Archiv der Kategorie: Astronomie

EPISTEMISCHE SCHOCKWELLEN. Die letzten 3500 Jahre

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 20.Sept. 2018
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Die Diskussion im Kontext des letzten Textes von Freud zur Psychoanalyse lässt erkennen, wie sich das Bild von uns Menschen über uns selbst dadurch in gewisser Weise ändern kann und letztlich dann ändert, wenn wir uns auf diese Gedanken einlassen. Die Einbeziehung des ‚Unbewussten‘ in das Gesamtbild des Systems homo sapiens verschiebt so manche Beziehungen im Gefüge des menschlichen Selbstbildes, und nicht nur das, es wirkt sich auch aus auf das Gesamtbild der empirischen Wissenschaften, auf ihr Gesamtgefüge. Dies hatte sich ja auch schon angedeutet in der vorausgehenden Diskussion des Buches von Edelman, die noch nicht abgeschlossen ist.

Dies hat mich angeregt, über Freud und Edelman hinausgehenden einige der epistemischen Schockwellen zusammen zu stellen, denen das menschliche Selbstverständnis in den letzten ca. 3500 Jahren ausgesetzt war. Dabei muss man sich darüber im Klaren sein, dass es natürlich immer nur eine Minderheit war, die überhaupt an den übergreifenden Erkenntnissen teilhaben konnte, und selbst diese Minderheit zerfällt in unterschiedliche Subgruppen ohne ein kohärentes Gesamtbild.

EPISTEMISCHE SCHOCKWELLEN

Unter ‚Schockwellen‘ werden hier energetische Ereignisse verstanden, die nur gelegentlich auftreten, und die geeignet sind, bestehende Strukturen zumindest zum Schwingen, zum Erbeben zu bringen, wenn nicht gar zu ihrer Zerstörung führen. ‚Epistemisch‘ bezieht sich auf die Dimension des Erkennens, des Verstehens, zu dem Exemplare des Homo sapiens fähig sind. ‚Epistemische Schockwellen‘ sind also Ereignisse, durch die das Selbstverständnis, die Weltbilder der Menschen in Schwingungen versetzt wurden bzw. sich neu aufbauen mussten.

Die folgende Zusammenschau solcher epistemischer Schockwellen ist in keiner Weise vollständig, weitgehend nicht differenziert genug, rechtfertigt sich aber dadurch, dass es darum geht in einer überschaubaren Weise einen Grundeindruck von der Dynamik des Geistes zu vermitteln, die dem Geschehen des biologisch fundierten Lebens innewohnt.

CLUSTER RELIGION

 

Stichworte zu 'Epistemische Schockwellen', Teil 1. ca. -1500 bis ca. 1500
Stichworte zu ‚Epistemische Schockwellen‘, Teil 1. ca. -1500 bis ca. 1500

Zwischen ca. -1500 bis etwa 650 gab mindestens 8 große das Weltverstehen prägende Ereignisse – daneben viele andere, weitere –, die wir im Nachgang als ‚Religionen‘ bezeichnen. Religionen zeichnen sich aus durch ‚Gründer‘, durch ‚Botschaften‘, durch ‚Erfahrungen‘ und dann meistens nachfolgend durch ‚Regeln‘ und Bildung von ‚Organisationsformen‘. Sie erheben einen Anspruch auf ‚Deutung der Welt‘ mit ‚Sinn‘, ‚Werten‘ und ‚Spielregeln‘. Sie versprechen auch den Kontakt zu eine Letzten, Größten, Umfassenden, Endgültigen, dem alles andere unter zu ordnen ist. Vielfach gehen diese Versprechungen auch einher mit speziellen ‚außergewöhnlichen Erlebnissen‘, die im einzelnen stattfinden.

In Vorderasien und Europa waren dies vor allem das Duo Judentum-Christentum und der Islam. Während diese sich explizit auf einen ‚Schöpfer‘ bezogen, kam der indische Subkontinent neben der vielfältigen Götterwelt des Hinduismus in seinem Grundtenor — realisiert im Buddhismus — ohne einen expliziten Schöpfer aus, allerdings nicht ohne eine tiefgreifende Existenzerfahrung des einzelnen Menschen, der sich durch einen geeigneten Lebensstil und Meditation möglichst weitgehend von einem normalen Alltag und seinen vielfältigen Spannungen isolierte.

So verschieden Jugentum-Christentum, Islam auf der einen Seite und Indischer Existentialismus auf der anderen Seite auf den ersten Blick wirken können, kann man aber dennoch auffällige strukturelle Parallelen erkennen.

Die sprachliche Seite der genannten Religionen tendiert dazu, nicht die Weite und Vielfalt der Welt zu kommunizieren, keine weiterreichende Erkenntnisse, sondern die Sprache hat einzig den Zweck, eine bestimmte, abgegrenzte Idee zu kommunizieren, diese abzugrenzen von allem anderen, bis dahin, dass alle Abweichungen diskreditiert werden. Jene Menschen, die sich sprachlich von der ‚Norm‘ entfernen sind Abweichler, Dissidenten, Ungläubige, Verräter, Feinde. Die Sprache wird also nicht gesehen als ein offener, lebendiger, dynamischer Raum von ‚Wahrheit‘, die sich weiter entwickeln kann, sondern als eine symbolische Fessel, eine symbolische Mauer, die einige wenige Ideen abgrenzen sollen. Auch der Buddhismus, der eigentlich sein Fundament in einer schwer beschreibbaren individuellen Existenzerfahrung sieht, praktiziert Sprache überwiegend als Gefängnis.

Betrachtet man sich die Geschichte dieser Religionen bis heute, dann ist diese Starrheit unübersehbar. Alle modernen Erkenntnisse und Entwicklungen prallen an der Sprache dieser Religionen ab.

Neben der sprachlichen Dimension haben alle diese Religionen auch eine ‚Erlebnisdimension‘, oft auch ‚Spiritualität‘ oder ‚Mystik‘ genannt. Einzelne, Gruppierungen, Bewegungen erzähltem davon, schrieben es auf, dass sie ‚besondere, tiefgreifende Erlebnisse‘ hatten, die ihnen ‚klar gemacht haben‘, was wirklich ‚wichtig‘ ist, ‚worin der Sinn des Lebens‘ liegt, Erlebnisse, die ihnen ‚Frieden‘ geschenkt haben, ‚Erfüllung‘, ‚Wahrheit‘. Und diese Erlebnisse waren immer so stark, dass sie diese Menschen aus allen Schichten dazu bewegt haben, ihr Lebens radikal zu ändern und von da an eben ‚erleuchtet‘ zu leben. Diese Menschen gab es nicht nur im Umfeld des Buddhismus, sondern auch zu Tausenden, Zehntausenden im Umfeld des Judentum-Christentums.

Solange diese religiösen Bewegungen sich im Umfeld der etablierten religiösen Überzeugungen und Praktiken bewegen wollten, mussten sie sich – wie immer auch ihre individuellen Erlebnisse waren – diesem Umfeld anpassen. In vielen Fällen führte dies auch zu Absetzbewegungen, zur Entwicklung neuer religiöser Bewegungen. Das Problem dieser erlebnisbasierten Bewegungen war, dass sie entweder nicht die Sprache benutzen durften, die sie zur Beschreibung ihrer Erlebnisse brauchten (da nicht erlaubt), oder aber, sie benutzten eine neue Sprache, und dies führte zum Konflikt mit den etablierten Sprachspielen.

Unter den vielen hunderten Bewegungen allein im Bereich Judentum-Christentum, die z.T. viele tausend, ja zehntausend  Mitglieder hatten und dabei oft auch materiell sehr wohlhabend bis reich wurden, möchte ich zwei kurz erwähnen: die Reformation angefeuert von Martin Luther und den Jesuitenorden, angefeuert von Ignatius von Loyola. Im historischen Klischee werden beide Bewegungen oft als direkte Gegner skizziert, da der Jesuitenorden kurz nach Beginn der Reformationsbewegung gegründet wurde und der katholische Papst gerade diesen Orden auch zur ‚Bekämpfung der Reformation‘ einsetzte. Dieses Bild verdeckt aber die wirklich interessanten Sachverhalte.

Der Jesuitenorden entstand aus den spirituellen Erfahrungen eines baskischen Adligen, deren innere Logik, Beschreibung und Praxis, im Lichte der Erkenntnisse der modernen Psychologie (und Psychoanalyse) stand halten würde. Außerdem war der Orden aufgrund dieser Spiritualität extrem weltoffen, wissenschaftsaffin, und revolutionierte die damals beginnende christliche Missionierung der Welt, indem jeweils die Kultur der verschiedenen Erdteile studiert und übernommen und sogar gegen zerstörerische Praktiken der europäischen Kolonisatoren geschützt wurden. Genau dieses wahre Gesicht des Ordens mit einer radikal individuell-erlebnisbasierten Spiritualität und daraus resultierenden Weltoffenheit und Menschlichkeit führte dann zum Verbot und Aufhebung des Ordens weltweit, verbunden mit Einkerkerungen, Folter und Tod ohne Vorankündigung. Das korrupte Papsttum ließ sich damals von dem portugiesischen und spanischen Hof erpressen, die ihre menschenverachtende Geschäfte in den Kolonien, speziell Südamerika, bedroht sahen. Dies war nicht die einzige Aufhebung und Misshandlung, die der Orden seitens des Papstums erfuhr. Während Luther sich gegen das Papsttum erhob und es auf einen Konflikt ankommen ließ, blieben die Jesuiten dem Papst treu und wurden vernichtet.

