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Empirisch Wahr?

KONTEXT

Dieser Text ist Teil des Textes „Neustart der Menschlichkeit (Rebooting humanity)“

(Die Englische Version findet sich HIER)

Autor Nr. 1 (Gerd Doeben-Henisch)

Kontakt: cagent@cognitiveagent.org

Start: 30.Mai 2024

Letzte Änderung: 31.Mai 2024

Empirisch Wahr?

Hypothesen 2 – 4 …

Mit Hypothese 1 ergibt sich ein weiteres Paradox: Wenn die Struktur unseres menschlichen Körpers (mit seinem Gehirn) so ausgelegt ist, dass es keine direkte dauerhafte eins-zu-eins Abbildung der realen Körperwelt außerhalb des Gehirns in den inneren Zuständen des Körpers (mit Gehirn) gibt, wie können Menschen dann ‚empirisch wahre Aussagen‘ über etwas außerhalb des Körpers bzw. außerhalb des Gehirns sinnvoll bilden und nutzen?

Im Alltag können wir alle folgende Erfahrungen machen:

Wenn mindestens zwei Personen beteiligt sind und diese keine besonderen Einschränkungen aufweisen, dann können wir folgende Fälle unterscheiden:

  1. Fall 1: Es gibt ein Objekt mit bestimmten Eigenschaften, das die beteiligten Personen sinnlich wahrnehmen können. Dann kann eine Person A sagen: „Da gibt es ein Objekt X mit Eigenschaften Y“. Und eine andere Person B kann sagen: „Ja, ich stimme zu“.
  2. Fall 2: Ein bestimmtes Objekt X mit Eigenschaften Y kann von den beteiligten Personen sinnlich nicht wahrnehmen werden. Dann kann eine Person A sagen: „Das Objekt X mit Eigenschaften Y ist nicht da“. Und eine andere Person B kann sagen: „Ja, ich stimme zu“.
  3. Fall 3: Es gibt ein Objekt mit bestimmten Eigenschaften, das die beteiligten Personen sinnlich wahrnehmen können, das sie vorher noch nie gesehen haben. Dann kann eine Person A sagen: „Da gibt es ein Objekt mit Eigenschaften, das kenne ich noch nicht. Das ist für mich neu“. Und eine andere Person B kann dann sagen: „Ja, ich stimme zu“.
  4. Fall 4: Ein bestimmtes Objekt X mit Eigenschaften Y kann aktuell von den beteiligten Personen sinnlich nicht wahrgenommen werden, es war aber vorher da. Dann kann eine Person A sagen: „Das Objekt X mit Eigenschaften Y ist nicht mehr da“. Und eine andere Person B kann sagen: „Ja, ich stimme zu“.

Fall 1: Einführung von Hypothese 2

Der Fall 1 wird verständlich, wenn man annimmt, dass die sinnlichen Reize, die vom Objekt X mit den Eigenschaften Y in den Sinnesorganen zu Aktivierungen führen, eine sinnliche Wahrnehmung generieren, die für die Dauer der Präsenz von Objekt X bestehen kann.

Um diese temporäre Wahrnehmung als ein ‚Objekt der Art X mit Eigenschaften Y‘ identifizieren und klassifizieren zu können, müssen die beteiligten Personen über eine ‚Erinnerung‘ verfügen, die ein ‚abstraktes Objekt der Art X mit Eigenschaften Y‘ parat hält.

Die ‚realisierte Übereinstimmung‘ zwischen der Wahrnehmung von Objekt X mit der Erinnerung eines passenden abstrakten Objektes X ermöglicht dann die Entscheidung, dass es zum abstrakten Objekt X eine aktuelle Wahrnehmung gibt, deren ‚wahrgenommenen Eigenschaften‘ mit den ‚abstrakten Eigenschaften‘ ‚hinreichend übereinstimmen‘.

Wichtig: aus dieser im Gehirn stattfindenden Übereinstimmung zwischen einem wahrgenommenen Objekt und einem erinnerten Objekt X folgt nichts über die realen konkreten Umstände, die zur Wahrnehmung des Objekts geführt hat.[1]

Dieser Sachverhalt beschreibt das, was mit Hypothese 2 gemeint ist: Personen können ein wahrgenommenes Objekt als ein Objekt der Art X mit Eigenschaften Y erkennen, wenn sie über eine Erinnerung verfügen, die im Moment der aktuellen Wahrnehmung verfügbar ist.

