Archiv der Kategorie: Welt als Denkprodukt

MENSCH-MENSCH COMPUTER. Gemeinsam Planen und Lernen. Erste Notizen

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 2.-9.Oktober 2020
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

ÜBERBLICK

Der folgende Text entstand unter dem Eindruck der theoretischen und
praktischen Arbeiten, wie sie in meinem Engineering-Blog bislang dokumentiert
sind. Letztlich geht es darum, das aktuelle Paradigma der Informatik
und der übergreifenden Digitalisierung der Gesellschaft umzudrehen:
statt den Menschen nur als Datenfutter für anonyme Algorithmen zu benutzen,
ihn als digitalen Sklaven zu behandeln, der weitgehend zu einem
rechtlosen Spielball von internationalen Konzernen geworden ist, deren
Interessen weder die Interessen der Benutzer noch derjenigen von demokratischen
Gesellschaften sind, soll wieder der Mensch in das Zentrum
der Betrachtung gerückt werden und die Frage, was können wir tun, um
den Menschen mehr zu befähigen, gemeinsam mit anderen die mögliche
Zukunft besser zu verstehen und vielleicht besser zu gestalten. Der moderne
Mensch begreift sich als Teil der umfassenden Biosphäre auf diesem
Planeten und trägt eine besondere Verantwortung für diese.

Letzte Änderung: 9.Okt.2020

PDF-Dokument

Änderung 9.Okt.2020: Die Rahmenbedingungen von einer gegebenen Situation (hier als Problem) zu einer möglichen zukünftigen Situation (hier als positive Vision) werden etwas genauer analysiert.

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

WAS IST DER MENSCH?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062 20.Juli 2020
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

AKTUALISIERUNGEN: Letzte Aktualisierung 21.7.2020 (Korrekturen; neue Links)

KONTEXT

In den vielen vorausgehenden Beiträgen in diesem Blog wurde die Frage nach dem Menschen, was das angemessene Bild vom Menschen sein könnte, schon oft gestellt. Möglicherweise wird diese Frage auch in der Zukunft sich immer wieder neu stellen, weil wir immer wieder auf neue Aspekte unseres Menschseins stoßen. Ich bin diese Tage auf einen Zusammenhang gestoßen, der mir persönlich in dieser Konkretheit neu ist (was nicht ausschließt, dass andere dies schon ganz lange so sehen). Hier einige weitere Gedanken dazu.

DER MENSCH IN FRAGMENTEN

In der evolutionsbiologischen Perspektive taucht der homo sapiens — also wir — sehr, sehr spät auf. Vom Jahr 2020 aus betrachtet, bilden wir den aktuellen Endpunkt der bisherigen Entwicklung wohl wissend, dass es nur ein Durchgangspunkt ist in einem Prozess, dessen Logik und mögliche Zielrichtung wir bislang nur bedingt verstehen.

Während man bei der Betrachtung der letzten Jahrtausende Menschheitsgeschichte bisweilen den Eindruck haben könnte, dass die Menschen sich als Menschen als etwas irgendwie Besonderes angesehen haben (was die Menschen aber nicht davon abgehalten hat, sich gegenseitig zu bekämpfen, sich zu bekriegen, sich regelrecht abzuschlachten), könnte man bei der Betrachtung der letzten 100 Jahre den Eindruck gewinnen, als ob die Wissenschaft die Besonderheit des Menschen — so es sie überhaupt gab — weitgehend aufgelöst hat: einmal durch die Einbettung in das größere Ganze der Evolution, dann durch einen vertieften Blick in die Details der Anatomie, des Gehirns, der Organe, der Mikro- und Zellbiologie, der Genetik, und schließlich heute durch das Aufkommen digitaler Technologien, der Computer, der sogenannten künstlichen Intelligenz (KI); dies alles lässt den Menschen auf den ersten Blick nicht mehr als etwas Besonders erscheinen.

Diese fortschreitende Fragmentierung des Menschen, des homo sapiens, findet aber nicht nur speziell beim Menschen statt. Die ganze Betrachtungsweise der Erde, des Universums, der realen Welt, ist stark durch die empirischen Wissenschaften der Gegenwart geprägt. In diesen empirischen Wissenschaften gibt es — schon von ihrem methodischen Ansatz her — keine Geheimnisse. Wenn ich nach vereinbarten Messmethoden Daten sammle, diese in ein — idealerweise — mathematisches Modell einbaue, um Zusammenhänge sichtbar zu machen, dann kann ich möglicherweise Ausschnitte der realen Welt als abgeschlossene Systeme beschreiben, bei denen der beschreibende Wissenschaftler außen vor bleibt. Diese partiellen Modelle bleiben notgedrungen Fragmente. Selbst die Physik, die für sich in Anspruch nimmt, das Ganze des Universums zu betrachten, fragmentiert die reale Welt, da sich die Wissenschaftler selbst, auch nicht die Besonderheiten biologischen Lebens generell, in die Analyse einbeziehen. Bislang interessiert das die meisten wenig. Je nach Betrachtungsweise kann dies aber ein fataler Fehler sein.

DER BEOBACHTER ALS BLINDE FLECK

Die Ausklammerung des Beobachters aus der Beschreibung des Beobachtungsgegenstands ist in den empirischen Wissenschaften Standard, da ja das Messverfahren idealerweise invariant sein soll bezüglich demjenigen, der misst. Bei Beobachtungen, in denen der Beobachter selbst das Messinstrument ist, geht dies natürlich nicht, da die Eigenschaften des Beobachters in den Messprozess eingehen (z.B. überall dort, wo wir Menschen unser eigenes Verhalten verstehen wollen, unser Fühlen und Denken, unser Verstehen, unser Entscheiden, usw.). Während es lange Zeit eine strenge Trennung gab zwischen echten (= harten) Wissenschaften, die strikt mit dem empirischen Messideal arbeiten, und jenen quasi (=weichen) Wissenschaften, bei denen irgendwie der Beobachter selbst Teil des Messprozesses ist und demzufolge das Messen mehr oder weniger intransparent erscheint, können wir in den letzten Jahrzehnten den Trend beobachten, dass die harten empirischen Messmethoden immer mehr ausgedehnt werden auch auf Untersuchungen des Verhaltens von Menschen, allerdings nur als Einbahnstraße: man macht Menschen zwar zu Beobachtungsgegenständen partieller empirischer Methoden, die untersuchenden Wissenschaftler bleiben aber weiterhin außen vor. Dieses Vorgehen ist per se nicht schlecht, liefert es doch partiell neue, interessante Einsichten. Aber es ist gefährlich in dem Moment, wo man von diesem — immer noch radikal fragmentiertem — Vorgehen auf das Ganze extrapoliert. Es entstehen dann beispielsweise Bücher mit vielen hundert Seiten zu einzelnen Aspekten der Zelle, der Organe, des Gehirns, aber diese Bücher versammeln nur Details, Fragmente, eine irgendwie geartete Zusammenschau bleibt aus.

Für diese anhaltende Fragmentierung gibt es sicher mehr als einen Grund. Einer liegt aber an der Wurzel des Theoriebegriffs, der Theoriebildung selbst. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Anschauung entstehen Theorien, Modelle, also jene begrifflichen Gebilde, mit denen wir einzelne Daten deuten, nicht aus einem Automatismus, sondern sie beruhen auf gedanklichen Entscheidungen in den Köpfen der Wissenschaftler selbst: grundsätzlich gibt es immer mehr als eine Option, wie ich etwas angehen will. Jede Option verlangt also eine Entscheidung, eine Wahl aus einem großen Bereich von Möglichkeiten. Die Generierung einer Theorie ist von daher immer ein komplexer Prozess. Interessanterweise gibt es in kaum einer der heutigen empirischen Disziplinen das Thema Wie generieren wir eine Theorie? als eigene Themenstellung. Obwohl hier viele Grundentscheidungen fallen, obwohl hier viel Komplexität rational aufgehellt werden müsste, betreiben die sogenannten harten Wissenschaften hier ein weitgehend irrationales Geschäft. Das Harte an den empirischen Wissenschaften gründet sich in diesem Sinne nicht einmal in einer weichen Reflexion; es gibt schlicht gar keine offizielle Reflexion. Die empirischen Wissenschaften sind in dieser Hinsicht fundamental irrational. Dass sie trotz ihrer fundamentalen Irrationalität interessante Detailergebnisse liefern kann diesen fundamentalen Fehler in der Wurzel nur bedingt ausgleichen. Die interessante Frage ist doch, was könnten die empirischen Wissenschaften noch viel mehr leisten, wenn sie ihre grundlegende Irrationalität an der Wurzel der Theoriebildung schrittweise mit Rationalität auffüllen würden?

HOMO SAPIENS – DER TRANSFORMER

(Ein kleiner Versuch, zu zeigen, was man sehen kann, wenn man die Grenzen der Disziplinen versuchsweise (und skizzenhaft) überschreitet)

Trotz ihrer Irrationalität an der Wurzel hat die Evolutionsbiologie viele interessante Tatbestände zum homo sapiens sichtbar gemacht, und andere Wissenschaften wie z.B. Psychologie, Sprachwissenschaften, und Gehirnwissenschaft haben weitere Details beigesteuert, die quasi ‚auf der Straße‘ herumliegen; jeder produziert für sich fleißig partielle Modelle, aber niemand ist zuständig dafür, diese zusammen zu bauen, sie versuchsweise zu integrieren, mutig und kreativ eine Synthese zu versuchen, die vielleicht neue Aspekte liefern kann, mittels deren wir viele andere Details auch neu deuten könnten. Was Not tut ist eine Wissenschaft der Wissenschaften, nicht als Privatvergnügen eines einzelnen Forschers, sondern als verpflichtender Standard für alle. In einer Wissenschaft der Wissenschaften wäre der Beobachter, der Forscher, die Forschergruppe, selbst Teil des Untersuchungsgegenstandes und damit in der zugehörigen Meta-Theorie aufzuhellen.

Anmerkung: Im Rahmen der Theorie des Engineering gibt es solche Ansätze schon länger, da das Scheitern eines Engineeringprozesses ziemlich direkt auf die Ingenieure zurück schlägt; von daher sind sie äußerst interessiert daran, auf welche Weise der Faktor Mensch — also auch sie selbst — zum Scheitern beigetragen hat. Hier könnte die Wissenschaft eine Menge von den Ingenieuren lernen.

Neben den vielen Eigenschaften, die man am homo sapiens entdecken kann, erscheinen mir drei von herausragender Bedeutung zu sein, was sich allerdings erst so richtig zeigt, wenn man sie im Zusammenspiel betrachtet.

Faktor 1: Dass ein homo sapiens einen Körper [B, body] mit eingebautem Gehirn [b, brain] hat, unterscheidet ihn nicht unbedingt von anderen Lebensformen, da es viele Lebensformen im Format Körper mit eingebautem Gehirn gibt. Dennoch ist schon mal festzuhalten, dass der Gehirn-Körper [b_B] eines homo sapiens einen Teil der Eigenschaften seiner Realwelt-Umgebung [RW] — und der eigene Körper gehört aus Sicht des Gehirns auch zu dieser Realwelt-Umgebung — ausnahmslos in neuronale Zustände [NN] im Gehirn verwandelt/ transformiert/ konvertiert und diese neuronale Zustände auf vielfältige Weise Prozesshaft bearbeitet (Wahrnehmen, Speichern, Erinnern, Abstrahieren, Assoziieren, bewerten, …). In dieser Hinsicht kann man den Gehirn-Körper als eine Abbildung, eine Funktion verstehen, die u.a. dieses leistet: b_B : RW —–> RW_NN. Will man berücksichtigen, dass diese Abbildung durch aktuell verfügbare Erfahrungen aus der Vergangenheit modifiziert werden kann, dann könnte man schreiben: b_B : RW x RW_NN —–> RW_NN. Dies trägt dem Sachverhalt Rechnung, dass wir das, was wir aktuell neu erleben, automatisch mit schon vorhandenen Erfahrungen abgleichen und automatisch interpretieren und bewerten.

Faktor 2: Allein schon dieser Transformationsprozess ist hochinteressant, und er funktioniert bis zu einem gewissen Grad auch ganz ohne Sprache (was alle Kinder demonstrieren, wenn sie sich in der Welt bewegen, bevor sie sprechen können). Ein homo sapiens ohne Sprache ist aber letztlich nicht überlebensfähig. Zum Überleben braucht ein homo sapiens das Zusammenwirken mit anderen; dies verlangt ein Minimum an Kommunikation, an sprachlicher Kommunikation, und dies verlangt die Verfügbarkeit einer Sprache [L].

Wir wir heute wissen, ist die konkrete Form einer Sprache nicht angeboren, wohl aber die Fähigkeit, eine auszubilden. Davon zeugen die vielen tausend Sprachen, die auf dieser Erde gesprochen werden und das Phänomen, dass alle Kinder irgendwann anfangen, Sprachen zu lernen, aus sich heraus.

Was viele als unangenehm empfinden, das ist, wenn man als einzelner als Fremder, als Tourist in eine Situation gerät, wo alle Menschen um einen herum eine Sprache sprechen, die man selbst nicht versteht. Dem Laut der Worte oder dem Schriftzug eines Textes kann man nicht direkt entnehmen, was sie bedeuten. Dies liegt daran, dass die sogenannten natürlichen Sprachen (oft auch Alltagssprachen genannt), ihre Bedeutungszuweisungen im Gehirn bekommen, im Bereich der neuronalen Korrelate der realen Welt RW_NN. Dies ist auch der Grund, warum Kinder nicht von Geburt an eine Sprache lernen können: erst wenn sie minimale Strukturen in ihren neuronalen Korrelaten der Außenwelt ausbilden konnten, können die Ausdrücke der Sprache ihrer Umgebung solchen Strukturen zugeordnet werden. Und so beginnt dann ein paralleler Prozess der Ausdifferenzierung der nicht-sprachlichen Strukturen, die auf unterschiedliche Weise mit den sprachlichen Strukturen verknüpft werden. Vereinfachend kann man sagen, dass die Bedeutungsfunktion [M] eine Abbildung herstellt zwischen diesen beiden Bereichen: M : L <–?–> RW_NN, wobei die sprachlichen Ausdrücke letztlich ja auch Teil der neuronalen Korrelate der Außenwelt RW_NN sind, also eher M: RW_NN_L <–?–>RW_NN.

Während die grundsätzliche Fähigkeit zur Ausbildung einer bedeutungshaltigen Sprache [L_M] (L :_ Ausrucksseite, M := Bedeutungsanteil) nach heutigem Kenntnisstand angeboren zu sein scheint, muss die Bedeutungsrelation M individuell in einem langen, oft mühsamen Prozess, erlernt werden. Und das Erlernen der einen Sprache L_M hilft kaum bis gar nicht für das Erlernen einer anderen Sprache L’_M‘.

Faktor 3: Neben sehr vielen Eigenschaften im Kontext der menschlichen Sprachfähigkeit ist einer — in meiner Sicht — zusätzlich bemerkenswert. Im einfachen Fall kann man unterscheiden zwischen den sprachlichen Ausdrücken und jenen neuronalen Korrelaten, die mit Objekten der Außenwelt korrespondieren, also solche Objekte, die andere Menschen zeitgleich auch wahrnehmen können. So z.B. ‚die weiße Tasse dort auf dem Tisch‘, ‚die rote Blume neben deiner Treppe‘, ‚die Sonne am Himmel‘, usw. In diesen Beispielen haben wir auf der einen Seite sprachliche Ausdrücke, und auf der anderen Seite nicht-sprachliche Dinge. Ich kann mit meiner Sprache aber auch sagen „In dem Satz ‚die Sonne am Himmel‘ ist das zweite Wort dieses Satzes grammatisch ein Substantiv‘. In diesem Beispiel benutze ich Ausdrücke der Sprache um mich auf andere Ausdrücke einer Sprache zu beziehen. Dies bedeutet, dass ich Ausdrücke der Sprache zu Objekten für andere Ausdrücke der Sprache machen kann, die über (meta) diese Objekte sprechen. In der Wissenschaftsphilosophie spricht man hier von Objekt-Sprache und von Meta-Sprache. Letztlich sind es zwei verschiedenen Sprachebenen. Bei einer weiteren Analyse wird man feststellen können, dass eine natürliche/ normale Sprache L_M scheinbar unendlich viele Sprachebenen ausbilden kann, einfach so. Ein Wort wie Demokratie z.B. hat direkt kaum einen direkten Bezug zu einem Objekt der realen Welt, wohl aber sehr viele Beziehungen zu anderen Ausdrücken, die wiederum auf andere Ausdrücke verweisen können, bis irgendwann vielleicht ein Ausdruck dabei ist, der Objekte der realen Welt betrifft (z.B. der Stuhl, auf dem der Parlamentspräsident sitzt, oder eben dieser Parlamentspräsident, der zur Institution des Bundestages gehört, der wiederum … hier wird es schon schwierig).

Die Tatsache, dass also das Sprachvermögen eine potentiell unendlich erscheinende Hierarchie von Sprachebenen erlaubt, ist eine ungewöhnlich starke Eigenschaft, die bislang nur beim homo sapiens beobachtet werden kann. Im positiven Fall erlaubt eine solche Sprachhierarchie die Ausbildung von beliebig komplexen Strukturen, um damit beliebig viele Eigenschaften und Zusammenhänge der realen Welt sichtbar zu machen, aber nicht nur in Bezug auf die Gegenwart oder die Vergangenheit, sondern der homo sapiens kann dadurch auch Zustände in einer möglichen Zukunft andenken. Dies wiederum ermöglicht ein innovatives, gestalterisches Handeln, in dem Aspekte der gegenwärtigen Situation verändert werden. Damit kann dann real der Prozess der Evolution und des ganzen Universums verändert werden. Im negativen Fall kann der homo sapiens wilde Netzwerke von Ausdrücken produzieren, die auf den ersten Blick schön klingen, deren Bezug zur aktuellen, vergangenen oder möglichen zukünftigen realen Welt nur schwer bis gar nicht herstellbar ist.

