Archiv für den Monat: September 2019

MOTIVATION 2. Außen und Innen

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 22.Sept. 2019
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Nach dem kurzen Überblick zum Lösen von Problemen mit den drei Faktoren Wissen (Erfahrung), Kommunikation und Motivation, sind in einem Schnelldurchgang die wichtigen Kontexte angesprochen worden, die der Mensch seit seiner Abspaltung vom homo erectus vor ca. 600.000 Jahren bis heute durchlaufen hat. Diese Kontexte sind wichtig, da die inneren Zustände des Menschen durch die kontinuierliche Interaktion mit dem jeweiligen Kontext einschneidend geprägt werden. In dieser Darstellung ist die genaue Rolle der internen Zustände, insbesondere jene, die das konstituieren, was im ersten Beitrag zusammenfassend ‚Motivation‘ genannt wurde, noch ungeklärt, offen. Dieser Punkt soll nun etwas weiter bedacht werden.

KREATIVER KERN. NUR BEDINGT ANPASSBAR

Die grundlegende Annahme, dass der Mensch durch seine Interaktionen mit der Umgebung seine inneren Zustände modifiziert, impliziert, dass der Mensch grundlegend ein lernendes System ist; dies gilt nach heutigem Kenntnisstand generell für alle biologischen Systeme. Dies bedeutet, dass der Mensch je nach dem Wandel der Verhältnisse sich unterschiedliche Strukturen, Abläufe, Konventionen, Erwartungen usw. intern aufprägt. Das so entstehende dynamische Wissen ist quasi ein inneres Bild der äußeren Welt, mehr oder weniger klar, und mehr oder weniger unterschiedlich in jedem einzelnen. Bedenkt man ferner, dass nach den neuen Erkenntnissen das Gehirn als Träger vieler geistiger Eigenschaften die Welt außerhalb des Körpers nicht direkt kennt, nur die sensorischen Fragmente, die es kunstvoll zu zusammenhängenden Strukturen zusammenbaut, dann repräsentiert das innere Bild für jeden einzelnen die Welt (wie sie vielleicht gar nicht ist), und dies für jeden ganz individuell. Vom eigenen Weltbild auf das des anderen zu schließen ist daher gefährlich; in der Regel ist das eigene Bild verschieden von dem der anderen. Es erfordert daher eine geeignete Kommunikation, um diese Verschiedenheit zu bemerken und die Gemeinsamkeiten klar zu stellen.

Jede Gesellschaft trainiert die nachwachsenden Generationen in der Regel dahingehend, den aktuellen Abläufen und damit einhergehenden Erwartungen zu folgen. Ein ‚regelkonformes Verhalten‘ ist so gesehen ein weit verbreiteter gesellschaftlicher Standard. Vielfach existieren Interventionsmechanismen, wenn einzelne oder ganze Gruppen scheinbar von den allgemeinen Normen abweichen.

Trotz einem solchen Erwartungsdruck gibt es aber die berühmten Aussteiger; gibt es Menschen die Aufbrechen und Auswandern (migrieren); gibt es die Protestler, die Alternativen und Oppositionellen, gibt es Freiheitskämpfer und Revolutionäre; andere wagen einen Neuanfang, gründen etwas; Wissenschaftler, Erfinder, kreative Köpfe schaffen neue Formen, neues Verhalten; andere sprechen von Bekehrung, vom Abwenden von Bisherigem und Zuwendung zu etwas ganz Anderem; Beziehungen zwischen Menschen über gesellschaftliche Schranken hinweg, trotz drohender Marginalisierung oder Todesdrohungen.

Diese Beispiele deuten an, dass Kontexte, die sich in das Innere von Menschen eingraben, nicht immer und überall das gesamte Innere beherrschen müssen. Aufgeprägte innere Strukturen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen sich entsprechend konform verhalten, aber sie garantieren diese Konformität nicht. Das Innere verfügt anscheinend über Möglichkeiten, äußere Verhältnisse innerlich zu überwinden, die sich dann in neuen, alternativen Verhalten niederschlagen können. Das Innere besitzt irgendwie einen ‚kreativen Kern‘, der sich nicht notwendigerweise und nicht immer ganz durch die herrschenden Verhältnisse vereinnahmen lässt.

In den bekannten gesellschaftlichen Systemen seit dem Auftreten des homo sapiens, dem modernen Menschen, gibt es neben der schlichten Präsenz von Alltagsprozessen auch jene, in denen eine Gruppe von Menschen versucht, auf die anderen besonderen Einfluss zu nehmen durch Machtstrukturen bewehrt mit empfindlichen Strafen, durch nackte Gewalt und Folter, durch spezielle Belohnungsstrukturen, durch Indoktrinationen und Propaganda, und durch spezielle Werbung. Neben rein verbalen Aktionen gibt es auch den Bereich von Doping, Drogen oder der Virtualisierung von sozialen Beziehungen mit neuartigen Manipulationsmöglichkeiten (z.B. das Vorgaukeln von sozialer Nähe in virtuellen Räumen, die gleichzeitig zum Abbau von realer sozialer Nähe führen). Aber auch bei diesen verschärften Formen der Einflussnahme von Außen gibt es zahlreiche historische Beispiele aus allen Zeiten, dass Menschen standhalten und sich gegen diese Strukturen stellen. Sie besitzen eine ‚innere Motivation‘ die sie stark macht.

Allerdings kann auch der einzelne durch sich selbst zum Opfer werden, wenn er bestimmte grundlegende Bedürfnisse des Körper nicht hinreichend unter Kontrolle bringen kann. Prominente Beispiele sind vielfältige Formen von Sucht wie z.B. Sex, Essen, Trinken, Narzissmus, Eitelkeit, Drogen, Erfolg, Berühmt sein, um nur einige zu nennen. Auch hier gilt: viele zerbrechen daran, genauso gibt es immer wieder aus allen Zeiten Beispiele, dass Menschen es schaffen, sich diesen scheinbar unüberwindlichen Mechanismen zu entziehen. Die Motivation kann stärker sein als der Druck von außen (wobei ‚außen‘ hier physiologische, chemisch Prozesse sind, die die Zustände des Gehirns beeinflussen).

DER KÖRPER ALS FILTER UND ERMÖGLICHUNG

Viele der geistigen, psychischen Eigenschaften, die wir uns Menschen zuschreiben, erscheinen aus Sicht des Verhaltens und der Physiologie mit dem Gehirn verknüpft zu sein, das räumlich ‚im‘ Körper sitzt.

Aus Biologischer Sicht lassen sich die unterschiedlichen Körperstrukturen auflösen in eine unfassbar große Menge von Zellen, die beständig miteinander kommunizieren, von denen ständig welche absterben, andere neu entstehen. Rein zahlenmäßig entsprechen alle Zellen unseres Körpersystems etwa 450 Galaxien im Format der Milchstraße. Die Auflösung in Zellen macht viele der komplexen Strukturen unsichtbar, die den Körper zu dem machen, als was er uns funktionell erscheint.

In einem weiteren Abstraktionsschritt lassen sich alle Zellen auflösen in Richtung der Moleküle, aus denen Zellen bestehen, und noch weitergehender in Richtung der Atome der Moleküle, und sogar noch weitergehender in Richtung der subatomaren Partikel. Dies ist die Sicht der Quantenmechanik. In der Quantenmechanik gibt es keine festen Strukturen, sondern nur noch Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Bei dieser Sichtweise ist ein menschlicher Körper (samt Gehirn) ein nach allen Seiten offenes Gebilde, das über riesige Entfernungen mit nahezu allem in Verbindung stehen kann.