Diese Minigeschichte ließe sich aber zu einem großen Thema erweitern, da eben die sprachlich fixierten Religionen generell ein Problem mit Wahrheit und damit mit jeglicher Art von Erfahrung haben. Die Akzeptanz individueller Erfahrung als möglicher Quell von ‚Wahrheit‘, möglicherweise einer weiter reichenden alternativen Wahrheit zu der sprachlich fixierten (und damit eingesperrten) Wahrheit der Religionen, eine solche Akzeptanz würde das Wahrheitsmonopol dieser Religionen aufheben. Bislang hat keine der genannten Religionen es geschafft, von sich aus ihr problematisches Wahrheitsmonopol in Frage zu stellen.

JUDENTUM – CHRISTENTUM – PHILOSOPHIE

In der Zeit vor den modernen empirischen Wissenschaften existierte wissenschaftliches Denken entweder gar nicht oder in enger Verbindung mit dem philosophischen Denken bzw. der Medizin.

In der alten und klassischen Griechischen Philosopie (ca. -800 bis -200) wurde das Weltverstehen in vielen Bereichen erstmalig sehr grundlegend reflektiert, unabhängig von bestimmten religiösen Überzeugungen, obgleich natürlich auch diese Denker nicht im luftleeren Raum lebten sondern in konkreten Kulturen mit einer damals üblichen Moral, Ethik, Spielregeln, Sprachspielen.

Unter den vielen bedeutenden Konzepten war das größte systematische Konzept wohl jenes von Aristoteles, Schüler Platons, und den an ihn anschließenden Schulen. Während dieses griechische Denken nach der Eroberung Griechenlands durch die Römer in Mittel- und Westeuropa bis zum Jahr 1000 mehr oder weniger unbekannt war (Kriege, radikal anti-wissenschaftliche Einstellung der katholischen Kirche) war der damalige Islam sehr offen für Wissen. Das griechische Denken war im Islam weitgehend bekannt, lag entsprechend in arabischen Übersetzungen vor, und durch eine Vielzahl von Schulen, Bildungsstätten und großen Bibliotheken (z.T. mehrere hundert Tausend Bücher!) wurde dieses Wissen gepflegt und weiter entwickelt (welcher Kontrast zum heutigen Islam!). Und nur über diese Umweg über den hochgebildeten Islam mit Übersetzungsschulen in Spanien kam das Wissen der Griechen ab ca. 1000 wieder in das christliche Mittel- und West-Europa.

Mit dem Entstehen eines aufgeschlosseneren Bildungssystem in Europa wanderten die griechischen Gedanken über Bücher und Gelehrte wieder in europäische Bildungsstätten ein. Es gab eine Zeit der intensiven Auseinandersetzung zwischen bisheriger christlicher Theologie und Aristoteles. Auf dem Höhepunkt der begrifflichen Integration von christlichem Glauben und Aristotelischer Weltsicht gab es aber ‚Abspaltungstendenzen‘ in mehreren Bereichen.

POLITIK – WISSENSCHAFT – SPIRITUALITÄT

Das zunehmend freie und kritische Denken begann mit der Infragestellung der bis dahin waltenden absolutistischen Machtstrukturen.

Das methodisch geschulte universitäre Denken begann, über die aristotelischen Konzepte hinaus zu denken. Anknüpfungspunkte gab es genügend.

Das individuelle Erleben der Menschen, ihre Frömmigkeit, ihre Spiritualität suchte nach neuen Wegen, benutzte eine neue Sprache, um sich besser ausdrücken zu können.

Das neue politische Denken führte später zur französischen Revolution und vielen ähnlichen politischen Erneuerungsbewegungen.

Das neue philosophische Denken führt alsbald zum Bildung der neuen empirischen Wissenschaften mit neuer Logik und Mathematik.

Die neue Spiritualität lies viele neue religiöse Bewegungen entstehen, die quer zu allen etablierten Glaubensformen lagen, u.a. auch zur Reformation.

PHILOSOPHIE – WISSENSCHAFT

Stichworte zu 'Epistemische Schockwellen', Teil2. ca. ca. 1550 bis ca.2018
Stichworte zu ‚Epistemische Schockwellen‘, Teil2. ca. ca. 1550 bis ca.2018

Aus der Vielzahl der philosophischen Denker bieten sich vier besonders an: Descartes, Kant, Wittgenstein und Carnap.

Von heute aus betrachtet markieren diese Vier entscheidende Umbrüche des philosophischen Denkens, das von den Entwicklungen in der Logik, Mathematik,Physik, Geowissenschaften, Biologie und Psychologie zusätzlich profitiert hat und noch immer profitiert.

Descartes versuchte zu klären, inwieweit sich die Wahrheitsfrage nur durch Rekurs auf das eigene Denken lösen ließe. Sein Fixpunkt in der Gewissheit des eigenen Denkens (cogito ergo sum) wurde aber erkauft durch einen fortbestehenden Dualismus zwischen Körper (res extensa) und Denken/ Geist (res cogitans), den er mit einem irrationalen Gedanken zu einer Zirbeldrüse zu kitten versuchte.

Kant führte dieses Forschungsprogramm von Descartes letztlich weiter. Sein Vermittlungsversuch zwischen fehlbarer konkreter empirischer Erfahrung und den allgemeinen Prinzipien der Mathematik und des Denkens (des Geistes) ging über Descartes insoweit hinaus, dass er auf eine Zirbeldrüsen-ähnliche Lösung verzichtete und stattdessen davon ausging, dass der Mensch in seinem Denken von vornherein in abstrakten Kategorien wahrnimmt und denkt. Unsere menschliche Konstitution ist so, dass wir so wahrnehmen und Denken. Er konstatierte damit ein Faktum, das wir heute mit all unseren Erkenntnissen nur bestätigen können. Es blieb bei ihm offen, warum dies so ist. Es zeichnet seine intellektuelle Redlichkeit aus, dass er die offenen Enden seiner erkenntnistheoretischen (epistemischen) Analysen nicht krampfhaft mit irgendwelchen Pseudo-Lösungen versucht hat zu vertuschen.

Wittgenstein war der erste, der sich mit dem Funktionieren der Sprache und ihrer Wechselwirkung mit unserem Denken ernsthaft, ja radikal beschäftigte. Während er in seinem Frühwerk noch der Statik der damaligen modernen Logik huldigte, begann er dann später alle diese statischen formalen Konstruktionen in der Luft zu zerreißen, durchlief weh-tuende detaillierte Analysen der Alltagssprache, machte vor nichts Halt, und hinterließ mit seinem frechen und angstfreien Denken einen Trümmerhaufen, dessen Verdienst es ist, den Raum frei gemacht zu haben für einen echten Neuanfang.

Carnap wirkt in diesem Zusammenhang auf den ersten Blick wie ein Antipode zu Wittgenstein, und in der Tat hat er ja das vor-wittgensteinsche Sprachverständnis in seinen Studien zu den formalen Sprachen, zur Logik, zur logischen Semantik weiter angewendet. Allerdings hat er dies dann auch im Kontext der empirischen Wissenschaften getan. Und in diesem Kontext hat sein formal-scholastisches Denken immerhin dazu beigetragen, die Grundstrukturen moderner empirische Theorien mit einem formalen Kern frei zu legen und ihre Eigenschaften zu untersuchen.

Alle diese genannten Ansätze (Kant, Wittgenstein, Carnap) wurden später mehrfach kritisiert, abgewandelt, weiter entwickelt, aber es waren diese Ansätze, die die nachfolgenden Richtungen entscheidend beeinflusst haben.

Ein interessanter Grenzfall ist Freud (s.u.). Irgendwie könnte man ihn auch zur Philosophie rechnen.

LOGIK – MATHEMATIK

Aus heutiger Sicht kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dass es eine Zeit gegeben hat, in der die moderne Logik und Mathematik nicht verfügbar war. Nahezu alles, was unseren Alltag ausmacht setzt sehr viel Mathematik als beschreibende Sprache, als Berechnung, als Simulation voraus. Dass mathematisches Denken in den Schulen so wenig – und immer weniger – behandelt wird, ist sehr irritierend.

Logik und Mathematik sind einen weiten Weg gegangen.

Ein Meilenstein ist der Übergang von der klassischen aristotelischen Logik (eng an der Alltagssprache, Einbeziehung inhaltlichen Alltagsdenkens) zur modernen formalen Logik seit Frege (formale Sprache, formaler Folgerungsbegriff).

