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DENKEN: alltäglich – philosophisch – empirisch theoretisch (Skizze)

(Letzte Änderung: 9.Juni 2023, 17:55h)

KONTEXT

Die aktuelle Phase meines Denkens kreist weiterhin um die Frage, wie sich die verschiedenen Erkenntniszustände zueinander verhalten: die vielen einzel-wissenschaftlichen Disziplinen treiben nebeneinander her; Philosophie beansprucht weiterhin eine Oberhoheit, kann sich aber selbst nicht wirklich überzeugend verorten; und das Denken im Alltag zieht weiterhin unbeirrt seine Bahnen mit der Überzeugung ‚Alles sei doch klar‘, man müsse doch nur einfach hinschauen ‚wie es ist‘. Dann kommen noch die verschiedenen ‚religiösen Anschauungen‘ um die Ecke mit einem sehr hohen Anspruch bei gleichzeitigem Verbot, nicht zu genau hinschauen zu dürfen. … und vieles mehr.

ABSICHT

Im folgenden Text werden drei fundamentale Betrachtungsweise unserer gegenwärtigen Welt skizziert und sie werden zugleich zueinander in Beziehung gesetzt. Manche bislang unbeantwortete Fragen lassen sich dadurch möglicherweise besser beantworten, viele neue Fragen entstehen aber auch. Wenn ‚alte Denkmuster‘ außer Kraft gesetzt werden, muss man viele (die meisten? Alle?) der bislang vertrauten Denkmuster neu justieren. Mit einem Mal sind sie schlicht ‚falsch‘ oder stark ‚reparaturbedürftig‘.

Leider ist es nur eine ‚Skizze‘.

DENKEN im ALLTAG

BILD 1: Im Alltagsdenken geht jeder Mensch (ein ‚homo sapiens‘ (HS)) davon aus, dass das, was er von einer ‚realen Welt‘ weiß, das ist, was er ‚wahrnimmt‘. Dass es diese reale Welt mit ihren Eigenschaften gibt, ist ihm — mehr oder weniger — ‚bewusst‘, darüber muss man nicht eigens diskutieren. Das, was ‚ist, ist‘.

… vieles wäre zu sagen …

PHILOSOPHISCHES DENKEN

BILD 2: Das philosophische Denken beginnt dort, wo einem auffällt, dass die ‚reale Welt‘ nicht von allen Menschen in ‚gleicher Weise‘ wahrgenommen und noch weniger in gleicher Weise ‚vorgestellt‘ wird. Manche Menschen haben ‚ihre Vorstellungen‘ von der realen Welt, die markant ‚anders sind‘ als die Vorstellungen anderer Menschen, und doch bestehen sie darauf, dass die Welt genau so ist, wie sie sich das vorstellen. Aus dieser Beobachtung im Alltag, können viele neue Fragen entstehen. Die Antworten auf diese Fragen sind so vielfältig wie es Menschen gab und gibt, die sich diesen philosophischen Fragen hingaben oder noch hingeben.

… berühmte Beispiele: Platons Höhlengleichnis deutet an, dass die Inhalte unseres Bewusstseins vielleicht doch nicht ‚die Sachen selbst‘ sind sondern nur die ‚Schatten‘ vom dem, was letztlich ‚wahr‘ ist … Descartes berühmtes ‚cogito ergo sum‘ bringt den Aspekt ins Spiel, dass die Inhalte des Bewusstsein auch etwas über ihn selbst sagen, der solche Inhalte ‚bewusst wahrnimmt’…. die ‚Existenz der Inhalte‘ setzt seine ‚Existenz des Denkenden‘ voraus, ohne die die Existenz der Inhalte gar nicht möglich wäre …was sagt uns dies? … Kants berühmtes ‚Ding an sich‘ kann man auf die Einsicht beziehen, dass die konkreten, flüchtigen Wahrnehmungen niemals die ‚Welt als solche‘ in ihrer ‚Allgemeinheit direkt zeigen können. Diese liegt ‚irgendwo dahinter‘, schwer greifbar, eigentlich gar nicht greifbar? ….

… vieles wäre zu sagen …

EMPIRISCH-THEORETISCHES DENKEN

BILD 3: Das Konzept einer ‚empirischen Theorie‘ entwickelte sich sehr spät in der dokumentierten Geschichte des Menschen auf diesem Planeten. Einerseits philosophisch angeregt, andererseits unabhängig von den verbreiteten Formen von Philosophie, aber sehr stark beeinflusst von logischem und mathematischem Denken, siedelte sich das neue ‚empirische theoretische‘ Denken genau an dieser Bruchstelle zwischen ‚Alltagsdenken‘ und ‚theologischem‘ sowie ’stark metaphysischem philosophischem Denken‘ an. Dass Menschen ‚mit dem Brustton der Überzeugung‘ Aussagen über die Welt machen konnten, obwohl es nicht möglich war, ‚gemeinsame Erfahrungen der realen Welt‘ aufzuzeigen, die mit den geäußerten Aussagen ‚übereinstimmten‘, führte dazu, dass einzelne Menschen damit begannen, die ‚erfahrbare (empirische) Welt‘ so zu untersuchen, dass jeder andere bei ‚gleichem Vorgehen‘, die ‚gleichen Erfahrungen‘ machen konnte. Diese ‚transparenten Vorgehensweisen‘ waren ‚wiederholbar‘ und solche Vorgehensweisen wurden zu dem, was später als ‚empirisches Experiment‘ bzw. dann, noch einen Schritt weiter, als ‚Messen‘ bezeichnet wurde. Beim ‚Messen‘ vergleicht man das ‚Ergebnis‘ eines bestimmten experimentellen Vorgehens mit einem ‚zuvor definierten Standard-Objekt‘ (‚Kilogramm‘, ‚Meter‘, …).

Diese Vorgehensweise führte dazu, dass — zumindest die Experimentatoren — ‚lernten‘, dass unser Wissen um die ‚reale Welt‘ in zwei Komponenten zerfällt: es gibt das ‚allgemeine Wissen‘ was unsere Sprache artikulieren kann, mit Begriffen, die nicht automatisch etwas mit der ‚erfahrbaren Welt‘ zu tun haben müssen, und solchen Begriffen, die sich mit experimentellen Erfahrungen in Verbindung bringen lassen, und zwar so, dass auch andere Menschen, sofern sie sich auf das experimentelle Vorgehen einlassen, diese Erfahrungen wiederholen und dadurch bestätigen können. Eine grobe Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten von sprachlichen Äußerungen könnte sein: ‚fiktive‘ Ausdrücke mit ungeklärtem Erfahrungsanspruch, und ‚empirische‘ Ausdrücke mit bestätigtem Erfahrungsanspruch.

Seit dem Beginn der neuen empirisch-theoretischen Denkweise im ca. 17.Jahrhundert dauerte es gut mindestens 300 Jahre, bis sich das Konzept einer ‚empirischen Theorie‘ soweit gefestigt hatte, dass es in weiten Bereichen der Wissenschaft zu einem prägenden Paradigma geworden war. Viele methodische Fragen blieben aber strittig oder blieben sogar ‚ungelöst‘.