Wichtig: Diese Hypothese 2 bezieht sich bislang auf das, was mit und in einer einzelnen Person passiert. Eine andere Person kann von diesen Vorgängen im Normalfall nichts wissen. Interne Prozesse in Personen sind — bislang — für andere nicht wahrnehmbar.[2]

[1] Moderne Simulationstechniken können für die meisten Menschen so ‚echt‘ sein, dass sie den ‚Unterschied‘ zur realen Welt allein aufgrund der sinnlichen Wahrnehmung nur noch schwer erkennen lassen, falls überhaupt. Dies wäre der Fall, dass eine sinnliche Wahrnehmung mit einem erinnerten abstrakten Objekt im Gehirn eine weitgehende Übereinstimmung aufweist, obgleich es kein ‚echtes‘ empirisches Objekt ist, das die Wahrnehmung auslöst. … Allerdings, der Computer, der die Simulation so ausführt, dass sie für einen Betrachter ‚täuschend echt‘ aussieht (oder die technische Schnittstelle, über die das Signal des Computers die Sensoren des Menschen erreicht) , ist natürlich weiter ein empirisches Objekt, das als Teil der Wahrnehmung signalisieren kann, dass das Gezeigte nicht real ist …

[2] Wenn mit modernen Messtechniken der Gehirnwissenschaften elektrische und chemische Eigenschaften und Aktivitäten sichtbar gemacht werden können, lässt sich aus diesen Aktivitäten aber — bislang — niemals direkt auf die darin verborgene Funktionalitäten schließen. Im analogen Fall, wenn man die elektrischen Aktivitäten der Chips in einem Computer misst (was geht und was man tut), dann kann man damit niemals auf die Algorithmen schließen, die aktuell ausgeführt werden, selbst wenn man diese Algorithmen kennt!

Fall 1: Einführung von Hypothese 3

Der Fall 1 umfasst ja auch noch den Aspekt, dass eine Person A einer anderen Person B etwas ’sprachlich mitteilt‘. Ohne diese sprachliche Mitteilung wüsste B nichts von dem, was in A vorgeht. Im Alltag nimmt eine Person gewöhnlich mehr als nur ein Objekt wahr, möglicherweise viele Objekte gleichzeitig. Zu wissen, dass eine Person gerade ein bestimmtes Objekt meint und nicht eines der vielen anderen Objekte ist daher nicht selbstverständlich.

In Fall 1 soll also gelten: Eine Person A sagt: „Da gibt es ein Objekt X mit Eigenschaften Y“. Und eine andere Person B sagt: „Ja, ich stimme zu“.

Wenn eine Person etwas ’sagt‘, was alle Beteiligten als ‚Elemente einer Sprache L‘ erkennen, dann sind diese Elemente der Sprache L ‚Laute‘, also Schallwellen, die einerseits von einem Sprechorgan (mit einem Mund) erzeugt und auf der anderen Seite von einem ‚Ohr‘ empfangen werden. Nennen wir das erzeugenden Organ einfach ‚Aktor‘ und das empfangende Organ weiterhin ‚Sensor‘, dann produziert eine Person bei sprachlicher Kommunikation mit einem Aktor also Laute und der Teilnehmer der Kommunikation empfängt über seinen Sensor diese Laute.

Es ist natürlich klar dass die gesprochenen bzw. dann auch gehörten Laute einer Sprache L direkt keinerlei Beziehung aufweisen zu den internen Prozessen der Wahrnehmung, des Erinnerns und des ‚Übereinstimmungsprozesses‘ von Wahrnehmung und Erinnerung. Man kann aber annehmen, dass es im Sprecher und Hörer ‚interne neuronale Prozesse‘ geben muss, die eine ‚Entsprechung‘ zu den generierten Lauten aufweisen müssen, da ansonsten der Aktor nicht in Aktion treten kann.[1] Im Fall des Sensors wurde ja schon zuvor darauf hingewiesen, wie Reize der Außenwelt zu Aktivierungen von Neuronen führen, über die ein neuronaler Signalfluss entsteht.

So wie allgemein angenommen wurde, dass es zu wahrgenommenen Objekten neuronale Signalflüsse und unterschiedliche abstrakte Strukturen von Objekten gibt, die ‚intern‘ gespeichert und weiter bearbeitet werden können, so kann und muss man Ähnliches für die neuronale Kodierung von gesprochen und gehörten Lauten annehmen. Sofern man im gesprochenen akustischen Lautmaterial einer Sprache Elemente sowie bestimmte Kombinationen von Elementen unterscheiden kann, so liegt es nahe, anzunehmen, dass sich diese äußerlich identifizierbaren Strukturen auch in der inneren neuronalen Realisierung wieder finden.

