Denken uns ‚erscheint‘, ‚uns denken lässt‘, die ist uns a priori vorgegeben; weder müssen wir sie erst erfinden noch können wir sie verändern, noch können wir sie ‚hintergehen‘. In diesem Sinne ist die ‚Logik unseres Denkens‘ transzendental.  Sollte also  (i) die Charakterisierung eines Phänomens nach seiner Herkunft eine ’natürliche‘ Leistung unserer Denklogik sein, dann wäre klar, warum wir überhaupt diese Unterschiedlichkeit erkennen können; wir könnten sie auffassen, beschreiben, und darüber nachdenken. Sollten wir dagegen (ii) annehmen, dass eine solche Charakterisierung nicht zu den primären Gegebenheiten unserer Bewusstseinsinhalte gehört, sondern erst nachträglich durch Denken (und in diesem allgemeinen Sinne durch ‚Lernen‘) ‚erschlossen‘ werden muss, dann könnte man nicht ausschließen, dass es Menschen gibt, die diese Zuordnung von Phänomenen nach ihren unterschiedlichen Herkünften anders lernen als die Mehrheit. Würden wir Fall (ii) annehmen, dann müssten wir für alle Menschen in ihren ersten Lebensjahren die Verfügbarkeit eines Lernkriteriums annehmen, das es den Kindern ermöglicht, die fundamentale Unterscheidung von ‚außen‘ und ‚innen‘ zu lernen. Ein solches ‚Lernkriterium‘ –das sagen die bisherigen Forschungen–  kann nur dann in allen Kindern ‚hinreichend Ähnliches‘ bewirken, wenn es Teil des ‚Lernmechanismus‘ des Kindes ist, sprich Teil der ‚Denklogik‘. Ohne eine grundsätzliche Eigenschaft des Denkens selbst, ein Phänomen hinsichtlich seiner unterschiedlichen ‚Herkünfte‘ –und damit unterschiedlicher ‚Gegebenheitsweisen‘– qualifizieren zu können, gäbe es bzgl. Herkunft unterschiedslose Phänomene, die das Denken zwar kombinieren kann, aber die Frage unterschiedlicher Gegebenheitsweisen (Außenwahrnehmung, Innenwahrnehmung; bei Innenwahrnehmung ‚Traum‘, ‚Erinnerung‘, ‚Schmerzen‘, ‚Körperstellungen‘ usw.) wären daraus nur mittelbar, im Nachhinein, durch Reflexionen, erschließbar. Eine letzte philosophische Klärung steht für mich noch aus; meine bisherige ‚Arbeitshypothese‘ ist,  dass (ii) falsch ist.

(5c) Wie immer man die Frage –Variante (i) oder (ii)– entscheiden mag, von der Frage der phänomenologisch Beschaffenheit eines  Phänomens ist die grundsätzliche ‚Verfügbarkeit‘ zu unterscheiden (siehe oben). Diese ‚Verfügbarkeit‘ bzw. ‚Unverfügbarkeit‘ von Phänomenen ist etwas sehr Grundsätzliches. Sofern es Phänomene gibt, die nicht ‚unser Denken erzeugt‘, sondern die unser Denken ‚vorfindet‘, die es ‚auffindet‘, die in ihrer ‚Unverfügbarkeit‘ ‚anders‘ sind, gehört diese ‚Unverfügbarkeit‘ zu ihrer ‚Gegebenheitsweise‘, die für diese Art von Phänomenen ‚konstitutiv‘ ist. Zwar tritt diese konstitutive Unverfügbarkeit ‚zugleich‘ mit unserem Denken auf, zeigt sich ‚in‘ unserem Denken in Form des ‚für mich seins‘, ‚im Bewusstsein sein‘, als ‚Gegenstand des Bewusstseins‘, doch ist das konstitutiv Unverfügbare ‚unabhängig vom Denken‘; es ist ‚koexistent‘. Wenn wir das Denken ‚transzendental‘ nennen, weil es in seiner Art und Weise ‚vorgegeben‘ ist, so müssen wir die Qualifizierung auch auf das konstitutiv Unverfügbare anwenden: im konstitutiv Unverfügbaren haben wir ein ‚Anderes‘, das ‚für uns‘ ebenfalls transzendental ist.  So sehr ich ‚Anderes‘ nur denken kann, weil ich ‚überhaupt denken‘ kann, so sehr kann ich anderes aber auch nur denken, weil sich das ‚Andere‘ als Anderes – unabhängig von meinem Denken (und ‚Wollen‘)   ‚zeigt‘. Mein Denken kann das ‚Andere‘ nicht erzwingen(vgl. CM2,10f).