Nicht wenige meinen, dass diese grundlegende quantenmechanische Offenheit und Verbundenheit von jedem mit jedem alle bislang ungelöste Fragen des menschlichen Geistes oder möglicher mystischer Zustände, für die bislang keine befriedigenden wissenschaftliche Erklärungsansätze existieren, lösen können.

Dies muss man allerdings bezweifeln. Schon die Entstehung der grundlegenden biologischen Strukturen, jene der einfachen Zellen vor ca. 3.5 Milliarden Jahre, entzieht sich bislang vollständig einer physikalischen Erklärung. Mit Quantenmechanik kann man in keiner Weise die Entstehung und die Besonderheit von biologischen Zellen erklären. Biologische Zellen haben so viele neuartigen spezielle Strukturen mit Hilfe von Molekülen geschaffen, die wiederum neuartige komplexe Funktionen ermöglicht haben, für die die Physik nicht den geringsten Denkansatz bietet. Schrödinger und viele andere großen Physiker haben dies erkannt. Die weitere Entwicklung des BIOMs mit komplexen Zellen, Zellverbänden, Atmosphäre und dann komplexen Organismen mit hochkomplexen Organen mit komplexen Nervensystemen für eine neuartige Informationsverarbeitung weit über die Mechanismen der DNA hinaus, entzieht sich der heutigen Physik bislang vollständig.

Was immer also sich auf der quantenmechanischen Ebene abspielt, die jeweils komplexeren biologischen Strukturen ‚verbergen‘ diese Vorgänge so, dass sie auf den höheren Ebenen in keiner Weise direkt durchschlagen.

Für den Bereich des sogenannten Bewusstseins bedeutet dies, dass das, was wir ‚bewusst‘ wahrnehmen, durch sehr viele komplexe Strukturen und Prozesse vermittelt ist, die die zugehörigen quantenmechanischen Vorgänge völlig verdecken, ‚weg filtern‘. Will man also die inneren Zustände verstehen, insbesondere den winzig kleinen Anteil der ‚bewussten‘ Ereignisse, dann muss man sich diesen bewussten Ereignissen und den zugehörigen ‚unbewussten‘ Prozessen direkt zuwenden. Die Leistung des Gesamtsystems zeigt sich eben in seinen komplexen funktionalen Ausprägungen, nicht in seinen möglichen Bestandteilen, die im Rahmen eines funktionellen Prozesses benutzt werden.

KRITISCHES DENKEN

Die Steuerung durch die alltäglichen Strukturen und Prozesse kann, wie die erwähnten Beispiele andeuten, durch den inneren, kreativen Kern der Motivation partiell oder ganz aufgehoben werden.

Eine Ursache dafür kann jene Form des Denkens sein, die sich mit den vorliegenden Formen des Wissens beschäftigt, das vorliegende Wissen zum Gegenstand macht, und auf einer zusätzlichen Reflexionsebene mit diesem vorliegenden Wissen ‚kreativ spielt‘, was sich auch in Form von systematischen philosophischen Reflexionen niederschlagen kann. Aber auch engagierte Literatur, manche Formen von Theater und vieles mehr kann zum Medium für alternatives Denken werden.

Wie auch immer solche kreativen Diskurse aussehen mögen, ohne eine geeignete Motivation werden sie nicht stattfinden.

Und die aufgeführten Beispiele enthalten viele Fälle, in denen die alternative, kreative Motivation nicht unbedingt von einer starken Wissenskomponenten begleitet wird. Motivationen als solche können eine Kraft entfalten, die ‚aus sich heraus‘ einen Menschen bewegen können, ‚das Andere‘ zu tun. Wie kann, wie muss man sich diesen ‚kreativen, heißen Kern‘ der Motivation vorstellen?

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MOTIVATION. Außen und Innen

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 20.Sept. 2019
URL: cognitiveagent.org
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Im vorausgehenden Beitrag zu Problemen und ihren Lösungen wurden im ersten Schritt drei Faktoren herausgearbeitet, die dabei unbedingt notwendig sind: ein hinreichendes Wissen (Erfahrung), die Fähigkeit, mit allen Beteiligten hinreichend zu kommunizieren, und eine hinreichende Motivation, es überhaupt zu versuchen.

Alle drei Faktoren erscheinen wichtig, wobei der Faktor Motivation möglicherweise der grundlegendere ist, da man Wissen über Lernen nur erwerben kann, wenn man hinreichend motiviert ist, desgleichen mit der Kommunikation: ohne hinreichende Motivation wird man nicht kommunizieren.

Was aber genau ist dieser Faktor ‚Motivation‘?

AUSSEN UND INNEN

Die natürlichste Herangehensweise an das Phänomen Motivation ist die über das beobachtbare Verhalten. Wenn ein Mensch nichts tut, in sich verharrt, dann ist es für einen Außenstehenden nahezu unmöglich, zu erfassen, was einen anderen Menschen antreibt, wobei Schlafen, einfaches Verharre, Warten, bekannte Formen des Nichttuns sind, die gewöhnlich eine akzeptierte Form der Interpretation finden.

Gibt es ein beobachtbares Verhalten mit identifizierbaren Eigenschaften, dann können sich Fragen anschließen, was denn wohl im Inneren des Handelnden an Zuständen, Prozessen vorliegen, die zu diesem Verhalten geführt haben oder führen. Von außen ist eine Beantwortung dieser Frage nach den begleitenden inneren Zuständen wenn überhaupt nur begrenzt und grundsätzlich nur hypothetisch möglich.

Der Handelnde selbst kann über seine innere Wahrnehmung — oft Bewusstsein genannt — vielfältigste Unterschiede anhand von internen Wahrnehmungseigenschaften unterscheiden, diese aber zu deuten, ist kein Selbstläufer. Und auch diese internen Wahrnehmungen sind möglicherweise die Wirkungen von Prozessen, die dahinter liegen, die als solche nicht direkt wahrnehmbar sind. Es ist, wie wir heute wissen können, das Gehirn, das in einem Körper sitzt, das zumindest für einen Teil dieser subjektiv wahrnehmbaren Unterschiede diese hervorbringt. Die Gesamtheit der Faktoren und Prozesse, die hier im Spiel sind, ist bis heute nicht vollständig geklärt, und auch die bislang bekannten Interpretationen in Form von sprachlich vermittelten Erklärungsmodellen (eine Form von Wissen) sind vielfach unklar oder gar widersprüchlich.

Trotz dieses tentativen Charakters unseres Wissens über innere Zustände besteht der Eindruck, dass eine Kombination aus äußerlich beobachtbaren Verhaltenseigenschaften und wahrnehmbaren internen Unterschieden ein bestimmtes Verhalten besser charakterisiert als wenn man es ohne Berücksichtigung der inneren Zustände beschreiben würde.

MOTIVATION IM VERHALTEN – Die Umgebung

Über das Verhalten des Menschen können wir natürlich nur sprechen unter Voraussetzung einer jeweiligen Situation, einer Umgebung, in der der Mensch vorkommt.Und hier spielt weiter die Zeit eine Rolle: zu verschiedenen Zeiten waren die Umgebungen verschieden, und neben der augenblicklichen Gegenwart haben wir sehr viel Vergangenheit.

Unser Wissen um die Vergangenheit ist gebunden an aufzeigbare Zeugnisse, sogenannte Artefakte, deren Vorkommen irgendwelche Hinweise auf Menschen und deren Verhalten in der Vergangenheit zulassen.

