Archiv für den Tag: 9. April 2019

SEITENSPRUNG: Demographie und Philosophie?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 7.-9.April 2019
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

In den letzten Beiträgen dieses Blogs ging es oft um das Thema Freiheit und die Werte = Präferenzen, die man benötigt, um mit seiner Freiheit eine Richtung einzuschlagen, die dann — vielleicht — Zustände ermöglicht/ erreicht, die im Sinne der Präferenzen gut sind. Zugleich ging es auch um Rahmenbedingungen, die eine Umsetzung der Freiheit ermöglichen oder behindern. Dies mag auf den ersten Blick abstrakt klingen. Hier eines von vielen Beispielen, wie diese Überlegungen sehr schnell sehr konkret werden können. In den letzten Tagen hatte ich zu Übungszwecken (ganz anderer Zusammenhang) ein kleines Computerprogramm geschrieben, das sich auf den ersten Blick mit etwas völlig Unbedeutendem beschäftigt, was sich mit nur drei Zahlen beschreiben lässt. Während ich das tat, merkte ich, dass diese drei Zahlen alles andere als unbedeutend sind, ja, dass sie sogar geradezu eine ‚philosophische Aura‘ besitzen, die viele der Grundfragen, die in diesem Blog schon diskutiert wurden, in einem anderen Licht erscheinen lassen. Diese Eindrücke führten zu diesem Blogeintrag.

PYTHON – Nur Python

Die Programmiersprache des kleinen Computerprogramms war python und das Übungsproblem war die Bevölkerungsentwicklung, allerdings fokussiert auf den minimalen Kern, der nur drei Größen (letztlich Zahlen) berücksichtigte: die aktuelle Bevölkerungsanzahl (p), die jährliche Geburtenrate (br, birthrate) umgelegt auf die Gesamtbevölkerung, und die jährliche Sterberate (dr, deathrate). Diese drei Größen wurden verbunden durch den einfachen Zusammenhang p’=p+(p*br)-(p*dr). (Für die Beschreibung des Programms sowie den Quellkode des Programms selbst siehe die Seite hier mit den ersten fünf Einträgen).(Anmerkung: es geht natürlich noch einfacher, nur die aktuelle Bevölkerungszahl p sowie die gemittelte Wachstumszahl g).

WELTBEZUG?

Was in der Computersprache nur drei verschiedene Zeichenketten sind {‚p‘, ‚br‘, ‚dr‘}, die als Namen für Speicherbereiche dienen, in die man irgendwelche Werte hineinschreiben kann, kann man in Beziehung setzen zur Ausschnitten der realen Welt (RW). Durch diese In-Beziehung-Setzung gibt man den neutralen Zeichenketten eine Interpretation. Im vorliegenden Fall wurde die Zeichenkette ‚p‘ betrachtet als Ausdruck, der die Anzahl der aktuell auf der Welt lebenden Menschen repräsentieren soll. Entsprechend die Zeichenkette ‚br‘ die jährliche Geburtenrate und die Zeichenkette ‚dr‘ die jährliche Sterberate.

Wenn man die entsprechenden Zahlen hat, ist einen Rechnen damit einfach. Wenn man im Computerprogramm — ein ganz normaler Text — den Zusammenhang p’=p+(p*br)-(p*dr) notiert hat, dann kann der Computer mit diesen Zeichenketten ganz einfach rechnen. Sei P=1000, br=1.9 und dr=0.77, dann liefert der Zusammenhang p‘ = 1000 + (1000 * 0.019) – (1000 * 0.0077) = 1000 + 19 – 7.7 = 1011.3, und da es keine Drittel-Menschen gibt wird man abrunden auf 1011. Dies bedeutet, im nachfolgenden Jahr wächst die Bevölkerungszahl um 11 Mitglieder von 1000 auf 1011.

DATENGEWINNUNG

Eine Institution, die seit 1948 begonnen hat, systematisch die demographischen Daten der Weltbevölkerung zu erheben, sind die Vereinigten Nationen (UN). Eine wichtige Seite zur Bevölkerungsentwicklung findet sich hier: http://data.un.org/Default.aspx Für jedes Jahr gibt es dann eine Aktualisierung mit einer Vielzahl von Tabellen, die sehr viele wichtige Parameter beleuchten: https://population.un.org/wpp/Download/Standard/Population/

Beschränkt man sich auf die drei Größen {p, br, dr}, dann kann man anhand dieser Tabellen z.B. folgenden Ausgangsgrößen für die absoluten Bevölkerungszahlen p der Welt von 2010 bis 2015 bekommen:

201020112012201320142015
6 958 169 7 043 009 7 128 177 7 213 426 7 298 4537.383.009

Dazu gibt es als allgemeine Geburtsrate (BR) und Sterberate (DR) für die Zeit 2010 – 2015: BR = 1.9% und BR = 0.77%.

Vertieft man sich in diese Tabellen und die vielen Anmerkungen und Kommentare, wird sehr schnell klar, dass es bis heute ein großes Problem ist, überhaupt verlässliche Zahlen zu bekommen und dass das endgültige Zahlenmaterial daher mit Unwägbarkeiten behaftet ist und nicht ohne diverse Schätzungen auskommt.