(6) Die Entscheidung von Husserl, das Moment der Unverfügbarkeit an den Phänomenen mit Weltbezug mit Bezug auf das transzendentale Ego ungleichgewichtig ‚auszuklammern‘, führt zu einem radikalen Solipsismus (’solus ipse‘, CM2,12) des transzendentalen Ego, zur Idee einer reinen ‚Egologie‘ (CM2,12). Da auch eine reine Egologie die Phänomene des Bewusstseins nicht völlig ausklammert, sondern sie letztlich ’nur‘ anders ‚bewertet‘, verschwindet die ‚Welt‘ im phänomenologischen Denken nicht völlig. Jedoch ist von der besonderen Husserlschen ‚philosophischen Anfangskonfiguration‘ aus absehbar, dass er sich im weiteren Verlauf in tiefliegende logische Konflikte verwickeln wird, die er unter Beibehaltung dieser Anfangskonfiguration nicht wird auflösen können.  Sein weiterer Denkweg illustriert dies sehr deutlich.

(7) Schon die nächst große Annahme Husserl’s, die von der ‚Intentionalität‘ des Bewusstseins (vgl. CM2,13) zeigt, dass die Unverfügbarkeit des Anderen als das, wovon ein transzendentales Ich Bewusstsein hat, so hervorstechend ist, dass er Intentionalität als ‚Grundeigenschaft‘ konstatieren muss. Spätestens jetzt hätte Husserl merken müssen, dass diese Grundeigenschaft etwas ist, was sich nicht aus einem ‚Ego‘ ‚ableiten‘ lässt, sondern dass das Ego als ‚transzendentales Ego‘ nur aufscheinen kann, weil es in einer ‚Beziehung‘ aufscheint, die durch die Koexistenz von ‚Anderem‘ und ‚Ego‘ aufgespannt wird (vgl. CM2, 13).

(8) Auffällig ist, dass Husserl an dieser Stelle neben dem allgemeinen Gegebensein der Phänomene unterschiedliche ‚Sinnesarten‘, unterschiedliche ‚Seinsmodi‘ und unterschiedliche ‚Bewusstseinsarten‘  postuliert (CM2,13). Ferner unterscheidet er im Bereich der Bewusstseinsarten zwischen ‚gegenständlichen‘ und  ’nicht-gegenständlichen‘ Bewusstseinsarten, wobei er die ’nicht-gegenständlichen‘ auch ’subjektive‘ nennt (CM2,14).

(9) Tatsächlich sind diese Begriffe an dieser Stelle nicht wirklich ‚erklärt‘. Husserl unterstellt damit, dass jeder Leser seiner Zeilen (bzw. jeder Zuhörer seiner Vorlesungen) diese Sachverhalte in seinem eigenen Bewusstsein vorfinden kann. Ohne diese Unterstellung wäre seine Kommunikation unsinnig. Da Husserl kaum unterstellen kann, dass die einzelnen wechselnden Phänomenen bei jedem gleich sind, muss sich diese Unterstellung auf allgemeine Strukturen des Erlebens als ‚im Bewusstsein für mich sein‘ beziehen. Und dazu müssen mindestens die Sinnesarten, Seinsmodi und Bewusstseinsarten gehören. Wäre dem nicht so, dann wäre eine Verständigung über Phänomene grundsätzlich ausgeschlossen; es gäbe keine hinreichend ähnliche Bedeutungskorrelate. Ein Phänomen ph ist dann nicht nur einfach ein ‚Gegebenes‘ sondern ein Gegebenes e einer bestimmten Sinneserfahrung p, in einem bestimmten Seinsmodus m und in einer bestimmten Bewusstseinsart c (was immer Husserl sich bei diesen verschiedenen Begriffen im Einzelnen gedacht haben mag). Ein Phänomen als Gegebenes wird damit zu einer komplexen Struktur ph = <e,p,m,c>. Nur alle Momente zusammen ergeben eine vollständige Charakteristik dessen was ein Phänomen ist. Lässt man ein Moment aus, dann fehlt ein wesentliches Bestimmungsstück. Während die Momente ‚p,m,c‘ zur ‚Struktur des Bewusstseins‘ gehören, zur ‚Logik des Denkens‘, bildet das Moment ‚e‘ den für die Struktur des Denkens jenen Bereich, in dem  ‚unverfügbare‘ ‚fremde‘ Anteil, das ‚Andere‘,  auftreten können. Etwas, das zwar wahrnehmbar und durch seine ‚Eigenschaften‘ beschreibbar ist, aber eben nicht durch die Struktur des Bewusstseins erzeugt werden kann.