DATEN und THEORIE

Viele Jahrhunderte wurde bei vielen — bei nicht wenigen auch bis in unsere Gegenwart — der ‚Missbrauch der Alltagssprache‘ für die Ermöglichung von ‚empirisch nicht verifizierbare Aussagen‘ direkt dieser Alltagssprache angekreidet und die gesamte Alltagssprache wurde als ‚Quelle von Unwahrheiten‘ diskreditiert. Eine Befreiung von diesem ‚ Monster Alltagssprache‘ wurde immer mehr in formalen Kunstsprachen gesucht bzw. dann in der modernen axiomatisierte Mathematik, die ein enges Bündnis mit der modernen formalen Logik eingegangen war (ab Ende des 19.Jahrhunderts). Die Ausdruckssysteme der modernen formalen Logik bzw. dann der modernen formalen Mathematik hatten als solche (nahezu) keine ‚Eigenbedeutung‘. Diese mussten fallweise explizit eingeführt werden. Eine ‚formale mathematische Theorie‘ konnte so formuliert werden, dass sie auch ohne ‚explizite Zuweisung‘ einer ‚externen Bedeutung‘ ‚logische Schlüsse‘ zulässt, die es erlaubten, bestimmte formale Ausdrücke als ‚formal wahr‘ oder ‚formal falsch‘ zu bezeichnen.

Dies erschien auf den ersten Blick sehr ‚beruhigend‘: die Mathematik als solche ist kein Ort von ‚falschen‘ oder ‚untergejubelten‘ Wahrheiten.

Der intensive Einsatz formaler Theorien in Verbindung mit erfahrungsbasierten Experimenten machte aber dann schrittweise deutlich, dass ein einzelner Messwert als solcher eigentlich auch keine ‚Bedeutung‘ besitzt: was soll es ‚bedeuten‘ dass man zu einem bestimmten ‚Zeitpunkt‘ an einem bestimmten ‚Ort‘ einen ‚erfahrbaren Zustand‘ mit bestimmten ‚Eigenschaften‘ feststellt, im Idealfall einem zuvor vereinbarten ‚Standardobjekt‘ vergleichbar? ‚Ausdehnungen‘ von Körpern können sich ändern, ‚Gewicht‘ und ‚Temperatur‘ ebenso. Alles kann sich in der Erfahrungswelt ändern, schnell, langsam, … was kann also ein einzelner isolierter Messwert sagen?

So manchem dämmerte es — nicht nur den erfahrungsbasierten Forschern, sondern auch verschiedenen Philosophen –, dass einzelne Messwerte nur eine ‚Bedeutung‘, einen möglichen ‚Sinn‘ bekommen, wenn man mindestens ‚Beziehungen‘ zwischen einzelnen Messwerten herstellen kann: Beziehungen ‚in der Zeit‘ (vorher – nachher), Beziehungen am/im Ort (höher – tiefer, nebeneinander, …), ‚zusammenhängende Größen‘ (Objekte – Flächen, …), und dass darüber hinaus die verschiedenen ‚Beziehungen‘ selbst nochmals einen ‚begrifflichen Kontext‘ benötigen (einzeln – Menge, Wechselwirkungen, kausal – nicht kausal, …).

Schließlich wurde damit auch klar, dass einzelne Messwerte darüberhinaus ‚Klassenbegriffe‘ benötigten, damit man sie überhaupt irgendwie einordnen konnte: abstrakte Begriffe wie ‚Baum‘, ‚Pflanze‘, ‚Wolke‘, ‚Fluss‘, ‚Fisch‘ usw. wurden so zu ‚Sammelstellen‘, bei denen man ‚Einzelbeobachtungen‘ abliefern konnte. Damit konnten dann aberhundert Einzelwerte z.B. zur Charakterisierung des abstrakten Begriffs ‚Baum‘ oder ‚Pflanze‘ usw. benutzt werden.

Diese Unterscheidung in ‚einzeln, konkret‘ und ‚abstrakt, allgemein‘ erweist sich als fundamental. Sie machte auch deutlich, dass die Einteilung der Welt mit Hilfe von solchen abstrakten Begriffen letztlich ‚willkürlich‘ ist: sowohl ‚welche Begriffe‘ man wählt ist willkürlich, als auch die Zuordnung von einzelnen Erfahrungsdaten zu abstrakten Begriffen ist nicht vorab eindeutig geregelt. Der Prozess der Zuordnung von einzelnen Erfahrungsdaten zu bestimmten Begriffen innerhalb eines ‚Prozesses in der Zeit‘ ist selbst stark ‚hypothetisch‘ und selbst wiederum Teil von anderen ‚Beziehungen‘ die zusätzliche ‚Kriterien‘ liefern können, ob nun Datum X eher zum Begriff A oder eher zum Begriff B gehört (die Biologie ist voll von solchen Klassifikationsproblemen).

Ferner zeigte sich, dass die so ‚unschuldig‘ daher kommende Mathematik bei näherer Betrachtung keineswegs als ‚unschuldig‘ gelten kann. Die breite Diskussion der Wissenschaftsphilosophie im 20.Jahrhundert brachte viele ‚Artefakte‘ zur Sprache, welche die Beschreibung einer dynamischen Erfahrungswelt mindestens leicht ‚korrumpieren‘ kann.

So gehört es zu formalen mathematischen Theorien, dass sie mit sogenannten ‚All- oder Partikularaussagen‘ operieren können. Mathematisch ist es wichtig, dass ich über ‚alle‘ Elemente eines Bereichs/ einer Menge reden kann. Ansonsten wird das Reden sinnlos. Wenn ich nun ein formales mathematisches System als begrifflichen Rahmen für eine Theorie wähle, die ‚empirische Sachverhalte‘ so beschreibt, dass Folgerung möglich werden, die im Sinne der Theorie ‚wahr sind‘ und damit zu ‚Prognosen‘ werden, die behaupten, dass ein bestimmter Sachverhalt entweder ‚absolut‘ oder mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit X größer 50% eintreten wird, dann vereinigen sich zwei verschiedene Welten: die fragmentarischen Einzelaussagen über die Erfahrungswelt werden eingebettet in ‚Allaussagen‘, die grundsätzlich mehr sagen, als Erfahrungsdaten bereit stellen können.

An dieser Stelle wird sichtbar, dass die so ’neutral‘ erscheinende Mathematik genau den gleichen Job tut wie die ‚Alltagssprache‘ mit ihren ‚abstrakten Begriffen‘: die abstrakten Begriffe der Alltagssprache gehen immer über den Einzelfall hinaus (sonst könnten wir letztlich gar nichts sagen), aber gerade dadurch erlauben sie Überlegungen und Planungen, wie wir sie an den mathematischen Theorien so schätzen.

Empirische Theorien im Format formaler mathematischer Theorien haben das weitere Problem, dass sie ja als solche über (nahezu) keine eigene Bedeutungen verfügen. Will man die formalen Ausdrücke mit der Erfahrungswelt in Beziehung setzen, dann muss man (mit Hilfe der Alltagssprache!) für jeden abstrakten Begriff der formalen Theorie (oder auch für jede formale Beziehung oder auch für jeden formalen Operator) explizit eine ‚Bedeutung konstruieren‘, indem man zwischen den abstrakten Konstrukten und bestimmten aufweisbaren Erfahrungstatsachen eine ‚Abbildung’/ eine ‚Zuordnung‘ herstellt. Was sich hier auf den ersten Blick vielleicht so einfach anhört, hat sich im Laufe der letzten 100 Jahren als ein fast unlösbares Problem erwiesen. Daraus folgt jetzt nicht, dass man es überhaupt nicht tun sollte; es macht aber darauf aufmerksam, dass die Wahl einer formalen mathematischen Theorie nicht automatisch eine gute Lösung sein muss.