Eng verknüpft mit der Entwicklung der neuen formalen Logik ist auch die Entwicklung der modernen Mathematik, die entscheidend mit der Erfindung der Mengenlehre durch Cantor ihren Durchbruch fand, und dann mit Russel-Whitehead und Hilbert die Neuzeit erreichte. Keine der modernen Arbeiten in Gebieten wie z.B. Algebra, Topologie, Geometrie sind ohne diese Arbeiten denkbar, ganz zu schweigen von der modernen theoretischen Physik.

EMPIRISCHE WISSENSCHAFTEN

Erste Ausläufer empirischer Wissenschaft gab es schon vor Galilei (man denke z.B. nur an die bahnbrechenden Forschungen zur Medizin von dem islamischen Gelehrten (und Philosophen, Logiker, Theologen!) Avicenna). Doch an der Person Galileis kristallisiert sich der Konflikt zwischen neuem, offenen wissenschaftlichen Denken und dem alten, geschlossenen christlichen Denken. Zudem hat Galilei eben konsequent sowohl eine experimentelle Messmethode angewendet wie auch eine beginnende mathematische Beschreibung. Mit Newton gelang dann eine Fassung von Experiment und Theorie, die atemberaubend war: die Bewegung der Himmelskörper ließ sich nicht nur mit einfachen mathematischen Formeln beschreiben, sondern auch noch mit bis dahin unbekannter Präzision voraus sagen. Es sollte dann zwar noch fast 300 Jahre dauern, bis die moderne Physik eine erste Theorie zur Entstehung des ganzen Weltalls formulieren konnte samt ersten experimentellen Bestätigungen, aber die Befreiung des Denkens von dogmatischen Sprachbarrieren war geschafft. Die Wissenschaft insgesamt hatte sich freigeschwommen.

Schon im 17.Jahrhundert hatte Niels Stensen entdeckt, dass die unterschiedlichen Ablagerungsschichten der Erde in zeitlicher Abfolge zu interpretieren sind und man daher auf geologische Prozesse schließen kann, die die Erde durchlaufen haben muss.

Zwei Jahrhunderte später, schon im 19.Jahrhundert, wurde diese historische Sicht der Erde ergänzt durch Charles Darwin, der am Beispiel der Pflanzen- und Tierwelt auch Hinweise auf eine Entwicklung der Lebensformen fand. Sowohl die Erde als auch die biologischen Lebensformen haben eine Entwicklung durchlaufen, zudem in enger Wechselwirkung.

Fast parallel zu Darwin machte Freud darauf aufmerksam, dass unser ‚Bewusstsein‘ nicht die volle Geschichte ist. Der viel größere Anteil unseres menschlichen Systems ist ’nicht bewusst‘, also ‚unbewusst‘. Das Bewusstsein ‚erzählt‘ uns nur ‚Bruchstücke‘ jener Geschichten, die weitgehend im ‚Nicht-Bewusstein‘ oder ‚Unbewussten‘ ablaufen.

Die weitere Entwicklung der Biologie lieferte viele Argumente, die das Bild von Freud stützen.

Der Versuch von Watson, 1913, die Psychologie als empirische Verhaltenswissenschaft zu begründen, wurde und wird oft als Gegensatz zu Psychoanalyse gesehen. Das muss aber nicht der Fall sein. Mit der Verhaltensorientierung gelang der Psychologie seither viele beeindruckende theoretische Modelle und Erklärungsleistungen.

Von heute aus gesehen, müsste man ein Biologie – Psychologie – Psychoanalyse Cluster befürworten, das sich gegenseitig die Bälle zuspielt.

Durch die Einbeziehung der Mikro- und Molekularbiologie in die Evolutionsbiologie konnten die molekularen Mechanismen der Evolution entschlüsselt werden.Mittlerweile steht ein fast komplettes Modell der biologischen Entwicklung zur Verfügung. Dies erlaubt es sowohl, Kants (als auch Descartes) Überlegungen von den biologischen Voraussetzungen her aufzuklären (z.B. Edelman!), wie auch die Psychologie samt der Psychoanalyse.

COMPUTER

Als Gödel 1931 die Unentscheidbarkeit anspruchsvoller mathematischer Theorien (das fängt bei der Arithmetik an!) beweisen konnte, wirkte dies auf den ersten Blick negativ. Um seinen Beweis führen zu können, benötigte Gödel aber sogenannte ‚endliche Mittel‘. Die moderne Logik hatte dazu ein eigenes Forschungsprogramm entwickelt, was denn ‚endliche Beweismethoden‘ sein könnten. Als Turing 1936/7 den Beweis von Gödel mit dem mathematischen Konzept eines Büroangestellten wiederholte, entpuppte sich dieses mathematische Konzept später als ein Standardfall für ‚endliche Mittel‘. Turings ‚mathematisches Konzept eines Büroangestellten‘ begründete dann die spätere moderne Automatentheorie samt Theorie der formalen Sprachen, die das Rückgrat der modernen Informatik bildet. Das ‚mathematische Konzept eines Büroangestellten‘ von Turing wurde ihm zu Ehren später ‚Turingmaschine‘ genannt und bildet bis heute den Standardfall für das, was mathematisch ein möglicher Computer berechnen kann bzw. nicht kann.

Im weiteren Verlauf zeigte sich, dass gerade das Konzept des Computers ein extrem hilfreiches Werkzeug für das menschliche Denken sein kann, um die Grenzen des menschlichen Wahrnehmens, Erinnerns und Denkens auszugleichen, auszuweiten.

Schon heute 2018 ist der Computer zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Gesellschaft geworden. Das Wort von der ‚Digitalen Gesellschaft‘ ist keine Fiktion mehr.

ZEITGEIST

Der extrem kurze Rückblick in die Geschichte zeigt, wie schwer sich die Ausbildung und Verbreitung von Ideen immer getan hat. Und wenn wir uns die gesellschaftliche Realität heute anschauen, dann müssen wir konstatieren, dass selbst in den hochtechnisierten Ländern die gesamte Ausbildung stark schwächelt. Dazu kommt das eigentümliche Phänomen, dass das Alltagsdenken trotz Wissenschaft wieder vermehrt irrationale, gar abergläubische Züge annimmt, selbst bei sogenannten ‚Akademikern‘. Die Herrschaft von Dogmatismen ist wieder auf dem Vormarsch. Die jungen Generationen in vielen Ländern werden über mobile Endgeräte mit Bildern der Welt ‚programmiert‘, die wenig bis gar nicht zu wirklichen Erkenntnissen führen. Wissen als solches, ist ‚wehrlos‘; wenn es nicht Menschen gibt, die mit viel Motivation, Interesse und Ausdauer und entsprechenden Umgebungen zum Wissen befähigt werden, dann entstehen immer mehr ‚Wissens-Zombies‘, die nichts verstehen und von daher leicht ‚lenkbar‘ sind…

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OBJEKTIVE WERTE? Diskussion von Stace’s ’Religion and the Modern Mind’, Teil 3: Kap.4

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
17.Juni 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

ÜBERSICHT

In Fortsetzung der vorausgehenden Teile 1 und 2 wird hier das Kap.4 besprochen. In ihm beschreibt Stace die Entstehung des modernen wissenschaftlichen Weltbildes am Beispiel der Astronomie. Bei genauerem Hinsehen kann man schon hier die ’Bruchstelle’ erkennen, wo heute (mehr als 60 Jahre nach Staces Buch) eine ’Wiedervereinigung’ von Wissenschaft und ’Moral’ (oder gar ’Religion’) nicht nur möglich, sondern geradezu ’notwendig’ erscheint.

I. KAPITEL 4

Gedankenskizze zu Staces Kap.4: Entstehung des neuzeitliches wissenschaftlichen Weltbildes
Gedankenskizze zu Staces Kap.4: Entstehung des neuzeitliches wissenschaftlichen Weltbildes

Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft

Die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft ist eine langwierige und – wenn man sie voll aufschreiben wollte – eine komplexe Geschichte, die sich, je mehr man sich der Gegenwart nähert, in immer mehr Verfeinerungen aufspaltet und heute den Charakter einer ’großen Unübersichtlichkeit’ hat. Stace konzentriert sich auf ein Thema, lange Zeit das Hauptthema schlechthin, die ’Astronomie’, die Himmelskunde, und entwirft anhand der führenden Wissenschaftler dieser Zeit (15.Jh bis 20.Jh, kleine Rückblicke bis in die klassische Griechische Periode) holzschnittartig ein Bild der Entstehung des Neuen.

Ein Hauptcharakteristikum des neuen wissenschaftlichen Weltbildes ist der Übergang vom dominierenden ’geozentrischen Weltbild’ (die Erde als Mittelpunkt von allem) zum ’heliozentrischen Weltbild’ (die Erde dreht sich um die Sonne; die Sonne ist nicht mehr der einzige Bezugspunkt).