Der moderne Archäologie in Zusammenarbeit mit vielen anderen Wissenschaften, insbesondere neuerdings zusammen mit der Mikrobiologie, speziell der Genetik in Form der Archäogenetik, ist es in mühevoller Detailarbeit gelungen, die Herkunft von uns heutigen Menschen zurück zu verfolgen bis zu dem Punkt, wo sich die menschenähnliche Lebensform vor frühestens 7 Mio Jahren von der Linie abspaltete, aus der die Schimpansen hervorgingen. Über verschiedene Zwischenformen zeigte sich dann der erste Ur-Mensch — genannt homo erectus — vor ca. 1.9 Mio Jahren. Er verbreitete sich in wenigen hundert Tausend Jahren in ganz Afrika und Eurasien. Während sich aus dem homo erectus in Asien der Peking Mensch entwickelte (und der später ausstarb), spaltete sich in Afrika vor ca. 600.000 Jahren jene Linien ab, die zum modernen Menschen (homo sapiens), zum Neandertaler und — etwas später — als Abspaltung vom Neandertaler, zum Denisovaner führten. Neandertaler und Denisovaner starben beide aus, hinterließen aber genetische Spuren in allen modernen Menschen (ca. 2-7%, je nach Region).(vgl. Krause und Trappe (2019), Die Reise der Gene, S.43f, Kindle Pos.557ff)

Die Auswanderung des modernen Menschen aus Afrika begann etwa vor 60.000 Jahren und nahm ihren Weg nach Europa (etwa vor 40.000 Jahren), vorher aber schon nach Indien (etwa vor 50.000 Jahren), nach Sibirien und Australien vor etwa 45.000 Jahren, nach Alaska vor etwa 20.000 Jahren, Nordamerika vor etwa 15.000 Jahren, und Südamerika vor etwa 14.000 Jahren.(vgl. Krause und Trapp (2019)).

Überall stießen die Menschen zu dieser Zeit auf menschenleere Räume.

Lange Zeit gab es als Überlebensform nur die Jäger und Sammler. Ab ca. 12.000 gab es zunehmend feste Ansiedlungen, die nach und nach in die Ackerbau und Viehzucht Lebensform überging, die ihre erste starke Ausprägung im sogenannten fruchtbaren Halbmond fand (etwa heutiger Süd-Osten der Türkei und nordwestlicher Iran). Vor ca. 5200 Jahren bildete sich im Gebiet der heutigen Ukraine (östliche), des heutigen Russlands (süd-westlich) und Kasachstans (westlich) eine pastorale Lebensform heraus: Nomaden mit riesigen Viehherden in flachen Steppen. Sie waren Nachkommen jener Menschengruppen, von denen Gruppen Nord- und Südamerika erwandert hatten. Nach 5200 überfluteten diese pastoralen Gruppen Mitteleuropa bis hin nach England. Es entstand damit der typische europäische Genpool, der alle Europäer auszeichnet: Steppengene, Ackerbaugene, Jäger- und Sammler Gene sowie Reste vom Neandertaler und Denisovaner. Nur der prozentuale Anteil der verschiedenen Gene variiert.(vgl. Krause und Trapp (2019), viele verschiedene Stellen)

Die Verschiebung vom freien Jäger- und Sammlerdasein zum Nomadentum und dann zu Viehzucht und Ackerbau mit beginnenden Städten machte das Leben immer abhängiger von konkreten Ressourcen: fruchtbares Land und Wasser, Saatgut und Tier mit Weideflächen, Gebäude, Geräte, und Handel. Analog die Fischerei am Wasser, am Meer, der einsetzende Bergbau zur Gewinnung von Rohstoffen oder edlen Metallen. Diese konkreten Ressourcen forderten einen Rund-um-die-Uhr Einsatz, schufen den Begriff von Eigentum und Besitz, von Einkommen. Menschsein war plötzlich nur noch möglich durch Verfügbarkeit über solche Ressourcen. Erbschaft gewann an Bedeutung, die Geltung von Recht. Über Handwerk, Handel, Finanzwesen bauten sich neue, sekundäre Strukturen auf, die alle auf spezifische Weise die Teilhabe an lebenswichtigen Ressourcen definierten. Wer Mensch sein wollte musste in diesem Spektrum von Tätigkeiten Leistungen erbringen, harte Leistung durch harte Arbeit. Wer das nicht konnte war arm dran, wenn es keinen Rückhalt gab durch ein soziales Netzwerk.

Die Weiterentwicklung zu Technologien, Industrien, globalen Handels- und Finanzmärkten, und heute gar zu smarten Maschinen, lässt diese alten Fähigkeiten und gesellschaftlichen Rollen langsam verblassen. Die Rolle des einzelnen verliert an Kontur. Irgendwie ist jetzt jeder Teil von irgendetwas Größerem; schwer verstehbar, unübersichtlich, zunehmend noch mehr ersetzbar durch intelligente Maschinen; das Gefühl überflüssig zu werden macht sich breit, etwas von Ohnmacht. Zugleich beginnt die moderne Genetik mit den biologischen Bauplänen zu experimentieren. Die biologische Struktur von Pflanzen, Tieren und auch des Menschen geraten in den Fokus von Gestaltungsplänen: irgendwie noch ‚besser‘, ‚effektiver‘.

MOTIVATION IM VERHALTEN – Umgebung und Verhalten

Obwohl das nackte Überleben zu allen Zeiten die primäre Herausforderung bildete, gab es schon in der Jäger- und Sammlerzeit frühe Zeugnisse (ab ca. 41.000 Jahren) von geschnitzten Figuren, von einer Flöte aus Knochen, von vielfältiger Höhlenmalerei, und Grabbeigaben. Später kamen formen- und farbenreiche Keramiken dazu, Schmuck aller Art, Begräbnisstätten, die riesige Ausmaße annehmen konnten (Hügelgräber der Steppenvölker, Megalithgräber der nordischen Jäger und Sammler).

Dies Verhaltensweisen zeigen, dass diese frühen Menschen sich nicht nur auf das Überlebensnotwendige konzentriert hatten, sondern dass sie auch ein Bedürfnis verspürt haben müssen, ihren inneren Bildern und Gefühlen Ausdruck zu verleihen, sie sichtbar, hörbar, anfassbar zu machen, innere Bilder, die sie in ihrem Alltag begleitet haben müssen.

Diese innere Fähigkeit zum Erfinden innerer Bilder in Interaktion mit der Umgebung wirkte sich dann real auch darin aus, dass sie Werkzeuge, Waffen, Pflüge mit Ochsen, Pferde zum Reiten, und vieles mehr ‚erfunden‘, ‚erdacht‘ haben,um ihren Alltag auch im Lebensnotwendigen zu verändern.