(10) Nach Husserl muss  eine phänomenolgische Analyse innerhalb der Bewusstseinserfahrung dem ‚beständigen Fluss des cogitierenden Seins und Lebens‘ nachgehen (CM2,14). Dies bedeutet, dass man sowohl in jedem Augenblick (Zeitpunkt) eine endliche Menge von Phänomenen ph_i in Ph_(t) haben kann wie auch, dass ein Augenblick in den ’nächsten‘ Augenblick übergehen kann, also von Ph_(t) zu Ph_(t+1).  Unter Voraussetzung solcher ‚anschaulicher Bestände‘ (CM2,14) soll ein Philosoph sich alles ‚ansehen‘, soll es ‚explizierend‘ analysieren, soll es mittels ‚Begriffen‘ und ‚Urteilen‘ beschreiben (CM2,14).

(11) Wenn also der Strom des cogitierenden Seins der ‚Gegenstand‘ der Bewusstseinsanalyse ist einschließlich all der phänomen-inherierenden Eigenschaften, dann wäre dies alles jeweils der intentionale Gegenstand eines ‚Denkstandpunktes‘, der diesem Gegenstand irgendwie ‚gegenüber‘ steht, der einen ‚Blickpunkt‘ konstituiert, von dem aus dieser intentionale Gegenstand so gegeben ist, wie er es ist. Das ‚im Bewusstsein sein‘ stellt sich damit grundlegend als eine Beziehung, Relation dar zwischen dem ‚transzendentalen ego‘ Tego einerseits und  den  anschaulichen Beständen Ph_(*) mit den unterschiedlichen Aktivitäten Ansehen, Explizieren und Beschreiben andererseits,  also etwa TEgo subset Ph_(*) x (ANS x EXPL x BESCHR).

(12) Zusätzlich gilt aber auch, dass die ‚Tätigkeiten‘ des Denkens die Inhalte teilweise verändern, es ist also nicht nur einfach eine Relation, sondern partiell auch eine Abbildung, etwa TEgo : Ph_(*) x (ANS x EXPL x BESCHR) —> Ph_(*), d.h. in einem Augenblick hat das transzendentale ego TEgo als intentionalen Gegenstand eine endliche Folge von Phänomenen –im Grenzfall nur eine Menge Ph_(t)– sowie eine Menge möglicher Denktätigkeiten   ANS x EXPL x BESCHR. Wird mindestens eine dieser Denktätigkeiten angewendet, dann verändert sich die Folge der Phänomene von Ph_(t) zu Ph_(t+1).

(13) Was immer also im einzelnen das transzendentale ego sein mag, es setzt voraus, dass die ‚Betrachtungsebene‘ des TEgo eine andere ist als die Gegenstände von Ansehen, Explizieren und Beschreiben. Man könnte sich auch auf den Standpunkt stellen, dass man sagt, dass das transzendentale Ego letztlich nur die formale Einheit der verschiedenen Denktätigkeiten ist, also etwa TEgo = ANS u EXPL u BSCHR, so dass gelten würde TEgo : Ph_(*) —> Ph_(*) mit den Teilabbildungen ANS: Ph_(*) —> Ph_(*), EXPL: Ph_(*) —> Ph_(*), BSCHR: Ph_(*) —> Ph_(*). Dies würde besagen, dass die intentionalen Inhalte Ph_(*) von einer ‚höher gelegenen Ebene‘ aus auf unterschiedliche Weise ‚verarbeitet‘ werden können und dass die Verarbeitungsergebnisse wiederum intentionale Gegenstände werden können. Ganz allgemein kann man ja offen lassen, ob die Liste der bislang von Husserl genannten Verarbeitungsweisen vollständig ist (Er spricht auf der gleichen Seite auch noch von ‚Wahrnehmen‘, ‚Sich-erinnern‘, ‚eben-noch-im-Bewußtsein-haben‘, ‚Vorerwarten‘, ‚Wünschen‘,’Wollen‘, ‚prädikative Aussage‘,…(CM2,14)). Nennt man die Gesamtheit aller möglichen Verarbeitungsweisen die Denklogik DLOG, dann wäre das transzendentale ego in einer vereinfachenden Interpretation  die Summer all dieser Denklogiken und man könnte auch schreiben DLOG : Ph_(*) —> Ph_(*). So betrachtet könnte es unterschiedliche Sammlungen von Verarbeitungsweisen, also unterschiedliche Denklogiken, geben. Mit Blick auf eine Kommunikation zwischen verschiedenen ‚Bewußtseinen‘ muss man annehmen, dass eine sprachliche Kommunikation voraussetzt, dass die Denklogiken der Beteiligten ‚hinreichend ähnlich‘ sind, andernfalls ist eine Verständigung ausgeschlossen.