Der Kerngedanke von Hypothese 3 lässt sich dann so formulieren: Zu der akustisch wahrnehmbaren Struktur einer Sprache L gibt es eine neuronale Entsprechung, die überdies der ‚aktive‘ Teil ist beim Hervorbringen von gesprochener Sprache und beim ‚Übersetzen‘ von gesprochenen Lauten in die entsprechenden neuronalen Repräsentationen.

[1] Gerade das Sprachorgan des Menschen ist ein hoch komplexes System, bei dem viele Systeme zusammen wirken, die alle neuronal angesteuert und koordiniert werden müssen.

Fall 1: Einführung von Hypothese 4

Mit Hypothese 2 (Erinnerung, Vergleich von Wahrnehmung und Erinnerung) und Hypothese 3 (selbständiges Lautsystem einer Sprache) ergibt sich die nächste Hypothese 4, dass es zwischen dem Lautsystem einer Sprache L und den erinnerbaren Objekten samt aktueller Wahrnehmung irgendwie eine ‚Beziehung‘ geben muss (mathematisch: eine Abbildung), durch die ‚Laute‘ mit ‚Objekten (samt Eigenschaften)‘ und umgekehrt verbunden werden können.

Im Fall 1 gibt es von Person A die Wahrnehmung eines Objektes X mit Eigenschaften Y, dazu eine Erinnerung, die ‚hinreichend übereinstimmt‘, und Person A sagt: „Da gibt es ein Objekt X mit Eigenschaften Y“. Und eine andere Person B sagt: „Ja, ich stimme zu“.

Angesichts der Vielfalt der Welt, angesichts von ständigen Veränderungen und der Vielfalt möglicher Lautsysteme [1], sowie angesichts der Tatsache, dass Menschen massive Wachstumsprozesse durchlaufen vom Embryo bis zum sich immer weiter entwickelten Menschen, ist auszuschließen, dass mögliche Beziehungen zwischen Sprachlauten und wahrgenommene und erinnerten Objekten ‚angeboren‘ sind.

Dies impliziert, dass diese Beziehung (Abbildung) zwischen Sprachlauten und wahrgenommenen und erinnerbaren Objekten sich ‚im Laufe der Zeit‘ erst herausbilden muss, was oft als ‚Lernen‘ bezeichnet wird. Ohne bestimmte Vorgaben kann Lernen sehr langsam verlaufen, bei verfügbaren Vorgaben deutlich schneller. Im Fall von Sprachlernen wächst ein Mensch normalerweise in der Gegenwart anderer Menschen auf, die in der Regel schon eine Sprache praktizieren, die für heranwachsende Menschen als Bezugssystem dienen kann.

Sprache lernen ist jedenfalls ein langwieriger Prozess, der neben der individuellen Aneignung immer auch die inter-individuelle Abstimmung zwischen all denen mit einschließt, die eine bestimmte Sprache L gemeinsam praktizieren.

Im Ergebnis führt das Erlernen einer Sprache dazu, dass nicht nur die ‚Struktur des Lautsystems‘ gelernt wird, sondern auch die Zuordnung von Elementen des Lautsystems zu Elementen der Wahrnehmungs-Erinnerungs Struktur.[2]

Im Fall 1 muss also Person A wissen, welche Lautstruktur in der Anwendungsgruppe für Sprache L für ein Objekt X mit Eigenschaften Y benutzt wird, und ebenso Person B. Falls A und B über das gleiche ‚Beziehungswissen‘ von Lauten zu Objekten und umgekehrt verfügen, kann Person B die sprachliche Äußerung von A „Da gibt es ein Objekt X mit Eigenschaften Y“ ‚verstehen‘, weil er zugleich auch eine Wahrnehmung von diesem Objekt hat und er ein Objekt X erinnert, das für ihn mit dem wahrgenommenen Objekt hinreichend übereinstimmt und er B diesen Sachverhalt genauso benennen würde wie A es getan hat. Dann kann Person B sagen: „Ja, ich stimme zu“.

[1] Man beachte nur die vielen tausend Sprachen, die es immer noch auf dem Planeten Erde gibt, wobei unterschiedliche Sprachen in der gleichen Lebenswelt benutzt werden können. Die gleichen ‚Wahrnehmungsobjekte‘ können auf diese Weise — je nach Sprache — anders benannt werden.

[2] Die Erforschung dieser Sachverhalte hat zwar schon eine lange Geschichte mit sehr, sehr vielen Publikationen, aber eine allgemein akzeptierte einheitliche Theorie dazu gibt es noch nicht.

–!! Noch nicht fertig !!–