Vorgeschichten sind üblich

Für den Charakter von Weltbildern, die eine Kultur, eine ganze Epoche beherrschen, ist es bezeichnend, dass viele der wichtigen Grundüberzeugungen nicht einfach so ’vom Himmel gefallen sind’, sondern einen meist viele hundert Jahre andauernden ’Vorlauf’ haben, bisweilen tausende von Jahren. So auch im Fall der Diskussion ob ’geozentrisch’ oder ’heliozentrisch’. Schon lange vor dem Beginn der modernen Diskussion um ’geozentrisch’ oder ’heliozentrisch’, nämlich ca. 1800 Jahre (!) vor Kopernikus, gab es zwei griechische Mathematiker und Astronomen (Aristarch von Samos (um -310 bis um -230) und Seleukos von Seleukia (um -190 bis vor -135) ) die aufgrund ihrer Beobachtungen und Berechnungen ein klares heliozentrisches Weltbild vertraten. Für den damaligen ’Main Stream’ war das aber so ’unglaubwürdig’, dass Aristarch in die Rolle eines ’Ketzers’ gerückt worden sein soll, den man wegen ’Gottlosigkeit’ anklagen müsse.

Die Wiederkehr dieses Musters im Fall von Galileo Galilei und noch lange nach ihm (in manchen Teilen von religiösen Strömungen bis in die Gegenwart) mag als Indiz dafür gesehen werden, dass ’herrschende Weltanschauungen’ in ihrem eigenen Selbstverständnis, in ihrer Selbstbegründung, die Tendenz haben, sich ohne wirkliche Begründung ’absolut zu setzen’. Auf den ersten Blick erscheint solch ein Verhalten als ’Schutz der bestehenden Ordnung’, aber bei längerer Betrachtung ist dies ein gefährliches Spiel mit der Wahrheit, das eine ganze Kultur in die Irre und dann in den Abgrund führen kann. ’Sicherheit’ ist kein Ersatz für ’Freiheit’ und ’Wahrheit’.

Die Theoretiker

Bezeichnend für die Entwicklung von etwas Neuem ist auch, dass es letztlich nicht die ’Praktiker’ waren, nicht die ’Datensammler’, durch die das ’Neue’ sichtbar wurde, sondern eher die ’Theoretiker’, also jene Menschen, die über all die vielen ’Phänomene’ ’nachgedacht’ haben, nach irgendwelchen ’Regelhaftigkeiten’, ’Muster’ Ausschau gehalten haben, und die dies letztlich auch nur geschafft haben, weil sie in der Lage waren, die wichtigste Sprache der Menschheit zu benutzen, die es gibt, die Sprache der Mathematik. Kopernikus, Kepler, Galileo, Descartes, Huygens, Newton, Laplace – dies waren Menschen mit einer starken, primären Bildung in Mathematik. Ohne die mathematischen Kenntnisse hätten sie niemals die neue Sicht der Welt entwickeln können.

Andererseits, das gilt auch, ohne die Daten eines Tycho Brahe oder ohne bessere Messgeräte (z.B.Fernrohr), die Handwerker (und heute Ingenieure) bauen und gebaut haben, gäbe es auch nicht die Daten, die Fakten, anhand deren die Theoretiker jene Muster herauslesen konnten, die sie dann in der Sprache der Mathematik soweit ’idealisieren’, ’veredeln’ konnten, dass daraus die neuen unfassbaren Sichten entstanden, mit denen wir auch heute noch die Wirklichkeit um uns herum, das ’Rauschender Phänomene’ gedanklich sortieren, filtern, so neu anordnen können, dass wir darin und dadurch weitreichende Strukturen und Dynamiken erkennen können, die Jahrtausende unsichtbar waren, obwohl sie schon Milliarden Jahre da waren und wirkten.

Politisch Inkorrekt …

Während Kopernikus Zeit seines Lebens nur Ausschnitte aus seinem Hauptwerk ’De revolutionibus orbium coelestium’ veröffentlichte, da er damit rechnen konnte, von der Kirche als Ketzer angeklagt zu werden (der volle Text also erst 1543 erschien), legte sich Galileo Galilei (1564 – 1642) schon zu Lebzeiten mit den Vertretern der Kirche an und bewegte sich immer nah vor einer vollen Verurteilung als Ketzer mit dem dazugehörigen Tod durch Verbrennen.

Theoriebildung – Ein Muster

An der Theoriebildung von Galileo wird eine Eigenschaft sichtbar, die sich auch bei allen späteren wissenschaftlichen Theorien finden wird. Es ist das Moment der ’kreativen Irrationalität’, wie ich es mal nennen möchte. Dieses Moment findet sich in jeder wissenschaftlichen Theorie, und zwar notwendigerweise (Was heute gerne übersehen oder verschwiegen wird.). Seine Experimente zur Bewegung mit Körpern führten ihn zur Formulierung seines ersten Bewegungsgesetzes (das sich später auch in Newtons Hauptwerk ”Philosophiae Naturalis Principia Mathematica” als Teil seiner Mechanik findet) . Es besagt letztlich, dass kräftefreie Körper entweder in Ruhe bleiben oder sich geradlinig mit konstanter Bewegung bewegen (vgl. Stace (1952) [1]:64ff). Als ’Gesetz’ kann man diese Aussage nicht beweisen, man kann nur aufgrund von ’endlichen Daten’ eine ’Vermutung’ äußern, eine ’Hypothese’ formulieren, dass die bekannten Beispiele einen ’Wirkzusammenhang’ nahelegen, der sich eben auf die zuvor formulierte Weise beschreiben lässt. Solange dieser ’hypothetische Wirkzusammenhang’ sich im Experiment ’bestätigt’, so lange ist dieses Gesetz ’gültig’. Es kann im Laufe der Zeit aber auch durch neue, bisweilen ’feinere’ Beobachtungen, in ’Frage gestellt’ werden und dann –was oft geschehen ist – durch neue Formulierungen abgelöst werden.

Wichtig ist die grundlegende Figur, die sich hier zeigt: (i) Es gibt aktuell Phänomene (meistens aus der Vergangenheit), die man ’erklären möchte. Noch fehlen passende ’Regeln’. (ii) Aufgrund eines kreativen, irrationalen Denkprozesses entstehen ’Bilder von möglichen Mustern/ Regeln’, die mit den bekannten Phänomenen so ’passen’, dass man mit diesen Regeln das Auftreten der Phänomene so ’erklären’ kann, dass man ’zukünftige Phänomene’ voraussagen kann. (iii) Man erhebt diese kreativ gewonnenen Regeln in den Status von offiziellen ’Arbeitshypothesen’. (iv) Man macht Experimente mit diesen Arbeitshypothesen und ’überprüft’, ob die Arbeitshypothesen auch bei neuen, zukünftigen Phänomenen ’gültig’ bleiben. (v) Solange sich keine’ widersprüchlichen Befunde’ ergeben, gelten die Arbeitshypothesen als akzeptierte Regel.

Kreativität ist Fundamental – Logik Sekundär

Anders formuliert, mittels eines ’kreativen irrationalen’ Denkprozesses gewinnt man aus gegebenen Phänomenen ’induktiv’/ ’bottom-up’ mögliche ’erklärende Hypothesen’. Sofern man diese hat, kann man ’deduktiv’/ ’top-down’ gezielt Experimente durchführen, um die ’Gültigkeit’ dieser Arbeitshypothese zu überprüfen. Arbeitshypothesen kann man aber ’nicht logisch beweisen’, da dies voraussetzen würde, dass man  über eine noch ’allgemeinere’ Hypothese verfügt, aus der man eine ’speziellere’ Hypothese ableiten kann (So hat sich gezeigt, dass man z.B. die drei Planetengesetze von Kepler durch das spätere Gravitationsgesetz von Newton
als ’Spezialfall’ ’ableiten’ kann). Das menschliche Gehirn verfügt aber als solches nicht ’von vornherein’ (nicht ’a priori’) über irgendwelche allgemeinen Gesetze. Das Gehirn scheint aber sehr wohl in der Lage zu sein, anscheinend beliebig viele (genauer Umfang ist unbekannt) ’Regelmäßigkeiten’, sofern sie sich anhand von Phänomenen zeigen, zu erkennen und weiter zu ’verallgemeinern’. Die Geschichte zeigt, dass das ’Zusammenwirken’ von vielen Gehirnen einerseits den einzelnen bei weitem übertreffen kann, ohne allerdings — andererseits — die kreativ-irrationale Kraft des einzelnen dadurch zu ersetzen. Es bleibt immer ein spannungsvolles Wechselspiel von individueller Kreativität und kulturellem Main-Stream. Individuelle Abweichungen werden eher nicht toleriert, werden eher an die Seite gedrückt. Der ’aktuelle’ Erfolg wirkt stärker als der ’vermeintliche’. Insofern sind Kulturen große ’Echokammern’, die beständig in Gefahr sind, sich selbst zu lähmen.