… vieles wäre noch zu sagen …

FOLGERN und WAHRHEIT

Eine formale mathematische Theorie kann aus bestimmten ‚Annahmen‘ bestimmte Aussagen als formal ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ ableiten. Dies geht, weil es zwei grundlegende Voraussetzungen gibt: (i) Alle formalen Ausdrücke haben einen ‚abstrakten Wahrheitswert‘ als ‚abstrakt wahr‘ oder eben als ‚abstrakt nicht wahr‘. Ferner gibt es einen sogenannten ‚formalen Folgerungsbegriff‘, der festlegt, ob und wie man aus einer gegebenen ‚Menge von formalen Ausdrücken‘ mit vereinbarten abstrakten Wahrheitswerten und einer klar definierten ‚Form‘ andere formalen Ausdrücke ‚ableiten‘ kann. Dieses ‚Ableiten‘ besteht aus ‚Operationen über den Zeichen der formalen Ausdrücke‘. Die formalen Ausdrücke sind hier ‚Objekte‘ des Folgerungsbegriffs, der auf einer ‚Ebene höher‘ angesiedelt ist, auf einer ‚Meta-Ebene 1‘. Der Folgerungsbegriff ist insofern eine eigene ‚formale Theorie‘, die über bestimmte ‚Objekte einer tieferen Ebene‘ spricht so wie die abstrakten Begriffe einer Theorie (oder der Alltagssprache) über konkrete Erfahrungstatbestände sprechen. Das Zusammenwirken von Folgerungsbegriff (auf Meta-Ebene 1) und den formalen Ausdrücken als Objekten setzt eine eigene ‚Interpretationsbeziehung‘ (letztlich eine Art von ‚Abbildung‘) voraus, die wiederum auf einer noch anderen Ebene — Meta-Ebene 2 — angesiedelt ist. Diese Interpretationsbeziehung benutzt sowohl die formalen Ausdrücke (mit ihren Wahrheitswerten!) und den Folgerungsbegriff als ‚Objekte‘, um zwischen diesen eine Interpretationsbeziehung zu installieren. Normalerweise wird diese Meta-Ebene 2 von der so gescholtenen Alltagssprache bewältigt und die implizite Interpretationsbeziehung ist ‚in den Köpfen der Mathematiker (eigentlich in den Köpfen der Logiker)‘ verortet, die davon ausgehen, dass ihre ‚Praxis des Folgerns‘ genügend Erfahrungsdaten liefern, um den ‚Inhalt der Bedeutungsbeziehung‘ zu ‚verstehen‘.

Es war Kurt Gödel gewesen [2], der 1931 versucht hat, das ‚intuitive Vorgehen‘ bei Meta-Beweisen selbst auch zu formalisieren (mit Hilfe der berühmten Gödelisierung) und damit die Meta-Ebene 3 wiederum zu einem neuen ‚Objekt‘ gemacht hat, über das man explizit diskutieren kann. Im Anschluss an Gödels Beweis gab es weitere Versuche, diese Meta-Ebene 3 nochmals anders zu formulieren oder gar deine Meta-Ebene 4 zu formalisieren. Doch blieben diese Ansätze bislang ohne klares philosophisches Ergebnis.

Klar scheint nur zu sein, dass die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, immer wieder neue Meta-Ebenen zu eröffnen, um damit zuvor formulierte Sachverhalte zu analysieren und zu diskutieren, prinzipiell unbeschränkt ist (nur beschränkt durch die Endlichkeit des Gehirns, dessen Energiezufuhr, die Zeit, und ähnliche materielle Faktoren).

Eine interessante Spezialfrage ist es, ob der formaler Folgerungsbegriff der formalen Mathematik angewendet auf Erfahrungstatsachen einer dynamischen empirischen Welt der spezifischen ‚Welt-Dynamik‘ überhaupt angemessen ist? Für den Bereich der ’scheinbar materiellen Strukturen‘ des Universums hat die moderne Physik vielfache Phänomene geortet, die sich einfach klassischen Konzepten entziehen. Eine ‚Materie‘, die zugleich ‚Energie‘ ist, ist tendenziell eher nicht mehr klassisch beschreibbar, und Quantenphysik ist — bei aller ‚Modernität‘ — letztlich immer noch ein ‚klassisches Denken‘ im Rahmen einer formalen Mathematik, die vom Ansatz her viele Eigenschaften nicht besitzt, die aber der erfahrbaren Welt zukommen.

Diese Begrenztheit eines formal-mathematischen physikalischen Denkens zeigt sich besonders krass am Beispiel jener Phänomene, die wir ‚Leben‘ nennen. Die erfahrungsbasierten Phänomene, die wir mit ‚lebenden (= biologischen) Systemen‘ in Verbindung bringen, sind auf den ersten Blick komplett materielle Strukturen, allerdings haben sie dynamische Eigenschaften, die mehr über die ‚Energie‘ aussagen, die sie hervorruft, als über die Materialität, mittels der sie sich realisieren. Insofern ist die implizite Energie der eigentliche ‚Informationsgehalt‘ von lebenden Systemen, die in ihrer Grundstruktur ‚radikal freie‘ Systeme sind, da Energie als ’nicht begrenzbar‘ erscheint. Die unübersehbare Tendenz lebender Systeme, ‚aus sich heraus‘ immer ‚mehr Komplexität zu ermöglichen‘ und zu integrieren widerspricht allen bekannten physikalischen Prinzipien. Die ‚Entropie‘ wird gerne als Argument benutzt, um diese Form von ‚biologischer Selbstdynamik‘ mit Verweis auf eine simple ‚obere Schranke‘ als ‚begrenzt‘ zu relativieren, doch macht dieser Verweis das originäre Phänomen des ‚Lebendigen‘ damit nicht vollständig zunichte.

Besonders spannend wird es, wenn man es wagt, an dieser Stelle die Frage nach der ‚Wahrheit‘ zu stellen. Lokalisiert man die Bedeutung des Begriffs ‚Wahrheit‘ zunächst mal in der Situation, in der ein biologisches System (hier der Mensch) innerhalb seines Denkens eine gewisse ‚Korrespondenz‘ zwischen seinen abstrakten Begriffen und solchen konkreten Wissensstrukturen herstellen kann, die sich über einen Interaktionsprozess mit Eigenschaften einer erfahrbaren Welt in Verbindung bringen lassen, und zwar nicht nur als einzelnes Individuum, sondern zusammen mit anderen Individuen, dann hat jedes abstrakte Ausdruckssystem (genannt ‚Sprache‘) nur in dem Maße einen ‚wahren Wirklichkeitsbezug‘, als es biologische Systeme gibt, die solche Bezüge herstellen können. Und diese Bezüge hängen weiterhin ab von der Struktur der Wahrnehmung und der Struktur des Denkens dieser Systeme; diese wiederum hängen ab von der Beschaffenheit der Körper als Kontext der Gehirne, und die Körper hängen wiederum sowohl ab von der materiellen Struktur und Dynamik der Umgebung wie auch von den gesellschaftlichen Alltagsprozessen, die weitgehend festlegen, was ein Mitglied einer Gesellschaft erleben, lernen, arbeiten, planen und tun kann. Was immer ein Individuum kann bzw. könnte, die Gesellschaft verstärkt entweder das individuelle Potential oder ‚friert‘ es ein. ‚Wahrheit‘ existiert unter diesen Bedingungen als ein ‚frei beweglicher Parameter‘, der durch die jeweilige Prozessumgebung erheblich beeinflusst wird. Das Reden von ‚kultureller Vielfalt‘ kann eine gefährliche ‚Verniedlichung‘ von massiver Unterdrückung ‚alternativer Lern- und Handlungsprozessen‘ sein, die einer Gesellschaft ‚entzogen‘ werden, weil sie ’sich selbst einsperrt‘. Unwissenheit ist tendenziell kein guter Ratgeber. Wissen als solches garantiert aber auch kein ‚richtiges‘ Handeln. Der ‚Prozess der Freiheit‘ auf dem Planet Erde ist ein ‚galaktisches Experiment‘, dessen Ernsthaftigkeit und Ausmaß bislang kaum gesehen wird.

DER AUTOR

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ANMERKUNGEN

[1] Auf Literaturangaben wird hier verzichtet. Es wären viele hunderte Texte zu erwähnen. Das kann keine Skizze leisten.

