Archiv der Kategorie: Lesenotizen

ROMAN: Zeiten der Langeweile. Literarische Reflexe

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Zeit: 15.Nov 2023 – 26.Dez 2023

Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT und EINLEITUNG

Im vorausgehenden Blogbeitrag „Kollektive Mensch-Maschine Intelligenz im Kontext nachhaltiger Entwicklung. Brauchen wir ein neues Menschenbild?“ hatte ich unter anderem im Abschnitt (4) GESELLSCHAFT – SPRACHE – LITERATUR darauf aufmerksam gemacht, in welch gefährlicher Situation sich heutiges literarisches Schaffen befindet: Texte verknüpft mit realen, echten menschlichen Bedeutungskorrelaten, mit echtem Leben, mit echten Gefühlen, mit echtem Ringen um ein Menschsein in dieser realen Welt, drohen zunehmend ‚unsichtbar‘ zu werden, weil neuartige Technologien der Text-Generierung nicht nur in der Lage sind, massenweise und sehr schnell, Texte zu generieren, die den Texten mit authentischen menschlichen Autoren auf der ‚Oberfläche der Zeichen‘ täuschend ähnlich sehen. In dem Maße, wie dieser Prozess voranschreitet — und er ist in vollem Gange — verschwindet ‚das Menschliche‘ aus den Textereignissen dieser Welt. Zwischen all dem ‚Rauschen‘ des Sinnlosen wird es dann Zufall, bis man auf einen Text trifft, in dem sich ein realer Mensch real ‚offenbart‘. Können wir ’selbst‘ überhaupt noch Mensch sein, wenn es ‚die Anderen‘ nicht mehr gibt? Werden wir noch sprechen können, wenn ‚unsere‘ Sprache sich in einem ’sinnlosen Meer von Zeichen‘ schlicht verliert? Ereignet sich die Vernichtung der Menschheit nicht schon lange bevor es überhaupt Maschinen gibt, die auch nur ansatzweise ‚rational‘ oder ‚bewusst‘ sind, weil wir Menschen selbst unsere Intelligenz, Rationalität und Emotionalität dazu benutzen, uns selbst stumm zu machen, bevor irgendeine dieser aktuell noch extrem dummen Maschinen überhaupt solch einen ‚Gedanken‘ fassen könnte?

In diesen Menschen-bedrohenden Zeiten (dabei bleiben hier viele andere große Bedrohungen hier außen vor, nicht dass es sie nicht gäbe) ist es daher wichtiger denn je die Dimension des Literarischen wahrzunehmen, zu unterstützen, sie selbst nach Möglichkeit zu praktizieren. Ohne Austausch unter uns Menschen über das, was wir sind, was uns bewegt, sterben wir ab in dem, was uns Menschlich macht.

In diesem Kontext habe ich zu einem Roman gegriffen „Zeiten der Langeweile“ von der jungen Autorin Jenifer Becker, die ich bei einer Konferenz an der TU-Darmstadt mit dem Titel Diskurse disruptiver digitaler Technologien am Beispiel von KI-Textgeneratoren (KI:Text) als eine der Referenten:innen kennengelernt habe. Ihr intellektuelles Ringen um die Thematik aus Sicht der Kulturwissenschaften lies mich mindestens aufhorchen. Ihre Tipps für interessante Artikel und Bücher halfen weiter. Mir wurde schnell klar, dass ich hier auf eine Erfahrungs- und Denkwelt stoße, die auf mich ‚planetenhaft fern‘ wirkt. Ich kann mich nicht entsinnen, wann ich das letzte Mal selbst bewusst nach einem Roman gegriffen habe, da ich als Wissenschaftler und Philosoph schon immer Schwierigkeiten mit literarischen Formen hatte. Nachdem nun aber meine eigene Theorie klipp und klar sagte, dass Literatur nicht einfach nur ein ’schönes Spiel‘ ist, sondern hinter allem Spielerischen existentiell ernst ist, habe ich mir diesen Roman von Jenifer Becker bestellt. Ja, und ich habe auch angefangen darin zu lesen.

Von dieser Leseerfahrung berichtet der folgenden Text, reflexhaft, fragmentarisch, ohne Versuch, diese Erfahrung sofort schon wieder zu ’systematisieren‘, wie das Wissenschaftler und besonders Wissenschaftsphilosophen so gerne tun. Irgendwann wird das Systematisieren ‚von selbst‘ einsetzen. Dann wird es spannend, was da aufscheinen wird ….

BEGINN DER LESE-NOTIZEN

12.Nov. 23

Mein neues Verständnis von Literatur vor, während und nach dem Vortrag hat sich weiter radikalisiert.

Es ist interessant, dass ich 75 Jahre gebraucht habe, um den fundamentalen Charakter von Literatur zu verstehen.

Ein spannendes Detail ist die zusätzliche Rolle, die wissenschaftliche Texte spielen als Teilaspekt von Literatur. Sie können weniger als Literatur, dafür können sie manches detaillierter, was Literatur im Prinzip auch kann, aber Literatur ist mehr.