Hat also ein entwickeltes Sprachsystem schon für das Denken selbst eine gewisse Relevanz, spielt es natürlich auch für die Kommunikation eine Rolle. Der Gehirn-Körper transformiert ja nicht nur reale Welt in neuronale Korrelate b_B : RW x RW_NN —–> RW_NN (mit der Sprache L_B_NN als Teil von RW_NN), sondern der Gehirn-Körper produziert auch sprachliche Ausdrücke nach außen b_B : RW_NN —–> L. Die sprachlichen Ausdrücke L bilden von daher die Schnittstelle zwischen den Gehirnen. Was nicht gesagt werden kann, das existiert zwischen Gehirnen nicht, obgleich es möglicherweise neuronale Korrelate gibt, die wichtig sind. Nennt man die Gesamtheit der nutzbaren neuronalen Korrelate Wissen dann benötigt es nicht nur eine angemessene Kultur des Wissens sondern auch eine angemessene Kultur der Sprache. Eine Wissenschaft, eine empirische Wissenschaft ohne eine angemessene (Meta-)Sprache ist z.B. schon im Ansatz unfähig, mit sich selbst rational umzugehen; sie ist schlicht sprachlos.

EIN NEUES UNIVERSUM ? !

Betrachtet man die kontinuierlichen Umformungen der Energie-Materie vom Big Bang über Gasnebel, Sterne, Sternenhaufen, Galaxien und vielem mehr bis hin zur Entstehung von biologischem Leben auf der Erde (ob auch woanders ist komplexitätstheoretisch extrem unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich), dort dann die Entwicklung zu Mehrzellern, zu komplexen Organismen, bis hin zum homo sapiens, dann kommt dem homo sapiens eine einzigartig, herausragende Rolle zu, der er sich bislang offensichtlich nicht richtig bewusst ist, u.a. möglicherweise auch, weil die Wissenschaften sich weigern, sich professionell mit ihrer eigenen Irrationalität zu beschäftigen.

Der homo sapiens ist bislang das einzig bekannte System im gesamten Universum, das in er Lage ist, die Energie-Materie Struktur in symbolische Konstrukte zu transformieren, in denen sich Teile der Strukturen des Universums repräsentieren lassen, die dann wiederum in einem Raum hoher Freiheitsgrade zu neue Zuständen transformiert werden können, und diese neuen — noch nicht realen — Strukturen können zum Orientierungspunkt für ein Verhalten werden, das die reale Welt real transformiert, sprich verändert. Dies bedeutet, dass die Energie-Materie, von der der homo sapiens ein Teil ist, ihr eigenes Universum auf neue Weise modifizieren kann, möglicherweise über die aktuellen sogenannten Naturgesetze hinaus.

Hier stellen sich viele weitere Fragen, auch alleine schon deswegen, weil der Wissens- und Sprachaspekt nur einen kleinen Teil des Potentials des homo sapiens thematisiert.

BRAUCHT VIRTUALITÄT REALITÄT? Selbstvernichtung kennt viele Gesichter … Notiz

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

So 15.Dezember 2019

Änderung: 15.12.2019, 14:30h im Text.

Alte Version hier als PDF:

KONTEXT

Das Thema in diesem Beitrag kam in der einen oder anderen Weise auch in vorausgehenden Beiträgen schon mehrfach zur Sprache. In diesem Beitrag versucht der Autor dieses Textes eine thematische Zuspitzung am Beispiel der empirischen Wissenschaften, die in dieser Weise in diesem Blog so noch nicht vorkam. Zwischen den heutigen Extremen von allgemeinem Wissenschafts-Bashing auf der einen, und einer eher kritiklose Überhöhung der Wissenschaften auf der anderen Seite möchte dieser Beitrag verdeutlichen, dass der modernen empirischen Wissenschaft eine evolutionäre Schlüsselrolle zukommt. Aus dieser postulierten Notwendigkeit folgt aber kein Automatismus für eine gesellschaftlich angemessene Umsetzung von empirischer Wissenschaft.

VIRTUELLE WELTEN ALS INNOVATION

Mit der Verbreitung der Computertechnologie seit den 1950iger Jahren wurde es zunehmend möglich, mit Computern erzeugte Bilder und Sounds so gut zu berechnen, dass es für das sinnliche Wahrnehmungsvermögen des Menschen immer schwerer wird, die so künstlich erzeugten computerbasierten Ereignisse von der realen Körperwelt zu unterscheiden. Nach einem 3/4 Jahrhundert Entwicklung muss man feststellen, dass die junge Generation diese computergestützten virtuellen Ereignisse schon so ’normal‘ ansieht wie die reale Welt ihrer Körper. Es entsteht der Eindruck, dass die reale Welt der Körper und die Interaktion dieser Körper mit der ‚realen‘ Welt im heutigen Weltbild immer weniger Bedeutung einnimmt bis dahin, dass die reale Welt eher als ‚das Fremde‘ erscheint und die computergestützte ‚virtuelle Welt‘ als das primär Vertraute, und damit scheinbar zur ’neuen Realität‘ wird.

VERKEHRTE WELT

Macht man sich bewusst, dass es seit der Existenz erster biologischer Zellen vor ca. 3.5 Mrd. Jahren mindestens 2.9 Mrd. Jahre gebraucht hat, bis vielzellige Tiere aufgetreten sind, und von da ab hat es bis ca. vor 600.000 Jahren gebraucht, bis die Lebensform des homo sapiens ins Geschehen eingriff. Der homo sapiens — der moderne Mensch, wir — zeigt erstmals nicht nur Bewusstsein, sondern im weiteren Verlauf auch ein symbolisches Sprachvermögen.

Innerhalb der Entwicklung des homo sapiens ist es erst innerhalb der letzten 100 Jahre gelungen, durch moderne Evolutionsbiologie, Psychologie und Physiologie herauszufinden, dass es das Gehirn des Menschen ist, das alle Signale von den Sinnesorganen — sowohl der äußeren wie der inneren — einsammelt und daraus in Zeitintervallen von ca. 50 – 500 Millisekunden jeweils ein aktuelles Lagebild zu errechnen, das uns Menschen dann über unser Bewusstsein als ein virtuelles Bild der uns umgebenden realen Körperwelt zur Verfügung steht. Der Clou an dieser Konstruktion ist, dass wir dieses virtuelle Bild der realen Welt als ‚reales Bild‘ nehmen. Außer einige Philosophen in den letzten ca. 3000 Jahren kommt kein Mensch — nicht einmal in der Gegenwart — auf die Idee, sein vermeintlich reales Bild der Welt als ein virtuelles Bild der realen Welt anzusehen.

WISSENSCHAFT ALS EVOLUTIONÄRES EREIGNIS

Wer sich auf eine Reise in die Geschichte der Ideen begibt kann feststellen, dass die Menschen in der Vergangenheit sehr wohl einen Sinn für Realität ausprägen konnten. In allen Bereichen, in denen es ums Überleben geht (Reisen in unbekanntem Gelände, Landwirtschaft, Kriege, technische Konstruktionen, …) bildeten sich Verhaltensweisen und Anschauungen heraus, in denen der Bezug zu bestimmten Eigenschaften der realen Körperwelt charakteristisch waren: Sternbilder für die Reise, Jahreszeiten für die Planung in der Landwirtschaft, Materialeigenschaften für Waffen im Krieg und für Bauten, …

Aber erst vor ca. 400 Jahren begann mit Galileo Galilei und einigen seiner Zeitgenossen das, was wir heute moderne empirische Wissenschaft nennen. Es dauerte mehr als ca. 200 Jahre bis sich das Paradigma ‚moderne empirische Wissenschaft‘ sowohl in den Bildungseinrichtungen wie auch in der ganzen Gesellschaft einigermaßen verankern konnte. Doch ist die Verbreitung von empirischer Wissenschaft bis heute nicht umfassend und vollständig, ja, es gibt Anzeichen, die den Eindruck erwecken, als ob die moderne empirische Wissenschaft in vielen Bereichen wieder zurück gedrängt wird. Der Ausdruck ‚fake news‘ ist in der digitalisierten Welt zu einem Massenphänomen geworden, das sich immer weiter ausbreitet; eine Art mentaler Virus, der immer weiter um sich greift.

Diese Entwicklung ist bizarr und gefährlich. Es hat die gesamte bisherige Entwicklungszeit des biologischen Lebens auf der Erde gebraucht hat, bis das Leben auf dieser Erde die Fähigkeit zur empirischen Wissenschaft erreicht hat, um damit den ‚Bann‘ der körperinneren Virtualität zu durchbrechen um das Innere am Äußeren zu orientieren.

Dazu kommt die erst kürzliche Nutzung der Computertechnologie, die strukturell in jeder biologischen Zelle seit 3.5 Mrd. Jahren am Werke ist. Die mögliche Symbiose von Mensch und Computertechnologie markiert das größte und wichtigste Ereignis zum möglichen Überleben des Lebens nicht nur auf der Erde, sondern im ganzen bekannten Universum. Denn die Erde wird spätestens mit der fusionsbedingten Aufblähung der Sonne in ca. 0.9 Mrd. Jahren einen Temperaturanstieg erleben, der Leben auf der Erde schrittweise unmöglich machen wird. Nur im Zusammenwirken aller Lebensformen — und hier mit der besonderen Rolle des homo sapiens — kann das Leben im Universum eventuell überleben.

ALLTAG

Bislang hat man aber nicht den Eindruck, dass sich der homo sapiens seiner wichtigen Rolle für das gesamte Leben bewusst ist. Bislang demonstriert der homo sapiens eine große Verachtung für das Leben, verbraucht planlos wichtige Ressourcen, zerstört immer massiver das gesamte Ökosystem, dessen Funktionieren seine eigene Lebensbasis ist, und bekriegt sich untereinander. Die aktuellen politischen Systeme erwecken bislang nicht den Eindruck, als ob sie den aktuellen Herausforderungen gewachsen sind.

Die noch funktionierende Wissenschaft muss feststellen, dass politische Macht nicht automatisch wissenschaftliche Erkenntnisse übernimmt. Die politischen Systeme denken in kurzfristigen Zeiträumen, gewichten Tagesinteressen höher als langfristige Entwicklungen, und lassen weitgehend ein adäquates Verstehen vermissen. Das adäquate Verstehen ist — so scheint es — kein Automatismus.

WISSENSCHAFTS-ÖKOSYSTEM

Es braucht ein Ökosystem der besonderen Art, um gesellschaftliche Erkenntnisprozess kontinuierlich möglich zu machen. Wie lernt man dies, wenn es dafür keine Ausbilder gibt, weil der Sachverhalt neu ist?

Greifbar ist, dass die Förderung ausschließlich von Einzelwissenschaften nicht ausreichend ist, um das mögliche Zusammenwirken von mehreren Einzelwissenschaften in komplexen Problemstellungen zu fördern. Dazu bedarf es begriffliche und methodische Reflexionen in der Breite, kontinuierlich verankert in jeder Disziplin, und dennoch verknüpft in einem übergreifenden Verbund. In früheren Zeiten hatte dies die Philosophie geleistet. Neuer Ansätze wie die Wissenschaftsphilosophie haben bislang nirgends den Eingang in den alltäglichen Wissenschaftsbetrieb gefunden.

So gesehen vermehrt sich ständig die Anzahl der aufspielenden Einzelwissenschaften, aber für eine notwendige Gesamtschau fehlen die begrifflichen Dramaturgen. Wo sollen diese herkommen? Das moderne Wissenschaftssystem hat diese nicht vorgesehen und treibt damit freiwillig in eine Komplexität, die sie mehr und mehr von der sie ermöglichenden Gesellschaft abkoppelt. Eine wunderbare Zeit für ‚fake news‘, da ihnen keine öffentlich vermittelte Rationalität entgegen wirkt.

ÄUSSERES AM INNEREN MESSEN

Neben der gefährlichen Desintegration der vielen Einzelwissenschaften tragen die modernen empirischen Wissenschaften ein weiteres Defizit mit sich herum, das langfristig mindestens genauso gefährlich ist: die Ausklammerung der Innerlichkeit des Menschen. Die Erschließung der empirischen Realität für den Erkenntnisprozess war ein entscheidender Schritt als Gegengewicht zu der extrem schwer zu verstehenden inneren Erfahrung des Menschen in seinem Bewusstsein sowie deren Interaktion mit dem gesamten Gehirn und Körper. Aus der anfänglichen Schwierigkeit der empirischen Wissenschaften, das Innere des Menschen zu vermessen, folgt aber nicht notwendigerweise, dass das Innere deshalb grundsätzlich unwichtig oder unwissenschaftlich sei. Die mehr als 3000 Jahre feststellbaren spirituellen Traditionen quer in allen menschlichen Kulturen bilden starke Indikatoren, dass die vielfältigen inneren Erfahrungen für das Lebensgefühl und den Zustand eines menschlichen Lebens von großer Bedeutung sein können bzw. sind.

Unterstützt von einer neuen Querschnittwissenschaft zur Reflexion auf Wissenschaft und möglichen Integrationen von bislang getrennten einzelnen Disziplinen sollte entsprechend auch der Gegenstandsbereich der empirischen Wissenschaften in Richtung auf die inneren Zustände des Menschen radikal ausgeweitet werden. Im Rahmen der Bedeutungsfelder von Meditation, Spiritualität und Mystik gibt es viele starke Indikatoren für eine den einzelnen Menschen übersteigende Perspektive, die die Vielheit und Vielfalt des biologischen Lebens in möglicherweise in neuer Weise von innen her erschließen kann. Die bisherige Quantenmechanik erscheint in diesem Kontext nicht als ein Endpunkt sondern eher als ein Startpunkt, das Ganze nochmals von vorne neu zu denken.

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Planspielkonzepte für das KOMeGA Projekt. Für mehr Bürgerbeteiligung in Demokratien. Teil 3: Noch konkreter …

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Dieser Beitrag versteht sich als eine Fortsetzung der beiden vorausgehenden Blog-Einträge. Während im ersten Beitrag die allgemeine Problemstellung skizziert wurde, wie die großen Weltprobleme mit uns Bürgern zusammen hängen können, vor allem was wir konkret in unserem Alltag tun können, beschrieb der zweite Beitrag etwas konkreter ein Prozessmodell, wie wir es anstellen können, zusammen unser Wissen so auszutauschen, dass wir daraus ein gemeinsames Modell bauen könne, dass wir auch ’spielen‘ können, um so die gemeinsame Erfahrung — und nebenbei unser Wissen — zu vertiefen. Dieses Prozessmodell ist aber noch viel zu allgemein, als dass man daraus eine konkrete Handlungsanweisung ableiten zu können, vor allem dann auch nicht, wenn der gemeinsame Prozess von einem Computer unterstützt werden sollte. Dieser Beitrag versucht diese Lücke weiter zu schließen.

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Fortsetzung

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Offenbarung – Der blinde Fleck der Menschheit

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Als Nachhall zur Diskussion des Artikels von Fink hier ein paar Überlegungen, dass der durch die Religionen vereinnahmte Begriff der ‚Offenbarung‘ ein Grundbegriff ist, der wesentlich zum Menschen generell gehört, bevor irgendeine Religion darauf einen Anspruch anmelden kann.

I. KONTEXT

Diesen Beitrag könnte man unter ‚Nachwehen‘ einordnen, Nachwehen zu dem letzten Beitrag. In diesem Beitrag hatte ich versucht, deutlich zu machen, dass die üblichen Vorgehensweisen, in die neuen Erkenntnisse zur Entstehung, Struktur und Dynamik des physikalischen Universums, den Glauben an ein sehr bestimmtes, klassisches Gottesbild zu ‚interpolieren‘, heute nicht mehr überzeugen können, ja, abgelehnt werden müssen als eher wegführend vom wahren Sachverhalt.

Zu dieser kritisch-ablehnenden Sicht tragen viele Argumente bei (siehe einige in dem genannten Artikel). Besonders erwähnen möchte ich hier nochmals das Buch ‚Mysticism and Philosophy‘ von Stace (1960) [ siehe Teil 3 einer Besprechung dieses Buches ]. Stace konzentriert sich bei seinen Analysen an der Struktur der menschlichen Erfahrung, wie sie über Jahrtausende in vielen Kulturen dieser Welt berichtet wird. Während diese Analysen darauf hindeuten, dass der Kern der menschlichen Erfahrungen eher gleich erscheint, erklärt sich die Vielfalt aus der Tatsache, dass — nach Stace — jede Erfahrung unausweichlich Elemente einer ‚Interpretation‘ umfasst, die aus den bisherigen Erfahrungen stammen. Selbst wenn Menschen das Gleiche erleben würden, je nach Zeit, Kultur, Sprache können sie das Gleiche unterschiedlich einordnen und benennen, so dass es über den Prozess des Erkennens etwas ‚anderes‘ wird; es erscheint nicht mehr gleich!

In einem sehr kenntnisreichen Artikel The Myth of the Framework von Karl Popper, veröffentlicht im Jahr 1994 als Kapitel 2 des Buches The Myth of the Framework: In Defence of Science and Rationality [Anmerkung: Der Herausgeber M.A.Notturno weist im Epilog zum Buch darauf hin, dass die Beiträge zum Buch schon in den 1970iger Jahren vorlagen!] hatte sich Popper mit diesem Phänomen auch auseinandergesetzt, allerdings nicht von der ‚Entstehung‘ her (wie kommt es zu diesen Weltbildern), sondern vom ‚Ergebnis‘ her, sie sind jetzt da, sie sind verschieden, was machen wir damit? [Siehe eine Diskussion des Artikels von Popper als Teil des Beitrags].

Angeregt von diesen Fragen und vielen weiteren Ideen aus den vorausgehenden Einträgen in diesem Blog ergeben sich die folgenden Notizen.