Wirken diese geschilderten Verhaltensweisen auf uns eher ‚positiv‘, lässt sich gegenläufig konstatieren, dass mit der Verdichtung der Bevölkerung einerseits und der Bindung des Lebens an konkrete, lokale, endliche Ressourcen (Weideflächen, Wasser, Wirtschaftsgebäude, Herden, …) andererseits die Existenz, das Überleben an die Verfügbarkeit und Unversehrtheit dieser Ressourcen gebunden erschien. Eine Bedrohung dieser Ressourcen wurde damit sehr direkt zu einer Bedrohung der eigenen Existenz. Und es verwundert dann nicht, dass mit dem Voranschreiten der Bindung an Ressourcen kriegerische Auseinandersetzung, Massengräber deutlich zunahmen. (vgl. Krause und Trapp (2019), S.101f)

Die späteren sozialen Ausdifferenzierungen in den wachsenden Gesellschaften verfeinerten die Abhängigkeiten der individuellen Existenz zwar (unterschiedliche gesellschaftliche Rollen mit unterschiedlichen Privilegien), aber das grundsätzliche Prinzip der Abhängigkeit der individuellen Existenz von konkreten Gegebenheit verfestigte sich weiter. Bis weit in die Neuzeit waren gesellschaftliche Strukturen ‚harte‘ Strukturen, an soziale Schichten, spezifische soziale Gruppen gebunden, in der herrschenden Moral und dem herrschenden Gesetz quasi ‚eingefroren‘, dazu weitgehend vererbbar.

Was immer also ein einzelner an inneren Empfindungen, an Bedürfnissen haben mochte, die fest verzurrten gesellschaftlichen Strukturen spiegelten sich auch in seinen inneren Bildern von der Welt wieder und bildeten so die ‚gesellschaftlich erlaubten Bereiche‘ ab, in denen sein Empfinden, sein Begehren, sein träumen stattfinden konnte, wollte er ohne gesellschaftliche Konflikte leben. Ein Bruch der geltenden Konventionen wurde meistens massiv geahndet.

Seit den demokratischen Revolutionen in Europa und Nordamerika sowie durch die industrielle Revolution und der zunehmenden Internationalisierung der Wirtschaft kam es zwar partiell zu Flexibilisierungen der Zugehörigkeit zu Rollen — weniger durch Geburt, eher durch Leistung, die wiederum stark durch Bildungsprozessen ermöglicht wurde –, aber die Verstetigung von Reichtum in den Händen weniger und die inoffizielle Besetzung der demokratischen Strukturen durch Machteliten (die die wichtigen Medien stark instrumentalisierten), setzte die neue Flexibilität in vielen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen wieder außer Kraft. Reichtum und Macht scheinen stärkere Prinzipien zu sein als demokratische gesellschaftliche Formen. Die Zunahme an autoritären politischen Strukturen weltweit kann man als Indiz werten, dass die noch so junge Flexibilisierung durch Einbeziehung aller Bürger wieder in altbekannte Muster zurück fällt.

Die Verstetigung der gesellschaftlichen Strukturen sowie die starke Indoktrinierung vieler Medien kann sich im Inneren der einzelnen in der Weise niederschlagen, dass sie eine — von den autoritären Strukturen meist erwünschte — ‚konforme‘ Meinung ausbilden, ein ‚konformes Weltbild annehmen, das ihr Verhalten ‚von innen‘ steuert ohne zu großen Aufwand von außen. Das größte Experiment dieser Art findet zur Zeit wohl in China statt.

LITERATURHINWEIS

Johannes Krause mit Thomas Trappe (2019, 5.Aufl.), Die Reise unserer Gene. Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren. Propyläen Verlag

FORTSETZUNG

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

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PROBLEME und LÖSUNGEN. Überlegungen zur Zukunftsfähigkeit

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 17.Sept. 2019
URL: cognitiveagent.org
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Das Reden von der ‚Zukunft‘ klingt oft so isoliert, so abgetrennt, so fern, so unerreichbar, und doch begleitet uns die potentielle Zukunft — unsere potentielle Zukunft — auf Schritt und Tritt in unserem Handeln.

Es sind unsere eigenen Entscheidungen, was wir tun wollen, die immer wieder einen kleinen Schritt in eine bestimmte Richtung nach nicht ziehen, die unsere Zukunft eröffnen.

Natürlich sind diese individuellen Entscheidungen nicht isoliert vom Kontext, vom gesamten Lebenszusammenhang, aber doch, ja, wir kopieren nicht irgendetwas, wir mit unserer konkreten Persönlichkeit erzeugen ein kleines Stück Wirklichkeit, das eine Teil des je größeren Zukunftsszenariums darstellt.

Diese unseren individuellen konkreten Handlungen können zufällig sein, intuitiv, mögen planlos erscheinen, aber in der Regel stehen dahinter konkrete Motivationen, bestimmte Bilder, die wir aktuell von der Welt haben, und das Ganze meistens mit anderen vernetzt durch Kommunikation.

Im allgemeineren Fall, dort, wo es etwas professioneller wird, begegnet uns die Zukunft im Rahmen von Problemlösungen. Einer bestimmten Gruppe von Menschen stellt sich ein ‚Problem‘ verbunden mit einer minimalen ‚Vision‘ wie es denn stattdessen sein sollte, und dann versucht man diese Vision möglich zu machen, ein Stück Arbeit für die Zukunft und dann deren Realisierung.

Probleme müssen in vielen Bereichen gelöst werden und entsprechend haben sich in vielen Bereichen unterschiedliche Vorgehensweisen etabliert, wie man das macht: in den empirischen Wissenschaften, bei den Ingenieuren, bei Ärzten, Architekten, Kriminalpolizei, im Case Management, und vielem mehr.

Im folgenden Text soll von diesen speziellen Verfahren abstrahiert werden und der Frage nachgegangen werden, wie eine Problemlösung im Alltag funktionieren kann bei der beliebige Menschen beteiligt sind, vorzugsweise Gruppen von Bürgern, Kommunalverwaltungen, ganze Kommunen (Gemeinden, Städte).

ALLTAGSPROBLEME AUS DEN MEDIEN

Wenn man sich heutzutage in den Medien umschaut, mit Freunden und Bekannten spricht, dann kann man den Eindruck gewinnen, wir sind von Problemen umzingelt. Hier ein kleine Stichprobe aus drei Zeitungen von wenigen Tagen:

  1. Ortsbeiräte und Stadtverordnete sollen durch eine bürgernahe Stadtwerkstatt ergänzt werden, um die Anliegen der Bürger besser einbinden zu können
  2. Das Problem des bezahlbaren Wohnraumes wird in den Städten immer schlimmer. Jährlich fallen deutlich mehr Wohnungen aus der Sozialbindung als neue geschaffen werden
  3. Eine Großstadt verweigert sich offiziell, Sozialwohnungen ohne Befristung zu bauen.
  4. Forscher konstatieren zum Teil dramatischen Rückgang bei bestimmten Vogelarten. Dies verweist auf einen Mangel an geeignete Lebensräume.
  5. Die Waldbesitzer in ganz Deutschland melden riesige Schäden durch Trockenheit.
  6. Die Bedrohung von BürgermeisterInnen durch radikale Gruppierungen nimmt beständig zu; einige geben auf
  7. Ortsbeiräte sollen das besondere Ohr zum Bürger darstellen. Aber, welcher Bürger kennt seinen Ortsbeirat? Und in der Stadtverordnetenversammlung, wer hört die Ortsbeiräte?
  8. Immer wieder Auffälligkeiten, dass der Verfassungsschutz Bezüge zu rechten Gefährdern unterbewertet
  9. Ein Kultusministerium will ein Schulamt weg verlegen aus seinem Bezirk und bürdet damit seinen Mitarbeitern zusätzliche Belastungen auf.
  10. Das ganze politische System Deutschlands benötigt ein Update, um zukunftsfähig zu werden
  11. Die großen Internetkonzerne merken, dass ihre Wirkung auf die Gesellschaft langsam Rückwirkungen erzeugen, die in immer größeres Misstrauen, wenn nicht gar partiell Feindschaft umschlagen. Plötzlich sprechen sie davon, dass Vertrauen das Wichtigste sei, sowohl in der Firma wie auch zur umgebenden Gesellschaft.
  12. Saubere Motoren alleine reichen nicht für eine weltweite Verbesserung des Verkehrs in den Metropolen
  13. International ist viel Geld da, das nach Anlage drängt, gleichzeitig gibt es aber zu wenige gute Anlageobjekte. Das Anlegen geschieht dennoch, vorbei an regulierten Finanzmärkten; Wertsteigerungen auf dem Papier werden verbucht, denen immer weniger realer Gegenwert entspricht (dies erzeugt eine massive Inflation, die von den Zentralbanken nicht erfasst wird)
  14. Der Chef eines der größten internationalen Ölkonzerns verkündet den nachhaltigen Umbau des Konzerns in Richtung Unterstützung erneuerbaren Energien, investiert aber bis auf Weiteres immer noch den größten Teil des Geldes in das Ölgeschäft
  15. Während der größten internationalen (Auto)-Mobil(itäts)-Ausstellung stehen sich tausende von Demonstranten und zehntausende Besucher ideell gegenüber.
  16. Keiner der weltweit größten Erdöl- und Erdgas-Konzerne ist auf Klimakurs
  17. Während die Reduzierung den Einsatz von EMobilität pushed, zeigen Fachleute vielfältige Probleme auf, die damit noch nicht gelöst sind oder gar durch EMobilität erst neu erzeugt werden.
  18. Bahn und Nahverkehr sollen ausgebaut werden, beim Bahnhofsumbau z.B. in Frankfurt sind viele Fragen noch offen; es wird Jahre dauern…
  19. Eine Buchbesprechung thematisiert die neue Sichtweise der Neurowissenschaften und die Wirkung auf andere bisherige Sichtweisen auf den Menschen. Vereinfacht gesagt: Die Reduktion des Menschenbildes auf Gehirnfunktionen.
  20. Der Konflikt zwischen einem Whistleblower (Snowden), der von seinem eigenen Staat nicht als solcher anerkannt wird, und der für die Interessen einer offenen, demokratischen Gesellschaft gegen ihre scheinbar übermächtig gewordenen geheimen Institutionen eintritt.
  21. Eine Diskussion um das rechte Verhältnis von Import/ Export, Realzinsen, und Fiskalpolitik im globalen Miteinander. Missverhältnisse können zu Verzerrungen, Abschottungen und mehr führen.
  22. Die intransparente Rolle von politischen Beratern jenseits der demokratischen Verfahren.
  23. Weltweit steigen die Schäden für Rückversicherer.
  24. Weltkonzerne stehen vor der Aufgabe, sich global neu zu orientieren ohne aber verlässliche politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu haben.
  25. Der starke Verfall von demokratischen Rechten und Gepflogenheiten in Hongkong am Beispiel der Fluggesellschaft
  26. Mikroplastik ist überall (Weltmeere, Flüsse, auch durch die Luft) auf dem Vormarsch
  27. Das Ringen um eine europäische Cloud als Alternative für mehr Unabhängigkeit im Datenverkehr.
  28. Der Zuwachs an Rechenkapazität in der Forschung wird durch technische Barrieren verlangsamt. Die Forschung wird durch Vorlieben der Bundesregierung nur einseitig gefördert.

Schon diese kleine Auswahl lässt ganz unterschiedliche Kontexte aufblitzen, die jeweils vorausgesetzt werden:

  1. Es geht um Menschen, verschiedene Tierarten und den Wald, deren Lebensräumen sich wechselseitig beeinflussen.
  2. Es geht um die Umwelt, die durch die Aktivitäten des Menschen unterschiedlich verändert wird.
  3. Es geht um Kommunen/ Städte, die den direkten Lebensraum für die Menschen (und viele Tiere) darstellen.
  4. Es geht um staatliche Institutionen, die bestimmte Aufgaben erfüllen sollen.
  5. Es geht um Bürgerrechte und die Demokratische Öffentlichkeit.
  6. Es geht um globale Konzerne, die sich mit unterschiedlichen nationalen Forderungen arrangieren müssen.
  7. Es geht um Technologien, um technologischen Abhängigkeiten und deren Bedeutung für die Wirtschaft und die staatliche Autonomie.
  8. Es geht um Weltbilder, die von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen gespeist werden.
  9. Es geht bei allem auch immer um einzelne (Bürger, Bürgermeister, Stadtverordnete, Ortsbeiräte, Präsidenten, Firmenchefs, …), die sich in den jeweiligen Kontexten ‚verwirklichen‘ wollen.
  10. Einzelne lassen sich von dem jeweiligen Weltbild in ihrem Kopf leiten oder holen sich spezielle Berater, die ihr Weltbild unterstützen sollen.

WANN IST ETWAS EIN PROBLEM?

Dies aufgelisteten Fälle vorausgesetzt kann man die Frage aufwerfen, ob man bei den eingangs erwähnten Beispielen tatsächlich von ‚Problemen‘ sprechen sollte. Warum soll eine bestimmte geschilderte Sachlage als ein ‚Problem‘ bezeichnet werden? Warum sollte man in der mangelnden Einbindung von Bürgern in den Kommunen ein Problem sehen? Warum ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ein Problem? usw.

WELTBILD UND ZIELVORSTELLUNGEN

Offensichtlich setzt das Sprachspiel ‚Problem‘ voraus, dass die Beteiligten als Teil ihres jeweiligen Weltbildes bestimmte ‚Zielvorstellungen‚ haben, die für sie als ‚erstrebenswert‘ gelten, und im Lichte dieser Zielvorstellungen kann dann eine bestimmte Sachlage als ‚Problem‘ klassifiziert werden. So z.B.: Wenn man die Einbindung der Bürger innerhalb einer Kommune als erstrebenswert ansieht (Begründung?), dann kann man eine mangelnde Einbindung als ‚Problem‘ klassifizieren; wenn hinreichend verfügbarer bezahlbarer Wohnraum als erstrebenswert angesehen wird (Begründung?), dann kann man den Mangel als Problem klassifizieren. Und analog in all den anderen Fällen.

Was sich schon in diesen wenigen Beispielen andeutet, ist die Notwendigkeit, dass man zur Diagnose von Problemen über ‚erstrebenswerte Zielvorstellungen‘ verfügt, die auch von den anderen Beteiligten geteilt werden.

Wie diese ersten Beispiele aber auch zeigen, kann man nicht unterstellen, dass alle Beteiligten tatsächlich über eine Zielvorstellungen verfügen und falls doch, dass diese bei allen Beteiligten gleich sind.

So ist das Wort Bürgerbeteiligung in vieler Munde, man kann aber wenig konkrete Maßnahmen erkennen, die dies real unterstützen. Fachabteilungen in Kommunen sind einer Bürgerbeteiligung gegenüber tendenziell eher ablehnend, weil es die Arbeit ‚verkompliziert‘. Über hinreichend viel bezahlbaren Wohnraum wird seit Jahren diskutiert, seit Jahren aber tut sich nichts. Die Zerstörung von Lebensräumen von bestimmten Tierarten wird von Naturschützern angeklagt, aber viele handelnde Gruppierungen interessiert dies nicht. Fehlleistungen des Verfassungsschutzes (im Bund und auf Landesebene) werden immer wieder diagnostiziert, aber diese öffentliche Kritik zeigt bislang keine erkennbare Wirkung. Die einen ziehen aus den bisherigen Erkenntnissen zur Klimaänderung bestimmte Schlüsse (z.B. für den ganzen Bereich Verkehr, Mobilität), andere sehen dies als überzogen und unrealistisch an. Und so weiter.