[2] Siehe Kurt Gödel, Unvollständigkeitssätze, 1931: https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_G%C3%B6del#Die_Unvollst%C3%A4ndigkeitss%C3%A4tze

WISSENSCHAFT IM ALLTAG. Popper 1989/1990

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 19.-21.Februar 2022, 14:05h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Vorbemerkung

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Fortsetzung der vorausgehenden Besprechung von Popper’s erstem Artikel „A World of Propensities“ (1988, 1990). In diesem neuen Post steht der zweite Artikel von Popper im Zentrum „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“ (1989,1990)[0]. Der Text von Popper geht zurück auf seine erste öffentliche Rede für die Alumni der London School of Economics 1989, 40 Jahre nach seiner Ernennung zum Professor für Logik und wissenschaftliche Methoden an der L.S.E. Der Text des Artikels wurde von ihm gegenüber der ursprünglichen Rede leicht erweitert.

Rückblick als Zusammenfassung

(Mit eigenen Worten …)

Im vorausgehenden Text hatte Popper sehr grundsätzlich die Idee entwickelt, dass in der Abfolge beobachtbarer Ereignisse mit möglichen Häufigkeiten ‚mehr enthalten‘ ist als bloß ein ‚wiederholtes Auftreten‘. Ereignisse in der uns umgebenden Ereigniswelt — mit unserem Körper ebenfalls als ein Ereignis darin — stehen nicht beziehungslos im Raum, sondern stehen in einem realen Zusammenhang mit allem anderen, kontinuierlich eingebettet in reale Wechselbeziehungen vielfältiger Art, und dieser Zusammenhang dauert an als ‚Gegenwart‘, in der sich diese realen Konstellationen in Form von ‚Wirkungen‘ manifestieren. Die Wirklichkeit erscheint in dieser Sicht als ein ‚Prozess‘, in dem alles mit allem verbunden ist und sich durch die kontinuierlichen ‚Wirkungen‘, die von den einzelnen Komponenten ausgehen, sich selbst kontinuierlich auch verändern kann. Eine Wirkung, die innerhalb solch eines dynamischen Prozesses als ‚Ereignis‘ beobachtbar (= messbar) wird, muss man daher als eine ‚Tendenz‘ (‚propensity‘) begreifen, die ‚vorkommt‘, weil es einen realen Zusammenhang gibt, der sie bedingt. Tendenzen kann man daher verstehen als ‚Geräusche des Daseins‘, ‚Mitteilungen des So-Seins‘, oder als ‚Sound der Welt‘. Man kann es beim bloßen Wahrnehmen, beim Sound als solchem, belassen, oder man kann den Sound als ‚Spur‘ sehen, als ‚Zeichen‘, als ‚Abdruck von etwas‘, das sich ‚mitteilt.

Popper legt Wert darauf, dass die einzelnen Töne des Sounds, die einzelnen Ereignisse, weder ‚deterministisch‘ sind noch ‚rein zufällig‘. Irgendetwas dazwischen. Das Auftreten dieser Töne kann ‚Muster‘ andeuten, ‚Regelhaftigkeiten‘, durch die unser Denken angeregt werden kann, zwischen aufeinander folgenden Ereignissen ‚Beziehungen‘ zu sehen, ‚Zusammenhänge‘, aber diese Beziehungen sind aufgrund der Art ihres Auftretens ‚fragil‘: sie können auftreten mit einer gewissen Häufigkeit, phasenweise vielleicht sogar mit einer gewissen ‚Konstanz der Häufigkeiten‘, aber es gibt ‚keine absoluten Garantien‘, dass dies immer so bleiben wird. Im Alltag neigen wir dazu, solche sich wiederholenden ‚Beziehungen‘ in ‚Hypothesen‘ umzuwandeln, an die wir die ‚Erwartung‘ knüpfen, dass sich ein solches hypothetische Muster reproduziert. Falls ja, fühlen wir uns ‚bestätigt‘; falls nein, steigen Zweifel auf, ob wir uns mit unserer Annahme geirrt haben. Im einen Grenzfall, wenn das Muster sich immer und immer wiederholt, neigen wir dazu es als ‚feste Regel‘, als ‚Gesetz‘ zu sehen. Im anderen Grenzfall, wenn das Muster sich trotz aller Versuche, es als Ereignis zu reproduzieren (Experiment, Test), nicht wieder einstellt, dann neigen wir dazu, unsere ‚Hypothese‘ wieder zu verwerfen. Doch zwischen ‚Annahme‘ eines Musters als ‚gesetzmäßig‘ und als ‚verworfen‘ liegt ein Raum voller Schattierungen. Der bekannte Spruch ‚Die Hoffnung stirbt zuletzt‘ kann andeuten, dass das ‚Verwerfen‘ einer Hypothese — je nach Art und Stärke der Erwartungen — sehr lange hinausgezögert werden kann … manche ‚glauben‘ auf jeden Fall, dass es irgendwie doch möglich sein kann, egal was passiert …

Diese Sichtweise Poppers deckt sich nicht mit einer theoretischen (mathematischen) Wahrscheinlichkeit, nicht mit einer rein subjektiven Wahrscheinlichkeit, auch nicht mit einer deskriptiven (empirischen) Wahrscheinlichkeit, selbst wenn es jeweils ‚Überschneidungen‘ gibt. Eher ist es eine Kombination von allen Dreien plus eine charakteristische Erweiterung:

  1. Wenn man beginnt, beobachtbare Ereignisse zu ’notieren‘, zu ‚protokollieren‘ und sie nach verschiedenen formalen Kriterien ‚anzuordnen‘ ohne weiter reichenden Interpretationen zu formulieren, dann bewegt man sich im Feld einer empirischen deskriptiven Wahrscheinlichkeit, die mit Häufigkeiten arbeitet. Damit würde auch Popper anfangen.
  2. Wenn man diese ‚empirischen Befunde‘ dann versucht in weiter reichende ‚Beziehungen‘ einzuordnen, dann braucht man eine theoretische Struktur. Eine solche bietet die theoretische Wahrscheinlichkeit. In ihr kann man beliebig viele Strukturen (= Modelle, Theorien) definieren und versuchsweise in Beziehung setzen zu empirischen Befunden. Je nach Modell kann man dann die empirischen Befunde unterschiedlich interpretieren und daraus unterschiedliche Voraussagen ableiten. Im Experiment kann man weiter versuchen, zu überprüfen, welches angenommene Modell sich ‚mehr‘ bestätigt als ein anderes.
  3. Jeder einzelne Mensch bildet im Alltag automatisch sein ’subjektives Modell‘ von Wahrscheinlichkeiten aufgrund seiner Alltagserfahrung. Dies kann sich auf Dauer als ‚mehr oder weniger zutreffend‘ erweisen. Würde jemand versuchen, seine Alltagserfahrung ‚wissenschaftlich zu analysieren‘ würde er sowohl eine ‚deskriptive‘ Wahrscheinlichkeit ausbilden können wie auch eine ‚theoretische‘ Wahrscheinlichkeit.
  4. Die Sichtweisen (1) – (3) zwingen nicht dazu, jenseits der beobachtbaren und klassifizierbaren Ereignisse eine ‚reale Welt von Kontexten (mit Situationen als Teilaspekten)‘ anzunehmen, deren reale Beschaffenheit so ist, dass von ihr ‚Wirkungen‘ ausgehen, die sich als ‚beobachtbare Ereignisse‘ manifestieren und die in ihrer zeitlich geordneten ‚Gesamtheit‘ dann als ‚Tendenzen‘ verstanden werden können, die ‚objektiv‘ sind, da sie mit realen Kontexten in einem unauflösbaren Zusammenhang stehen. Diese vierte Dimension der ‚objektiven Tendenzen‘ ist der ‚Mehrwert, den Popper in die Sicht der Dinge einbringt

Soweit die Kernthese von Popper zu ‚objektiven Tendenzen‘, zusammengefasst, nicht als 1-zu-1 Formulierung von Popper.