Entzauberung – Entmystifizierung

Kopernikus, Galileos Fernrohr und Bewegungsgesetze, Keplers Planetengesetze, Newtons Mechanik samt dem Gravitationsgesetz, dies alles verhalf dem Denken durch neue Erklärungsmuster und unter Einsatz der mathematischen Sprache, zu einer Sicht der Dinge, die ein direktes Eingreifen ’anderer Mächte’ oder ’Gottes’ überflüssig erscheinen liesen. Im Fall von Newton ist aber zu beobachten, dass er trotz so großartiger Erklärungserfolge ’in seinem Innern’ noch eine Vorstellung von ’Gott’ hatte, die ihn dazu verleitete, einige Unregelmäßigkeiten bei den Planetenbahnen, die er nicht mit seinen Formeln erklären konnte, dann doch einem ’direkten Wirken Gottes’ zuzuschreiben. (vgl. Stace (1952) [1]:69ff) Es war dann Laplace, der die Unregelmäßigkeiten mathematisch einordnen konnte und der mit einer eigenen Theorie zur Entstehung der Sterne (bekannt als ’Nebularhypothese’) sogar meinte, er habe damit die Annahme Gottes als notwendiger erster Ursache ’erledigt’.

QUELLEN
[1] W. Stace, Religion and the Modern Mind, 1st ed. Westport (Connecticut): Greenwood Press, Publishers, 1952, reprint 1980
from Lippincott and Crowell, Publishers.

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

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CHRISTLICHES ABENDLAND EINE LEGENDE? Nachbetrachtungen zum Buch von R.Bergmeier

Letzte Änderungen: 9.Januar 2015 09:33h

Rolf Bergmeier, „Christlich-abendländische Kultur – eine Legende: Über die antiken Wurzeln, den verkannten arabischen Beitrag und die Verklärung der Klosterkultur Broschiert“, 238 Seiten, Aschaffenburg: Alibri Verlag, Dezember 2013

KONTEXT BLOG

Dieser Blog startete 2007 mit der Frage, ob heute angesichts eines ausgeprägten wissenschaftlichen Denkens Philosophie überhaupt noch Sinn macht. Der Auftaktvortrag bei der Philosophischen Gesellschaft Bremerhaven im Januar 2012 markierte nach 5 Jahren ein erstes deutliches ‚Ja‘, was sich dann im weiteren Verlauf weiter vertiefte und differenzierte. Auf dieser Basis wurde die Fragestellung dann weiter ausgedehnt auf die Frage der Rolle der Kunst im Verhältnis zu Philosophie und Wissenschaft sowie auch die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Religionen.

War die Frage nach Gott für die Wissenschaft lange Zeit kein wirkliches Thema, so spannt das Tandem (Philosophie, Wissenschaft) – speziell auch mit den immer ‚tiefer‘ reichenden Erkenntnissen zur Struktur der Materie – mittlerweile einen Denkraum auf, der prinzipiell keine Schranke mehr darstellen muss für Fragen nach einem ‚umfassenderen Sinn‘. Dies wird verschärft durch die sich vertiefenden Einsichten zur ‚Logik der Evolution‘, die es nicht nur gestatten, sondern logisch erzwingen, die ‚Wertefrage‘ als genuinen Teil einer Evolutionslogik aufzuwerfen.

So spannend all diese Fragen und Perspektiven sind, so sehr wird eine offene Auseinandersetzung, ein offener alle befruchtender Dialog über diese Perspektiven durch eine Vielzahl von nicht-wissenschaftlichen Faktoren behindert:

1. Die fortschreitende Instrumentalisierung von Wissenschaft durch Wirtschaft und Politik macht ein offenes Forschen und einen freien Austausch immer schwieriger.

2. Der Publikationszwang führt zu einer Inflation von Veröffentlichungen, die sich nicht nur durch die schiere Menge wechselseitig neutralisieren, sondern auch erprobte Qualitätsmechanismen vielfach außer Kraft gesetzt haben.

3. Die sehr starke kontinuierlich fortschreitende Spezialisierung wird nicht durch entsprechend starke disziplinübergreifende integrierende Maßnahmen aufgefangen.

4. Soziologische, anthropologische und methodische Aspekte des Wissenschaftsbetriebs werden kaum bis gar nicht reflektiert; stattdessen werden entsprechende Lehrstühle und Forschungsprogramme eher noch minimiert oder ganz abgeschafft.

5. Wird durch die Punkte (1) – (4) schon für Wissenschaftler selbst eine begründete Sicht übergreifender Strukturen schwierig bis unmöglich, ist die Öffentlichkeit von der gesamten Wissenschaftsentwicklung weitgehend abgeschnitten.

6. Dazu kommt die anhaltende Existenz verschiedenster religiöser Anschauungen in den Köpfen der Menschen, die in ihrer konkreten Ausformung eigentlich im Widerspruch zu vielem stehen, was wissenschaftlich erarbeitet wurde. So schwer es ist, sehr verlässliche Zahlen zu Mitgliederzahlen der verschiedenen religiösen Bekenntnissen zu bekommen und noch schwerer, klare Angaben zu den ‚tatsächlichen‘ Meinungen der Menschen, so scheint es doch dass es mit ca. 5.7 Mrd Menschen bzw. ca. 6.2 Mrd Menschen einen überwältigenden Anteil von Menschen zu geben, der trotz neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse Interpretationen der Welt folgt, die rational schwer zu rechtfertigen sind. Nach Schätzungen der UN gab es 2010 ca. 6.9 Mrd. Menschen.

GLAUBEN – KIRCHE – RELIGION

Aufgrund dieser Zahlen muss man vermuten, dass ein Gespräch über Glauben, Kirche, Religion bei ca. 8 von 10 Menschen mit Argumenten geführt wird, die weniger von wissenschaftlichen Erkenntnissen geleitet sind als vielmehr von religiös ‚inspirierten‘ Anschauungen, für die es keine nachvollziehbaren Argumente gibt. Die Möglichkeiten der Ideologiebildung, von Fundamentalismus, von Instrumentalisierung für sekundäre Zwecke, sind von daher vermutlich sehr groß.

Wenn dann in einer solch schwierigen geistigen Situation jemand ein Buch veröffentlicht, das zu der – statistisch — verbreitetsten Religion, nämlich dem Christentum, hier speziell zur westlichen Papstkirche, sehr kritische Feststellungen formuliert, dann darf man erwarten, dass in einem Diskurs über diese Religion sehr schnell Meinungen hochkochen, die nicht unbedingt sachlich gerechtfertigt sein müssen.

Was die Position des Autors cagent in Fragen der Religion – hier speziell der katholischen Kirche — betrifft, so startete er in einer ‚kirchennahen‘ Position, intensivierte dies durch sehr intensive Engagements ‚innerhalb‘ dieser Kirche, bis es dann 1990 bei ihm zur klaren Abgrenzung von dieser institutionellen Weise von Religion kam, einer Abweisung, die sich dann im Laufe der Jahre auch auf andere Formen von institutioneller Religiosität ausgedehnt hat. Diese in all Jahren langsam voranschreitende ‚Abkehr‘ von den religiösen Institutionen war begleitet von einer stärkeren Zuwendung zu politisch-sozialen Strukturen der allgemeinen Gesellschaft und einer weiteren Vertiefung einer ‚Spiritualität‘ im Sinne eines ‚Gott für Alle‘ Paradigmas, ‚Gott überall‘, ‚Gott zum Nulltarif‘.

Vor diesem Hintergrund hat der Autor cagent das Buch von Bergmeier mit höchstem Interesse gelesen und in ihm viele wertvolle Ideen gefunden die ihm so bislang (trotz Lektüre von vielen hunderten Artikeln und Büchern) entweder überhaupt nicht oder zumindest nicht in diesem speziellen Kontext bekannt waren.

Die nachfolgende Besprechung kann nur grob die Vielzahl der Thesen und Argumente wiedergeben und es wäre wünschenswert, dieses Thema auch in den nächsten Monaten (und Jahren) weiter zu verfolgen, zu vertiefen und zu klären.

Wenn man bedenkt, wie viele Kriege seit Jahren immer noch im Namen irgendwelcher Religionen geführt werden, Menschen verfolgt, gequält, gefoltert und getötet werden, dann scheint es sehr ‚rational‘ zu sein, auch heute die Frage der der Wahrheits- und Zukunftsfähigkeit einer Religion zu stellen, und zwar nicht isoliert für eine Religion, sondern simultan für alle Religionen! Wenn heute immer noch mehr als 80% aller Menschen religiösen Anschauungen anhängen, die keine rationale Begründung zulassen, und im Namen solcher Anschauungen anderen Menschen deren Lebensrecht absprechen, dann ist eine bloß formale ‚Religionsfreiheit‘ zu wenig. Die Frage muss vielmehr lauten, wie wir eine gemeinsame Zukunft denken und leben können, in der ALLE Menschen einen Platz haben können, und in der eine Religion – welcher Anschauung auch immer – ihre Wahrheits- und Zukunftsfähigkeit als eine Frage der Ehre und Gewissenhaftigkeit behandelt. Die formale Berufung auf irgendwelche Texte, die man einfach als ‚heilig‘ erklärt ohne ihre ‚Wahrheitsfähigkeit‘ ernst zu nehmen, kann keine Basis für eine gemeinsame Zukunft sein. Eine solche Haltung würde den Menschen selbst, bevor er überhaupt anfängt, Mensch zu sein, von vornherein ausschalten. Das ist vom gleichen Muster, wie wenn im Namen von ‚Sicherheit‘ genau die ‚Freiheit‘ und ‚Demokratie‘ abgeschafft wird, die geschützt werden soll; oder wenn im Namen von ‚Wahrheit‘ alles zerstört wird, was genau ‚Wahrheit‘ ermöglicht.