Schon beim Aufsammeln von Problembeschreibungen stößt man also auf eine nicht einfache Problematik: die Ausgangslage für die Problemfeststellung liegt in den jeweiligen Weltbildern der Beteiligten, und dort insbesondere im Bereich der ‚erstrebenswerten Zielvorstellungen‘. Setzt man diese ‚erstrebenswerten Zielvorstellungen‘ ‚absolut‘, dann gibt es harte, unversöhnliche Fronten.

Andererseits, Weltbilder und erstrebenswerte Zielvorstellen sind nicht angeboren sondern resultieren aus Interaktionen des einzelnen mit seiner Lebenswelt. Im allgemeinsten Sinne kann man dies ‚Lernen‚ nennen: die Aneignung von Vorstellungen über die Welt, mit Hilfe deren man sich die Welt ‚erklärt‚ und mit deren Hilfe man sein Verhalten ‚orientiert‚.

Grundsätzlich kann man also immer versuchen, die eigene gelernte Sicht der Welt auf den Tisch zu legen und dabei deutlich machen, warum man bestimmte Ansichten für erstrebenswert hält.

FAKTOR MOTIVATION

Der Faktor Weltbild inklusive möglicher Zielvorstellungen ist im Alltag allerdings nur ein Faktor. Zusätzlich wirksam sind noch viele psychische Faktoren, die hier aus Sicht des Verhaltens zusammenfassend angenommen werden als ‚Motivation‚, also jene internen subjektiven Faktoren, die einen Menschen dazu bringen, sich eher einer Sache ‚zuzuwenden‘, sie ‚aktiv zu betreiben‘, oder, ganz im Gegenteil, sich ‚zu verschließen‘, eine ‚ablehnende Haltung‘ einzunehmen, eine Mitwirkung ‚zu verweigern‘.

Überall dort, wo es gilt, gemeinsame Entscheidungen zu fällen, ist neben allen Arten von Argumenten für oder gegen eine Sache immer auch die Motivation der einzelnen im Spiel. Direkt oder indirekt unterstützen sie den Prozess positiv oder blockieren ihn negativ. Rationale Argumente alleine reichen oft nicht aus, die motivationalen Faktoren zu beeinflussen.

Die Faktoren, die eine Motivation beeinflussen können, sind äußerst vielfältig, in der heutigen Forschung nur partiell geklärt, und können von Person zu Person, von Situation zu Situation fast beliebig variieren. Persönliche Vorlieben, persönliche Erlebnisse, Sympathie und Antipathie, Einbindung in Milieus mit bestimmten fixierten Rollen oder speziellen Werten, und vieles mehr. Ein unbeliebtes Beispiel: wenn ein Politiker bestimmten Lobbyisten nahe steht, deren konkrete wirtschaftliche Interessen durch Bürgerinteressen betroffen sind, wird es für die Bürger schwer, sich politisch Gehör zu verschaffen.

OHNE KOMMUNIKATION GEHT NICHTS

Sollte jemand über genügend Wissen verfügen (was praktisch nie der Fall ist, weil man als Spezialist viele andere Spezialisten benötigt) und sollte jemand zugleich auch noch motiviert sein, sein Wissen wirksam einzusetzen (keinesfalls selbstverständlich, nicht für alle denkbaren Situationen), wird es zusätzlich notwendig sein, mit all jenen Menschen in Verbindung zu treten, die für eine Lösung des Problems wichtig sind. Das geht nicht ab ohne Kommunikation. Überwiegend wird diese Kommunikation eine sprachliche Kommunikation sein, oft zusätzlich unterstützt durch Bilder, Videos, Pläne, Modelle, und vieles mehr.

Kommunikation ist nicht einfach. Nicht nur, dass man überhaupt in der Lage sein sollte vor und mit anderen sinnvoll sprechen zu können, man muss auch alle wichtige Punkte durch die Kommunikation dem anderen verständlich machen. Jeder, der spezielle Ausbildungen durchlaufen hat (was letztlich schon in der Schule beginnt), weiß, dass es oft viele Monate, Jahre, oder gar Jahrzehnte an Lernen und Praxis braucht, um gewisse Wissensgebiete zu verstehen und sie zur Anwendung bringen zu können. Fachgespräche sind hier nur mit solchen Menschen möglich, die eine ähnliche Ausbildung durchlaufen haben und ähnliche Expertise anhäufen konnten. Was aber, wenn solch eine Experte von Gebiet A auf einen Nicht-Experten trifft (z.B. einen Stadtverordneten) oder auf einen Experten auf Gebiet B? Eine solche Kommunikation kommt nicht wirklich zustande, oder verläuft pro forma, oder aber, ist man ernsthaft an wirklichem Verstehen interessiert, man nimmt sich füreinander hinreichend viel Zeit.

In einer Welt wie der unseren, ist aber Zeit ein äußerst knappes Gut geworden. Ich selbst habe es über Jahre erlebt, dass wir zwar einen interdisziplinären, viele Fachbereiche und Disziplinen übergreifenden Studiengang gründen durften, aber die geltenden Kapazitätspläne, die festlegen, wie viel Zeit ein Lehrender für eine bestimmte Zahl von Studierenden aufwenden darf, sehen nicht vor, dass Lehrende aus verschiedenen Disziplinen natürlich einen erheblich höheren Zeitbedarf für die Vorbereitung, Abstimmung und Nachbereitung benötigen, da sie sich ja auch mit den verschiedenen Wissenshorizonten ihrer Kollegen-innen auseinander setzen müssen. Bei einem Lehrdeputat, das sowieso schon grenzwertig ist, führen daher freiwillige zusätzliche Kommunikationszeiten zu einer erheblichen Mehr- und letztlich grenzwertigen Belastung. Dabei ist diese individuelle Belastung ja gar nicht das zentrale Problem, sondern die Möglichkeit, einen pädagogisch und wissenschaftlich vertretbaren Konsens herzustellen (eine ähnliche Situation findet sich heute in vielen Schulen, wo durch Inklusion und erhöhten Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund die Anforderungen an das Lehrpersonal sehr gestiegen ist, ohne dass dafür von Kultusministerien zusätzlich hinreichende Unterstützungen bereitgestellt wurden).

Während also der Aufwand an Kommunikation erheblich steigt, wenn die Zahl der Beteiligten und die Anzahl der unterschiedlichen Wissenskulturen zunimmt, wird die Zeit für Prozesse konträr eher immer knapper, was die Prozessqualität unausweichlich verschlechtert.

SIMULIERTES DENKEN

Angesichts der wachsenden Komplexität von Sachverhalten und der Zunahme an unterschiedlichen Erfahrungswerten, die die einzelnen Personen in einem Problemlösungsprozess einbringen, hat sich im Bereich des Engineering schon seit Jahrzehnten durchgesetzt, dass man das versammelte Wissen zum Problem in Form von ‚Simulationen‚ für alle in gewisser Weise sichtbar macht. In besonderen Kontexten benutzt man sogar ‚interaktive Simulationen‚, die es erlauben, dass der einzelne direkte eigene Erfahrungen sammeln kann, wie das System, die Umgebung, die anderen Beteiligten, auf die eigenen Handlungen reagieren (plakative Beispiele: Flugsimulator, Autosimulator, Schiffssimulator). Die Komplexität heutiger Anwendungen und Situationen erlauben es nicht mehr, dass man alle Eventualitäten rein gedanklich ‚vorweg nimmt‘.