DATEN HOCH RECHNEN

Tut man aber für einen Moment mal so, als ob diese Zahlen die Weltwirklichkeit einigermaßen widerspiegeln, dann würde unser kleines Computerprogramm (Version: pop0e.py) folgende Zahlenreihen durch schlichtes Rechnen generieren:

  • Population number ? 6958169

  • Birthrate in % ? 1.9

  • Deathrate in % ? 0.77

  • How many cycles ? 15

  • What is your Base Year ? 2010

  • Year 2010 = Citizens. 6958169

  • Year 2011 = Citizens. 7036796

  • Year 2012 = Citizens. 7116312

  • Year 2013 = Citizens. 7196726

  • Year 2014 = Citizens. 7278049

  • Year 2015 = Citizens. 7360291

  • Year 2016 = Citizens. 7443462

  • Year 2017 = Citizens. 7527573

  • Year 2018 = Citizens. 7612635

  • Year 2019 = Citizens. 7698658

  • Year 2020 = Citizens. 7785653

  • Year 2021 = Citizens. 7873630

  • Year 2022 = Citizens. 7962602

  • Year 2023 = Citizens. 8052580

  • Year 2024 = Citizens. 8143574

  • Year 2025 = Citizens. 8235596

Bild 1: Einfacher Plot der Bevölkerungszahlen von Jahr 1 = 2010 bis Jahr 16 = 2025 (man könnte natürlich die Beschriftung der Achsen erheblich verbessern; zur Übung empfohlen :-))

MÖGLICHE FRAGEN

An dieser Stelle sind viele Fragen denkbar. Mit Blick auf das Freiheitsthema bietet es sich an, den Begriff der Geburtenrate näher zu betrachten.

Geburtenrate und Frauen

Die Geburtenrate hängt (aktuell) von jenen Frauen ab, die Kinder gebären können und dies — unter den unterschiedlichsten Umständen — auch tun. Wie aber die Zahlen aus der Vergangenheit zeigen und wie man aufgrund seiner eigenen Lebenserfahrung weiß, schwanken die Zahlen der Geburten von Gegend zu Gegend, innerhalb des Zeitverlaufs. Es gibt vielfältige Faktoren, die die Anzahl der Geburten beeinflussen.

Dynamik der Evolution

Der grundlegende Faktor ist sicher, dass die biologische Evolution im Laufe von 3.8 Mrd. Jahren bis vor kurzem noch keine andere Lösung für die menschliche Fortpflanzung gefunden hatte als eben die heute bekannte: Befruchtung der Frau und Austragen des befruchteten Eis durch eben die Frau.

Biologisch induzierte gesellschaftliche Rollen

In der Vergangenheit bedeutete dies, dass die weiblichen Exemplare des Homo sapiens generell eine besondere gesellschaftliche Funktion innehatten, da ihre Gebärfähigkeit unabdingbar für das Überleben der jeweiligen Population war. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass diese überlebenswichtige Funktion gesellschaftlich mit einer Fülle von gesellschaftlichen Normen und Verhaltensmustern abgesichert wurde. Letztlich waren die Frauen dadurch Gefangene der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse und der hohe Anteil an frauenunterdrückenden Elementen in allen Kulturen dieser Welt ist von daher kein Zufall. Dass die Religionen in allen Zeiten und in allen Kulturen dazu instrumentalisiert wurden, die gesellschaftliche Reglementierung der Frauen zu unterstützen, spricht nicht für diese sogenannten Religionen.

Evolutionäres Befreiungspotential

Seit den letzten Jahrzehnten hat die Evolution einen Punkt erreicht, an dem partiell neue Techniken existieren bzw. sich immer mehr als mögliche neue Techniken andeuten, durch die die Fortpflanzung von den Frauen immer mehr losgelöst werden kann, so dass die anhaltende Gefangenschaft der Frauen durch das Gebärprivileg sich lockern oder ganz auflösen könnte. Durch moderne demokratische, säkularisierte und industrialisierte Gesellschaftsformen hat die Befreiung der Frauen aus den klassischen engen Lebensmustern zwar schon begonnen, aber durch die nach hinkende Gebärtechnologie ist die moderne Frau einerseits noch eingebunden in die Gebärverantwortung, andererseits in ein modernes Berufsleben, und die gesellschaftliche Unterstützung für diese Doppelbelastung ist noch vielfach unzureichend.

Veraltete Ethiken

Bislang sind es fragwürdige alte Ethiken, die sich der evolutionären Entwicklung entgegen stellen. Bilder einer statischen Welt werden zum Maßstab genommen für eine Welt, die es so weder jemals gab noch jemals geben wird. Die Welt ist grundlegend anders als die bekannten Ethiken es uns einreden wollen. Neue allgemein akzeptierte Ethiken sind aber aktuell nirgends in Sicht. Die alten Weltbilder haben sich tief in die Gehirne eingenistet. Wo sollen die neuen Sichten herkommen?

Solange die Loslösung der menschlichen Fortpflanzung noch nicht von den Frauen gelöst werden kann, werden sehr viele konkrete Umstände das Entscheiden und Verhalten von Frauen beeinflussen. Je freier eine Gesellschaft wird, je selbstbestimmter eine Frau in solch einer Gesellschaft leben kann, und je mehr einer Frau auch reale materielle Ressourcen zur Verfügung stehen, um so eher wird sie mit entscheiden, ob sie Kinder haben will, wie viele, welche Erziehung, und vieles mehr.

Verunmöglichung von Freiheit

Dass heute Kinder in Situationen geboren werden, wo Armut, Krankheit, Arbeitslosigkeit und vieles mehr unausweichliche Folgen eines unkontrollierten Geborenwerdens sind, ist wohl kaum ethisch zu verantworten. Andererseits verbietet der grundlegende Respekt vor dem Leben, dass Dritte das Leben von anderen ohne deren Zustimmung wegnehmen.

Es obliegt der Gesellschaft als Ganzer, dafür zu sorgen, dass jeder einzelne in die Lage versetzt wird, die richtigen Entscheidungen fällen zu können. Ohne entsprechenden materiellen Aufwand ist eine verantwortlich gelebte Freiheit nicht möglich.

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