HAUPTTHESEN

Die folgenden Formulierungen reflektieren mein Verständnis des Buches und sind möglicherweise teilweise oder ganz falsch. Ich würde mich über jede Art von konstruktiver Klärung freuen, denn meistens lernt man durch bekannt gewordene Fehler.

Bei der Verwendung des Begriffs ‚Kultur‘ legt Bergmeier sich fest auf die Bereich Kunst, Bildung, Wissenschaft, intellektuelle Aktivitäten und zivilisatorische Leistungen (Anmk.5, S.9). ‚Zivilisatorische Leistungen‘ kann man aus dem Text deuten z.B. als die Infrastruktur von Gebäuden und ganzen Städten, technische Geräte aller Art, Verwaltungsstrukturen usw.

1. Das griechische Denken hat sich auch nach der Eroberung durch Rom in der Ausbildung und im Lebensstil der Römer vielfach behaupten können.

2. Merkmale der römischen Zivilisation sind: Einsatz für die Gesellschaft, Technologie, städtische Infrastrukturen mit Kanalisation und öffentlichen Bädern, Verkehrswege, Verwaltungsstrukturen mit Recht und Gesetz, Theater, religiöse Toleranz, Schulen, Wissenschaft in Akademien, Bibliotheken, effizientes geordnetes Militär. Alle Kommunen waren mit Elementarschulen ausgestattet und man schätzt dass ende des 1.Jh ca. die Hälfte aller Bürger Lesen und Schreiben konnte. (vgl. S.54f)

3. Nach dem Zerfall des römischen Reiches im Westen bricht das zivilisatorische Netzwerk im westlichen Einflussgebiet Roms sehr schnell zusammen. Nach Bergmeier ist dies aber weniger der Zerstörung von außen geschuldet (die Normannen habe eher versucht, sich zu ‚romanisieren‘), sondern die neue, wesentlich christliche Ideologie mit ihren gesellschaftsfeindlichen feudalistischen Anschauungen haben den bisherigen Strukturen jegliche geistige Unterstützung entzogen. (vgl. z.B. SS.20-22)

4. Der christliche Glaube war als solcher bis ins 4.Jh in mehr als 80 Glaubensrichtungen zersplittert, die sich z.T. massiv bekämpften. Die gemeinsamen Texte waren vieldeutig genug, um alle diese Deutungen zu erlauben. In diesem Chaos verschafft ein Erlass von Kaiser Theodosius von 390 ganz profan der Gruppe der Trinitarier die Oberhand. Jetzt definiert der Kaiser was ‚katholisch‘ ist und alle anderen sind von nun an ‚Ketzer‘, die verfolgt und bestraft werden. (vgl. SS.24-28) In den Folgejahren um weitere Dekrete ergänzt, ist ab jetzt die bisherige religiöse Toleranz per Staatsdekret abgeschafft; alle anderen – auch die Juden –, die nichtchristliche Kulthandlungen begehen oder Bekenntnissen huldigen, gelten als todeswürdig und werden verfolgt. Die allgemein zu beobachtende Abschwächung der staatlichen Organe wird immer mehr durch die kirchlichen Strukturen, insbesondere durch die Bischöfe, ausgeglichen. Ausgestattet mit einem absolutistischen Religionserlass können Sie alles verfolgen, was ‚gegen die Religion‘ zu stehen scheint. Dazu gehören alle ‚heidnischen‘ Schriften und eine sich auf diese Schriften berufende ‚Lebensform‘ wie Schulen, Theater, und Bibliotheken. Mit der Bibel und den Kirchenväter sei alles gesagt; außerdem habe man den Klerus und die Bischöfe. Mehr Bildung sei nicht notwendig. Damit wird die gesamte geistige Welt der Antike vernichtet. Aus der bisherigen Opposition der christlichen Lebensformen zur Lebensweise der römischen Gesellschaft wird plötzlich eine staatlich subventionierte klar hierarchisch organisierte Kirche, die mehr und mehr Macht und Einfluss an sich zieht. Die Interpretation und Leitung der Gegenwart aller gesellschaftlichen Strukturen wird damit nicht mehr ‚rational‘ vorgenommen, sondern in einem ’nichtrationalen Mythos‘ eingetaucht, der der Gesellschaft die Luft zum Atmen und die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung nimmt. In diesem unkontrollierten Bündnis von weltlicher Macht und irrationaler Religiosität will die Kirche letztlich die totale Macht. Dank ihrer absoluten ‚Deutungshoheit‘ über alles kann sie sich alles so zurecht definieren, wie die aktuellen Kirchenführer es gerade brauchen.(vgl. SS.29-36)

5. Während sich nach dem Tode des Kaisers Theodosius im Machtvakuum Roms die organisierte Papstkirche weiter in eine staatstragende Rolle hinein manövrieren kann bei gleichzeitiger Verachtung für Bildung und Wissenschaft, behält das Ostreich mit Byzanz seine Öffnung für die antike Bildung und Kultur bei. Klerus und Bischöfe beanspruchen niemals eine weltliche Macht wie im Westreich; der Klerus ist verheiratet und sondert sich nicht ab von der übrigen Bevölkerung. Es gibt weiterhin Bibliotheken und Akademien.(vgl. SS.36-39)

6. Unabhängig von Westrom und Ostrom entsteht mit dem Islam eine weltgeschichtlich bedeutsame Bewegung, die sehr oft ohne nennenswerten Widerstand ganze Städte und Regionen einnehmen konnte. In der Zeit der beiden großen Dynastien (661 – 750 Umaiyaden, 750 – 1258 Abbasiden) werden die damals noch vorhandenen Infrastrukturen und Akademien und Bibliotheken nicht nur übernommen, sondern massiv ausgebaut. Die Vielfalt der Kulturen mit dem dazugehörigen Wissen werden aufgegriffen und konstruktiv weiter entwickelt. Die Hauptstadt Bagdad wächst unter den Abbasiden auf eine Größe von 2 Mio Einwohnern an. (vgl. SS.39-43, 49-52)

7. Eine besondere Rolle spielt hier auch Spanien, das nach seiner Eroberung (beginnend in 710/711) durch die islamische Bewegung zu einer ungeahnten Blüte in nahezu allen Bereichen gelang (bis 1031). Durch eine tolerante Religionspolitik, geringe Steuern, und durch den Aufbau einer leistungsfähigen Infrastrukturen für alle wurden ungeahnte Kräfte frei gesetzt. (vgl. SS.43-47) Im Jahr 1000 zählt Cordoba 500.000 Einwohner, verfügt über Kanalisation und Straßenbeleuchtung, benutzt 3000 Moscheen und bietet 300 öffentliche Dampfbäder. (vgl.S.52)

8. Als dann nach 1031 die innerislamischen Stammeskämpfe stärker werden bei zugleich Erstarkung der päpstlichen Macht, die brutal alle nichtkatholischen Kräfte bekämpft, fällt Spanien schrittweise (bis zuletzt Cordoba 1492) wieder an die mitteleuropäischen christlichen Länder und Kräfte zurück. Die Verachtung für Bildung und Wissen im allgemeinen, gepaart mit extremer religiöser Intoleranz führt dann alsbald zum Zerfall von allen Strukturen, zum Niedergang der Wirtschaft, zur Flucht vieler Menschen. (vgl. S.48)