Lange Zeit waren solche Simulationen vornehmlich bei den Ingenieuren zu Hause. Militärische Manöver, Unternehmensspiele oder vielfältige Rollenspielszenarien verdeutlichen aber, dass Simulationen nicht auf rein technische Anwendungen beschränkt sein müssen. Und wenn heute (laut Statistik) im Jahr 2018 ca. 40 Mio Bundesbürger regelmäßig Computerspiele spielen (auch jenseits der 50!), online, auch in Teams mit anderen, dann zeigt dies, das das Format ‚interaktive Simulation‘ ein sehr allgemeines, leistungsfähiges Lern- und Kommunikationsformat ist.

Umso erstaunlicher ist es, dass dieses Format seinen Weg noch nicht in den Bereich von allgemeinen Kommunikations- und Problemlösungsverfahren (Planungsverfahren) gefunden hat.

NUR DREI SIND EINS

So grob die bisherige Systematik erscheint, die Faktoren Wissen (Erfahrung), Motivation und Kommunikation sind alle drei bis zu einem gewissen minimalen Grad notwendig, damit ein einzelner zu einem konstruktiven Prozess beitragen kann. Mangelndes Wissen kann prinzipiell mit Hilfe von Motivation und Kommunikation ‚aktiviert‘ werden; mangelnde Kommunikation kann auch mit Hilfe von Motivation und Wissen ‚aktiviert‘ werden; Mangelnde Motivation jedoch ist sehr schwer ‚aktivierbar‘. Dabei erscheint der Faktor Motivation der wichtigste und zugleich heikelste Faktor von allen dreien zu sein. Das ‚Aktivieren‘ eines Faktors, das heißt der nachträgliche ‚Erwerb‘ von Wissen oder Kommunikationsfähigkeit – oder auch Motivation — ist prinzipiell möglich, erfordert aber echte Anstrengungen und real Zeit, ohne Erfolgsgarantie.

FORTSETZUNG

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ELSBERG – HELIX. Eine verspätete Notiz

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 10.Sept. 2019
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Hier eine kurze Rezension des Romans Helix – Sie werden uns ersetzen von Marc Elsberg. Vom Thema her passt es sehr gut in das Koordinatensystem dieses Blogs.

SPÄTZÜNDER

Das Buch ‚Helix‘ erschien am 31.Oktober 2016, wahrgenommen habe ich dieses Buch erstmals während zweier langer Autofahrten August/ September 2019 als Hörbuch. Als Text zum Nachschauen habe ich die kindle-Version zur Verfügung.

ENTTÄUSCHTE LESER

Obwohl das Buch laut Werbung ein ‚Spiegel Bestseller‘ ist, gibt es nicht wenige Leserreaktionen (u.a. bei amazon), die an der Sprache des Buches, an seiner Aufsplitterung in allzu viele kleine Kapitel, an der schwachen Schilderung von Personen verzweifeln, überhaupt keine Spannung erkennen können, die das Ganze als Flop betrachten.

BEGEISTERTE LESER

Doch gibt es auch die andere Gruppe der begeisterten Leser. Sie beziehen ihre Begeisterung aus dem Stoff des Buches, aus den Möglichkeiten der modernen Gentechnik und ihren potentiell umwälzenden Konsequenzen. Denn all das, was uns heute noch ’normal‘ erscheint im Bereich Pflanzen, Tiere, Menschen, all das lässt sich im Licht der modernen Gentechnik potentiell verändern, nicht nur partiell, sondern grundsätzlich.

SCIENCE FICTION

Versteht man unter Science Fiction Literatur gedankliche Übungen, die heute bekannten wissenschaftlichen Tatsachen aufzugreifen, und mit diesem Wissen mögliche Zukunftsszenarien ‚realistisch‘ durch zu spielen, dann ist das Buch ‚Helix‘ ein echtes Science Fiction Buch: ausgehend von heute schon bekannten Möglichkeiten der Gentechnik wird durchgespielt, was passieren könnte, wenn sich eine Forschergruppe berauscht von den gentechnischen Möglichkeiten ganz dem Experiment mit dem heute scheinbar Unmöglichen hingibt (was Forschung grundsätzlich tut).

PHILOSOPHISCHES MORGENGRAUEN

Die grundsätzlichste Weise, sich denkerisch mit der uns gegebenen Wirklichkeit auseinander zu setzen, ist die philosophische. Sie beschränkt sich nicht auf einzelne Aspekte, beschränkt sich nicht auf einzelne wissenschaftliche Disziplinen, sondern fragt nach dem großen Ganzen, dem Zusammenhang zwischen all den einzelnen Perspektiven. Und sie fragt auch sogar noch weiter: sie bezieht die Wissenschaftler, den jeweiligen wahrnehmenden, erlebenden und denkenden Menschen selbst mit ein: wie funktioniert unsere Wahrnehmung, unser Fühlen, unser Denken? Warum sehen wir die Dinge so, wie wir sie sehen und nicht anders? Ist dies alles eher beliebig oder steckt darin eine verborgene Struktur, eine verborgene Logik?

Viele Jahrtausende waren die Menschen in ihrem Denken quasi ‚gefangen‘, ‚eingesperrt‘: man dachte, wie man gewohnt war zu denken, und es war unvorstellbar, diesen vorgegebenen Rahmen irgendwie zu sprengen.

Als dann die Biologie, angestiftet von der Geologie, zu begreifen begann, dass die Gegenwart der Organismen – und damit auch des Menschen als homo sapiens selbst – kein statisches Gebilde ist, sondern das Produkt von vorausgehenden Prozessen (von denen die Evolution nur ein Teilprozess ist), da begann den Biologen, Psychologen und auch einigen ersten Philosophen zu dämmern, dass tatsächlich auch ihr eigenes Denken keineswegs auf ewigen, absoluten Strukturen beruht, sondern auf einem Gehirn, das sich im Laufe von vielen Millionen Jahren herausgebildet hat.

Allerdings bedeutet dies nicht – wie viele im ersten Überschwang zu verstehen meinten — eine ‚Banalisierung‘ des Denkens, des Verstehens, weil man plötzlich die Maschinerie des Denkens erfasst zu haben glaubt, sondern im Gegenteil, das, was sich im Denken ausdrückt, im Fühlen, im Wollen, wurde damit eigentlich noch unheimlicher, da die materiellen Bestandteile der Struktur und des Prozesses tatsächlich keinerlei Erklärung dafür liefern, was sie ermöglichen.

Irgendwie beginnt das Verstehen zu verstehen, dass es tatsächlich geworden ist (evolutiv), aber dass es dann doch nicht ist, was es zu sein scheint. Was ist es dann?