Ein wissender Körper

Im vorausgehenden Text hatte ich bei der Kommentierung von Poppers Text spontan an verschiedenen Stellen Überlegungen eingestreut, in denen ich weitergehende Annahmen über die Arbeitsweise unseres Körpers mit seinem Gehirn beschrieben habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich Poppers Beitrag zu einer evolutionären Theorie des Wissens noch nicht gelesen. Ich selbst hatte mich aber auch schon seit mindestens 30 Jahren mit der evolutionären Perspektive unserer körperlich-geistigen Existenz beschäftigt und erleben dürfen, dass erst mit Einbeziehung der evolutionären Perspektive viele grundlegenden Eigenschaften unser Daseins in einem rationalen Kontext (= Menge von Hypothesen) erscheinen, der ‚plausibel‘ wirkt (aber ‚auf Abruf‘; es kann sich ändern).

Mit Beginn der Lektüre des zweiten Artikels war ich daher nicht wenig (positive) überrascht, dass Popper der evolutionären Perspektive unseres wissenden Körpers so viel Gewicht beimaß. [0b]

Popper beginnt seinen Artikel mit der (Hypo-)These, dass Tiere Wissen (‚knowledge‘) besitzen.(vgl. S.30) Da wir als Menschen nicht direkt wissen können, was ‚Wissen‘ aus der Innensicht von Tieren ist sondern nur aus unserer ‚Selbsterfahrung‘ als Menschen, räumt Popper ein, dass die These „Tiere besitzen Wissen“ im ersten Augenblick ‚anthropomorph‘ klingt; das wäre dann eine bloße ‚Projektion‘ von menschlichen Eigenschaften auf Tiere; einer solchen Projektion käme dann zunächst kein weiterer empirischer Erkenntniswert zu. Aber Popper bleibt beharrlich und stellt fest, dass seine Rede nicht als „bloße Metapher“ gemeint sei. Darüber hinaus verteidigt er seine anthropomorphe Redeweise mit dem Argument, dass wir über biologische Phänomene gar nicht anders als anthropomorph reden könnten, da unser eigener Körper mit seinen Eigenschaften als (natürlicher) Referenzpunkt dient, über den wir einen ersten Zugang zu ‚homologen‘ (= strukturähnlichen, formähnlichen) Eigenschaften der anderen Lebensformen finden.(vgl. S.30) Und er wiederholt seine These, dass die ‚Formähnlichkeiten‘ zwischen menschlichem Körper (und Verhalten) mit nicht-menschlichen Körpern (und Verhalten) nicht rein äußerlich sei, sondern dass die formähnlichen Teile auch ähnliche Funktionen haben, z.B. die Annahme, dass das Gehirn eines Tieres auch irgendwie ‚Wissen‘ hat, erzeugt analog wie beim Menschen.(vgl.S.30f).

Er unterscheidet sehr schnell zwischen ‚Wissen‘ und dem ‚Wissen um Wissen‘ (‚being aware of‘) und meint, dass aus der Annahme von ‚Wissen‘ in nicht-menschlichen Lebensformen nicht unbedingt folgt, dass diese sich ihres Wissens ‚bewusst‘ seien noch ist auszuschließen, dass bei uns Menschen ‚Wissen‘ auch ‚unbewusst‘ (’not aware of‘, ‚unconscious‘) sein kann.(vgl. S.31) Bei Menschen manifestiert sich ‚unbewusstes Wissen‘ oft in Form von ‚Erwartungen‘, deren wir uns oft erst bewusst werden, wenn sie ‚enttäuscht‘ werden.(vgl. S.31)

Popper stellt dann eine Art Liste von Vermutungen zusammen, die sich aus der Eingangs-Annahme ergeben können, dass Tiere über Wissen verfügen (vgl. SS.32-39):

  1. ERWARTUNGEN: Wie schon zuvor erwähnt, zeigt sich Wissen in Form von ‚Erwartungen‘
  2. UNSICHERHEIT: Erwartungen sind objektiv unsicher; der jeweilige Akteur kann mit einer Erwartung aber so umgehen, als ob sie ’sicher‘ sei.
  3. HYPOTHESEN: Die überwiegende Menge an Wissen besteht aus Hypothesen.
  4. OBJEKTIV WAHR: Trotz eines hypothetischen Charakters kann Wissen ‚objektiv wahr‘ sein, weil es sich auf ‚objektive Fakten‘ (= reale Ereignisse) stützt.
  5. WAHR ≠ SICHER: Wahrheit und Sicherheit müssen klar unterschieden werden. In der Welt der realen Ereignisse kann etwas ‚wahr‘ und zugleich unsicher sein. In der Welt des abstrakten Denkens (z.B. Mathematik) kann es wahr und zugleich sicher sein.
  6. TESTEN: Wegen mangelnder Sicherheit in der realen Welt müssen wahre Aussagen immer wieder getestet werden, ob sie ’noch‘ zutreffen (weil die reale Welt sich in konstanter Veränderung befindet).
  7. Wie (4)
  8. FALSCHE SICHERHEIT: In der realen, sich ständig verändernden Welt, kann es keine absolute Sicherheit geben.
  9. WISSEN ÜBERALL: Verknüpft man ‚Wissen‘ an der Wurzel mit ‚Erwartungen‘, dann muss man allen biologischen Lebensformen ein Minimum an Wissen zusprechen.
  10. Erläuterung zu (9) mit Bäumen.
  11. Weitere Erläuterung zu (9) mit Bäumen.
  12. LANGZEIT und KURZZEIT EREIGNISSE: Reaktionen eines Organismus auf Kurzzeit Ereignisse setzten gewisse ‚Fähigkeiten‘ voraus, die sich über Generationen als ’strukturelle Eigenschaften‘ adaptiv herausgebildet haben müssen, damit sie als Basis des Reagierens verfügbar sind.
  13. Erläuterung zu (12) am Beispiel von Wildgänsen, die adaptiert sind, auf jagende Füchse zu reagieren.
  14. Erläuterung zu (12). Strukturelle Anpassungen setzen voraus, dass es Umweltbedingungen gibt, die über lange Zeit hinreichend konstant waren.
  15. ADAPTION und WISSEN mit ERWARTUNGEN durch VERSUCH & IRRTUM: Ein reales Ereignis wird nur dann für einen einzelnen Akteur zu einer ‚Sache‘ (zu einem ‚Fakt‘, zu einer ‚Information‘) wenn verfügbares Wissen das Ereignis entsprechend ‚einordnen‘ kann. Verfügbares Wissen entsteht aber nur durch einen individuellen ‚Lernprozess‘ bestehend aus vielen kleinen ‚Versuchen‘ mit Erwartung und nachfolgender Bestätigung/ Nicht-Bestätigung. Adaptierte Strukturen in einem Individuum in einer sich verändernden Welt mit partiell konstanten Mustern können nur über einen Prozess von vielen ‚Reproduktions-Versuchen‘ in einer Population entstehen, wenn’un-passende‘ Strukturen weniger leistungsfähig sind wie andere.
  16. LANGZEIT-/KURZZEIT ANPASSUNG/WISSEN: Kurzzeit-Wissen setzt Langzeit-Anpassung und darin kodiertes Wissen voraus. Sowohl Langzeit-Strukturen/Wissen als auch Kurzzeit-Wissen sind beide ‚hypothetisch‘: sie bilden sich anlässlich ‚realer Ereignisse‘, erben aber die Unsicherheit der Ereigniswelt als solcher.
  17. WISSEN IST ÜBERLEBENSORIENTIERT: Jede Form von Wissen in jedem biologischen Organismus (von der kleinsten Zelle bis zum Menschen) dient dazu, dem Menschen für sein Überleben zu dienen.
  18. ALTER DES WISSENS: Das Phänomen des Wissens begleitet das Leben von Anfang an.
  19. UNIVERSUM-LEBEN-WISSEN: Insofern das Leben mit dem ganzen Universum verknüpft ist (zu 100%!) ist auch das Wissen ein Aspekt des gesamten Universums.