(14) Das Bewusstsein stellt sich also bislang dar als ein Übergang von einer Anschauung Ph_(t) zur nächsten Ph_(t+1), und die möglichen Änderungen werden induziert entweder von dem anschaulichen Anteil Ph_(t) selbst oder aber von der Denklogik DLOG der transzendentalen Perspektive, die Abbildungsprozesse in den Fluss der Anschauung induzieren kann. Unter anderem bedeutet dies, dass unser Denken den Gegenstand unseres Denkens beständig verändern kann.

(15) Die ‚kritische‘ Wende vom sogenannten ’natürlichen‘ Denken (mit automatischer Seins-Unterstellung bestimmter Phänomene) soll durch die Epoché herbeigeführt werden, indem  die automatischen Seins-Unterstellungen ‚außer Kraft‘ gesetzt werden (CM2,14f). Entscheidend ist hier der Wechsel des ‚Blickpunktes‘: nicht die intentionalen Gegenstände des Denkens stehen jetzt im Fokus sondern das Denken selbst, das mit den intentionalen  Gegenständen als Gegebenheiten des Bewusstseins Veränderungen vornehmen kann. Insofern die ‚Seinsgeltung‘ bestimmter (empirischer) Phänomene Ph_emp(t) subset Ph_(t) ‚eingeklammert‘ werden soll, bedeutet dies, dass diejenige Leistung des Denkens, die solche Geltung möglich macht –ONT subset DLOG–, als solche ‚identifiziert‘ und ‚aufgehoben‘ werden muss. Dies impliziert aber, dass die Perspektive der verschiedenen Denkaktivitäten DLOG doch noch nicht die ‚letzte‘ Perspektive des transzendentalen Denkens ist, schließlich wird DLOG darin selbst zu einem ‚möglichen Gegenstand‘! Man muss also doch zu der ursprünglichen Unterscheidung zurückkehren und sagen, ja, es gibt einerseits eine Abbildungsbeziehung zwischen DLOG und den anschaulichen Phänomenen DLOG:  Ph_(*) —> Ph_(*), aber es gibt darüberhinaus noch eine weitere Ebene, die des reinen transzendentalen ego, das sowohl die intentionalen Gegenstände des Denkens wie auch das Denken selber zum Gegenstand machen kann, also TEgo: Ph_(*) x DLOG —> Ph_(*) x DLOG. Insbesondere möchte Husserl, dass die ‚Generierung einer ontologischen Geltung‘ [ONT] ‚deaktiviert‘ wird  TEgo: Ph_(*) x DLOG[+ONT] —> Ph_(*) x DLOG[-ONT]. In dieser Interpretation wäre die wesentliche Eigenschaft des ‚kritischen‘ transzendentalen Denkens NICHT die Einklammerung der ontologischen Geltung, sondern der grundsätzliche Perspektivenwechsel vom Fokus intentionaler Gegenstände hin zum Fokus intentionale Gegenstände und zugehörige Denkprozesse. Die Zu- oder Absprechung einer ontologischen Geltung wäre dann nur ein kleiner Aspekt im komplexen Gebäude möglicher Denkaktivitäten. Streng genommen kann man in dieser Interpretation  auch transzendental Philosophieren ohne die Abschaltung der ontologischen Geltung, da ein ’sich selbst bewusstes‘ transzendentales Denken um die Spezifität ontologischer Geltung ‚weiß‘ und nur die Schlüsse zieht, die kontextabhängig ’sinnvoll‘ sind. Die Fixierung von Husserl auf die Abschaltung der ontologischen Geltung erscheint in diesem Kontext nicht nur wie das Verhalten eines überängstlichen Vaters, seiner jungen Tochter der transzendentalen Philosophie nur nicht zu viel zu erlauben, sondern darüber hinaus auch als unglücklich Akzentsetzung. Denn die Forderung, dass sich der Philosoph ‚über die weltlichen Interessen stellt‘ (CM2, 16) kann er primär nur erfüllen, wenn er den grundlegenden Perspektivenwechsel vollzieht. Eine ‚gewusste‘ unterstellte Geltung auszuschalten, bringt in diesem Fall nicht nur keinen zusätzlichen Vorteil, sondern wirft sogar die Frage auf, ob der Philosoph sich dadurch nicht künstlich ‚blind‘ macht. Eine ‚Ausklammerung‘ würde letztlich bedeuten, diese Geltung verschwindet aus dem Horizont; damit würde aber gerade eine wesentliche Eigenschaft des Phänomens abhanden kommen. Das wäre dann das Gegenteil von ‚kritisch‘, nämlich ‚unwissend‘, ’naiv‘ im vollen Sinne.