BIOM ALS MEGA-COMPUTER

Das biologische Leben begann mit den ersten Zellen vor mindestens 3.5 Milliarden Jahren. Eines ihrer Merkmale war (und ist), dass sie quasi ihren eigenen ‚Bauplan‘ mit sich herum tragen, diesen nach Bedarf als eine neue Zelle ‚reproduzieren‘ und dabei Abweichungen, Varianten einfließen. Diese Änderungen geschehen zwischen zwei aufeinander folgenden Generationen. Allerdings explodierten diese Zellen nicht nur in alle Richtungen, innerhalb der Meere, viele Kilometer in das Erdinnere, später auch auf das Land und viele Kilometer über die Erde. Sie erschufen für sich eine Sauerstoffatmosphäre um energetisch leistungsfähigere Zellen zu bauen, und – sie tauschten Teile ihrer Baupläne untereinander aus, kontinuierlich. Besteht schon ein einzelner menschlicher Körper aus ca. 138 Billionen (10^12) Zellen, die miteinander kooperieren (was in etwa 450 Galaxien im Format der Milchstraße entspricht), dann kann man erahnen welche unfassbare Zahl an Zellen seit vielen Milliarden Jahren miteinander Bauplananteile untereinander austauschen. Nennt man alle biologische Zellen zusammen das ‚Biom‘, dann entspricht das Biom einem Supercomputer universellen Ausmaßes, der jede Vorstellungskraft übersteigt. Das reale Universum mit seinen scheinbar unfassbaren Dimension ist verglichen damit etwas sehr Einfaches.

Das Bild eines Super-Computers ist auch deswegen angemessen, da schon jede Zelle alle Grundmerkmale besitzt, die im 20.Jahrhundert für die Definition eines Computers herangezogen wurden. Unsere modernen Computer sind daher keine wirklich neue Erfindung; sie reproduzieren die molekülbasierten Architekturen auf Siliziumbasis mit anderen physikalischen Mitteln, leisten aber nichts Neues. Mathematisch unterscheidet sich der molekülbasierte Computer in nichts vom dem siliziumbasierten Computer.

Wenn nun also der BIOM-Super-Computer gut 3 Milliarden Jahre gebraucht hat, um jene Formen zu finden, die spätere komplexere Zellstrukturen und damit sogenannte höhere Lebensformen (Pflanzen, Tiere, homo spaiens…) repräsentieren, dann darf man vermuten, dass die Erschaffung von neuen Menschen mit überragend neuen Fähigkeiten möglicherweise keine ganz kleine Aufgabe ist, zumindest keine, die die steinzeitlich anmutenden Supercomputer der Gegenwart sehr schnell und überwältigend lösen werden.

ELSBERGS VISION

Obwohl Elsberg in seinem Buch eher zeigen möchte, was sich an Neuem heranbilden kann, wenn man anfängt, die Baupläne des BIOMs mit aktuellen technischen Hilfsmitteln zu verändern, zeigt er doch tatsächlich etwas ganz anderes (vielleicht unbeabsichtigt): er zeigt, wie unbeholfen, wie beschränkt, wie dumm die aktuelle Menschheit ist, mit dem ungeheuren Schatz des gewordenen BIOMs umzugehen.

Globale Konzerne sperren die Forschung ein, nur damit sie ihren eigenen wirtschaftlichen Vorteil ziehen können gegen die Interessen der restlichen Menschheit; sie scheuen nicht einmal davor zurück, unersetzbar wertvolle Bestandteile des BIOMs ersatzlos zu vernichten.

Regierungen von Nationen, die weitgehend schon alle eher autokratisch sind als demokratisch, eher menschenverachtend als Menschen schätzend, setzen alle ihre Macht ein – unter dem Mantra der ’nationalen Sicherheit‘ – um das wenige Wissen, was einzelne Forscher erarbeitet haben, für sich zu beschlagnahmen. Statt Wissen für alle nutzbar zu machen – das Ideal von Wissenschaft und einer freien Gesellschaft – wird Wissen ‚eingefangen‘, ‚verheimlicht‘, ‚eingesperrt‘, um es für eigene, sehr elitäre und eher dumme Anwendungen zu horten.

Die einzelnen Menschen in diesem Geschehen – als Kinder, als Eltern, als Beamte, … — sind eigentlich alle ausnahmslos ‚Betroffene‘, die nicht wissen, wie ihnen geschieht. Sowohl der Egoismus der Konzerne wie auch die jeweiligen Regierungen halten von der Bevölkerung — und damit von jedem einzelnen – jede wichtige Information fern. Desinformation als Standardfall der Information.

Der Umgang der politisch Verantwortlichen mit den Eltern und Mitarbeitern in dem abgeschlossenen Wohnviertel ‚New Garden‘ nach der Besetzung ist eines von vielen Beispielen, wie man Menschen nicht als Bürger ernst nimmt, sondern sie von vornherein erst einmal zum potentiellen Feind erklärt, ohne zu bedenken, dass es gerade diese Menschen sind, wegen denen man als politisch Verantwortlicher da ist und die man vor möglichen Bedrohungen schützen will. Informiert werden sie nicht, nicht einmal des-informiert, sie werden in ein Informations-Vakuum gestoßen, das jeder Menschenwürde und jeder Freiheit Hohn spricht.

In einem solchen durchgehend menschenverachtenden, gewalttätigen Klima muss das Aufbrechen neuer Lebensformen, neuer Potentiale gebunden an einzelne Körper, neue Menschen, in allen Bereichen zu Verwerfungen, Unruhen und Konflikten führen. Die neuen Kinder finden nicht die Umgebung, die sie eigentlich bräuchten. Die neuen Eltern sind isoliert, unter-informiert und weitgehend hilflos, und die wirtschaftlich oder politisch Verantwortlichen tragen viel zu enge Denkvorstellungen in ihren Köpfen und haben diese in Ihren Firmen bzw. staatlichen Institutionen implementiert, dass sie auf dieses wirklich Neue gar nicht angemessen reagieren können. Neue Menschen als Minderheit in einer weitgehend deformierten Gesellschaft, das kann nicht gut gehen.

Im Handlungsstrang von Elsbergs Buch entwickeln sich die Dinge dann ja auch genau entlang den strukturellen Vorgaben der deformierten Gesellschaft, die er zeichnet. Die ersten neuen Menschen, altersmäßig noch Kinder, geraten in einen Konflikt nach den anderen, dazu noch in emotionale Konflikte untereinander, für deren Lösung Intelligenz als solche wenig beitragen kann.

Dramaturgisch ist interessant, dass Elsberg die einzigen positiven Visionen einer menschlicheren Gesellschaft in einem der neuen Kinder verortet, das seine Intelligenz dazu nutzen möchte – und auch nutzt –, um eine moderne Landwirtschaft für alle Menschen zu entwickeln, dazu ein Eugenikprogramm für alle Menschen, nicht nur für Privilegierte. Und es entspricht eigentlich der klassischen griechischen Tragödie, dass die Unlösbarkeit der emotionalen Konfliktlage zwischen den Kindern – und dem ganzen Rest der Menschheit – die wunderbare Kraft des Denkens schließlich im zerstörerischen Chaos der Emotionen versenkt.

EPILOG

Hier könnte der eigentliche Roman beginnen, aber da endet er.

Das ist ehrlich.

Ist es doch genau das, was wir als Menschheit sind: ein universaler Hoffnungsträger, der aber noch hoffnungslos verstrickt ist in seinem eigenen Chaos.

Aber immerhin: aus dem reinen Nichts ein BIOM erstehen zu lassen, darin als Teil den homo sapiens, das muss man erst einmal schaffen. Die Physik steht ratlos daneben, und nicht nur diese.

Man kann gespannt sein, wie es weitergeht, im realen Leben, dem eigentlichen Roman …

BUCHANGABEN

Marc Elsberg – Helix. Sie werden uns ersetzen.

Erscheinungsdatum: 31. Oktober 2016
Format: Gebundene Ausgabe
Verlag: blanvalet Verlag
Seiten: 648

ISBN: 978-3-7645-0564-6

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