Popper illustriert viele der in der Liste aufgeführten Punkte dann an der realen Geschichte der Evolution anhand konkreter Forschungen aus seiner Zeit. (vgl. SS.39 – 45) Der Grundtenor: Leben spielt sich primär in Form von chemischen Prozessen in jeweiligen Umgebungen ab. Die ‚Makro‘-Phänomene, die wir vom Leben aus dem ‚Alltag der Körper‘ kennen, sind im Sinne der Komplexität so ‚unfassbar weit‘ von diesen elementaren Prozessen entfernt, dass es für uns Menschen bis heute — trotz Wissenschaft — noch kaum möglich ist, alle diese Prozesse hinreichend zu verstehen. Speziell der Übergang vom Planeten Erde ‚vor‘ den Phänomenen einzelligen Lebens hin zu einzelligem Leben ist trotz mittlerweile vielfacher Versuche leider noch nicht wirklich klar.[5],[6]

Die wichtigsten Erkenntnisse aus alledem

An dieser Stelle stellt sich Popper selbst die Frage, was aus alledem jetzt folgt? („… the main lesson to be drawn …“(S.45)

Und mit all den ungeheuerlichen Geschehnissen der Evolution vor Augen fällt eines ganz klar auf: allein nur um zu wissen, was ‚um ihn herum‘ der Fall ist, benötigt der Organismus eine ‚Struktur‘, deren Eigenschaften den Organismus in die Lage versetzen, bestimmte Umweltereignisse zu ‚registrieren‘, dieses ‚Registrierte‘ in interne Zustände so zu ‚übersetzen‘, dass der Organismus darauf in einer Weise ‚reagieren‘ kann, die für sein Überleben zuträglich ist. Und da es neben den ‚Langzeit-Ereignissen‘ (Eigenschaften der Umgebung, die sich nur langfristig ändern), auch sehr viele ‚Kurzzeit-Ereignisse‘ gibt, die mal so oder mal so sind, benötigt der Organismus neben den ‚Strukturen‘ auch ‚flexible Prozesse‘ des ‚akuten Lernens‘, die aktuell, ‚on demand‘, Antworten ermöglichen, die jetzt gebraucht werden, nicht irgendwann.

Popper greift an dieser Stelle eine Terminologie von Kant [7] auf der zwischen ‚a priori‘ und ‚a posteriori‘ Wissen unterschieden hat. [6] Angewendet auf seine Untersuchungen interpretiert Popper das ‚Wissen a priori‘ als jenes Wissen, das schon da sein muss, damit ein konkretes Ereignis überhaupt ‚als irgendetwas‘ erkannt werden kann („to make sense of our sensations“, S.46). Und dieses ‚voraus zu setzende Wissen‘ sieht er als Wissen a priori‘, das sowohl als verfügbare Struktur (= Körper, Gehirn…) auftritt wie auch innerhalb dieser Struktur als ein ‚Wissen a posteriori‘, das ein Ereignis zu einem ‚irgendwie sinnhaften Ereignis‘ werden lassen kann.(„… without it, what our senses can tell us can make no sense.“ (S.46) Innerhalb dieses voraus zu setzenden Wissens müssen die grundsätzlichen Unterscheidungen zu ‚Raum‘, ‚Zeit‘ und ‚Kausalität‘ möglich sein. Und Popper meint, dass Kant mit seinen erkenntniskritischen Rekonstruktionen grundlegende Einsichten der Evolutionstheorie vorweg genommen habe.(vgl. S.46)

Und, indem Popper Kant so hoch lobt, geht er unmittelbar dazu über, ihn — auf seine Weise — gewissermaßen zu ‚transformieren‘, indem er sagt, dass der Anteil des ‚apriorischen Wissens‘ eher bei 99% liegt und der des ‚aposteriorischen Wissens‘ eher bei 1%. Diesen Schluss zieht er aus der Tatsache (= seine Interpretation von einer Sachlage!), dass die verschiedenen sensorischen Ereignisse im Körper eines Organismus als solche nur ‚Ja-Nein-Zustände‘ sind, die eine wie auch immer geartete ‚Bedeutung‘ nur bekommen, wenn es einen ‚Deutungsrahmen‘ gibt, mit Hilfe von dem ein sensorisches Ja-Nein als ‚Laut‘ oder als ‚Farbe‘ oder als ‚Geschmack‘ usw. ‚gedeutet‘ (abgebildet) werden kann. Dies heißt, dass generell Ereignisse nach einem Deutungsrahmen verlangen, der schon ‚da sein muss‘, damit er wirken kann. Und da ein Organismus primär aus chemischen Prozessen besteht, muss das ‚apriorische Wissen‘ in diesen chemischen Prozessen verfügbar sein („… inborn … in our chemical constitution“. (S.46)) Ferner kann das Verhältnis zwischen zu klassifizierenden sensorischen Daten und dem Wissen a priori nicht deterministisch sein, da diese Klassifikationen ‚falsch‘ sein können, sie partiell erst durch ‚Versuch und Irrtum‘ entstehen. Insgesamt ermöglicht das Wissen zudem ‚Erwartungen‘, aufgrund deren der Organismus handelt (und deshalb ‚irren‘ kann).

Hier deutet sich ein konstruktiver Konflikt an in der Annahme, dass es schon ein apriorisches Wissen geben muss, das zu Klassifikationsleistungen befähigt, und zugleich, dass solch ein apriorisches Wissen weder ‚vollständig‘ zu sein scheint (Poppers Beispiel: der Frosch, der zwar Fliegen erkennen kann als sein Futter, aber nur dann, wenn sie sich bewegen), noch ‚fertig im Detail‘, da ‚Irrtümer‘ auftreten können, aus denen ‚gelernt‘ werden kann. Dem Ganzen (Wissen) haftet etwas ‚prozesshaftes‘ an: es hat schon immer etwas, was ‚funktioniert‘, aber es kann sich selbst in Interaktion mit ‚dem Anderen‘ irgendwie immer weiter verändern.(vgl. S.47)

Das zugrunde liegende Schema könnte man vielleicht wie folgt formulieren: (i) ein Organismus braucht eine Struktur, die registrierte Ja-Nein-Ereignisse ‚Klassifizieren/ Deuten‘ kann, und parallel (ii) braucht es aufgrund des bisherigen Wissens eine ‚Erwartung‘, anhand deren eine aktuelle Deutung als ‚bestätigend‘ erscheint oder ’nicht-bestätigend‘. Aus dieser Differenz kann dann eine Veränderung des Verhaltens resultieren, das ‚versuchsweise‘ Ereignisse schafft, die dann ‚eher bestätigen‘ und ‚weniger enttäuschen (Irrtum, Fehler, …)‘. Das Ganze wird dadurch ‚komplex‘, dass für dieses Schema mindestens zwei Zeitschemata anzunehmen sind: (a) langfristige strukturelle Änderungen (’strukturelles Lernen‘) des gesamten Organismus über Reproduktion und ‚Erfolg‘ in der Population (wer überlebt besser), sowie (b) kurzfristige Änderungen (’situationsbezogenes Lernen‘), das in wechselnden ‚hypothetischen Bildern der Welt‘ beständig als Hypothese und Erwartung wirksam ist, die im Konfliktfall (keine Bestätigung) ‚modifiziert‘ werden können.