II. DER ‚BIG BANG‘ HÖRT NIE AUF …

Die Geschichte beginnt im Alltag. Wenn man in die Gegenwart seines Alltags eingetaucht ist, eingelullt wird von einem Strom von scheinbar selbstverständlichen Ereignissen, dann kann man leicht vergessen, dass die Physik uns darüber belehren kann, dass dieser unser Alltag eine Vorgeschichte hat, die viele Milliarden Jahre zurück reicht zur Entstehung unserer Erde und noch viel mehr Milliarden Jahre bis zum physikalischen Beginn unseres heute bekannten Universums. Obgleich dieses gewaltige Ereignis mitsamt seinen gigantischen Nachwirkungen mehr als 13 Milliarden Jahre zurück liegt und damit — auf einer Zeitachse — längst vorbei ist, passé, gone, … haben wir Menschen erst seit ca.50 – 60 Jahren begonnen, zu begreifen, dass das Universum in einer Art ‚Urknall‘ ins physikalische Dasein getreten ist. Was immer also vor mehr als 13 Milliarden Jahren geschehen ist, wir selbst, wir Menschen als Exemplare der Lebensform homo sapiens, haben erst vor wenigen Jahrzehnten ‚gelernt‘, dass unsere aktuelle Gegenwart bis zu solch einem Ereignis zurück reicht. Das reale physikalische Ereignis ‚Big Bang‘ fand also erst viele Milliarden Jahre später in den Gehirnen und damit im Bewusstsein von uns Menschen (zunächst nur wenige Menschen von vielen Milliarden) statt. Erst im schrittweisen Erkennen durch die vielen tausend Jahre menschlicher Kultur entstand im Bewusstsein von uns Menschen ein virtuelles Wissen von etwas vermutet Realem. Das reale Ereignis war vorbei, das virtuelle Erkennen lies es viel später in einem realen Erkenntnisprozess virtuell wieder entstehen. Vorher gab es dieses Ereignis für uns Menschen nicht. So gesehen war das Ereignis indirekt ‚gespeichert‘ im physikalischen Universum, bis diese Erkenntnisprozesse einsetzten. Welch gigantische Verzögerung!

III. OFFENBARUNG

Der Begriff ‚Offenbarung‘ ist durch seine Verwendung in der zurückliegenden Geschichte sehr belastet. Vor allem die großen Religionen wie Judentum, Christentum und Islam haben durch ihre Verwendung des Begriffs ‚Offenbarung‘ den Eindruck erweckt, dass Offenbarung etwas sehr Besonderes sei, die Eröffnung von einem Wissen, das wir Menschen nicht aus uns selbst gewinnen können, sondern nur direkt von einem etwas, das mit der Wortmarke ‚Gott‘ [die in jeder Sprache anders lautet] gemeint sei. Nur weil sich dieses etwas ‚Gott‘ bestimmten, konkreten Menschen direkt zugewandt habe, konnten diese ein spezielles Wissen erlangen, das diese dann wiederum ‚wortwörtlich‘ in Texten festgehalten haben, die seitdem als ‚heilige‘ Texte gelten.

Im Fall der sogenannten heiligen Schriften des Judentums und des Christentums hat intensive wissenschaftliche Forschung seit mehr als 100 Jahren gezeigt, dass dies natürlich nicht so einfach ist. Die Schriften sind alle zu unterschiedlichen Zeiten entstanden, bisweilen Jahrhunderte auseinander, wurden mehrfach überarbeitet, und was auch immer ein bestimmter Mensch irgendwann einmal tatsächlich gesagt hat, das wurde eingewoben in vielfältige Interpretationen und Überarbeitungen. Im Nachhinein — von heute aus gesehen also nach 2000 und mehr Jahren — zu entscheiden, was ein bestimmter Satz in hebräischer oder griechischer Sprache geschrieben, tatsächlich meint, ist nur noch annäherungsweise möglich. Dazu kommt, dass die christliche Kirche über tausend Jahre lang nicht mit den Originaltexten gearbeitet hat, sondern mit lateinischen Übersetzungen der hebräischen und griechischen Texte. Jeder, der mal Übersetzungen vorgenommen hat, weiß, was dies bedeutet. Es wundert daher auch nicht, dass die letzten 2000 Jahre sehr unterschiedliche Interpretationen des christlichen Glaubens hervorgebracht haben.

Im Fall der islamischen Texte ist die Lage bis heute schwierig, da die bisher gefundenen alten Manuskripte offiziell nicht wissenschaftlich untersucht werden dürfen [Anmerkung: Siehe dazu das Buch von Pohlmann (2015) zur Entstehung des Korans; eine Besprechung dazu findet sich  hier: ]. Die bisherigen Forschungen deuten genau in die gleiche Richtung wie die Ergebnisse der Forschung im Fall der jüdisch-christlichen Tradition.

Die Befunde zu den Überlieferungen der sogenannten ‚heiligen‘ Schriften bilden natürlich nicht wirklich eine Überraschung. Dies liegt eben an uns selbst, an uns Menschen, an der Art und Weise, wie wir als Menschen erkennen, wie wir erkennen können. Das Beispiel der empirischen Wissenschaften, und hier die oben erwähnte Physik des Universums, zeigt, dass alles Wissen, über das wir verfügen, im Durchgang durch unseren Körper (Sinnesorgane, Körperzustände, Wechselwirkung des Körpers mit der umgebenden Welt, dann Verarbeitung Gehirn, dann Teile davon im Bewusstsein) zu virtuellen Strukturen in unserem Gehirn werden, die partiell bewusst sind, und die uns Teile der unterstellten realen Welt genau so zeigen, wie sie im bewussten Gehirn gedacht werden, und zwar nur so. Die Tatsache, dass es drei große Offenbarungsreligionen gibt, die sich alle auf das gleiche Etwas ‚Gott‘ berufen, diesem Gott dann aber ganz unterschiedliche Aussagen in den Mund legen [Anmerkung: seit wann schreiben Menschen vor, was Gott sagen soll?], widerspricht entweder dem Glauben an den einen Gott, der direkt spricht, oder diese Vielfalt hat schlicht damit zu tun, dass man übersieht, dass jeder Mensch ‚Gefangener seines Erkenntnisprozesses‘ ist, der nun einmal ist, wie er ist, und der nur ein Erkennen von X möglich macht im Lichte der bislang bekannten Erfahrungen/ Erkenntnisse Y. Wenn jüdische Menschen im Jahr -800 ein X erfahren mit Wissen Y1, christliche Menschen in der Zeit +100 mit Wissen Y2 und muslimische Menschen um +700 mit Wissen Y3, dann ist das Ausgangswissen jeweils völlig verschieden; was immer sie an X erfahren, es ist ein Y1(X), ein Y2(X) und ein Y3(X). Dazu die ganz anderen Sprachen. Akzeptiert man die historische Vielfalt, dann könnte man — bei gutem Willen aller Beteiligten — möglicherweise entdecken, dass man irgendwie das ‚Gleiche X‘ meint; vielleicht. Solange man die Vielfalt aber jeweils isoliert und verabsolutiert, so lange entstehen Bilder, die mit Blick auf den realen Menschen und seine Geschichte im realen Universum kaum bis gar nicht zu verstehen sind.

Schaut man sich den Menschen und sein Erkennen an, dann geschieht im menschlichen Erkennen, bei jedem Menschen, in jedem Augenblick fundamental ‚Offenbarung‘.

Das menschliche Erkennen hat die Besonderheit, dass es sich bis zu einem gewissen Grad aus der Gefangenschaft der Gegenwart befreien kann. Dies gründet in der Fähigkeit, die aktuelle Gegenwart in begrenzter Weise erinnern zu können, das Jetzt und das Vorher zu vergleichen, von Konkretem zu abstrahieren, Beziehungen in das Erkannte ‚hinein zu denken‘ (!), die als solche nicht direkt als Objekte vorkommen, und vieles mehr. Nur durch dieses Denken werden Beziehungen, Strukturen, Dynamiken sichtbar (im virtuellen Denken!), die sich so in der konkreten Gegenwart nicht zeigen; in der Gegenwart ist dies alles unsichtbar.

In dieser grundlegenden Fähigkeit zu erkennen erlebt der Mensch kontinuierlich etwas Anderes, das er weder selbst geschaffen hat noch zu Beginn versteht. Er selbst mit seinem Körper, seinem Erkennen, gehört genauso dazu: wir wurden geboren, ohne dass wir es wollten; wir erleben uns in Körpern, die wir so nicht gemacht haben. Alles, was wir auf diese Weise erleben ist ’neu‘, kommt von ‚außen auf uns zu‘, können wir ‚aus uns selbst heraus‘ nicht ansatzweise denken. Wenn irgendetwas den Namen ‚Offenbarung‘ verdient, dann dieser fundamentale Prozess des Sichtbarwerdens von Etwas (zu dem wir selbst gehören), das wir vollständig nicht gemacht haben, das uns zu Beginn vollständig unbekannt ist.

Die Geschichte des menschlichen Erkennens zeigt, dass die Menschen erst nur sehr langsam, aber dann immer schneller immer mehr von der umgebenden Welt und dann auch seit kurzem über sich selbst erkennen. Nach mehr als 13 Milliarden Jahren erkennen zu können, dass tatsächlich vor mehr als 13 Milliarden Jahren etwas stattgefunden hat, das ist keine Trivialität, das ist beeindruckend. Genauso ist es beeindruckend, dass unsere Gehirne mit dem Bewusstsein überhaupt in der Lage sind, virtuelle Modelle im Kopf zu generieren, die Ereignisse in der umgebenden Welt beschreiben und erklären können. Bis heute hat weder die Philosophie noch haben die empirischen Wissenschaften dieses Phänomen vollständig erklären können (obgleich wir heute viel mehr über unser Erkennen wissen als noch vor 100 Jahren).

Zu den wichtigen Erkenntnissen aus der Geschichte des Erkennens gehört auch, dass das Wissen ‚kumulierend‘ ist, d.h. es gibt tiefere Einsichten, die nur möglich sind, wenn man zuvor andere, einfachere Einsichten gemacht hat. Bei der Erkenntnis des großen Ganzen gibt es keine ‚Abkürzungen‘. In der Geschichte war es immer eine Versuchung, fehlendes Wissen durch vereinfachende Geschichten (Mythen) zu ersetzen. Dies macht zwar oft ein ‚gutes Gefühl‘, aber es geht an der Realität vorbei. Sowohl das kumulierende Wissen selbst wie auch die davon abhängigen alltäglichen Abläufe, die Technologien, die komplexen institutionellen Regelungen, die Bildungsprozesse usw. sie alle sind kumulierend.

Aus diesem kumulierenden Charakter von Wissen entsteht immer auch ein Problem der individuellen Verarbeitung: während dokumentiertes und technisch realisiertes Wissen als Objekt durch die Zeiten existieren kann, sind Menschen biologische Systeme, die bei Geburt nur mit einer — wenngleich sehr komplexen — Grundausstattung ihren Lebensweg beginnen. Was immer die Generationen vorher gedacht und erarbeitet haben, der jeweils neue individuelle Mensch muss schrittweise lernen, was bislang gedacht wurde, um irgendwann in der Lage zu sein, das bisher Erreichte überhaupt verstehen zu können. Menschen, die an solchen Bildungsprozessen nicht teilhaben können, sind ‚Fremde‘ in der Gegenwart; im Kopf leben sie in einer Welt, die anders ist als die umgebende reale Welt. Es sind wissensmäßig Zombies, ‚Unwissende‘ in einem Meer von geronnenem Wissen.

Sollte also das mit der Wortmarke ‚Gott‘ Gemeinte eine Realität besitzen, dann ist der Prozess der natürlichen Offenbarung, die jeden Tag, in jedem Augenblick ein wenig mehr die Erkenntnis Y über das uns vorgegebene Andere ermöglicht, die beste Voraussetzung, sich diesem Etwas ‚X = Gott‘ zu nähern. Jede Zeit hat ihr Y, mit dem sie das Ganze betrachtet. Und so sollte es uns nicht wundern, dass die Geschichte uns viele Y(X) als Deutungen des Etwas ‚X = Gott‘ anbietet.

Empirisches Wissen, Philosophisches Wissen, religiöses Wissen kreisen letztlich um ein und dieselbe Wirklichkeit; sie alle benutzen die gleichen Voraussetzungen, nämlich unsere menschlicher Existenzweise mit den vorgegebenen Erkenntnisstrukturen. Niemand hat hier einen wesentlichen Vorteil. Unterschiede ergeben sich nur dadurch, dass verschiedenen Kulturen unterschiedlich geschickt darin sind, wie sie Wissen kumulieren und wie sie dafür Sorge tragen, dass alle Menschen geeignete Bildungsprozesse durchlaufen.

IV. VEREINIGTE MENSCHHEIT

Schaut man sich an, wie die Menschen sich auch nach den beiden furchtbaren Weltkriegen und der kurzen Blüte der Idee einer Völkergemeinschaft, die Ungerechtigkeit verhindern sollte, immer wieder — und man hat den Eindruck, wieder mehr — in gegenseitige Abgrenzungen und Verteufelungen verfallen, vor grausamen lokalen Kriegen nicht zurück schrecken, die Kultur eines wirklichkeitsbewussten Wissens mutwillig schwächen oder gar zerstören, dann kann man schon mutlos werden oder gar verzweifeln.

Andererseits, schaut man die bisherige Geschichte des Universums an, die Geschichte des Lebens auf der Erde, die Geschichte des homo sapiens, die letzten 10.000 Jahre, dann kommt man nicht umhin, festzustellen, dass es eine dynamische Bewegung hin zu mehr Erkenntnis und mehr Komplexität gegeben hat und noch immer gibt. Und wenn man sieht, wie wir alle gleich gestrickt und auf intensive Kooperation angewiesen sind — und vermutlich immer mehr –, dann erscheinen die Menschen eher wie eine Schicksalsgemeinschaft, wie ‚earth children‘, wie eine ‚Gemeinschaft von Heiligen kraft Geburt‘!

Das Wort ‚Heilige‘ mag alle irritieren, die mit Religion nichts verbinden, aber die ‚Heiligen‘ sind in den Religionen alle jene Menschen, die sich der Wahrheit des Ganzen stellen und die versuchen, aus dieser Wahrheit heraus — ohne Kompromisse — zu leben. Die Wahrheit des Ganzen ist für uns Menschen primär diese Grundsituation, dass wir alle mit unseren Körpern, mit unserem Erkennen, Teil eines Offenbarungsprozesses sind, der für alle gleich ist, der alle betrifft, und aus dem wir nicht aussteigen können. Wir sind aufeinander angewiesen. Anstatt uns gegenseitig zu bekriegen und abzuschlachten, also die ‚Bösen‘ zu spielen, wäre es näherliegender und konstruktiver, uns als ‚Heilige‘ zu verhalten, die bereit sind zum Erkennen, die bereit sind aus der Erkenntnis heraus zu handeln. Das alles ist — wie wir wissen können — nicht ganz einfach, aber es hat ja auch niemand gesagt, dass es einfach sei. Das Leben auf der Erde gleicht eher einem Expeditionschor, das im Universum an einer bestimmten Stelle gelandet ist, und jetzt den Weg zum Ziel finden muss. Wir brauchen keine TV-Reality-Shows, wir selbst sind die radikalste Reality-Show, die man sich denken kann. Und sie tritt gerade in eine sehr heiße Phase ein [Anmerkung: … nicht nur wegen des Klimas 🙂 ].

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KOSMOLOGIE UND DER GLAUBE AN GOTT. Anmerkungen zu einem Artikel von A.Fink

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Zusammenfassung

Ausgehend von einem Artikel von A.Fink werden hier einige Gedanken geäußert, die sich auf die Art und Weise beziehen, wie der Begriff Gott in diesem Artikel benutzt wird. Dies reicht bis hin zu den Grundannahmen unseres menschlichen Erkennens.

I. Kontext

Durch einen Hinweis wurde ich aufmerksam auf den Artikel von Alexander Fink (2017) [Fink:2017] zur Themenstellung Kosmologie und der Glaube an Gott. Diese Themenstellung, geschrieben aus einer christlichen Perspektive, erscheint mir interessant, da im Kontext dieses Blogs das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft zur Debatte steht, hierin speziell fokussiert auf die Frage der möglichen Symbiose von Menschen und intelligenten Maschinen in der Zukunft. Während das Konzept intelligente Maschine vergleichsweise einfach erscheint, bietet das Konzept Mensch unfassbar viele komplexe Fragestellungen. Unter anderem auch deswegen, da wir heute immer mehr zu erkennen meinen, dass der heutige Mensch das Ergebnis einer komplexen Entstehungsgeschichte ist, sowohl des Universums als ganzem wie auch der komplexen Evolution des Lebens innerhalb der Entwicklung des Universums. Seit dem Auftreten des Menschen als homo sapiens hat der Mensch immer komplexere Umgebungen geschaffen, zu denen neben Weltbildern zur Weltdeutung neuerdings auch intelligente Maschinen gehören, die seine selbst geschaffene Umwelt weiter anreichern.

Im Bereich der Weltbilder wird heute im Bereich der Wissenschaften gewöhnlich unterschieden zwischen sogenannten wissenschaftlichen Bildern der Welt — wissenschaftliche Theorie genannt — und solchen Überzeugungen, die Menschen in ihrem Alltag zwar auch benutzen, die aber nach den methodischen Prinzipien der empirischen Wissenschaften nicht als überprüfbar gelten. Daraus muss allerdings nicht denknotwendig folgen, dass diese Überzeugungen im nicht-wissenschaftlichen Format von vornherein falsch sind.

Ein prominenter Bereich solcher im Alltag verhafteter Überzeugungen ohne eine direkte wissenschaftliche Unterstützung ist der Bereich der religiösen Überzeugungen und der religiösen Erfahrungen, hier speziell die Auffassung, dass die bekannte Wirklichkeit auf ein — letztlich nicht genau beschreibbares — höheres Wesen zurückgeht, das mit unterschiedlichsten Namen Gott genannt wird. [Anmerkung: An dieser Stelle die Wortmarke ‚Gott‘ zu benutzen ist ein eher hilfloses Unterfangen, da in den verschiedensten Religionen und Kulturen ganz verschiedene Wortmarken benutzt werden, von denen nicht ohne weiteres klar ist, was sie meinen und ob sie von daher miteinander überhaupt vergleichbar sind. Die großen religionswissenschaftlichen Untersuchungen legen allerdings die Hypothese nahe, dass zumindest die großen Religionen wie Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam (mit jeweils vielen Spielarten) letztlich einen gemeinsamen Gottesbegriff haben, sofern es darum geht, wie in diesen Religionen Gott von den einzelnen Menschen erfahren wird. Im Glauben versuchen jene Menschen, die sich ‚Gläubige‘ nennen, diesem höchsten Wesen ‚Gott‘ Rechnung zu tragen, im Alltag und speziell im Lichte wissenschaftlicher Überzeugungen ist dann oft wenig oder gar nicht klar, wie sich denn die bekannte Wirklichkeit (einschließlich des Menschen selbst) zu dem höchsten Wesen des Glaubens verhält.]