In dem was Literatur ‚mehr‘ ist, ist sie aber auch sehr verwundbar, und beständig bedroht.

Text-Generatoren sind absolut tödlich für Literatur, sie werden sie durch eine Flut von Texten unsichtbar machen und dabei alle wichtige Bedeutung vernichten.

Dieser Roman müsste sofort geschrieben werden …

21.Nov 23

Ich lese immer noch in dem Roman. Dies ist nicht selbstverständlich. Der natürliche Lebens-Abstand zwischen Planet 0-35 (Autorin des Romans) und Planet 40-75 (ich) ist eigentlich immens. …

Ohne den Kontext der Konferenz an der TUD im August, die vielen Eindrücke und Gespräche, der persönliche Auftritt der Autorin, die vielen interessanten Hinweise, meine weitere Denkarbeit bis zum Vortrag an der Goethe im Rahmen von ENIGMA-U3L, das neue erste Begreifen vom fundamentalen Charakter von Literatur für unser aller Menschsein, gleichzeitig die weiter voran schreitende Einsicht in die fundamentale Bedeutung von nachhaltiger empirischer Theorie … all dies, ja auch schwer greifbare Emotionen die die Autorin Planet 0-35 mit ihren Worten, ihrer Art und Weise auslöste … all dies erzeugt ein atmosphärisches Feld von Zusammenhängen, Kontexten, die stark genug sind, um die natürliche Fremdheit von unbekannten Lebens-Planeten ansatzweise zu überwinden.

In der Lektüre herrscht primär Verwunderung, Fremdheit, unglaubliche Andersheit vor. Dem Planet 40-75 wird deutlich, wie große die Unterschiede im gleichen Deutschen Universum zu einem anderen Planeten 0-35 herrschen können, nur weil er in einer anderen Zeitphase, an anderen Orten, mit anderen Menschen ins Leben gewachsen ist, mit seiner Umgebung vibrierend in Wechselwirkung getreten ist, sein eigenes Inneres vielfältig, überraschend, bedrückend, lähmend, anregend … erfahren hat und immer noch erfährt: das Neue wird zugleich eingehüllt in das schon Bekannte, und doch bleibt ein ‚Überschuss‘ an Neuem, an schwer Vorstellbaren, an schwer Kalkulierbaren. Das ‚Bekannte‘ erklärt nicht viel … was überhaupt? –, aber es ist da, wirkt nach im Rauschen der Erinnerungen, vielfältig unbewusst, und doch wispert das Neue, oder inszeniert ein Getöse, ein spezifischer ‚Alltagssound‘, dessen Melodien und Harmonien noch schwer greifbar erscheinen.

Wenn ich sehe, mit welcher — ja — Brutalität die Autorin ihr privates Inneres, was man selbst Freundinnen oder Freunden so kaum erzählt, nach außen transportiert, mit Worten einer gemeinsamen Sprache, dahin fliegenden Buchstaben, schön geordnet nach den Regeln der Sprache, dann irritiert mich dies. Ich schreibe auch viel, viele tausend Seiten öffentlich, letztlich auch ‚ehrlich‘, aber die Details meines Inneren … na ja, irgendwie habe ich auch schon viel geschrieben. … dennoch verspüre ich eine gewisse ‚Hemmung‘, meine Gedanken ganz öffentlich kundzutun. Möglicherweise muss dies geschehen, weil Planet 0-35 den Bann gebrochen hat, weil er in den Zeiten der beginnenden Maschinen-Texte sich als Menschin aufbäumt und in einer Radikalität die eigene Menschlichkeit ins Wort und damit zu Bewusstheit in anderen Planeten bringen, die die einzig mögliche Antwort in diesen maschinellen Zeiten sein kann. Wenn nicht jetzt, wann dann wollen wir als Menschen ‚aufwachen‘ und begreifen, dass es auf diesem Planeten wirklich in eminenter Weise ‚um uns‘ geht, um uns ‚menschliche Planeten‘, die nicht ‚einfach nur so‘ da sind, sondern als ‚Teil eines unfassbaren Lebens-Universums‘, verglichen mit dem das ganze bekannte physikalische Universum fast lächerlich einfach wirkt … aber offensichtlich ist es für uns Menschen-Planeten nicht einfach, unseren Kurs zu finden. Der Augenblick, der Moment, der ‚Lärm des Äußeren im Inneren‘ verhindert viel ….

Also, ich lese erst mal weiter.

Es ist wahnsinning: ich lese weil ich lese. Es gibt keinen zusätzlich wichtigen Grund.

Das Leben hat seinen Sinn ‚in sich selbst‘, nicht ‚für sich‘, sondern ‚für sich im an sich‘ ….

Ich weiß nicht, ob Kant oder Hegel oder … das auch so gesehen haben.