Popper zieht in diesem Kontext eine Parallele zum modernen Begriff einer Theorie, die als Hypothese versucht, hilfreiche Deutungen zu liefern, und die in Konfrontation mit der Ereigniswelt (über Experimente) bestätigt oder nicht bestätigt wird. Im Prozess des Erwartens und Korrigierens vollzieht sich eine Form der ‚Anpassung‘ des menschlichen Denkens an jene Ereigniswelt (die wir ‚Welt‘ nennen, ‚Natur‘, ‚Universum‘, …), in der wir uns — ungefragt — vorfinden, in der wir versuchen, zu überleben. (vgl. S.48f) Popper äußert dann noch eine Analogie der Art, dass der Unterschied zwischen der hochentwickelten Wissenskultur eines einzelnen Homo sapiens und jener eines einzelnen Bakteriums letztlich nur graduell ist; grundsätzlich hat ein Bakterium, ein Einzeller, schon alle Merkmale, über die höher entwickelte biologische Lebensformen verfügen.(vgl. S.49f) Insbesondere sieht Popper in jedem lernfähigen Organismus auch — mindestens implizit — ‚Werte‘ in Aktion, nämlich überall dort, wo ‚entschieden‘ werden muss, welche der möglichen Optionen ausgewählt werden soll. In einfachen Organismen geschieht dies weitgehend strukturell-apriorisch; im Fall komplexer Lebewesen mit elaborierten Nervensystemen kann es zusätzlich künstlich eingeführte ‚Regelsysteme‘ geben — wie z.B. ‚gesellschaftliche Normen‘, ‚Konventionen‘, ‚Sitten und Gebräuche‘, ‚Vereinbarte Gesetze‘ usw. –, die auf einen individuellen Entscheidungsprozess einwirken können, ohne den individuellen Entscheidungsprozess dabei ganz außer Kraft zu setzen.(vgl. S.50f)

Nachbemerkung – Epilog

Nimmt man beide Beiträge als eine mögliche Einheit, dann entsteht ein spannender Zusammenhang, eine spannende Gesamt-Hypothese über die Natur der uns umgebenden Ereigniswelt mit uns selbst (über unseren Körper) als Teil davon.

Mit unserem Körper erleben wir interne Ereignisse in Form angeborener und angelernter gedeuteter Strukturen, die uns ein ‚Bild von der Welt mit uns als Teil‘ liefern, mit ‚Erwartungen‘, die in uns entstehen, mit Bestätigungen und Mangel an Bestätigungen, mit der Möglichkeit eines Handelns, das die Struktur der Ereignisse um uns herum — und uns selbst — verändern kann.

Die Welt ist ein dynamisches, changierendes Etwas, ein Gesamtprozess, dessen endgültige Gestalt, dessen inneren ‚Antriebskräfte‘ schwer fassbar sind, ist doch jedes Lebewesen — nicht nur wir Menschen — Teil davon.

Im Versuch dieses dynamische Etwas ‚zu fassen‘, ‚dingfest‘ zu machen, bleiben uns nur einzelne Ereignisse, hier und jetzt, und immer wieder neue Ereignisse im hier und jetzt; abstrakte Bilder (Schatten der Erinnerung), in denen einige häufiger vorkommen als andere. Bisweilen haben wir das Gefühl, dass sich ‚Regeln‘ andeuten, ‚Muster‘, aber sie sind niemals ‚100-prozentig stabil‘ (‚deterministisch‘), aber auch niemals nur ‚rein zufällig‘, sondern irgendwie genau dazwischen. Was ist das? Der Sound des Lebens? Wir sind Teil dieses Sounds. Verstehen wir uns selbst? Verstehen wir die große Partitur, in der wir vorkommen? Alles deutet darauf hin, dass das Gesamtereignis ’sich selbst komponiert‘! Im Kern aller Ereignisse findet man eine große ‚Freiheit‘, die sich im ‚Kleid der Optionen‘ eine Gestalt sucht, eine Gestalt die vorweg niemand kennen kann, und die doch nicht beliebig sein wird…

Im Alltagsgeschäft der heutigen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen — die absolut notwendig sind; ohne die geht gar nichts — findet man von diesem erfrischenden Hauch einer super-lebendigen Singularität nicht viel. Jeder ist mit dem Auszählen seiner Einzelexperimente beschäftigt. Im Mainstream träumt man von sogenannter Künstlicher Intelligenz, die alle unsere Problem überwinden wird; welch absolut schrottige Idee. Der ‚Supercomputer‘ des Lebens auf diesem Planeten ist davon mehrfache Galaxien weit entfernt.

Anmerkungen

[0] Karl Popper, „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“, Vortrag 1989, erweiterter Text in: Karl Popper, „A World of Propensities“, Thoemmes Press, Bristol, (1990, repr. 1995)

[0b] Die Einbeziehung der Erkenntnisse der Evolutionsbiologie in eine philosophische Gesamtsicht findet sich nicht nur bei Popper. Schon der Verhaltensforscher und Philosoph Konrad Lorenz [2] hatte in einem Aufsatz 1941 [2b]einen Zusammenhang zwischen der Erkenntnistheorie von Kant und den Erkenntnissen der Biologie hergestellt. Dies wird bei Lorenz dann 1973 in sein Hauptwerk „Die Rückseite des Spiegels …“ zu einer großen Gesamtschau ausgeweitet, in dem er explizit eine Verbindung zieht zwischen der morphologischen Entwicklung in der Evolution und den Formen der Erkenntnis. [2c]. Ein anderer starker Denker im Spannungsfeld von Biologie und Philosophie war Humberto Maturana [3], der in den Jahren 1968 – 1978 viele grundlegende Beiträge zum Thema verfasst hat.[2b] In Deutschland ist u.a. noch zu nennen Gerhard Vollmer mit seinem Buch Evolutionäre Erkenntnistheorie‘ von 1975.

[1] Evolutionäre Erkenntnistheorie in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Evolution%C3%A4re_Erkenntnistheorie //* Dieser Artikel ist nicht besonders gut *//

[1b] Evolutionary Epistemology in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Evolutionary_epistemology //* Dieser Artikel ist nicht besonders gut *//

[2] Konrad Lorenz in wkp-ed: https://en.wikipedia.org/wiki/Konrad_Lorenz und in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Konrad_Lorenz

[2b] K. Lorenz: Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie. In: Blätter für Deutsche Philosophie. Band 15, 1941, S. 94–125

[2c] K.Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens (1973), in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_R%C3%BCckseite_des_Spiegels

[3] Humberto Maturana in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Humberto_Maturana

[3b] Humberto R.Maturana, Erkennen; Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Friedr.Viehweg & Sohn, Braunschweig – Wiesbaden, 1982 (Enthält von Maturana autorisiert in deutscher Übersetzung Arbeiten aus den Jahren 1968 – 1978).

[4] Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie. Angeborene Erkenntnisstrukturen im Kontext von Biologie, Psychologie, Linguistik, Philosophie und Wissenschaftstheorie. S. Hirzel, Stuttgart 1975. Zu Vollmer in der wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Vollmer

[5] Evolution in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Evolution

[6] Hans R.Kricheldorf, Leben durch chemische Evolution?, Springer-Verlag, 2019, ISBN: 978-3-662-57978-7

[7] A priori in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/A_priori

[8] Immanuel Kant in wpd-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Immanuel_Kant

[9] Die hier benutzten anthropomorphen Begriffe sind als ‚Hilfsbegriffe‘ zu betrachten, da eine ‚präzisere‘ Begrifflichkeit einen ausgearbeiteten begrifflichen Rahmen (Modell, Theorie) voraussetzen würde, die erst dann möglich ist, wenn man sich über die grundsätzlichen Sachverhalte besser verständigt hat.