An dieser Stelle versucht der Artikel von Fink einen Antwort zu geben für den speziellen Bereich physikalische Sicht des Universums auf der einen Seite und christlicher Glaube an einen Schöpfergott andererseits.

II. Fink – Denkrahmen

Der Artikel ist gut lesbar geschrieben und stellt ziemlich umfassend die Fakten zusammen, die die heutige Physik zur Beschaffenheit, Entstehung und Dynamik des physikalischen Universum zusammengetragen hat, ohne dabei in technische Details abzugleiten. Von daher ist es sicher ein Gewinn, wenn jemand diesen Artikel liest.

Im Artikel zeigen sich dabei grob zwei Argumentationslinien: (i) Die physikalischen Fakten, die das heutige Bild des physikalischen Universums konstituieren, und (ii) die Ansatzpunkte für eine Deutung der physikalischen Fakten im Lichte eines vorausgesetzten christlichen Glaubens an ein bestimmtes Bild eines Schöpfergottes.

A. Physikalische Fakten

Als physikalische Fakten werden z.B. genannt die räumliche Ausdehnung des Universums; eine Größe, die die alltägliche Vorstellung von räumlichen Verhältnissen jenseits alles Vorstellbaren sprengen. Dazu die zeitliche Dauer der ganzen Prozesse, die auch sowohl im ganz Großen von Milliarden Jahren sich der Vorstellung entzieht wie auch im ganz Kleinen, zu Beginn der Entstehung des bekannten Universums; hier gerät man in Größenordnungen von 10^-44 Sekunden. Die Präzision der Feinabstimmung der bekannten physikalischen Parameter, damit das Universum genau die heute bekannte Struktur und Eigenschaften angenommen hat, und nicht nirgend eine der unendlich vielen anderen Möglichkeiten.[Anmerkung: So nennt Fink z.B. für die Abstimmung der dunklen Energiedichte zur gravitativen Energiedichte eine Größenordnung von 1:10^60, für das Verhältnis von Gravitation zur elektromagnetischen Kraft eine Genauigkeit von 1:10^40]. Dazu kommen Erkenntnisse zu den Besonderheiten der Erdchemie, wie z.B. die außergewöhnlichen Fähigkeiten von Kohlenstoff im Vergleich zu anderen chemischen Verbindungen (wie z.B. Silizium), sowie die vielseitigen Eigenschaften des Wassermoleküls. Er verweist ferner auf die das Leben begünstigende Konstellation des Erd-Sonnensystems, auf die geschützte Position des Erd-Sonnensystems innerhalb der Milchstraße, sowie auf die Funktion des Magnetfeldes, und einiges mehr.

Obgleich Fink das Phänomen des biologischen Lebens mit seiner komplexen Evolutionsgeschichte weitgehend ausblendet, bieten schon die genannten physikalischen Fakten im engeren Sinne viele Ansatzpunkte, um Deutungen vornehmen zu können.

B. Physik und Gott

Während Fink im Falle der Physik ansatzweise die historische Entstehung der physikalischen Bilder anspricht, vermisst man diese im Fall der Auffassung von Gott als Schöpfer. Ohne historische Herleitung aus der Geschichte des christlichen Glaubens stellt Fink einfach fest, dass das mit der Wortmarke ‚Gott‘ Gemeinte einen freien Willen habe, rational denke und sich zuverlässig verhalte. Dies sei die tiefere Ursache dafür, dass das Universum für die menschlichen Forscher gesetzmäßig erscheine, d.h. man kann es mit rationalen Mitteln erforschen. Die hier zur Verwendung kommenden Begriffe (freier Wille, rational, zuverlässig) sind Begriffe, die im Kontext der menschlichen Welterfahrung eine gewisse — wenngleich vage — Bedeutung haben. Wendet man sie aber ohne weitere Erläuterungen direkt auf ein unbekanntes Etwas an, das irgendwie hinter und in dem ganzen Universum stehen soll, ist es nicht direkt nachvollziehbar, was diese Begriffe in diesem umfassenden Kontext bedeuten können.

Zusätzlich zu der allgemeinen Verstehbarkeit des physikalischen Universums verweist Fink auch auf jene Momente hoher Unwahrscheinlichkeit, die bei der Wahl der Parameter am Werk zu sein scheinen und die er als Argument für eine mögliche Zielgerichtetheit der ganzen Entwicklung des Universums sieht, die er wiederum als Argument für den als rationalen zuverlässigen Schöpfer mit freiem Willen angenommen hatte. Dieser Schöpfergott hat also zusätzlich noch einen Plan.

III. Kritische Anmerkungen

A. Gottesbilder

In diesem Blog gibt es mehrere Beiträge, die sich mit dem Problem beschäftigt haben, die Bedeutung der Wortmarke ‚Gott‘ in ihrer historischen Vielfalt klären zu können.

Schränkt man die Frage ein auf die christliche Tradition, so hat man es immerhin mit mittlerweile fast 2000 Jahren Interpretationsgeschichte zu tun, dazu die jüdische Vorgeschichte und die vielfältigen Wechselwirkungen mit den umgebenden Gesellschaften und Kulturen im Laufe der Jahrhunderte. Dazu kommen die diversen Aufspaltungen der christlichen Tradition in Traditionen mit unterschiedlichen Schwerpunkten (West zu Ost, Katholisch und Protestantisch, dazu viele Unterarten). In dieser gewaltigen und vielschichtigen Tradition zu sagen, was die christliche Meinung zum Schema Schöpfergott sei, erscheint fast unmöglich. Natürlich kann man sich auf einzelne Autoren beschränken oder auf speziell ausgezeichnete Lehrmeinungen, aber inwieweit diese dann als die christliche Auffassung gelten können, erscheint doch eher fraglich.

Geht man auf die historisch frühen Quellen zurück, zu den sogenannten heiligen Schriften des Neuen Testamentes, das vielfältig Bezug nimmt auf das Alte Testament, so wird die Lage nicht unbedingt einfacher. Zeigen doch gerade die 2000 Jahre andauernden Interpretationsversuche, dass es offensichtlich keine zwingend eindeutige Interpretation zu geben scheint, wie sonst hätte es sonst zu den vielen unterschiedlichen Interpretationen kommen können.[Anmerkung: Untersucht man nur die vielfältigen Übersetzungen vom Hebräischen ins Griechische und Lateinische, vom Lateinischen in die vielen Alltagssprachen, vom Griechischen in die vielen Alltagssprachen, dann sieht man schon auf dieser ersten Kodierungsstufe von möglichen Bedeutungen, dass es schon an der Wurzel keine eindeutige Bedeutung gibt.]

Aufgrund der Erkenntnisse zu der Art und Weise wie Sprache funktioniert, wie Menschen Wahrnehmen, Erinnern, Denken und kommunizieren, kann man seit mehr als 100 Jahren immer besser verstehen, warum Texte als solche keine zwingenden Botschaften enthalten können! Es gibt zwar zu allen Zeiten viele Menschen, die das behaupten und glauben, aber die reale Funktion von Sprache und menschlichem Erkennen können solche — oft fundamentalistisch genannten — Auffassungen als grob falsch erweisen.

Für Menschen, die ernsthaft Sicherheit und Wahrheit suchen, sind diese neuen Erkenntnisse beunruhigend; nicht wenige lehnen sie daher ab. Dies hilft aber nicht weiter. Wir müssen uns den Tatsachen stellen, dass unsere Suche nach Wahrheit und Sicherheit nicht so einfach durch Bezug auf irgendeinen Text eingelöst werden kann, und mag er von manchen Menschen als noch so heilig bezeichnet werden.

Menschen, die sich gegen diese neuen Erkenntnisse zur Natur von sprachlichem Verstehen und Verstehen wehren, machen oft nach einen weiteren Fehler: aus der Tatsache der Unmöglichkeit einer direkten absoluten Erkenntnis aus einem Text heraus folgern sie oft, dass es dann ja überhaupt keine Wahrheit geben würde. Dieser weitreichende Schluss folgt aus der Relativierung von Texten und sprachlicher Bedeutung nicht zwingend.

Wenn jemand im Lichte des modernen Wissens die allzu einfache Deutungen sogenannter heiliger Texte in Frage stellt, sie kritisiert, dann bedeutet dies zunächst nur, dass man sich ein paar mehr Gedanken machen muss als bisher, wie man die Wirklichkeit insgesamt deuten kann. Die Kritik an einer nativen und unkritischen Verwendung eines Gottesbegriffes, eines bestimmten, sehr menschlichen Bildes von einem Schöpfergott, muss daher nicht notwendigerweise heißen, dass man damit das damit Gemeinte (eine irgendwie geartetes Etwas, was hinter und in allem steckt/ wirkt/ …) als solches in Frage stellt oder zerstört. Wenn es tatsächlich so etwas wie ‚Gott‘ geben sollte (mag man es nun glauben oder nicht), dann würde die Existenz und die Art und Weise dieses Gotes mit Sicherheit nicht davon abhängen, ob ein paar Exemplare des homo sapiens darüber sprechen, und wie sie darüber sprechen. Allerdings kann es für uns, die wir uns als Exemplare des homo sapiens ansehen, möglicherweise einen Unterschied machen, ob und wie wir über dieses Thema reden.

B. Bilder der Welt

Aktueller Denkrahmen unter Berücksichtigung von empirischen Wissenschaften und Philosophie
Aktueller Denkrahmen unter Berücksichtigung von empirischen Wissenschaften und Philosophie

Bei der kritischen Diskussion des Artikels von Fink spielen eine Reihe von Faktoren eine Rolle. Einige im Zusammenhang mit der Verwendung der Wortmarke ‚Gott‘ wurden im vorausgehenden Abschnitt angesprochen. Weitere sollen jetzt hier angesprochen werden. Das Schaubild oben kann dazu vielleicht hilfreich sein.

1) Evolution

Aus den letzten ca. 100 Jahren konnten wir lernen, dass wir Menschen Teil eines Entwicklungsprozesses sind, die die Biologen als Evolution des biologischen Lebens bezeichnen. Ferner konnte die Struktur und die Entwicklung des bekannten physikalischen Weltalls soweit aufgehellt werden, dass auch das Zusammenspiel von Sternentwicklung und Entstehung von biologischem Leben auf der Erde viele neue, tiefe Einsichten ermöglicht hat.

2) Empirisches Wissen

Dies alles wurde möglich, weil die Menschen gelernt haben, wie man Bilder von der Welt in einer methodisch kontrollierten Weise so konstruiert, dass sie auf transparenten, reproduzierbaren Messoperationen aufbauen. Für die Interpretation dieser Messwerte wird eine mathematische Sprache benutzt, die zusammen mit einer formalen Logik die Möglichkeit bietet, Regelmäßigkeiten und Strukturen zu formulieren, sofern sie in der Gesamtheit der Messwerte vorliegen. Die Geltung der formalen Strukturen ist hier entscheidbar zurückgebunden an die Messwerte.[Anmerkung: Diese Rückbindung ist zentral, da die mathematische Sprache es erlaubt, beliebig viele Regelmäßigkeiten und Strukturen zu formulieren. Ob eine von diesen möglichen Strukturen tatsächlich etwas beschreibt, was mit der umgebenden Wirklichkeit korrespondiert, können nur vorzeigbare Messwerte entscheiden. Diese Form von Wissens nennt man gewöhnlich empirisches Wissen oder eine empirische Theorie.]

3) Wirklichkeit und Mathematik

Die Entwicklung und Nutzung von empirischem Wissen stellt viele neue Fragen zur Natur des menschlichen Erkennens, die weitgehend noch ungeklärt sind. So ist es eine bemerkenswerte Tatsache, dass die umgebende Wirklichkeit sich mit den Mitteln einer extrem einfachen mathematischen Sprache und formalen Logik beschreiben lässt.[Anmerkung: Man kann zwar mit der mathematischen Sprache sehr komplexe Ausdrücke aufbauen, doch die Sprache selbst, mit der dies geschieht, ist in ihren Grundelementen extrem einfach. Es ist keine andere Sprache bekannt, die genauso einfach oder gar noch einfacher ist.] Bislang ist nicht zu sehen, dass es irgendein Phänomen in der erfahrbaren Welt geben könnte, was sich mit dieser mathematischen Sprache nicht beschreiben lässt, es sei denn, das Phänomen selbst, das beschrieben werden soll, ist ‚in sich‘ nicht klar.

4) Virtualität und Wahrheit

Ferner wissen wir heute, dass unser bewusstes Wissen, ein funktionierendes Gehirn voraussetzt, das selbst keinen Kontakt mit der realen Welt hat. Dennoch produziert es aufgrund von Sinnesdaten von außerhalb und von innerhalb des Körpers — und im Zusammenspiel mit einem Gedächtnis — beständig virtuelle Bilder einer Welt da draußen so, dass wir in unserem Bewusstsein die virtuellen Bilder als real erleben und als real deuten. Unsere menschliche Erkenntnis ist also ein als real erlebtes virtuelles Bild einer Welt ‚da draußen‘, die wir tatsächlich niemals direkt erleben werden. Wie können wir dann jemals erkennen was wahr ist, wenn Wahrheit verstanden würde als die Übereinstimmung von etwas Gedachtem mit etwas Realem?

Diese Frage springt sofort über zu dem zuvor eingeführten Konzept des empirischen Wissens. Ist es doch gerade ein Dogma des empirischen Wissens, dass dieses sich direkt mit der realen, objektiven Welt beschäftige im Gegensatz zu anderen Wissensformen. Wenn der Mensch nun grundsätzlich gar keinen direkten Kontakt zur sogenannten realen Wel haben kann, wie kann es dann empirische Wissenschaft geben?

Die Antwort ist relativ einfach. Unser bewusstes Wissen ist zwar quasi Wissen aus zweiter Hand, d.h. von einem Gehirn generiert, das im Körper fest sitzt, aber von all den Phänomenen des Bewusstseins (PH), die dieses Gehirn erzeugt, gibt es eine echte Teilmenge von solchen Phänomenen PH_EMP, die aus jenen sensorischen Erregungsmustern gewonnen werden, die von den externen Sensoren (Augen, Ohren, Tastorgane, …) gewonnen werden. Für uns sind sie zwar abgeleitete, virtuelle Ereignisse, aber sie korrespondieren mit Ereignissen in der unterstellten Außenwelt. Sofern Wissenschaftler empirische Messprozesse vereinbaren, gibt es Messprozesse, die unabhängig vom Denken eines einzelnen Menschen gestartet und gestoppt werden können. Diese Messprozesse liefern Ereignisse, die mit externen Sinnesorganen registriert werden können, und zwar von allen, die diese Messprozesse wiederholen. Im Bewusstsein der beteiligten empirischen Wissenschaftler haben dieses Messergebnisse zwar weiterhin nur den Status von virtuellen Ereignissen, generiert vom Gehirn, aber diese Ereignisse lassen sich mit Messprozessen wiederholen, die alle Beteiligten in hinreichend gleicher Weise erleben können. Durch diese spezielle Maßnahme können Menschen ihr virtuelles Gefängnis methodisch partiell öffnen; nicht wirklich, aber für eine  empirische Form des Erkennens praktikabel. Wir haben also die echte Teilmenge der empirischen Phänomene PH_EMP c PH, die sich partiell mit Ereignissen in der angenommenen Außenwelt (W) zusammen mit anderen parallelisieren lässt.[Anmerkung: Es ist erstaunlich, wie lange die Menschen als homo sapiens gebraucht haben, bis sie diesen ‚Trick‘ entdeckt haben. Allerdings, selbst heute (2017) scheint es noch genügend viele Menschen zu geben, die diesen Zusammenhang immer noch nicht verstehen (selbst solche, die sich empirische Wissenschaftler nennen).]

Das Potential des empirischen Wissens für das Erkennen und Verstehen der umgebenden Welt ist enorm, und seine Auswirkungen neben dem reinen Verstehen im Bereich der technologischen Anwendungen erscheint schon jetzt schier unendlich.

5) Schwache Akzeptanz von Empirischem Wissen

Nicht wirklich geklärt erscheint das Verhältnis des empirischen Wissens zu den anderen Wissensformen, speziell auch zu den alten religiösen Überzeugungen, die für die meisten auch ein Stück Welterklärung waren bzw. noch sind.

In dieser Differenz von realen Erklärungsleistungen auf der einen Seite (bei aller Begrenztheit) und den vielen unwissenschaftlichen Bildern der Welt, liegt eines der vielen Probleme der Gegenwart. Der Anteil der Menschen, die empirisches Wissen nicht verstehen oder gar offen ablehnen, liegt in Ländern mit hoher Technologie aufgrund von offiziellen Untersuchungen bei ca. 20 – 30\%; betrachtet man aber seine eigene Umgebung, einschließlich der Menschen mit mindestens einem akademischen Abschluss, dann kann man den Eindruck gewinnen, dass es vielleicht umgekehrt nur 10-20\% der Menschen sind, die überhaupt verstehen, was empirisches Wissen ist. Dies ist eine sehr beunruhigende Zahl. Damit ist nicht nur der bisherige Wissensstand langfristig bedroht, sondern die Ansatzpunkte für eine Versöhnung von empirischem und nicht-empirischen Wissen werden noch schwerer.

6) Philosophie des Empirischen Wissens fehlt

Um die Problemstellung noch zu verschärfen, muss man auch auf den Sachverhalt hinweisen, dass es selbst innerhalb des empirischen Wissens große, ungelöste Probleme gibt. Dies resultiert aus der historischen Entwicklung, dass zwar mit Begeisterung immer mehr Phänomene der umgebenden Welt untersucht worden sind, das daraus resultierende empirische Wissen wurde aber nicht in allen Fällen systematisch zu einer vollen empirischen Theorie ausgebaut. Vielleicht muss man sogar sagen, dass die Physik aktuell die einzige empirische Disziplin zu sein scheint, die nicht nur vollständige empirische Theorien entwickelt hat, sondern die ihre eigene Entwicklung der Tatsache verdankt, dass ganze Theorien kritisiert und dadurch weiter entwickelt werden konnten.