9. Deutete sich in den vorausgehenden Abschnitten schon an, dass die grundlegende Einstellung zum Wissen und zur Weltgestaltung zwischen der damaligen westlichen Papstkirche und dem damaligen Islam grundverschieden war, so sind die tatsächlichen Fakten regelrecht niederschmetternd. Während es im Islam ein Grundgebot für jeden Gläubigen ist, sich möglichst viel Wissen anzueignen, um seinen Glauben immer besser zu verstehen und es auch keine eigene Klerikerkaste gibt, die sich gegenüber den ’normalen‘ Gläubigen speziell positionieren muss, huldigt die westliche Papstkirche der Abschottung der Kleriker und Bischöfe, verteufelte Wissen jenseits der Liturgie und der Bibel und hielt die allgemeinen Gläubigen bewusst in Unwissenheit. Während sich islamische Bürger einen Wettstreit darin lieferten, Wissen aus allen Bereichen der Welt zu sammeln, übersetzen zu lassen und in Bibliotheken möglichst allen zugänglich zu machen, dazu öffentliche Schulen für alle (z.B. hatte Cordoba im 9.Jh hatte 27 Grundschulen und 17 höhere Lehranstalten speziell nur für Schüler aus einfachen Verhältnissen, insgesamt aber 800 öffentliche Schulen für Muslime, Juden und Christen gemeinsam!) gab es in den westlich-christlichen Länder nur Klosterschulen, und diese nur für eine ausgewählte Schar von Kindern, mit einem sehr einseitigen Bildungsauftrag. Auffällig ist auch die offene bildungsorientierte Funktion der Moschee, die für Begegnung, Kommunikation, Schule und gemeinsames Beten da war. Der offene kritische Stil des Lernens und Diskutierens an den islamischen Universitäten war letztlich die Schablone für die neuen Universitäten der westlich-christlichen Länder, die sich später aus der ungeistigen Bevormundung der Papstkirche lösen wollten. Das öffentliche Schulwesen, das Rom noch systematisch befördert hatte, kam in den westlich-christlichen Ländern im Laufe des 5.Jh weitgehend zum Erliegen. Höhere Bildung gab es überhaupt nicht mehr. Dass es im Klosterbereich trotz allseitiger Beschränkungen die eine oder andere Geistesgröße gab, darf nicht über die allgemeine Misere des christlichen Bildungswesens hinwegtäuschen. Die sogenannte ‚karolingische Bildungsreform‘ änderte an dieser allgemeinen Misere bei näherer Betrachtung so gut wie nichts. Im islamischen Bereich hatte nahezu jede Stadt mindestens eine Bibliothek, die allen offenstand (z.B. umfasste die Bibliothek von Cordoba 400.000 Bücher aus allen Wissensbereichen, mit Übersetzungen aus ganz vielen Sprachen, speziell aus dem Griechischen). Die größten Klosterbibliotheken besaßen aber nur Bestände von 400 – 700 Büchern, überwiegend zu Themen der Liturgie und des Glaubens, und diese waren nur innerhalb des Klosters zugänglich, und auch hier niemals allen Mönchen in gleicher Weise! Antike Texte oder Texte aus nichtkirchlichen Bereichen waren verpönt, waren des Teufels, lenkten nur vom Kern des Glaubens ab, den die Kleriker definieren. (vgl. SS.54 – 72)

10. Die islamische Blütezeit bringt zahlreiche berühmte Gelehrte hervor, von denen Al-Farabi, Ibn Rushd (Averroes) und Ibn Sina (Avicenna) vielleicht die Bekanntesten sind. Neben intensiven Studien und Kommentaren zu Aristoteles und der gesamten griechischen Philosophie bereichern sie die Philosophie speziell durch die intensiven Reflexionen zum Verhältnis von Glauben und Wissen. Avicenna war darüber hinaus anerkanntermaßen einer der größten Medizinforscher und Medizinlehrer seiner Zeit mit Nachwirkungen bis in 18.Jahrhundert. Während der Islam dieser Zeit Wissen und Wissenschaft grundsätzlich positiv sieht und keine Berührungsängste zu den Wissenschaften und zur griechischen Philosophie hat, gilt der päpstlichen Kirche griechisches Wissen als verdammenswert und jedes Wissen wird in seiner möglichen Konkurrenz zum absoluten Deutungsanspruch der selbsternannten Glaubenshüter grundsätzlich beargwöhnt. (vgl. SS.72-82)

11. Sehr deutlich, geradezu krass, ist der Unterschied zwischen der damaligen islamischen und und christlichen Kultur im Bereich Gesundheitsversorgung und medizinischer Forschung. Während die islamische Kultur nicht nur die vorzügliche medizinische Infrastruktur der Römer übernehmen, systematisch ausbauen und verbessern, dazu die Forschung intensivieren, Enzyklopädien verfassen, und für ein gutes System von Apotheken sorgen, ist von alledem in den damaligen christlich-westlichen Ländern nichts zu finden. Während die arabischen Werke die Grundlage für die moderne Medizin des späteren wissenschaftlichen Europa bildeten, findet sich von alledem im christlichen Bereich nichts. Es gibt keine öffentlichen Krankenhäuser und Apotheken, es gibt keine wirkliche Medizinforschung und Ausbildung, es gibt nur viel Nichtwissen und Aberglauben. Krankheit wird als ‚Sünde‘ eingestuft, als ‚Strafe Gottes‘. So steigt der Bedarf an Schutzheiligen und Wallfahrten. Das Dogma von der ‚blutfreien Medizin‘ führt dazu, dass chirurgische Eingriffe für Ärzte verboten sind und allen Berufsständen in der Kirche wird das Studium der Medizin gänzlich verboten. In diesem Zusammenhang weist Bergmeier auch auf viele Fragwürdigkeiten in den Überlieferung zu Hildegard von Bingen hin. (vgl. SS.82 – 96)

12. Im Bereich der Astronomie und Mathematik muss man auch eine große Diskrepanz konstatieren: während die arabischen Wissenschaftler die großen griechischen Werke übersetzen und mit eigenen Forschungen weiter ausbauten, verharrt die Mathematik in den westeuropäischen christlichen Ländern während 500 Jahren auf niedrigstem, elementarem Niveau. Erst als die großen arabisch-islamischen Werke ab dem 13.Jh ins Lateinische übersetzt werden kann die westeuropäische Renaissance neben und gegen die Kirche daran anknüpfen und ab dem 15.Jahrhundert diese großartigen Vorarbeiten dann schöpferisch weiter entwickeln. (Vgl. SS.96-105)

13. Wendet man den Blick auf die Mechanik, Feinmechanik, zu Uhren, Pumpen, Kartentechnik oder Papierproduktion, überall hat die arabisch-islamische Kultur durch intensivstes Studieren und Erforschen bekannten Wissens und dann durch eigene Entwicklungen einen Niveau erreicht, das international überall an der Spitze lag. Während z.B. die ersten Papiermühlen in Bagdad schon Ende des 8.Jhs nachweisbar sind, finden sich Nachweise für Papierproduktionen im westlichen Europa erst mehr als 400 Jahre später. (vgl. SS.105 – 113)

14.In den arabisch-islamischen Regionen blühen die Städte und floriert der Handel, da eine staatlich unterstütze Infrastruktur allgemeine Rahmenbedingungen schafft, die all dies ermöglicht. So ist z.B. Bagdad mit 2 Mio Einwohnern damals die größte Stadt der Welt mit aktiven Handelsbeziehungen nach Indien und China. Spanien wird dank exzellentem Bewässerungssystem, einer Vielzahl von neuen Pflanzen, Pflanzenveredelungen, neuen Produktionsmethoden, Seidenindustrie und vielem mehr zum Agrarexporteure Nr.1. In Sevilla sollen allein an die 16.000 Webstühle für die Seidenproduktion tätig gewesen sein. Im Gegensatz dazu verkümmern die Städte in den westlichen christlichen Ländern und versinken mangels Infrastruktur buchstäblich im Dreck; 80 – 90% der Landbevölkerung sind unselbständige Bauern, Landarbeiter, Hörige oder Sklaven und sind bettelarm. Aufgrund eines nicht vorhandenen Bildungssystems fehlt überall Knowhow und Wissen, Technologie und Wirtschaft sind nicht konkurrenzfähig, der Handel ist schwach, die allgemeine Armut wird immer schlimmer. Die einzigen Profiteure sind die Kirchen, Klöster und Bischöfe. Aufgrund von Schenkungen, Vermächtnissen und staatlichen Privilegien häufen sie immer mehr Landbesitz und passiven Reichtum an. So wird geschätzt, dass um 1000 sowohl in Deutschland wie auch in Italien ca. 50% allen Landes der Kirche (Bischöfe, Klöster, Kirchen) gehört. Während immer mehr kirchliche Gebäude gebaut werden, zu denen auch entsprechende Versorgungseinrichtungen gehören (für jede Kirche ein Hof mit 2 Morgen Land und 1 Knecht und 1 Magd pro 120 Einwohnern), gibt es keine öffentlichen Schulen, keine Krankenhäusern, keine Straßen, keine Kanalisation, usw. Der Staat, das Gemeinwesen wird bis aufs Blut ausgeplündert. Unter diesen verheerenden Rahmenbedingungen gab es für Städte keinerlei Wachstumsimpulse; wer konnte floh aus den Städten. Rom, einstmals Millionenstadt mit Brunnen, Bibliotheken und hunderten von Thermen, soll im 9.Jh nur noch 20.000 Einwohner gehabt haben. Während es im heidnischen Rom ein umfangreiches Sozialprogramm gab, um Arme und Bedürftige versorgen zu können, galt der Papstkirche Armut als Gottesstrafe und als etwas sündiges. Bettlern und Krüppel wurden mit der Peitsche gezüchtigt, mit glühenden Eisen gebrandmarkt oder gar das Ohr abgeschnitten. (vgl. SS.113 – 128)

15. Faktoren des Erfolgs in der arabisch-islamischen Kultur dieser Zeit sind eine große Offenheit für Wissen, das aktive Sammeln und Weiterentwickeln von Wissen, die große Toleranz für andere Kulturen und Religionen, und die Anwendung des Leistungsprinzips bei der Vergabe von Ämtern im Staat. So konnten Christen und Juden beispielsweise hohe Ämter erlangen, wenn sie die Anforderungen erfüllten. Das Steuersystem mit 10% war sehr moderat und sah darüber hinaus Ausnahmen für Kranke, Bedürftige etc. vor. Bedenkt man den geringen Bildungsgrad der westlich-christlichen Herrscher, ihre Intoleranz Andersgläubigen gegenüber, ihre Unwissenheit über wirtschaftliche Zusammenhänge, dann wundert manches nicht. Dazu verstärkend die massive Wissensfeindlichkeit der Kirche und der Klöster, die einseitige Ansammlung von Besitztümern bei den Kirchen, Klöstern und Bischöfen, und der weitgehende Rückzug des Staates aus gemeinschaftlichen Aufgaben. (vgl. SS.129 – 156)