Für mich ist Planet 0-35 schon jetzt eine ‚Heldin‘, obgleich noch gar nicht klar ist, wie dieser Planet weiter fliegen wird …

27.Nov 23

der Strom der Worte von Planet 0-35 bricht auf der letzten Seite des Buches ab.

Wie im Alltag: wenn man einen Zeitschnitt macht, egal wann, … alles wirkt unvollendet. …

Geht es weiter? Wie? Was? Warum? Wohin? ….

Der Schnitt offenbart im Stillstand ein schwer fassbares ‚Mehr‘, das in seinem Schweigen die vielen kleinen Ereignisse mit ihrer sinnlichen Schrillheit dennoch ‚übertönt‘, … wenn man gelernt hat, ‚im Schweigen zu hören’…

Das Schweigen wird dann immer lauter und die sinnliche Oberflächenschrillheit verstummt ….

Die reale Autorin Plant 0-35, die ich für Momente real erleben konnte, die reale Autorin Plant 0-35 nach Veröffentlichung ihres Romans, erweckt ganz andere Eindrücke als der ‚Planet 0-35‘, der sich in eine Wolke von Worten kodiert hat. Das ‚Mehr im Wortabbruch des Romans‘, dessen ‚Mehr-Sound‘ die Details deutlich übertönt, wird durch die Differenz zwischen der ‚realen Autorin Plant 0-35‘ und der ‚Wortwolke von Planet 0-35‘ noch verstärkt.

Die ‚Wortwolke von Planet 0-35‘ ist kein maschineller Text. Die reale Autorin Planet 0-35 ist kein ‚maschineller Text-Generator‘. Die reale Autorin Plant 0-35 manifestiert ein ‚Mehr‘ das weit über endliche Wortwolken hinaus geht!

Der Versuch, von Planet 0-35, sich von aller Digitalität, von digitalen Ereignissen, von digitalen möglichen Lebenszeichen möglicher Menschen ‚hinter dem Digitalen‘ abzukoppeln, endete so, wie eine reale Autorin Plant 0-35 enden musste, wenn sie kein maschineller Textgenerator ist: in der Offenlegung eines ‚Mehr‘, das im Moment des Offenlegens noch keinen Namen hat, noch keine wirklich angemessene Botschaft, aber in seinem Versuch des Abkoppelns von digitalen Repräsentanten erleben kann (und scheinbar hat es funktioniert, siehe die reale Autorin Plant 0-35 nach dem Roman), dass es da ein Mehr gibt, welches ein unfassbares Potential andeutet, anklingen lässt, das bis zum letzten Wort des Romans nur ‚anwesend‘ ist als Ermöglichung von allem, aber in dem bisherigen Konkreten noch so hilflos, so lautlos, so schwach wirkt … aber all das nicht ist…

Die Worte die man in einem Roman lesen kann sind nicht unbedingt die Botschaft, die die Gesamtheit der Worte andeuten kann. Und die reale Autorin Plant 0-35 vor, während, und nach dem Roman verkörpert ein ‚Mehr‘, das eigentlich in allen Menschen anwesend ist, … die ‚Sprache des Mehr‘ verlangt nach Texten, nach Romanen, aber auch — und das ist der zentrale Punkt angesichts von dummen Maschinen, die von Menschen vergöttlicht werden — nach der Quelle der Wort, nach den realen Substraten des Menschlichen, nach dem realen Ort des Mehr, das im individuellen Menschen zwar aufscheint, aber in der Gesamtheit des Lebens zu Haus ist, und selbst dieses, dieses unfassbare Ereignis des Lebens im realen Universum, ist — sehr wahrscheinlich — nicht die ganze Manifestation eines ‚Mehr‘, das so nah sein kann, und doch zugleich so fern. Maschinen sind immer nur ’nah‘, ‚endlich‘, in ihrer Struktur trotz Abermillionen von Zeilen Code sehr simpel…

Es gibt viele Milliarden Menschen auf diesem Planeten.

Nicht viele haben mit eigenen Worten beschrieben, was passiert, wenn sie versuchen, sich von allem zu trennen, was ihren digitalisierten Alltag ausmacht.

Bleibt offen, wie die reale Autorin Plant 0-35 nach der ‚Entdeckung ihres wahren Selbst‘ in der ’scheinbaren Unhörbarkeit des Mehrs in ihr‘ dieses Mehr weiter lebt. Ich kenne keine Handlungsanweisung für solche Fälle. Dieses Mehr ist die Schnittstelle zum ‚radikal Neuen‘, und das ist das Besondere.

OK.

Meine Zeilen sollten eigentlich nur eine ‚Überbrückung der Zeit‘ sein vom Ende der Lektüre zur ‚eigentlichen Antwort‘, da ich von einigen Ereignissen mit realen Dingen absorbiert werde, aber jetzt haben die Worte während des Schreibens einen Weg gebahnt, einen Blick aufgebaut, der seine eigene Kraft entwickelt.

DER AUTOR

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