Betrachtet man Gebiete wie z.B. die Gehirnwissenschaft, die Psychologie, die Soziologie, die Wirtschaftswissenschaften, die Biologie, dann muss man allerdings berücksichtigen, dass der wissenschaftliche Gegenstand dieser Disziplinen (sofern sie sich als empirische Disziplinen verstehen wollen), ungleich komplexer ist als die Physik. Der wissenschaftliche Gegenstand der Physik erscheint komplex, da wir hier bislang die meisten vollen Theorien haben, aber tatsächlich ist das Gegenstandsgebiet der anderen genannten Disziplinen unendlich viel komplexer. Dies resultiert aus der unfassbaren Komplexität des Phänomens biologisches Leben, das sowohl in den Grundformen der einzelnen biologischen Zellen, wie dann erst recht in der Interaktion von Billionen (10^12) von Zellen in einem einzelnen Organismus wie einem homo sapiens vorliegt; dazu kommen die Wechselwirkungen zwischen allen biologischen Lebensformen, nicht nur beim homo sapiens, der die Erde zur Zeit auf vielfache Weise mit sekundären komplexen Artefakten überzieht, die dynamisch sind.

7) Empirisches Wissen und Gott

Wenn man all dies weiß, wenn man sowohl um die Begrenztheit des empirischen Wissens weiß und um die Problematik der rechten Verwendung der Wortmarke ‚Gott‘, dann stellt sich die Frage, wie kann ein Mensch in der heutigen Welt noch an ein — wie auch immer geartetes — ‚höheres Wesen in und hinter allem‘ glauben? Kann man es überhaupt noch? Und falls ja, wie?

Hält man sich die Vielfalt der religiösen Anschauungen und Praktiken vor Augen, die es im Laufe der letzten Jahrtausende gegeben hat und ganz offensichtlich immer noch gibt, dann könnte man im ersten Moment völlig entmutigt werden angesichts dieser Fülle: was davon soll jetzt sinnvoll und richtig sein?

Die modernen Religionswissenschaften und vergleichenden Kulturwissenschaften haben einiges getan, um Ähnlichkeiten und Unterschiede in diesem Meer der Phänomene heraus zu arbeiten. Sehr beeindruckend fand ich das Buch von Stace (1960), der auf der Basis von vielen vergleichenden Untersuchungen eine sehr detaillierte philosophische Analyse durchgeführt hat, die sich auf den Kern religiöser Überzeugungen fokussiert hat, auf die religiösen Erfahrungen.[Anmerkung: Siehe dazu die Diskussion dieses Buches, Teil 3]

Seine Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass es bei aller Verschiedenheit der religiösen Ausdrucksformen und Formulierungen durch alle Zeiten hindurch und quer zu allen religiösen Formen so etwas wie einen gemeinsamen Erfahrungskern zu geben scheint, der für den Menschen als Menschen charakteristisch scheint, und der nicht an irgendwelche Texte oder lokale Traditionen gebunden ist. Dass es dennoch zu unterschiedlichen Formulierungen und unterschiedlichen Interpretationen kommen konnte liegt in der Analyse von Stace (und auch im Lichte dieses Textes; siehe die vorausgehenden Abschnitte), einzig daran, dass der Mensch nicht nur konkrete Sinneserfahrungen hat, sondern zugleich immer auch von seinem angelernten Wissen aus diese Sinneserfahrungen interpretiert. Unser Gehirn arbeitet so, dass es uns (was eigentlich sehr gut ist) alle unsere sinnlichen Erfahrungen sofort im Lichte der gespeicherten Erfahrungen interpretiert. Da die Menschen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Dinge gelernt haben, dazu verpackt in eine der vielen zehntausenden (oder mehr) Sprachen, erscheinen die gleichen Grunderfahrungen als tausende unterschiedliche Erfahrungen, obgleich sie — so scheint es — letztlich eine gleiche Grundstruktur haben.

Sollten diese Untersuchungen und Überlegungen stimmen, dann wären sogenannte religiöse Erfahrungen keine erfundene Spezialitäten von irgendwelchen abnormen Menschen, sondern gehören zur Grundstruktur, wie ein homo sapiens sich selbst und die ganze Welt erfährt. Einen grundsätzlichen Widerspruch zu empirischen Wissenschaften kann es dann nicht geben, da ja die empirischen Wissenschaften nicht grundsätzlich die Erfahrungen von Menschen verneinen, sondern sich nur für bestimmte — nämlich die empirischen — Untersuchungen auf einen Teilbereich der verfügbaren virtuellen Phänomene des Bewusstseins beschränken.

Interessant ist, dass die empirischen Wissenschaften, obwohl sie sich methodisch beschränken, indirekt einen fundamentalen Beitrag zur Möglichkeit von trans-empirischen Erfahrungen geleistet haben. Die fortschreitenden Erkenntnisse im Bereich der Struktur der Materie (Atomphysik, Kernphysik, Quantenphysik, …) führen uns vor Augen, dass der alltägliche Eindruck der Abgeschlossenheit und Endlichkeit der menschlichen Körper ein — womöglich schwerwiegender — Trugschluss ist. Die scheinbar so abgeschlossenen endlichen menschlichen Körper bestehen ja nicht nur aus Billionen von eigenständigen Zellen, die eigenständig miteinander kommunizieren, sondern diese Zellen bestehen ja aus chemischen Molekülen, diese aus Atomen, und diese — wie die Physik uns lehrt — aus komplexen subatomaren Teilchen und Interaktionsverhältnissen, die permanent in Wechselwirkung stehen zu allem, was sich in einem Umfeld befindet, das viele Lichtjahre betragen kann. Hier stellen sich viele — weitgehend ungeklärte — Fragen.

Eine dieser ungeklärten Fragen betrifft das Verhältnis von Bewusstsein und diesen subatomar vorhandenen Ereignissen. Wieweit können sich diese Ereignisse direkt im Bewusstsein niederschlagen?

Eine andere Frage betrifft die Erfahrbarkeit von etwas, das wir ‚Gott‘ nennen. Durch alle Zeiten und Kulturen berichten Menschen von spezifischen Erfahrungen, die für diese Menschen über die Erfahrungen des Alltags hinaus weisen, ohne dass sie dafür plausible Erklärungen liefern können. Fakt ist nur, dass im Prinzip jeder Mensch diese Erfahrungen anscheinend machen kann (auch Tiere?). Ein Widerspruch zu empirischen Wissen muss hier nicht bestehen, im Gegenteil, die empirischen Wissenschaften liefern bislang die stärksten Argumente, dass dies im Prinzip nicht auszuschließen ist. Es fehlen allerdings bislang jegliche neue Deutungsmodelle. Die alten Deutungsmodelle sollte man eventuell vorläufig mit einem Fragezeichen versehen; möglicherweise versperren sie den Weg zu dem mit der Wortmarke ‚Gott‘ Gemeintem.

ZITIERTE QUELLEN


[Fin17] Alexander Fink. Kosmologie und der Glaube an Gott. Brennpunkt Gemeinde, 19(1):1–15, 2017.
[Sta60] W.T. Stace. Mysticism and Philosophy. Jeremy P.Tarcher, Inc., Los Angeles, 1st. edition, 1960.

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DAS GEHEIMNIS DES GEISTES – GEHEIMNIS DES HOMO SAPIENS – Memo zur Philosophiewerkstatt vom 30.April 2017

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 1.Mai 2017
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Entsprechend der Einladung zur Philosophiewerkstatt  fand am 30.April 2017 nach 3-monatiger (krankheitsbedingter) Unterbrechung wieder eine Philosophiewerkstatt statt.

THEMENSTELLUNG

Die ursprüngliche Themenstellung für den 30.April Woher kommen die Bilder, die wir von uns haben? Wie weit können wir Ihnen trauen? klang konventionell, nicht uninteressant, aber auch nicht unbedingt sehr innovativ. In der Sitzung gewann dann das Thema immer mehr Brisanz und führte an zentrale Einsichten zum homo sapiens, zum Menschen, zum ‚Geist‘, heran. Der Verlauf der Sitzung zeigte wieder einmal mehr, welch innovative, kreative Kraft Gespräche haben können, wenn jeder in einer vertrauensvollen Atmosphäre das aussprechen kann, was er erlebt, welche Idee aufsteigen, wie sich Ideen wechselseitig anregen und verzahnen können.

IMPULSE ZU BEGINN

Einleitend gab es vier Ideen/ Bilder/ Sichten auf den homo sapiens, die quasi vier Koordinaten sichtbar machten, innerhalb deren der homo sapiens in seinem Erkennen der Welt und sich selbst vorkommt, sich ereignet.

KOORDINATE KÖRPERWELT

Beispiele von Situationen, in denen mehrere Menschen an einem gemeinsamen Ort vorkommen können
Beispiele von Situationen, in denen mehrere Menschen an einem gemeinsamen Ort vorkommen können

Makro-physikalisch kann man von einer Raumstruktur mit Objekten sprechen, in der unter anderem auch Exemplare der Lebensform homo sapiens vorkommen können. Dies kann asynchron in dem Sinne geschehen, dass viele Menschen auf der Straße, öffentlichen Plätzen, in Gebäuden herumlaufen, ohne einen inneren Bezug zu den anderen Personen zu haben, die zeitgleich am gleichen Ort vorkommen. Es kann aber auch synchron sein, so dass das Verhalten der einen Person über Vorgänge im Innern der Person mit dem Verhalten einer anderen Person auf spezifische Weise koordiniert ist. Typische Situationen für synchrones Verhalten sind Spiele, gemeinsam Musik machen, Tanzen, usw.. Ambivalent sind Situationen wie z.B. gemeinsames Essen: beim Essen als Routine können Menschen im gleichen Raum, am gleichen Tisch sitzen, und doch ‚geistig‘ ganz woanders sein, man kann sich aber auch bewusst zum Essen treffen, es gemeinsam genießen, und dabei miteinander sprechen.

Die Vielfalt der Situationen, in denen Menschen mit anderen gemeinsam vorkommen können, ist ungeheuerlich groß. Ein besonderes Augenmerk richten wir auch immer auf das Verhalten, was seit tausenden von Jahren in allen Kulturen und Religionen Menschen – wenn auch oft mit unterschiedlichen Worten – Meditation genannt haben und auch heute noch nennen. Aufgrund der langen und vielschichtigen Geschichte zur Meditation gibt es keine einheitlich einfache Definition dieses Begriffes. Aber Meditation scheint nicht tot zu kriegen. Auch heute noch, nach vielen, vielen tausenden von Jahren spricht man von Meditation, und es scheint, dass Meditation auch außerhalb der etablierten Religionen und Kirchen einzusickern beginnt in alltägliche Abläufe; selbst eine neue Form von Kommerzialisierung findet statt.

KOORDINATE INNENWELT

Korrespondenz von Außenwelt und Innenwelt am Beispiel der bewussten Empfindungen
Korrespondenz von Außenwelt und Innenwelt am Beispiel der bewussten Empfindungen

Wie jeder Mensch selbst überprüfen kann, gehört zu jedem menschlichen Körper ein Innenleben, das sich für den einzelnen zuerst und vor allem in Form seines bewussten Erlebens manifestiert. Im Alltag verbindet sich für einen Menschen jede Situation mit verschiedenen Sinnesempfindungen, auch Empfindungen von körperlichen Zuständen, dazu weitere komplexe Empfindungen wie z.B. Veränderungen, Erinnerungen, Vorstellungen über Alternativen; dazu diverse Bedürfnisse, Emotionen, Gefühle, Stimmungen. Die Anzahl und die Formen dieser inneren Empfindungen sind anscheinen unendlich. Zugleich gibt es bestimmte Muster, Strukturen die immer wieder auftreten, die alle diese unterschiedliche Empfindungen zu begleiten scheinen.

Seitdem es Menschen der Lebensform homo sapiens gibt – die Wissenschaft spricht von ca. 200.000 Jahren, Ursprung in Afrika – hat der Mensch solche Empfindungen und bis heute dürfte die überwiegende Mehrzahl der Menschen bis zu ihrem Tode diese Empfindungen nehmen als ‚die Welt selbst‘.

KOORDINATE KÖRPER – GEHIRN

Zentrale Rolle des Körpers -- speziell des Gehirns -- bei der Transformation der Außenwelt in eine bewusste Innenwelt
Zentrale Rolle des Körpers — speziell des Gehirns — bei der Transformation der Außenwelt in eine bewusste Innenwelt

Erst seit wenigen Jahrzehnten, vielleicht seit ca. 100 Jahren, konnte ein Teil der Menschheit lernen, dass die Welt der bewussten Empfindungen nicht isoliert ist und auf keinen Fall identisch ist mit der realen Welt; keine 1-zu-1 Abbildung!

Die Entdeckung dass der menschliche Körper – und auch das Gehirn – aus einzelnen Zellen besteht, ermöglichte eine neue Sicht auf den Körper und seine internen Abläufe. Man erkannte immer mehr, dass das bewusste Erleben nicht losgelöst ist von den Vorgängen im Körper, noch spezieller: stark korreliert erscheint mit den physikalisch-chemischen-molekularbiologischen Prozessen in den Milliarden von Zellen, die das Gehirn und das ganze Nervensystem bilden. Die Frage nach den neuronalen Korrelaten des Bewusstseins bildet mittlerweile sogar einen riesigen Forschungszweig in den Wissenschaften.

Wissend um diesen grundlegenden Zusammenhang [Anmerkung: der bis heute allerdings noch nicht wirklich befriedigend geklärt werden konnte] ermöglicht dies einen ganz neuen Blick auf die mögliche evolutionäre Rolle des homo sapiens nicht nur auf der Erde, sondern für den ganzen Bereich des heute bekannten Universums.

Während das physikalische Universum ohne die Exemplare des biologischen Lebens ein Ereignis ist, das zwar passiert, aber ‚rein für sich ist‘, ohne jede Resonanz außerhalb des Ereignisses selbst (sozusagen ein kognitives schwarzes Loch), kommt mit dem Auftreten des homo sapiens (ca. 13.8 Mrd Jahre nach dem sogenannten Big Bang) etwas völlig Neuartiges ins Spiel. Der homo sapiens verfügt über die revolutionäre Fähigkeit, die physikalischen Eigenschaften des Universums durch Transformationsprozesse im Körper in eine virtuelle Welt von 1-0-Signalereignissen zu transformieren, die Aspekte des physikalischen Universums damit in jedem einzelnen Individuum im Mikromaßstab modellhaft neu entstehen zu lassen. Der Körper mit Gehirn und Bewusstsein überführt damit die physikalische – erste – Welt in eine virtuelle – zweite – Welt, in der sich die Eigenschaften der ersten Welt widerspiegeln, aber nicht nur.

In der zweiten virtuellen Welt im Innern des homo sapiens geschieht eine zweite Revolution: die internen Verarbeitungsprozesse des Gehirns — vor allem in jenen Bereichen, die man Gedächtnis nennt – werden die sensorischen Einzelereignisse in vielfacher Weise transformiert, abstrahiert, miteinander verrechnet, assoziiert und – das ist das Revolutionäre – werden aktuelle Ereignisse von einem Jetzt über die Speicherung mit aktuellen Ereignissen aus einem späteren Jetzt miteinander vergleichbar. Damit kann das Gehirn des homo sapiens das Phänomen von Veränderung wahrnehmen und sichtbar machen. Das ist die Entdeckung der Zeit und damit die Entdeckung von Entwicklung und möglicherweise von einer Gerichtetheit von Entwicklung.

Während also das physikalische Universum sich ‚vor sich hin ereignet‘ und ’sich selbst‘ keinerlei Gesetzmäßigkeiten ‚bewusst‘ ist — es findet einfach nur statt –, ermöglicht die biologische Lebensform des homo sapiens eine Transformation der physikalischen Ereignisse in einer Weise, die das Innere des physikalischen Universums sichtbar macht, und damit die Möglichkeit bietet, in seine Abläufe einzugreifen. Die zweite virtuelle Welt im Innern des homo sapiens ermöglicht nicht nur die Repräsentation gewisser Eigenschaften der ersten physikalischen Welt, sondern neben der Sichtbarmachung der Veränderungen kann das Gehirn des homo sapiens in der virtuellen Welt auch spielen: es kann Varianten spielerisch ausprobieren, die es so in der ersten physikalischen Welt bislang nicht gibt. Der homo sapiens kann dadurch grundsätzlich die vorfindliche erste physikalische Welt modulieren, verändern, und damit auch sich selbst als Teil der physikalischen Welt. Dies ist nicht nur einfach revolutionär, es ist eigentlich ungeheuerlich, es ist ein zweiter Big Bang: nach der Entstehung des ersten physikalischen Universums (auf eine Weise, die wir bis heute noch nicht ganz verstehen), entstand mit dem homo sapiens ein zweites virtuelles Universum, das das erste physikalische Universum in sich aufsaugen kann und zugleich in zuvor unvorstellbarer Weise verändern kann.

Das Wort ‚Geist‘ ist durch viele tausend Jahre Philosophiegeschichte zwar mehrfach belastet, aber als Metapher könnte – und müsste man? – vielleicht sagen, dass das erste physikalische Universum parallel in ein zweites (virtuelles) Universum des Geistes transformiert wurde (und wird), das das erste physikalische Universum als Spielmaterial benutzt.

Allerdings, ein weiterer Umstand muss noch bedacht werden. Ein einzelnes Exemplar eines homo sapiens, ein Individuum, ein einzelner Mensch, ist mit seinem Innenleben, mit seinen bewussten Empfindungen, mit seiner spezifischen zweiten virtuellen Welt im Kopf, isoliert. Was immer in einem einzelnen Menschen geschieht, andere Menschen können dies nicht wissen. Die inneren Prozesse sind nicht direkt einsehbar; sie sind privat.