Zur Fortsetzung siehe CM3, Teil 2

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(NOCHMALS) PHÄNOMENOLOGISCHES DENKEN

(1) Der Denkweg von Husserl (1859 – 1938) signalisiert einen Prozess, der zu einzelnen Zeitpunkten eine Fixierung in Form von offiziellen Publikationen erfuhr. Wie die mittlerweile fast vollständige Werkausgabe (Husserliana 1950ff) erkennen lässt, muss man die offiziell publizierten  Werke sehen als ‚gleitende Fixpunkte‘ in einem Strom von begrifflichen Fixierungen und dann auch wieder Modifikationen, Auflösungen, Veränderungen, wie er für ein selbständiges aktives Denken typisch ist.

(2) Vor diesem allgemeinen Hintergrund kann man die Frage stellen, ob es sinnvoll ist, das Werk eines aktiven  Philosophen über seine offiziellen Publikationen hinaus in all seinen Verästelungen zu verfolgen und zu deuten. Sicher mag man im Detail dadurch Präzisierungen vornehmen können, mag man manche schwebende Interpretationen möglicherweise besser auflösen können, zugleich werden sich aber neue Unklarheiten und Fragen einstellen und, nahezu unvermeidlich, wird die in der offiziellen Publikation fixierte Position in Interpretationskontexte gezwungen, die der schreibende Autor mit der offiziellen Publikation gerade hinter sich lassen wollte.

(3) Von einem größeren Zusammenhang her, nämlich dem der umgebenden ‚Kultur‘, stellt sich die Frage ebenso: wenn wir davon ausgehen, dass der Mensch seine biologisch bedingten Verarbeitungskapazitäten bis auf weiteres nicht merklich erweitern kann, dann stellt die gewaltige Vermehrung von Bänden als Teile von uferlosen Werkausgaben eine quantitative Hürde in der möglichen Vermittlung des philosophischen Wissens dar: im akribischen Streben von Herausgebern nach immer ‚Mehr‘ wird es für den möglichen Rezipienten immer schwerer bis unmöglich,   die eigentlichen Inhalte, das philosophische Denken, auffassen zu können. Während man ein Hauptwerk mit ein, zwei Kommentaren vielleicht noch lesen und verarbeiten kann, muss jeder vor 30, 40 und mehr Bänden für einen einzelnen Philosophen schlichtweg kapitulieren. Dazu kommt – theoretisch unbedeutend, praktisch aber sehr bedeutend –, dass die ‚wissenschaftliche‘ Literatur methodisch korrekt bei Zitaten der Werkausgabe folgt. Diese ist aber letztlich nur Spezialisten zugänglich. Welcher normale Mensch kann es sich leisten, nach Bedarf in eine Bibliothek zu gehen, um in eine Werkausgabe Einsicht nehmen zu können, geschweige denn, sich privat Bände aus der Werkausgabe zuzulegen? Aus praktischer Sicht, man muss es klar sagen, sind die modernen Werkausgaben ‚elitär‘ und verhindern eine breitere Rezeption statt sie zu befördern.