16. Die beginnende Rückeroberung von ehemals arabisch besetzten Gebieten in Spanien und Sizilien führt zunächst nicht zu einem völligen Bruch mit der arabisch-islamischen Kultur. Im Gegenteil, der hohe Entwicklungsstand in allen Gebieten führt dazu, dass die jeweiligen Eroberer versuchen, die bestehende Kultur zu übernehmen und damit weiter zu leben. So wird Toledo in der Zeit 1072 – 1157 zu einem Zentrum der Übersetzung arabischer Texte ins Lateinische. War das ursprüngliche Motiv nicht unbedingt das Wissen als solches, sondern Argumente gegen die Ketzer zu finden, so wurden nicht wenige der westlich-christlichen Gelehrten von der überwältigenden Fülle und Breite des angesammelten Wissens und der wissenschaftlichen Methodiken so beeindruckt, dass sich offener Zweifel und Kritik an der christlichen Position entwickeln konnte (was auch von den Päpsten sofort kritisiert wurde). Analysen ausgewählter Wissensgebiete zeigen, dass etwa 90% aller lateinischen Übersetzungen arabischer Quellen (und über diese viele wichtige griechische Werke) durch die Übersetzungstätigkeit in Toledo in die westlich-christlichen Länder kam. Ähnliches geschah auch in Sizilien, wenngleich ohne die intensive Übersetzungstätigkeit wie in Toledo. Sizilien wird 1091 von den Normannen erobert, nachdem der Emir von Syrakus die Normannen um Hilfe gebeten hatte. Nach grausamer Eroberung übernehmen die Normannen aber die vorgegebenen Strukturen und Kultur und bewahren die religiöse Toleranz. Die Normannenkönige lernen die arabische Sprache und ihre Kindern werden sowohl christlich wie auch arabisch-islamisch erzogen. Sie befördern wie die Araber Wissenschaft und Kunst. So gilt in arabischen Kreisen die Kugelgestalt der Erde seit dem 9.Jh als gegeben, mit Eigenrotation und Bahn um die Sonne! Man findet ein neuerliches Aufblühen der italienischen Handelsstädte Venedig, Genua, Mantua und Florenz; sie sind aufgeschlossen für neues Wissen. In der Zeit ca. 1300 und 1430 wird der hemmende Einfluss des Papstums auf Italien wegen der Verlagerung nach Avignon und internen Machtkämpfen abgeschwächt. Neben der Erstarkung oberitalienischer Städte entstehen sogar erste Universitäten in Bologna, Paris, Prag und Heidelberg. Eine Nähe zur 200-jährigen Tradition von multidisziplinären Universitäten und königlichen Akademien im arabisch-islamischen Raum mit ihren hochentwickelten wissenschaftlichen Methoden ist so groß, dass hier das Vorbild zu vermuten ist (ansonsten gab es keine Beispiele, an denen die Universitäten in westlich-christlichen Ländern anknüpfen konnten). Die neuen Universitäten sind allerdings nicht ganz ‚frei‘, da sich der Papst immer das letzte Urteil darüber vorbehält, was mit der christlichen Lehre ‚vereinbar‘ sei. So gab es im 13.Jh mehrfach kirchliche Verbote, bestimmten Bücher des Aristoteles lehren zu dürfen. Doch mit Beginn des 14.Jh wird der Geist der Renaissance immer stärker und die ‚Bevormundung‘ durch das kirchliche Lehramt wird zunehmend abgelehnt; zugleich nimmt die Achtung und Hochschätzung der arabsch-islamischen Kulturleistungen zu und – vermittelt über diese – die Vertiefung der Kenntnisse der griechischen Antike. (vgl. SS.157 – 176)

17. Während das arabisch-islamische Reich teils durch innere Erbfolgestreitigkeiten, teils durch islamische Machtkämpfe mit fundamentalistischen Berberstämmen, teils durch äußere Feinde wie die Mongolen (1285 Eroberung Bagdads, man schätzt 800.000 Tote) zunehmend geschwächt wurde, erringen auch in Spanien westlich-christliche Heere immer mehr die Oberhand. Nachdem Toledo schon sehr früh zurück erobert worden war, fällt 1248 Sevilla, und Granada im Januar 1492. Führte die Eroberung von Toledo noch zu einer Anpassung der Eroberer an die vorgefundene hochstehende Kultur zum Nutzen aller, wurden die neuen Eroberungen von einem Geist religiösen Fanatismus geleitet. Mit der Heirat 1469 von Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon gewinnt der Papst durch den dominikanischen Beichtvater Torquemada Einfluss auf die Königin. 1478 wird offiziell die Inquisition begründet. Von da an wird mit dominikanischen und franziskanischen Kampfschriften Hass gegen Muslime und Juden geschürt und mit beispielloser Grausamkeit werden sie gefoltert und getötet. Mit anonymen Anklägern, ohne Zulassung von Zeugen, mittels grausamsten Foltermethoden, keinen ordentlichen Richtern, werden abertausende von Menschen getötet oder schwerst bestraft. Jegliche Opposition gegen den Papst und seine Regeln werden mit dem Tod durch Feuer bestraft. Abschluss und Höhepunkt eines Prozesses ist immer die öffentliche Verbrennung der Angeklagten. In dieses Bild passt auch, dass der katholische Erzbischof Jiménez 1499 alle heidnischen (= arabischen) Schriften Cordobas öffentlich verbrennen lässt. Diese waren mehr als 1 Mio Bücher aus allen Wissensgebieten. Zur Belohnung wird der Erzbischof zum Vorsitzenden der Inquisition ernannt. Mit der Zerstörung des Wissens und der Tötung und Vertreibung der Wissensträger bricht das ganze Bildungssystem, brechen die Infrastrukturen, bricht der Handel und die Wirtschaft zusammen. Gleichzeitig wird der Grundbesitz der Kirche dramatisch vergrößert und wieder ein feudales System mit hohen Abgaben eingeführt. Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragon, die Herrscher des vereinigten christlichen Spanien, gelten fortan als Retter des spanischen Christentums. (vgl. SS.176 – 182)

18. Im fünften und letzten Kapitel fasst Bergmeier nochmals alle bisherigen Argumente zusammen, z.T. mit Wiederholung von zuvor genannten Fakten, z.T. mit zusätzlichen Details. Die Grundthese bleibt die gleiche: (i) Die wesentlichen Eigenschaften, die das ‚moderne‘ Europa prägen, stammen aus der griechischen Kultur, die über die römische Kultur nachwirkt, und die dann in der Weiterentwicklung und Veredlung durch die arabisch-islamische Kultur aus der Zeit 700 – 1400 die Grundlagen für Renaissance und Aufklärung geboten hat. (ii) Das Christentum dagegen, das nach den Wirren der ersten vier Jahrhunderte mit einer der vielen theologischen Richtungen durch einen römisch-kaiserlichen Erlass zur Staatsreligion wurde, verachtete die Welt, das allgemeine Wissen, die Gesellschaft, und nutzte seinen Einfluss, um innerhalb von wenigen Jahrzehnten das gesamte Bildungswesen, die Bibliotheken, die städtischen Infrastrukturen, Wissenschaft und damit Technik zu zerstören. Es praktizierte einen radikalen Feudalismus, der der Kirche und ihren Institutionen im Laufe von 500 Jahren immer mehr Besitztümer einbrachte (in Deutschland und Italien um 1000 ca. 50% des gesamten Landbesitzes). Es verwandelte die Toleranz der anderen Kulturen in einen fundamentalistischen Dogmatismus, der es bei Todesstrafe nicht zuließ, dass Menschen die Papstkirche und ihre Lehren nicht anerkannten. (iii) Die Formulierung, dass Europa auf den Werten des ‚christlichen Abendlandes‘ basiere, sei vor diesem Hintergrund irreführend und damit ideologisch. (vgl. SS.183 – 212)

Die Fortsetzung mit Teil 2 findet sich HIER.

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

EINZELNE QUELLEN

Wikipedia-DE: Normannen

Wikipedia-DE:Normannische Eroberung Süditaliens. In der Zeitspanne ca. 1000 bis 1139 erobern die Normannen Apulien, Kalabrien und Sizilien einschließlich Capua und Neapel. Dieser Beitrag berichtet mit keinem Wort über die Kultur dieser Gebiete. Nach Bergmeier waren diese Gebiete in ihrer Kultur stark geprägt griechisch-byzantinischer und arabisch-islamischer Lebensart und Bildung, speziell Sizilien durch die ‚maurische‘ Besetzung seit 827 geprägt.

Wikipedia-EN: Inquisition.

Wikipedia-EN: Spanische Inquisiton. Sehr ausführlich!

Wikipedia-DE: Spanische Inquisition.