KOORDINATE SPRACHE

Das Bindeglied zwischen Menschen ist die Sprache, deren physikalischen Ausdrucksmittel in Beziehung gesetzt werden zu möglichen internen Gegebenheiten des Bewusstseins
Das Bindeglied zwischen Menschen ist die Sprache, deren physikalischen Ausdrucksmittel in Beziehung gesetzt werden zu möglichen internen Gegebenheiten des Bewusstseins

Diese inhärente Privatheit jedes einzelnen Exemplars eines homo sapiens ist aber, wie schon die ersten beiden Koordinaten Körperwelt und Innenwelt andeuten, kein unüberwindlicher Zustand. Es gibt nicht nur die kontinuierliche Transformation von Ereignissen der ersten physikalischen Welt in die innere virtuelle Welt, sondern es gibt auch die Möglichkeit, dass das Gehirn auf vielfältige Weise auf die Zustände des Körpers einwirken kann, und indirekt über die Körperzustände auch in die Zustände der makro-physikalischen Körperwelt.

So kann ein Mensch sowohl Körperbewegungen erzeugen wie auch durch Körperwegungen die Luft zum Schwingen bringen, wodurch dann das möglich wird, was wir Sprache nennen. Durch dieses Wechselspiel zwischen Transformation von Außen nach Innen und von Innen nach Außen besteht die grundsätzliche Möglichkeit, dass Menschen sich auf bestimmte Laute einigen, um dann mit diesen Lauten Bezug zu nehmen zu irgendwelchen Elementen, die im virtuellen Erfahrungsraum repräsentiert werden. Diese Elemente durch Bezug bilden dann das, was gewöhnlich Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken genannt. Je klarer sich diese im Bezug ausgewählten Elemente mit Eigenschaften der ersten physikalischen Welt in Verbindung bringen lassen, um so klarer ist die intendierte Bedeutung. Je schwieriger eine solche Bezugnahme zwischen verschiedenen Individuen ist – z.B. im Fall von individuellen Empfindungen, die im Körper selbst entstehen (z.B. Hunger, Durst), nicht hereintransformiert von der Außenwelt –, desto schwieriger ist eine Bedeutungsklärung.

Grundsätzlich gilt allerdings, dass jedes sprachliches Ereignis, sofern es mit einem Bedeutungsanspruch daherkommt, durch diesen Bedeutungsanspruch auf interne Prozesse des Sprechers verweist, die direkt nicht zugänglich sind. Es ist also immer wichtig, zu klären, was der Sprecher tatsächlich meint. Dies ist allemal aufwendig und anstrengend.

Im Alltag haben sich viele Abläufe eingespielt, die diese grundsätzliche Bedeutungsklärung ‚automatisieren‘, ‚umgehen‘. Aber dies darf nicht darüber hinweg täuschen, dass jegliche Bedeutungsbildung ein Experiment ist, eine Hypothesenbildung, die aufwendige wechselseitige Abstimmungen bedingen. Selbst bei Menschen, die über viele Jahre miteinander eng vertraut sind, kann es zu Missverständnissen kommen. Überraschend ist, wie viele Menschen sich schwer tun, mit diesen Bedeutungsunterschieden und potentiellen Missverständnissen umzugehen. Es scheint, dass den meisten Menschen nicht bewusst ist, wie fragil die Bedeutungszuordnungen in gemeinsam genutzten Sprachen sind.

GESPRÄCHSRUNDE

Das gemeinsame Gespräch verlief dieses Mal in einer anderen Anordnung: direkt nach den Impulsen gab es eine erste Gesprächsrunde, die sich aus einem speziellen Informationsbedürfnis herleitete, und dann, nach der Meditation gab es eine zweite Runde.

Wie man aus den beigefügten Stichworten erkennen kann, gab es grob die Schwerpunkte ‚Interpretation‘, sowohl individuell wie auch im sozialen Kontext, und dann die mögliche Rolle von ‚Emotionen‘ im Kontext.

Stichworte aus dem Gespräch vom 30.April 2017
Stichworte aus dem Gespräch vom 30.April 2017

INTERPRETATIONEN

Das In-der-Welt-sein erzwingt quasi von selbst die Suche nach passenden Erklärungsmustern, nicht nur wegen der Vielfalt, sondern auch wegen der unaufhaltsamen Veränderungen, die überall stattfinden.

Die Warum-Fragen der Kinder manifestieren dieses Bedürfnis nach Interpretationen auf eigene Weise. Für Kinder ist zunächst alles neu und ohne Zusammenhang. Sie brauchen viele Jahre, bis sie mit den wichtigsten Aspekten ihres Lebens vertraut sind und bis sie erste Zusammenhänge sehen können. Das Meiste übernehmen sie wohl von den Menschen ihrer Umgebung. Glück, wenn sie mit Menschen aufwachsen, die ihnen die richtigen Interpretationen liefern.

Man kann dann (leider?) beobachten, dass Kinder mit fortschreitendem Alter ihre Neugierde und ihre Warum-Fragen verlieren. Es scheint eine Verfestigung einzutreten. Durch die (oft zwangsweise) Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen (Familie, Peer-Groups, Kindergarten, Schule, Betriebe, Vereine, …) wird soziale Zugehörigkeit und eine damit verbundene Sicherheit mit einem gewissen Maß an Unfreiheit erkauft: man darf nur dazugehören, wenn man die Ziele, Werte und Anschauungen der jeweiligen sozialen Gruppierungen teilt. Ein abweichendes Verhalten wird überwiegend nicht honoriert, eher bestraft. Man ist nur wer, wenn man innerhalb der Gruppierung die gesetzten Anforderungen erfüllt (politische Parteien, Gewerkschaften, Firmen, Behörden, …).

Dieser starke, alle erfassende Trend ist für die Optimierung von Weltinterpretationen, für die Gewinnung neuer, alternativer Sichten, unfreundlich bis gefährlich. Die wichtigste Errungenschaft des ganzen Universums, die Fähigkeit zu einer kontinuierlichen neuen Sicht der Dinge, wird damit durch die Gesellschaft stark behindert, wenn nicht gar unterbunden und ausgetrocknet. Die Geschichte zeigt zwar unmissverständlich, dass nur jene Gesellschaften überleben bzw. ‚gewinnen‘, die vergleichsweise mehr innere Kreativität, Innovation zugelassen haben, aber die jeweilige Gegenwart zeigt immer wieder, dass diese Erkenntnisse aus der Vergangenheit wenig Wirkung für alltägliche Abläufe haben. Der Mensch hat eine sehr starke Tendenz, sich im Hier und Jetzt einzurichten, Veränderungen zu verteufeln, sich selbst gegenüber dem Ganzen zu überhöhen. Die Vision einer offenen Gesellschaft, die sich im Modell demokratischer Gesellschaften manifestiert, verlangt ein hohes Maß an Bildung aller und an Vertrauen in jeden einzelnen. Ohne Vertrauen keine wirkliche Kommunikation; ohne Kommunikation keine gemeinsamen Bilder einer zukünftigen lebensstarken Gesellschaft.

EMOTIONEN

Die offensichtliche Rolle von Emotionen (Gefühlen, Stimmungen, …) im täglichen Handeln wurde auch immer wieder angesprochen. Es zeigte sich aber, dass eine genauere Bestimmung der jeweiligen Rollen von Emotionen einerseits, Wollen und Wissen/ Erfahrung andererseits nur schwer zu fassen war. Irgendwie geht ohne Emotionen nichts, aber es ist nicht so, dass Emotionen alles erklären. Man kann auch Wollen ohne Emotionen, oder man kann auch Wissen haben ohne Emotionen. Und doch, irgendwie scheinen die Emotionen überall zu sein und sie scheinen unser Handeln entweder ‚zu beflügeln‘, wenn wir uns ‚gut‘ fühlen, oder zu ‚behindern‘, zu ‚hemmen‘, wenn sie ’schlecht‘ sind.

Jemand der andere Menschen als Bedrohung ansieht, sich vor ihnen fürchtet, wird kaum die Begegnung und das Gespräch suchen. Genau dieses aber könnte unter Umständen neue Erfahrungen ermöglichen, die wiederum die Emotionen ändern könnten.

Noch schwieriger wird es bei Emotionen, die unverarbeitet sind, oder gar verdrängt (im Unterbewussten) in einem schlummern. Diese sind da, können wirken, ohne dass es dem/ der Betroffenen bewusst ist, dass er/ sie diese Emotioenn hat und diese z.B. dazu führen, dass man bestimmte Situationen meidet oder, umgekehrt, sie immer wieder sucht.

MEDITATION

Seit mehreren Treffen gibt es während des Treffens, die Möglichkeit, eine Meditation zu machen. Jedem ist dies freigestellt; die Form ist nicht festgelegt; man muss auch nichts berichten. Mittlerweile meditieren alle, je auf ihre Weise; immer wieder und immer mehr berichten auch einzelne von bestimmten Erlebnissen und Einsichten während der Meditation.

Ein Psychotherapeut bemerkte, dass die grundsätzliche Einstellung eines Therapeuten, nämlich die ‚gleich schwebende Aufmerksamkeit‘, eigentlich auch eine gute Einstellung bei der Meditation sein könne (er meditiert bislang nicht). Andere berichteten von der grundsätzlichen Schwierigkeit, sich überhaupt auf eine Meditation einzulassen. Tut man es dann, entdeckt man, dass man in der neuen Ruhe mit einem Male von ganz vielen alltäglichen Erinnerungen, ungelösten Problemen usw. praktisch ‚überrannt‘ wird (Unruhe durch Ruhe). Eine andere Teilnehmerin, die auch ziemlich neu ist im Bereich Meditation, berichtete, dass ihr das gleichmäßige Atmen und das Fokussieren auf den Atem geholfen hat, sich nicht ablenken zu lassen. Sie konnte die Zeit sehr entspannt genießen.

IDEEN FÜR NÄCHSTES TREFFEN

Angesichts der vielen interessanten Gedanken bei diesem Treffen gelang es nicht, in der kurzen verbleibenden Zeit, konkrete Vorschläge für das nächste Treffen zu formulieren. Wir sind so verblieben, dass jede(r) TeilnehmerIn nach Erhalt des Protokolls Vorschläge per Email schicken kann. Entweder ergibt sich daraus dann ein konkreter Vorschlag oder der Koordinator muss halt wieder ran 🙂

Der Termin für das nächste Treffen ist So, der 11.Juni 2017 (und dann nochmals am So 16.Juli 2017; danach Pause bis Oktober).

 

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SPRICHT GOTT MIT CYBORGS? (CHRISTLICHE) SPIRITUALITÄT IM ZEITALTER DER DIGITALISIERUNG DES MENSCHEN – Teil 1

DAS WOR ‚GOTT‘ IN DEN MUND NEHMEN

  1. Heutzutage das Wort ‚Gott‘ in den Mund zu nehmen ist unmittelbar ein Akt potentieller Selbstzerstörung. Angesichts der vielen, fast schon unzählbar vielen, Strömungen, Richtungen, Bewegungen, Vereinigungen und Kirchen, die je auf ihre Weise einen Deutungsanspruch auf das Wort ‚Gott‘ anmelden, und mindestens genauso vielen, die dem Wort ‚Gott‘ jegliche Deutung absprechen, ist jeder individuelle Sprechakt, in dem man die Wortmarke ‚Gott‘ benutzt, genauso vielen Deutungsakten ausgesetzt, wie es verbreitete Meinungen zur Wortmarke ‚Gott‘ gibt.
  2. Als Autor dieses Textes kann ich zwar versuchen, mich formell von jenen Deutungsansprüchen abzugrenzen, die ich aus meinen eigenen Gründen für unpassend oder gar falsch empfinde, dies wird aber engagierte Vertreter anderer Deutungsversuche kaum bis gar nicht beeindrucken. Es ist ein Wesenszug von uns Menschen, dass wir dazu tendieren, das Bild von der Welt, welches wir aktuell in unserem Kopf mit uns herumtragen, zum Maßstab für die Welt zu machen, selbst wenn es vollständig falsch ist. Falschen Bildern in unserem Kopf kann man nicht direkt ansehen, dass sie falsch sind! Sie riechen nicht schlecht, sie verursachen keine direkte Schmerzen, sie kommentieren sich nicht selbst, sie sind da, in unserem Kopf, und lassen uns die Welt sehen, wie diese Bilder die Welt in unserem Kopf vorzeichnen. Solche falschen Bilder in unserem Kopf zu erkennen, sich von ihnen zu befreien, ist eine eigene Lebenskunst, eine Kulturtechnik, die zu beherrschen, selbst für die Besten, immer nur im Modus der kontinuierlichen Annäherung gelingt, wenn überhaupt.
  3. Aufgrund dieses umfassenden Dilemmas überhaupt nichts mehr zu sagen scheint auch keine attraktive Verhaltensweise zu sein. Damit würde man nicht nur sich selbst möglicher Erkenntnisse berauben, nein, man würde auch jenen, die aktuell ein anderes Bild von der Welt haben, die Chance nehmen, im Handeln eines anderen Menschen etwas zu erfahren, was von seinem aktuellen Weltbild abweicht. Das Auftreten einer Differenz zum eigenen Bild, das Sich-Ereignen von etwas Anderem, kann immer eine vorzügliche Gelegenheit sein, auf Unterschiede zum eigenen aktuellen Bild aufmerksam zu werden, der mögliche kleine Anstoß, der zum Nachdenken über sein eigenes aktuelles Bild anregt. Viele Wochen, Monate, gar Jahre oder Jahrzehnte mögen solche auftretenden Differenzen scheinbar keine Wirkung zeigen, aber dann kann dieser magische Moment eintreten, in welchem dem Inhaber eines bestimmten Weltbildes nachhaltig dämmert, dass sein vertrautes Bild – zumindest an dieser einen Stelle – falsch ist. Diese kleine Verschiebung kann andere Verschiebungen nach sich ziehen, und aus vielen solchen kleinen Verschiebungen kann plötzlich eine ganze Lawine ins Rollen kommen, die zu einer völligen Neuausrichtung des eigenen Weltbildes führt. Aus Verfolgern werden plötzlich Anhänger, aus gequälten Menschen werden plötzlich begeisterte Befürworter, aus Gegnern werden Freunde, ein zerstrittenes Land findet zu einer, für unmöglich gehaltenen, neuen Einheit.

DIE ANDERSHEIT IST LEBENSWICHTIG

  1. Ja, es ist dieses Auftreten von Andersheiten, Neuheiten, welche die Voraussetzung dafür sind, dass wir in unserem Wahrnehmen und Deuten darauf aufmerksam werden können, dass unser aktuelles Weltbild möglicherweise unpassend, unangemessen, falsch ist. In starren, scheinbar unveränderlichen Umgebungen ist das kognitive Reizklima zur Entstehung von Andersheit gering; damit auch die Chance für den Inhaber eines Weltbildes sehr klein, die mögliche Fehlerhaftigkeit seines Weltbildes zu bemerken. Erhöht man die Intensität des kognitiven Reizklimas, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass man Unterschiede zum eigenen aktuellen Weltbild bemerkt, dass diese Unterschiede zum Anlass werden, über das eigene Weltbild neu nachzudenken. Die besten Mittel zur Erhöhung des kognitiven Reizklimas sind Vielfalt und Veränderungen.
  2. Beim individuellen Menschen kann man aber kulturübergreifend feststellen, dass er, wenn er nicht in einer Notsituation ist, nicht in einer Anforderungssituation, stark dazu tendiert, die als angenehm empfundene Situation zu stabilisieren, zu konservieren, sie abzusichern. Möglichst nichts verändern. Stillstand; eine Art ‚stehendes Gewässer‘.
  3. Von der Gehirnforschung heute wissen wir, dass das Gehirn ein lebendes, dynamisches Netzwerk von Zellen ist, die hochsensibel auf Veränderungen reagieren. Wird das Gehirn beansprucht, dann ist es aktiv, Zellen differenzieren und verbinden sich; ist es weniger aktiv, dann sterben Verbindungen und Zellen ab. Das Gehirn schaltet sich gleichsam selbst ab (Energie sparen!). Diese partielle Selbstabschaltung vermindert Erregungen, Interessen, Aktivitäten, was in einer negativen Spirale dazu führt, dass der Inhaber dieses Gehirns tendenziell noch weniger macht, was das Gehirn weiter abschwächt.

WIR SIND EXPERIMENTELL GEWORDENE

  1. Betrachtet man den größeren Rahmen, den individuellen Menschen als Teil der ganzen Population des homo sapiens (sapiens), diesen wiederum als Teil des gesamten biologischen Lebens, dann wird schnell klar, warum Veränderung so wichtig ist (Siehe Schaubild)

Stammbaum der Lebensform homo sapiens bis zu den Wurzeln (Man beachte die noch unbefriedigende Koordinierung der Datierungen)
Stammbaum der Lebensform homo sapiens bis zu den Wurzeln (Man beachte die noch unbefriedigende Koordinierung der Datierungen)

  1. Wir Menschen als Mitglieder der Art homo sapiens, stehen am Ende eines langen Stammbaums von Lebensformen, der nach heutigem Wissen mindestens 3.5 Milliarden Jahre zurück reicht. Die Geschichte, die dieser Stammbaum erzählt, ist die Geschichte einer sehr langen Kette von Experimenten des Lebens mit sich selbst, um auf die sich ständig verändernde Situation auf der Erde jene überlebenswirksamen Strukturen, Funktionen und Interaktionen zu finden, die ein Leben auf der Erde ermöglichen. Immer wieder sind Lebensformen ausgestorben; in manchen Phasen bis zu 90% (manche schätzen sogar bis zu 99%) aller Lebensformen auf der Erde. Vor diesem Bild erscheint das Leben keinesfalls als ein ruhiges, gefälliges Dasein, dessen höchstes Ziel die Selbstgenügsamkeit ist, die Ruhe, das Nichtstun, die Gleichförmigkeit, sondern das genaue Gegenteil. Leben auf der Erde war und ist immer ein intensiver Prozess des Findens, Umbauens, Ausprobierens, Testens mit einem kontinuierlich hohen Risikoanteil, der den individuellen Tod als konstitutiven Erneuerungsfaktor umfasst.
  2. Dass bei diesem Überlebens-Findungs-Prozess ‚Bilder im Kopf‘ überhaupt eine Rolle spielen, ist vergleichsweise neu. Wann diese Fähigkeit im großen Maßstab wirksam wird, ist möglicherweise nicht genau zu datieren; klar ist aber, dass spätestens mit dem Auftreten des homo sapiens eine Lebensform auftrat, die ganz klar die Gegenwart durch Abstraktion, Gedächtnis, Vergleichen, Kombinieren, Bewerten, Planen und Experimentieren durchbrechen und überwinden konnte. Spätestens mit dem homo sapiens hat sich die Situation des Lebens auf der Erde grundlegend gewandelt. Mit einem Mal konnte man in die Vergangenheit und hinter die Phänomene schauen. Mit einem Male konnte man die sich verändernden Phänomene der Erde und des Lebens im Kopf einsammeln, sortieren, neu zusammenbauen und nach verborgenen Regeln und Dynamiken suchen. Mit einem Mal begann die materielle Welt sich im Virtuellen des gehirnbasierten Denkens zu verdoppeln. Von jetzt ab gab es die gedachte virtuelle Welt im Kopf und die reale Welt drum herum, die auch den Körper mit dem Gehirn stellte. Die physikalische Welt schenkte sich im denkenden Gehirn eine Art ‚Spiegel‘, in dem sie sich selbst anschauen konnte, und zwar in jedem Gehirn, tausendfach, millionenfach, milliardenfach. In der Virtualität des Denkens vervielfältigte sich die Erde. Was war jetzt die wahre Welt: jene, die Körper, Gehirne und Denken ermöglicht oder jene, die im Denken virtuell erstand; für den Denkenden die primäre Realität; für die reale Welt ein sekundäres Abbild. Die gedachte Welt kann falsch sein.