(4) Natürlich ist es aus Sicht des einzelnen Denkers, dem es  primär um die Wahrheit geht, und zwar um die möglichst allgemeine und prinzipiell gültige, kein Motiv, die Summe seines Denkens mit Blick auf die umgebende Kultur — oder gar noch mit Blick auf eine mögliche Nachwelt – ‚lesbar‘ und ‚kompakt‘ in möglichst wenige Publikationen zusammen zu fassen, womöglich in ein einziges Buch, sozusagen sein ‚Personal Summary‘. Von der Natur des Denkprozesses her ist es vermutlich auch nur begrenzt möglich, da ja die Erlangung bestimmter Einsichten an einen konkreten Denkprozess gebunden ist, dessen aktive ‚Durchlebung‘ notwendig ist. Zu sagen, man soll einen Denkprozess, der womöglich Monate oder Jahre umfasst, auf wenige Seiten zusammen fassen, klingt im ersten Moment für manche schockierend. Auf der anderen Seite sehen wir im Bereich der Wissenschaften und der Technologie, dass dasjenige was die Zeiten verändert und gestaltet, letztlich die Ergebnisse sind; die Wege zum Ergebnis sind zwar für den einzelnen unumgehbar und wesentlich, sind meistens auch ‚erlebnisstark‘, aber dennoch zählt nachher vor allem die tatsächlich gewonnene Einsicht in einen neuen Zusammenhang. Die Frage einer ‚Zusammenfassung‘ wäre von daher nicht ganz so abwegig, wenngleich vermutlich lebensfremd; ein aktiver Denker denkt nicht in Zusammenfassungen, sondern primär in Prozessen; darin ist er ein ‚Getriebener‘. Von sich aus wird er Zusammenfassungen nur schreiben, insoweit er sie selbst benötigt, um sich immer wieder mal zu vergewissern, welche der bislang gedachten Zusammenhänge denn nun gerade wichtig sein sollen für den weiteren Prozess.  Prozess: ich selbst habe in meinem Leben  bestimmt schon mehr als 50 Notizbücher vollgeschrieben (und gemalt), aber ich kann mich nicht entsinnen,  dass ich jemals nochmals in eines dieser Notizbücher hineingeschaut habe. Z.T. Hab ich sie schon weggeschmissen oder gar verbrannt. Die ‚Leiter‘ ist zwar notwendig, um an einen bestimmten Punkt zu kommen, aber dann, wenn man ihn erreicht hat, wird sie ‚überflüssig‘.

(5) Husserls Philosophie ist charakterisiert als ‚Phänomenologie‘. In der Einleitung zum Husserl-Lexikon (Gander et al. Hrsg, 2010) stellt Gander fest (S.8), dass Husserl den Begriff der Phänomenologie nicht von Hegel übernommen habe sondern von der Psychologie des 19.Jahrhunderts. Diese Feststellung wirft Fragen auf: selbst wenn es so wäre, dass die Psychologie des 19.Jahrhunderts Ansatzpunkte für eine entsprechende Terminologie geboten hatte, so wundert es dennoch, dass der Philosoph Husserl, der sich ja vehement gegen den Vorwurf des ‚Psychologismus‘ zur Wehr gesetzt hat,  ausgerechnet dasjenige philosophische System nicht zur Kenntnis genommen haben soll, das vor ihm den Gedanken der Phänomenologie intensiv und extensiv entwickelt hat, faktisch sogar weit über den Punkt hinaus, den Husserl in seinem eigenen Werk erreicht hat? Dieser Sachverhalt bedarf weiterer Klärung.

(6) Nach Gander (ebd., S.8) zeichnet sich die phänomenologische Methode dadurch aus, dass alle Erkenntnisansprüche durch eine ‚reflexive und vorurteilsfreie‘ Analyse der ‚Gegebenheitsweisen von Gegenständen im Bewusstsein‘ aufgeklärt werden sollen. Dies impliziert, dass ‚Bewusstsein‘ immer schon  ‚Bewusstsein von etwas‘ (‚Intentionalität‘) ist. Damit verlagert sich auch das ‚transzendente‘ Objekt ‚außerhalb des Bewusstseins‘ als ‚Erlebnisimmanenz‘ ‚in‘ das Bewusstsein. Das ‚Andere‘ ist nicht das ‚ganz andere‘ sondern nur ein Anderes, das als Erlebtes anders ist innerhalb des Bewusstseins. Aussagen über ‚transzendente Geltungsansprüche‘ müssen also innerhalb der Reflexion des Bewusstseins entschieden werden. Eine phänomenologische Analyse kann also nur durch Analyse sowohl der vorfindlichen Gegenstände (und ihrer Eigenschaften) wie auch durch die Art und Weise ihres Auftretens innerhalb eines ‚Erkenntnisaktes‘ zu ‚Erkenntnissen‘ kommen. Anders gesagt: durch die Art und Weise, wie sich das Bewusstsein auf vorfindliche Gegenstände beziehen kann. Husserl erhebt mit seiner phänomenologischen Methode den Anspruch, die Philosophie als ’strenge Wissenschaft‘ zu begründen (S.8).