Fortsetzung

Es gibt einen dritten Artikel von Popper, der in diesen Zusammenhang gehört. Eine Besprechung findet sich HIER.

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

DATENSOUVERÄNITÄT IM CYBERSPACE: Ein Widerspruch in sich?

Überlegungen aus Sicht der Informatik und Philosophie. Teil 1

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 26.November 2021, 02:24h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

KONTEXT

Der Autor dieses Textes ist Mitglied einer Forschungsgruppe zum Thema ‚Datensouveränität‘ [1], die Experten aus unterschiedlichen Disziplinen umfasst. Die Diskurse in dieser Projektgruppe waren bislang sehr spannend, anregend, zugleich aber auch durchgehend herausfordernd, weil das vielfältige Ringen um die Bedeutung und die Rolle des modernen juristischen Konzepts ‚Datensouveränität‘ mit jedem Antwortversuch zugleich wieder viele Fragen mit sich brachte. Er tat sich bislang schwer, von seiner Position aus einen begrifflichen Zugriff auf das Konzept ‚Datensouveränität‘ zu finden. Erst im Anschluss an eine — wieder sehr anregende — online Sitzung vom 24.November 2021 kamen ihm einige Ideen zum Thema. Er versucht im folgenden Text — dem möglicherweise noch weitere Texte folgen werden — diese Idee zu skizzieren. Es wird sich zeigen, ob aus diesen Reflexionen ein Diskurs entsteht, der auch für andere einen Einstieg in die Thematik ermöglicht.

PROBLEMSTELLUNG

Durch die Einbettung von Computern in Netzwerke und durch die zunehmend Verbreitung dieser Netzwerke als ‚Internet‚ — auch ‚Cyberspace‚ genannt — in die verschiedenen gesellschaftlichen Systeme weltweit, entstand ein hybrides System, in dem die bekannte ‚analoge Welt‚ mit der zugehörigen ‚analogen Welterfahrung‘, über ‚Schnittstellen‚ (‚Interfaces‚) mit dem neuen Cyberspace verbunden ist.

Aus Sicht der analogen Welt hat sich scheinbar kaum etwas verändert. Es gibt ein paar mehr ‚Geräte‚ (‚devices‚), die man im analogen Alltag nutzen kann, aber die Nutzung ähnelt dem Schreiben mit einer Schreibmaschine, oder dem Reden mittels Telefon, oder dem Fernsehen mittels Fernseher, oder — ja, das ist irgendwie neu — der Kombination von Schreibmaschine, Telefon und Fernseher. Und, ja, es gibt noch mehr neue Anwendungen, aber sind sie nicht alle letztlich ‚wie in der analogen Welt‘?

Für die meisten Menschen ohne explizites technisches Wissen erscheint der Cyberspace ‚eingehüllt‘ in Formate, die sich von der alltagsweltlichen Erfahrung möglichst wenig unterscheiden. Tatsächlich werden immer mehr Alltagshandlungen unter Zuhilfenahme der verfügbaren Cyberspace-Endgeräte so ausgeführt ‚als ob‚ man sie im Alltag wie gewohnt ausführt: man kann Geld abheben und überweisen, als ob man selbst bei der Bank war; man kann Texte schreiben und versenden, als ob man die alte Post benutzt; man kann Bücher bestellen und lesen, als ob man direkt im Buchladen oder der Bibliothek war und dann im Buch liest; man kann mit jemandem an einem anderen Ort ‚face-to-face‘ reden, als ob dieser jemand einem gerade gegenüber sitzt. Man kann innerhalb eines Freundeskreises jederzeit reden, als ob diese sich mit einem im gleichen Raum befinden …

War dieses ‚als ob‘ in der Frühzeit der Computer noch so umständlich, dass nur trainierte Experten in der Lage waren, direkt mit Computern und Computernetzwerke zu interagieren, so hat sich die Hardware und die Software von Computern und Netzwerken seit 1945 dermaßen weiter entwickelt, dass es für einen Menschen des Alltags heute kaum noch wahrnehmbar ist, dass er mittels eines Cyberspace-Endgerätes immer mehr ‚alltagsähnliche‘ (analoge) Handlungen vornimmt.

Und hier beginnt das Problem.

Die ‚wunderbare Leichtigkeit des Seins‘ in der Benutzung der modernen Cyberspace Endgeräte — und diese Nutzung wird kontinuierlich immer weiter ‚verbessert‘ — verdeckt eine technische Realität, die ganz anderen Regeln folgt als die bekannte analoge Welt. Jeder Versuch, diese ganz andere technische Realität mit den Bildern und Kategorien der analogen Alltagswelt zu ’sehen‘ und zu ‚interpretieren‘, führt unweigerlich in die Irre.

Ein prominenter und für einen ‚Rechtsstaat‘ substantieller Bereich ist der normativer Bereich, sind die Regeln der Verfassung, die verabschiedeten Gesetze und deren Anwendung und Auslegung im Alltag.

Diese normativen Regelungen entstammen der analogen Alltagswelt, orientieren sich an analogen ‚Alltagsmenschen‘ mit einem analog geprägten ‚Alltagsdenken‘ und ‚Alltagsempfinden‘. Ihre Begrifflichkeiten, ihre Bedeutungskonstrukte sind durch und durch auf ‚analoge Alltagsstrukturen‘ abgestellt.

Heute jedoch ist ein solches durch und durch ‚analoges Alltagsdenken‘ umschlungen von einem Cyberspace, der sich mittels Cyberspace-Endgeräten mit dem alltäglichen Handeln von Menschen verknüpft; im Wahrnehmen, Fühlen und Denken von Alltagsmenschen ist dieser Cyberspace real präsent, und bildet dadurch ein ‚Analogwelt-Cyberspace-Amalgam‚, das an seiner ‚Oberfläche‘ der analogen Alltagswelt ähnelt, in seiner inneren ‚impliziten Logik‘ aber immer mehr Eigenarten des Cyberspace in sich trägt, der nach ganz anderen Gesetzen als die analoge Alltagswelt funktioniert. Hierdurch findet — für die meisten kaum wahrnehmbar — eine reale ‚Mutation‘ des ‚Alltagsbewusstseins‘ statt: der reale analoge Mensch mit seinem realen analogen Gehirn trainiert sein Gehirn über sein hybrides Handeln und seine hybride Wahrnehmung immer mehr nach Gegebenheiten und Regeln des Cyberspace, die nicht die sind, die in der analogen Alltagswelt üblich sind.

Im Licht der Evolutionsbiologie könnte man sagen: ja, das ist eine weitere Stufe in der Evolution des Lebens auf der Erde.

Als Bürger einer demokratischen Gesellschaft muss man sich aber vielleicht fragen, was machen im Bewusstsein mutierte Bürger mit dem Konzept einer Demokratie, das im Kern auf einer gemeinsam geteilten Öffentlichkeit basiert, über die sich alle Bürger, alle politischen Handlungen soweit ‚synchronisieren‚ lassen, dass wir überhaupt von ‚Demokratie‚ sprechen können. Was passiert mit der Demokratie, mit ihrer ’normativen Ordnung‘, wenn die im Bewusstsein mutierten Bürger und ihre faktisch stattfindende Einbindung in eine ‚Cyberwirklichkeit‘ diese fundamentale Synchronisierung über eine demokratische Öffentlichkeit gare nicht mehr leisten können? Macht es dann noch Sinn von ‚Demokratie‘ und — dadurch impliziert — von ‚Datensouveränität‘ zu sprechen?

Fortsetzung ?

ANMERKUNGEN

[1] Siehe die Webseite https://zevedi.de/aktivitaeten/projekte/ und dort den Eintrag Projektgruppe „Datensouveränität“.

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