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MATHEMATIK UND WIRKLICHKEIT – DISKUTIERT AM BEISPIEL DES BUCHES VON TEGMARK: Our Mathematical Universe (2014) – Teil2

Max Tegmark (2014), Our Mathematical Universe. My Quest of the Ultimate Nature of Reality, New York: Alfred A.Knopf

Nachtrag: 3.Okt.13:55h, Bild zum letzten Abschnitt

KONTEXT

1. Diesem Teil ging ein einleitender Teil 1 voraus. In ihm wird ein erster Horizont aufgespannt. Darin u.a. die These, dass das Universum sich nicht nur mathematisch beschreiben lässt, sondern selbst auch ein mathematisches Objekt sei.
2. Für die weitere Diskussion werden die Kapitel 2-8 zunächst übersprungen und die Aufmerksamkeit gilt den Kapiteln 9ff. In diesen werden die erkenntnistheoretischen und physik- methodischen Voraussetzungen besprochen, die Tegmark in der modernen Physik am Werke sieht.

SELBSTBESCHREIBUNG EINES PHYSIKERS

Konzepte aus Kap.9 Tegmark (2014) herausgezogen und neu angeordnet von G.Doeben-Henisch (2016)
Konzepte aus Kap.9 Tegmark (2014) herausgezogen und neu angeordnet von G.Doeben-Henisch (2016)

3. Wir erinnern uns aus Kapitel 1, dass Tegmark selbst ein Mensch ist, ein homo sapiens (sapiens), der für sich die Methoden der Physik in Anspruch nimmt.
4. Von daher macht es Sinn, dass er sich selbst mit seinen Erkenntnis ermöglichenden Fähigkeiten in den Blick nimmt.
5. In diesem Zusammenhang (vgl. Bild 1) macht er darauf aufmerksam, dass wir nach den neuesten Erkenntnissen der Naturwissenschaften (und der Selbsterfahrung, die er in Beispielen in Form von Selbstexperimenten bemüht), davon ausgehen müssen, dass unsere bewusste Wahrnehmung einer Welt in unserem Körper, in unserem Gehirn stattfindet. Diese bewusste Wahrnehmung bildet für uns die primäre Realität, die man als interne Realität bezeichnen kann, wenn man außerhalb dieser inneren Realität eine externe Realität voraussetzt.
6. Nach allem, was wir heute wissen, übersetzen unsere Sinnesorgane Ereignisse der externen Realität (die in einer angenommenen externen Welt stattfinden), in komplexe Signalverarbeitungsprozesse in unserem Gehirn. Ein kleiner Teil dieser vom Gehirn automatisch – und daher nicht-bewusst – verarbeiteten Signale werden uns bewusst, bilden den Stoff unserer bewussten Wahrnehmung. Er nennt diese bewussten Signale auch Qualia. Sie werden automatisch so vom Gehirn aufbereitet, dass wir beständig z.B. ein konsistentes 3D-Model einer Wirklichkeit zur Verfügung haben, mittels dem wir uns im Raum des Bewusstseins orientieren. Wichtiges Detail: verschiedene Menschen können mit ihren Sinnesorganen u.U. unterschiedliche Signale von der gleichen Signalquelle empfangen (z.B. unterschiedliche Farbwahrnehmung). Trotzdem scheint das interne Modell zum Zwecke der Orientierung zu funktionieren.
7. Die wissenschaftlichen Untersuchungen zum Verhältnis zwischen messbaren externen Ereignissen und der Wahrnehmung dieser Ereignisse basierend auf den weitgehend nicht-bewussten sensorischen Prozessen im Körper deuten an, dass der Körper und das Gehirn keine 1-zu-1 Abbildung der externen Ereignisse liefern, sondern diese auf unterschiedliche Weise verändern: (i) hervorstechend ist, dass nur ein Bruchteil der (heute) messbaren externen Ereignisse erfasst und dann verarbeitet wird (z.B. nur ein kleiner Teil aus dem Wellenspektrum wird erfasst). Wir haben also den Sachverhalt der Auslassung (‚omission‘). (ii) Ferner liefert das Gehirn Eigenschaften in der bewussten Wahrnehmung (z.B. 3D-Modell), die in der auslösenden sensorischen Wahrnehmung (2D) nicht gegeben ist. Diesen Sachverhalt bezeichnet Tegmark als Illusion. (iii) Ferner kann das Gehirn eine Vielzahl von unterschiedlichen Halluzinationen erzeugen (z.B. Erinnerungen, Träume, Fantasien, Wahnvorstellungen …), die weder aktuell in der externen Realität vorkommen noch genau so, wie sie als halluziniertes Ereignis im Bewusstsein auftreten.

THEORIEN

Konzepte Nr.2 aus Kap.9 Tegmark (2014) herausgezogen und neu angeordnet von G.Doeben-Henisch (2016)
Konzepte Nr.2 aus Kap.9 Tegmark (2014) herausgezogen und neu angeordnet von G.Doeben-Henisch (2016)

8. Nach diesen vorbereitenden Überlegungen stellt sich die Frage, wo und wie in diesem Bild der Ort für physikalische Theorien ist?
9. Die große Mehrheit der Philosophen hatte in der Vergangenheit an dieser Stelle die interne Realität, das interne Weltmodell, als möglichen Ort weiterer Theoriebildung vermutet und dazu dann jeweils umfangreichste Überlegungen angestellt, wie man sich diese Maschinerie des bewussten Erkennens vorzustellen habe, damit man in diesem Rahmen das Denken einer physikalischen Theorie rekonstruieren könnte.
10. Tegmark klammert dieses Vorgehensweise vom Start weg aus. Bevor überhaupt ein Gedanke in diese Richtung aufscheinen kann erklärt er, dass der höchste Triumph der Physik darin bestehen würde, dass die Physik mit der externen Realität startet, diese mathematisch beschreibt, und zwar so, dass man innerhalb dieser Beschreibung dann die Entstehung und das Funktionieren der internen Realität ableiten (‚derive‘) kann. (vgl. S.237f)
11. Ihm ist schon bewusst, dass es für eine volle physikalische Theorie dieser Art notwendig wäre, eine vollständig detaillierte Beschreibung des Gehirns, speziell auch des Phänomens des Bewusstseins, mit zu liefern. (vgl. S.238) Aber er meint, man kann sich diese Aufgabe ersparen und den ganzen Komplex der subjektiven (und zugehörigen nicht-bewussten) Prozesse ausklammern (‚decouple‘), weil Menschen die Fähigkeit zeigen, sich trotz und mit ihrer individuellen Subjektivität auf eine Weise miteinander zu verständigen, die auf einer Sicht der externen Welt in der internen Welt beruht, die zwischen Menschen geteilt (‚shared‘) werden kann.
12. Diese zwischen Menschen in der Kommunikation gemeinschaftlichen Sicht der externen Welt (auf der Basis der internen Welt) nennt er Konsensus Realität (‚consensus reality‘).(vgl. S.238f)
13. Die Konsensus Realität verortet er zwischen der externen und der internen Realität.
14. Mit dieser begrifflichen Unterscheidung begründet er für sich, warum eine physikalische Theorie möglich ist, ohne dass man eine Theorie des Bewusstseins hat; er räumt aber ein, dass man natürlich für eine endgültige vollständige (physikalische) Theorie auch eine vollständige Theorie des Bewusstseins samt allen zugehörigen Aspekten bräuchte.
15. Während man sich als Leser noch fragt, wie denn die Physik diese nicht ganz leichte Aufgabe angehen will, erklärt Tegmark ohne weitere Begründung, dass diese delikate Aufgabe nicht von der Physik geleistet werden solle, sondern von der Kognitionswissenschaft (‚cognitive science‘). (vgl. S.238f)
16. Obwohl Tegmark selbst viele Beispiele bringt, die illustrieren sollen, dass es aus Sicht der Physik gerade die Wechselwirkung zwischen der externen und internen Realität war, um auf dem Weg zu einer umfassenden physikalischen Theorie voran zu schreiten (vgl. SS.240ff), delegiert er nun diese delikate Aufgabe an die Kognitionswissenschaft. Warum soll die Kognitionswissenschaft diese delikate Aufgabe lösen können und die Physik nicht? Bedeutet dies, dass die Kognitionswissenschaft ein Teil der Physik ist oder hat sie etwas Besonderes über die Physik hinaus? Letzteres würde seinem Anspruch widersprechen, dass die Physik das Ganze erklärt.
17. Tegmark lässt diese Fragen schlicht offen. Er meint nur, die Physik habe hier noch einen sehr langen Weg zu gehen. (vgl. S.242)
18. Er fällt einfach die Entscheidung, den Aspekt der ersten Realität innerhalb der allgemeinen Theoriebildung in seinem Buch auszuklammern und sich auf die Frage der Rolle der Mathematik in physikalischen Theorien zu beschränken, sofern sie sich mit der externen und der Konsensus Realität beschäftigen.(vgl. S.240)

DISKURS
EIN BISSCHEN ENTTÄUSCHT ….

19. Ich muss gestehen, dass ich als Leser an dieser Stelle des Buches irgendwie enttäuscht bin. Nachdem das Buch mit so viel Elan gestartet ist, so viel wunderbares Wissen aufbietet, um diese Fragen zu erhellen, kommt es an einer entscheidenden Stelle zu einer Art gedanklichen Totalverweigerung. Natürlich kann jeder verstehen – und ich besonders –, dass man aus Zeitgründen eine komplexe Fragestellung vorläufig ausklammert, deren Behandlung ‚nach hinten schiebt‘, aber es ist dennoch schade, nicht als Vorwurf, sondern als Erlebnis.
20. Trotz dieser Einschränkung der Perspektive des weiteren Vorgehens bleiben natürlich noch viele interessante Fragen im Raum, insbesondere das Hauptthema der Rolle der Mathematik in einer physikalischen Theorie verbunden mit der These von Tegmark, dass die externe Realität selbst ein mathematisches Objekt sei.
21. Bevor dieser Aspekt im Blog weiter untersucht wird, soll aber noch ein wenig an dieser Umschaltstelle in der Darstellung von Tegmark verweilt werden. Diese ist zu wichtig, als dass man sein Vorgehen einfach unkommentiert lassen sollte.

INNEHALTEN: EXTERN – INTERN

22. Tegmark geht davon aus, dass eine physikalische Theorie die externe und die Konsensus Realität beschreibt, und dies mit Hilfe der Mathematik.
23. Er stellt einleitend fest, dass wir direkt von der externen Realität aber nichts wissen. Unser Gehirn liefert uns ein Weltmodell W0, das uns als Basis des Verstehens und Verhaltens dient, das aber nicht die Welt ist, wie sie vielleicht jenseits dieses Modells W0 existiert. Die Geschichte des menschlichen Erkennens und die Untersuchungen zum modernen Alltagsverstehen belegen, dass die Erkenntnis, dass unser individuelles Welterleben auf Basis von W0 nicht die Welt sein kann, die jenseits des Gehirns existiert, nicht nur erst wenige tausend Jahre alt ist, sondern es in der Regel nur wenigen Menschen gelingt, dies explizit zu denken, selbst heute (die meisten – alle? – Naturwissenschaftler z.B. sind nicht in der Lage, die mögliche Welt jenseits von W0 unter expliziten Berücksichtigung von W0 zu denken!). Tegmark selbst demonstriert diese Unfähigkeit vor den Augen des Lesers.
24. Er beschreibt zwar empirische (und nicht-empirische) Fakten, die die Annahme der Unterscheidung von W0 und etwas jenseits von W0 nahelegen, aber er macht keine Anstalten, darüber nach zu denken, was dies für empirische Theorien über die Welt jenseits von W0 bedeutet.
25. Wie kann es sein, dass unser Denken in W0 verankert ist, aber doch über eine Welt jenseits von W0 redet, als ob es W0 nicht gibt?
26. Die Evolutionsbiologen sagen uns, dass im Laufe der Evolution von biologischen Systemen deren Gehirne in diesen Systemen so optimiert wurden, dass das jeweilige System nicht durch die internen (automatischen) Berechnungsprozesse des Gehirns abgelenkt wird, sondern nur mit jenen Aspekten versorgt wird, die für das Überleben in der umgebenden Welt (jenseits des Gehirns) wichtig sind; nur diese wurden dem System bewusst. Alles andere blieb im Verborgen, war nicht bewusst. Dies heißt, es war (und ist?) ein Überlebensvorteil, eine Identität von internem Weltmodell W0 und der jeweils umgebenden Welt zu ermöglichen. Hunderttausende von Jahren, Millionen von Jahren war dies überlebensförderlich.
27. In diesem Überlebenskampf war es natürlich auch wichtig, dass Menschen in vielen Situationen und Aufgaben kooperieren. Voraussetzung dafür war eine minimale Kommunikation und dafür eine hinreichend strukturell ähnliche Wahrnehmung von umgebender Welt und deren Aufbereitung in einem internen Modell W0.
28. Kommunikation in einer geteilten Handlungswelt benötigt Signale, die ausgetauscht werden können, die sich mit gemeinsamen wichtigen Sachverhalten assoziieren lassen, die sowohl Teil der äußeren Welt sind wie auch zugleich Teil des internen Modells. Nur durch diese Verbindung zwischen Signalen und signalverbundenen Sachverhalten einerseits und deren hinreichend ähnlichen Verankerung in den individuellen Weltmodellen W0 boten die Voraussetzungen, dass zwei verschiedene Weltmodelle – nämlich eines von einem biologischen System A mit W0_a und eines von einem biologischen System B mit W0_b – miteinander durch kommunikative Akte ausgetauscht, abgestimmt, verstärkt, verändert … werden konnten.
29. Dies ist der mögliche Ort der Konsensus Realität, von der Tegmark spricht.
30. Weil die individuellen Gehirne unterschiedlicher biologischer Systeme der Art homo sapiens (sapiens) eine hinreichend ähnliche Struktur von Signalverarbeitung und Modellgenerierung haben ist es ihnen möglich, Teile ihres Modells W0 mittels Kommunikation auszutauschen. Kommunikativ können sie austauschen, Ob etwas der Fall ist. Kommunikativ können sie sich zu bestimmten Handlungen koordinieren.
31. Die Zuordnung zwischen den benutzten Signalereignissen und den damit assoziierten Sachverhalten ist zu Beginn offen: sie müssen von Fall zu Fall im Bereich von möglichen Alternativen entschieden werden. Dies begründet arbiträre Konventionen, die dann – nach ihrer Einführung – zu pragmatischen Regeln werden können.
32. Die von Tegmark angesprochene Konsensus Realität ist von daher ein hybrides Konstrukt: primär ist es ein Produkt der internen Realität, Teil des internen Weltmodells W0, aber durch die Beziehung zwischen dem internen Modell W0 mit einer unterstellten externen Welt Wx (also z.B. wm0: Wx –→ W0, wm1:W0 –→ Wx*) und der Hypothese, dass diese Abbildungsprozesse bei unterschiedlichen Individuen A und B der gleichen Art homo sapiens (sapiens) hinreichend strukturell ähnlich sind, kann man annehmen, dass W0_a und W0_b strukturell hinreichend ähnlich sind – EQ(W0_a, W0_b) – und eine arbiträre Zuordnung von beliebigen Signalereignissen zu diesen unterstellten Gemeinsamkeiten damit synchronisierbar ist.
33. Man kann an dieser Stelle den fundamentalen Begriff der Zeichenrelation derart einführen, dass man sagt, dass diese grundlegenden Fähigkeit der Assoziierung von Signalereignissen S und zeitgleich auftretenden anderen Ereignissen O in der unterstellten äußeren Welt Wx sich über die Wahrnehmung dann im internen Weltmodell W0 eines biologischen Systems als S‘-O‘-Beziehung repräsentieren lässt. Diese interne Repräsentation einer in der Außenwelt Wx auftretenden Korrelation von Ereignissen S und O ist dann eine Zeichenrelation SR(S‘,O‘). Die an sich arbiträren Signalereignisse S und die davon unabhängigen zeitgleichen Ereignisse O können auf diese Weise in einer internen Beziehung miteinander verknüpft werden. Über diese intern vorgenommene Verknüpfung sind sie dann nicht mehr arbiträr. Ein Signalereignis s aus S und ein anderes Ereignis o aus O erklären sich dann gegenseitig: SR(s‘,o‘) liest sich dann so: das Signalereignis s‘ ist ein Zeichen für das andere Ereignis o‘ und das andere Ereignis o‘ ist die Bedeutung für das Zeichen s‘. Insofern verschiedene Systeme ihre Zeichenrelationen koordinieren entsteht ein Kode, ein Zeichensystem, eine Sprache, mittels deren sie sich auf Basis ihrer internen Weltmodelle W0 über mögliche äußere Welten verständigen können.
34. Die Konsensus Realität wäre demnach jener Teil des Bewusstseins eines biologischen Systems, dessen Phänomene (Qualia) sich über eine hinreichende Korrespondenz mit einer unterstellten Außenwelt Wx mit den internen Modellen W0 anderer Systeme koordinieren lassen.
35. Dass die beteiligten Signalereignisse als Zeichen mittels Symbolen realisiert werden, mittels Ausdrücken über einem Alphabet, später dann mit einem Alphabet, das man einer mengentheoretischen Sprache zuschreiben kann, die zur Grundsprache der modernen Mathematik geworden ist, ist für den Gesamtvorgang zunächst unwesentlich. Entscheidend ist die biologische Maschinerie, die dies ermöglicht, der ‚Trick‘ mit dem Bewusstsein, das das System von der unfassbaren Komplexität der beteiligten automatischen Prozessen befreit, von der Fähigkeit zu Abstraktionen (was hier noch nicht erklärt wurde), von dem fantastischen Mechanismus eines Gedächtnisses (was hier auch noch nicht erklärt wurde), und manchem mehr.
36. Dass Tegmark das Konzept der Konsensus Realität einführt, sich aber die Details dieser Realität ausspart, ist eine Schwachstelle in seiner Theoriebildung, die sich im weiteren Verlauf erheblich auswirken wird. Man kann schon an dieser Stelle ahnen, warum seine These von der äußeren Welt Wx als mathematischem Objekt möglicherweise schon im Ansatz scheitert.