(7) Folgt man Andrea Staiti im gleichen Buch (S.50ff), dann beschreibt die Reduktion auf die Immanenz des Bewusstseins mit der Ausklammerung  (epochä) transzendenter Geltungen nur   den ‚cartesianischen‘ Weg (C.W.) in das phänomenologische Denken. Sie unterscheidet noch den ‚psychologischen‘ Weg (P.W.) sowie den ‚lebensweltlichen‘ Weg (L.W.). Der cartesianische Weg (in Anlehnung an die ‚meditationes de prima philosophia‘ (1641/2) von Descartes) ist der grundlegendste von allen dreien, führte bei Husserl aber zum  Problem des nahezu vollständigen  ‚Verlustes‘ von Welt und Intersubjektivität. Für Husserl bot die phänomenologische Methode für dieses Problem nahezu keinen Ausweg. Seine späteren Versuche über den psychologischen Weg, der seinen Ausgangspunkt bei der ‚Fülle‘ psychologischer Phänomene‘ nimmt, führten letztlich, wollte man sie für die phänomenologische Philosophie nutzbar machen, doch wieder zum cartesianischen Weg, der alle ‚unrechtmäßigen‘ Geltungsansprüche ausklammert. Bleibt noch der lebensweltlich Weg, der in seinen späten unveröffentlichten Schriften als der ‚bessere‘ charakterisiert wird (vgl. Staiti, S.55). Es fehlt aber ein klarer Aufweis, wie ein lebensweltlich orientierter Weg mit der phänomenologischen Methode tatsächlich vereinbar ist.

Fortsetzung 1:

(8) Will man diesen Fragen genauer nachgehen, muss man sich selbst in die Texte Husserls vertiefen. Angesichts der Breite seines Werkes fragt sich dann, wo man ansetzen soll.

(9) Folgt man den Worten der Einleitung in die 2.Auflage  der Cartesianischen Meditationen von Husserl (Husserliana, Bd.1, The Hague: Netherlands, Martinus Nijhoff, 1973), dann sieht Husserl  in der deutschen  Bearbeitung der beiden Pariser Vorträge vom 23. und 25.Februar 1929 gleichsam die Krönung seines Lebenswerkes in der Darstellung der transzendentalen Phänomenologie als ‚universaler Philosophie, die voll ausgebildet alle Ontologien (‚aller‘ apriorischen Wissenschaften) und alle Wissenschaften überhaupt – in letzter Begründung – umspannen würde‘ (ebd., S.XXVIII). Das Manuskript mit dem deutschen Text, das am 17.Mai 1929 nach Straßburg zum Zwecke der Übersetzung (durch Levinas, Pfeiffer) ins Französische übersandt wurde (und der im März 1931 bei Colin in Paris erschien) ist verschollen. Es gibt ein anderes Manuskript, das Husserl selbst Ende 1932 Dorion Cairns (New York) geschenkt hatte, das nach allen Erkenntnissen dem ursprünglichen Manuskript für die französische Übersetzung weitgehend entspricht. Ferner gibt es natürlich Manuskripte im Besitz des Husserl Archivs, die die originalen Texte enthalten (für Details lese man den textkritischen Anhang von Husserliana, Bd.1). Alles in allem kann man sagen, dass die Inhalte der cartesianischen Meditationen in der Textgestalt von Husserliana I in hinreichend klarer Fassung vorliegen. Dieser Text erscheint daher geeignet, einen ersten Einstieg in das philosophische Konzept von Husserl zu bieten. Die späteren Versuche von Husserl, eine erweiterte und vertiefte Fassung der cartesianischen Meditationen für das deutsche Publikum vorzubereiten (mit starker Unterstützung durch Fink),  kamen zu keinem endgültigen Abschluss. Wohl veröffentlichte er noch einen größeren Text (Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Philosophie), doch wurden nur Teil 1+2 veröffentlicht; den dritten Teil hatte er wieder zurückgezogen, um ihn nochmals zu überarbeiten, wozu es durch seinen Tod aber nicht mehr kam).

Fortsetzung siehe HIER