SEMIOTIK GRUNDLEGENDER ALS PHYSIK?

37. Ohne diesen Punkt hier voll zu diskutieren möchte ich an dieser Stelle zu überlegen geben, dass der Erklärungsanspruch der Physik in weiten Teilen sicher berechtigt und unverzichtbar ist. Doch bei der Reflexion auf die Grundlagen einer physikalischen Theorie (die letztlich auch Teil einer wissenschaftlichen Erklärung sein sollte) müssen wir offensichtlich die Physik verlassen. Die klassische und die moderne Physik hat für ihre Existenz und ihr Funktionieren eine Reihe von Voraussetzungen, die nicht zuletzt den Physiker selbst mit einschließen. Sofern dieser Physiker als biologisches System ein Zeichenbenutzer ist, gehen die Gesetzmäßigkeiten eines Zeichenbenutzers als Voraussetzungen in die Physik ein. Sie hinterlassen nachhaltige Spuren in jeder physikalischen Theorie qua Zeichensystem. Diejenige Wissenschaft, die für Zeichen allgemein zuständig war und ist, ist die Semiotik. Bis heute hat die Semiotik zwar noch keine einheitliche, systematische Gestalt, aber dies muss nicht so sein. Man kann die Semiotik genauso wissenschaftlich und voll mathematisiert betreiben wie die moderne Physik. Es hat halt nur noch niemand getan. Aber die Physik hat ja auch noch niemals ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen vollständig reflektiert. Vielleicht können sich eine neue Semiotik und eine neue Physik die Hand geben für ein gemeinsames Abenteuer des Geistes, was die Denkhemmungen der Vergangenheit vergessen macht. Das Beharren auf tradierten Vorurteilen war schon immer das größte Hindernis für eine tiefere Erkenntnis.

NACHTRAG

Konzepte in Anlehnung an Tegmark (2014) Kap.9 von G.Doeben-Henisch
Konzepte in Anlehnung an Tegmark (2014) Kap.9 von G.Doeben-Henisch

In Ergänzung zum vorausgehenden Text kann es hilfreich sein, sich klar zu machen, dass Tegmark als Physiker ein biologisches System der Art homo sapiens (sapiens) ist, dessen primäre Wirklichkeit in einem internen Modell der Art W0 zu suchen ist. Um sich mit seinen Physikkollegen zu verständigen benutzt er mathematische Texte, die mit bestimmten Messwerten korreliert werden können, die ebenfalls als Zeichen von Messprozeduren generiert werden. Der Zusammenhang der Messwerte mit den mathematischen Texten wird intern (!!!) kodiert. Insofern spielt die Art und Weise der internen Modelle, ihre Beschaffenheit, ihre Entstehung, ihre Abgleichung etc. eine fundamentale Rolle in der Einschätzung der potentiellen Bedeutung einer Theorie. Physikalische Theorien sind von daher grundlegend nicht anders als alle anderen Theorien (sofern diese mathematische Ausdrücke benutzen, was jeder Disziplin freisteht). Sie unterscheiden sich höchstens durch die Art der Messwerte, die zugelassen werden. Sofern eine moderne philosophische Theorie physikalische Messwerte akzeptiert — und warum sollte sie dies nicht tun? — überlappt sich eine philosophische Theorie mit der Physik. Sofern eine moderne philosophische Theorie die Voraussetzungen einer physikalischen Theorie in ihree Theoriebildung einbezieht, geht sie transparent nachvollziehbar über die Physik hinaus. Semiotik sehe ich als Teilaspekt der Philosophie.

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MEMO: AUGE IN AUGE MIT DER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ. PHILOSOPHIESOMMER 2016 IN DER DENKBAR – Sitzung vom 12.Juni 2016

Entsprechend den vielfachen Wünschen der Teilnehmer war für die Sitzung am 12.Juni 2016 ein Experte für intelligente Maschinen eingeladen worden, eine kleine Einführung in die aktuelle Situation zu geben.

Ziel des Beitrags sollte es sein, anhand konkreter Beispiele ein wenig mehr zu verdeutlichen, was intelligente Maschinen wirklich leisten können. Im anschließenden Diskurs sollte es wieder darum gehen, diesen Beitrag als Ausgangspunkt zu nehmen, um die Fragen der anwesenden Teilnehmer und ihre Gedanken zu Worte kommen zu lassen.

Gedankenskizze von der Sitzung des Philosophiesommers 2016 in der DENKBAR vom 12.Juni 2016
Gedankenskizze von der Sitzung des Philosophiesommers 2016 in der DENKBAR vom 12.Juni 2016

Das Diagramm gibt einen ersten Überblick über die Struktur der Sitzung. Im Einstieg wurden in lockerer Form verschiedene Videos vorgestellt, immer wieder unterbrochen durch ad hoc Erläuterungen, die sehr konkrete Eindrücke von den agierenden Forschern und ihren Algorithmen vermittelten. Danach gab es ein sehr lebhaftes Gespräch, in dem weniger die Details der Algorithmen diskutiert wurden, sondern mehr die Gefühle, Befürchtungen und Fragen, die das Ganze bei allen auslöste.

KI DIREKT

Das Gebiet der KI ist ziemlich groß. An diesem Tag wurde von einem kleinen Ausschnitt berichtet, er sich aber zur Zeit im Zentrum größten Interesses befindet. Es ging vornehmlich um Bilderkennung und ein bisschen um Methoden des anfangshaften Verstehens von Sprache.

Bei der Bilderkennung wurden Beispiel gezeigt, wie Rechner heute Szenen analysieren und darin dann einzelne Objekte erkennen könne; wie dann in einer Folge von Szenen die erkannten Objekte räumliche Strukturen bilden können (Räume, Straßen, …), in denen man dann nach Pfaden/ Wegen suchen kann. Unter den Videos war auch eine künstlerische Anwendung, die zeigte, dass man diese Technologien auch ganz anders einsetzen kann. (Ergänzend kann man z.B. auch hinweisen auf Bereiche wie die Musik, in der KI mittlerweile komplexe Musikstücke analysieren und neu arrangieren kann, und sogar als eigenständiger Musiker in einer Band mitspielen kann, z.B. „Wunder der Technik Musikalische Drohnen ersetzen das Orchester „, oder „Neue Jobs für Roboter„).

Bei dem anfangshaften Verstehen von Sprache wurden Methoden vorgestellt, die aus den Verteilungen von Worten und Wortverbindungen zu Bedeutungsschätzungen kommen können, und auch hier wieder alltagspraktische Anwendungen wie jene, bei der Texte eines Politikers künstlerisch so abgewandelt werden konnten, dass sie wie die Texte dieses Politikers aussahen, aber vom Algorithmus produziert worden waren. Aber auch hier gilt, dass dies nur ein kleiner Ausschnitt von dem war, was heute schon im Einsatz ist (man denke an den sogenannten Roboter-Journalismus, wo die Nachrichten und Artikel ganzer Webseiten mittlerweile komplett durch Algorithmen erstellt werden, z.B. „Roboterjournalismus: Maschinen ohne Moral“ oder „Automatisierter Journalismus: Nehmen Roboter Journalisten den Job weg?)

GESPRÄCH : WIDERHALL IN UNS

Bei den Teilnehmern überwog die Skepsis die Faszination.

KI AKTEURE

Auffällig war den meisten, wie jung die Akteure in der Szene waren, selbst die Chefs und CEOs von milliardenschweren Unternehmen. Wie diese (scheinbar) unbekümmert die Vorzüge ihrer Technik priesen, begeistert, enthusiastisch; Nachdenklichkeiten, kritische Überlegungen sah man nicht (im Kontrast dazu vielleicht die Eindrücke, die man von deutschen Konzernen hat mit ihren schwerfälligen autoritären Strukturen, mit ihren zementierten Abläufen, der großen Risikoaversion…). Der Geist der KI-Akteure hingegen erzeugt Neues, Innovatives, bewegt die Welt. In Erinnerungen an den Bau der Atombombe mit den begeisterten Forschern für das technische faszinierend Machbare stellte sich mancher aber auch die Frage, ob diese Unbekümmertheit, diese emotionslose Technik, nicht auch gefährlich ist (je mehr Bilderkennung z.B. im öffentlichen Bereich, dann auch mehr umfassende Kontrolle, Überwachung. Das ‚System‘ weiß dann immer, wo man gerade ist und mit wem er zusammen ist (immerhin hat sich das US-Verteidigungsministerium den Chef von Alphabet (dazu gehört google) mittlerweile offiziell als Berater geholt)). Andere fragten sich, ob es in Zukunft eigentlich nur noch Informatiker gibt (quasi als allfällige Diener der KI), während alle anderen überflüssig werden.

OFFENE ZIELE

Sieht man die aktuelle Techniksituation als Momentaufnahme eines Prozesses mit einer Geschichte und möglichen Zukünften, dann kann (und muss?) man die Frage, nach dem darin wirkenden Fortschrittsbegriff stellen, nach den wirkenden Kriterien.

WAS IST INTELLIGENZ?

Ein Teilaspekt ist der Begriff der Künstlichen Intelligenz mit dem Teilbegriff Intelligenz. Was ist damit eigentlich gemeint? Auf welche Intelligenz bezieht man sich? In der Psychologie benutzt man seit ca. 100 Jahren einen operationalisierten Intelligenzbegriff zur Messung der Intelligenz (Binet). Doch diese Betrachtungsweise ist sehr quantifizierend und wird vielfach kritisiert, auch mit Verweis auf kulturelle Unterschiede. Im Unterschied zur Pschologie findet man im Bereich der KI selbst bzw. in der Informatik keine einheitliche Definition von Intelligenz (siehe z.B. KI ). Während die KI im klassischen Sinne sich an der Intelligenz von biologischen Systemen orientiert, die nachempfunden werden soll, findet sich heute vielfach ein engeres, ingenieurmäßiges Verstehen von KI als Maschinelles Lernen. Hier wird die Frage nach Intelligenz im allgemeinen gar nicht mehr gestellt. Stattdessen gibt es immer konkrete, spezielle Aufgabenstellungen, die technisch gelöst werden sollen, und die Lösung konzentriert sich dann ausschließlich auf diese eingeschränkten Aspekte.

SELBSTBESCHREIBUNG DES MENSCHEN ALS MASCHINE

Die Diskussion um den Intelligenzbegriff streift auch das Phänomen, dass die Menschen in nahezu allen Epochen dahin tendieren, sich selbst immer im Licht der neuesten Erkenntnisse und Techniken zu beschreiben, sozusagen auf der Suche nach sich selbst. Eigentlich weiß kein Mensch so richtig, wer er ist und ist dankbar für jedes Bild, was man ihm anbietet. So vergleichen sich Kinder heute häufig mit einem PC: ‚mein Kopf ist wie ein Computer‘; ‚ich habe das nicht abgespeichert‘; ‚meine Festplatte ist leer’…. Zu Zeiten eines La Mettrie (1709 – 1751)  wurde der Geist der Dualisten (vor allem repräseniert duch Descartes) aus dem Körper des Menschen verbannt; der Körper war nur noch eine Maschine (im damaligen Verständnis) ohne Geist.

VIRTUALITÄT ALS GEFAHR?

Mit Blick auf die KI und die enorme Zunahme an digitalen Räumen als virtuelle Welten wurde auch die Frage aufgeworfen, wieweit dies eine Gefahr darstellt? Verzetteln wir uns nicht? Wissen wir noch Virtuelles und Reales auseinander zu halten? Dazu sei angemerkt, dass sich das Erleben und Denken des Menschen ja primär in seinem Gehirn abspielt, das als Gehirn im Körper sitzt ohne direkten Weltbezug. D.h. schon das normale Denken des Menschen hat das Problem, dass es dem einzelnen zwar real erscheint, inhaltlich aber – bezogen auf eine unterstellte Außenwelt – mit der Außenwelt nicht automatisch übereinstimmen muss. Es gehört ja gerade zur Kulturgeschichte des Menschen, dass er mühsam lernen musste, dass die meisten Gedanken der Vergangenheit eben nur Gedanken waren und nicht die Welt beschrieben haben, wie sie wirklich (=empirisch überprüfbar) ist. Insofern stellen die neuen virtuellen Welten nichts wirklich Neues dar, wohl aber eine Modifikation der Situation, die neu verstanden und gelernt werden muss.

BRAUCHEN WIR NOCH MEHR EVOLUTION?

Greift man nochmals den Gedanken auf, dass die aktuelle Techniksituation als Momentaufnahme eines Prozesses mit einer Geschichte und möglichen Zukünften Teil der Evolution ist, wurde gefragt, ob wir noch mehr Evolution brauchen? Außerdem, welches Ziel hat diese Evolution?

Mit Blick auf den Blogeintrag vom 11.Juni 2016 wurde eingeblendet, dass sich die Frage nach der Evolution möglicherweise anders stellt. Schliesslich sind wir selbst, alle Menschen, alle Lebewesen, Produkt der Evolution, wir sind Teilnehmer, aber bislang nicht als Herren des Geschehens. Und vieles spricht dafür, dass alle Phänomene im Umfeld des Menschen auch nicht los lösbar sind von der Evolution. Sie gehören quasi dazu, wenn auch vielleicht in einem neuen qualitativen Sinn. Soweit wir heute erkennen können, ist es seit dem Auftreten des homo sapiens sapiens (hss) zum ersten Mal seit dem Auftreten des Lebens auf der Erde möglich, dass das Leben als Ganzes sich in Gestalt des hss sich quasi selbst anschauen kann, es kann sich mehr und mehr verstehen, es kann seine eigenen Baupläne lesen und mehr und mehr abändern. Dies eröffnet für das Leben auf der Erde (und damit im ganzen bekannten Universum) eine völlig neue und radikale Autonomie. Die allgemeine physikalische Entropie wird bislang dadurch zwar nur lokal aufgehoben, aber immerhin, dass es überhaupt möglich ist, über die bekannten Naturgesetze hinaus durch bestimmte Prozesse Strukturen zu erzeugen, die der Entropie zuwider laufen, ist ein bemerkenswertes Faktum, das bislang von der Physik so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen wird (und auch nicht von den Akteuren selbst, dem hss).

RADIKALE AUTONOMIE

Möglicherweise ist die fundamentale Tragweite der neuen radikalen Autonomie des Lebens auch deshalb noch nicht so recht ins Bewusstsein getreten, weil im Alltag, im konkreten Dasein, die körperlichen Grenzen sehr deutlich sind, die ganze Trieb-, Bedürfnis-, und Emotionsstruktur des Menschen in ihrer Konkretheit und Intensität vielfach als so stark empfunden wird, dass man die großen Linien, die geradezu kosmologische Dimension dieser radikalen Autonomie noch kaum wahrnimmt.

Dazu kommt, dass die Tatsache, dass sich fast alle interessanten Prozesse im Innern des Menschen abspielen, es notwendig macht, dass diese inneren Prozesse über Kommunikation miteinander koordiniert werden müssten. Dies ist aufwendig und schwierig. Viele (die meisten) Menschen scheitern hier, kapitulieren. So verharren sie – und damit ganze Generationen – in bestimmten Empfindungs-, Denk- und Handlungsmustern, die nicht weiter führen, die eher Rückschritt bedeuten.

Aktuell erscheint es offen, in welche der vielen möglichen Zukünfte wir uns bewegen werden. Werden demnächst die intelligenten Maschinen alles übernehmen, weil der hss ausgedient hat? Oder wird es doch bei einer Symbiose auf hohem Niveau bleiben, in der der hss die intelligenten Maschinen für sich nutzt und die intelligenten Maschinen durch den Menschen Räume erobern können, die ihnen sonst verschlossen wären? Oder – und diese dritte Möglichkeit sieht aktuell – soweit ich sehe – eigentlich noch niemand – wird er Mensch in den nächsten Jahren neu erwachen und begreifen, dass diese radikale Autonomie etwas radikal Neues darstellt, etwas, das es so noch nie zuvor in den 13.8 Mrd Jahren gegeben hatte?

Um die radikale Autonomie nutzen zu können, muss der Mensch erstmalig in der Geschichte des Lebens die Frage nach den Werten, nach den Zielen, wohin die Reise eigentlich gehen soll, selber stellen … und beantworten. Bis zum hss gab es keine Wertediskussion. Die Evolution stellte einen Prozess dar, in dem bestimmte Lebensformen im Kontext der Erde überlebt hatten; das waren die einzigen Werte im Nachhinein. Vor der Neuwerdung im Reproduktionsprozess gab es keine expliziten Werte. Es gab bisherige Erfolge und viel Zufall.

Einen Überblick über alle Beiträge zum Philosophiesommer/ zur Philosophiewerkstatt nach Titeln findet sich HIER.