Archiv für den Tag: 26. April 2019

Magie der Worte – Kein Fake. Notiz

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 26.April 2019
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

In diesem Fall ist es die letzte der vielen spontanen Produktionen aus meinem seit Jahren andauerndem RUM- Experiment (radically unplugged music), die als Anlass für einen Eintrag dient. Das Experiment ereignete sich gestern Abend. Im Nachhinein, heute Morgen, trafen sich die Wirkungen mit vielen grundlegenden Überlegungen der letzten Zeit zu der Art und Weise, wie unterschiedliche Menschen ihr Wissen, ihre Erfahrungen, aus dem Dunkel ihres Unbewussten hervor holen können, um sich in gemeinsamen Resonanzereignissen wechselseitig anregen — stimulieren — zu können, im Rauschen der Worte das scheinbar Unsagbare doch irgendwie zu sagen. Was als merkwürdiges Geplapper anfangen kann, als Stammeln von Worten, als lyrische Wortfetzen, als poetisch reguliertes ‚Irgendwie‘, als Strom von Klängen mit innewohnenden Worten, das kann sehr wohl in noch mehr regulierte Wortstrukturen übergehen, in Texte, die mehr Konkretheit, mehr Klarheit an sich tragen, die im engeren Sinne wahrheitsfähig erscheinen und als solche dann auch funktionieren. Die sich so entbergende Wahrheiten werden dann zu jenen Kletterhaken unseres Geistes, an denen wir steile Wände erklimmen können, die ansonsten nur ferne, eher ungewiss zu erahnen sind.

THE FLYING DANCER – Soundereignis

Wie gesagt, ich führe seit Jahren ein Experiment durch, das sich Radically Unplugged Music (RUM) nennt. Es geht darum, welche Klänge, Sounds, Musikstücke entstehen, wenn man selbst weder richtig ein Instrument spielen kann, noch singen, noch Zeit hat, zu üben, keine Noten benutzt, keine fertigen Texte, sondern sich einfach nur hinsetzt, die Aufnahmegeräte einschaltet, und dann anfängt zu spielen bzw. zu sprechen… und dies mehrfach in dem Sinne, dass z.B. im Stück genannt The Flying Dancer erst Schlagzeug gespielt wird, dann ein Elektro-Bass, dann ein Elektro-Klavier, und schließlich dazu gesprochen wird.

Die Stimme beginnt mit einer Entschuldigung, weil der Sprecher gerade die Distanz zum Hörer unterbricht, möglicherweise störend, weil er bei seiner Betrachtung der Welt, von seinem speziellen Standpunkt aus, etwas wahrnimmt, das er mitteilen möchte.

Die Stimme spricht vom Staub der Zeit, vielleicht meint er auch so etwas wie Nebel, worin er die Schatten von Lichtern zu erkennen meint, die das Auge durchdringen. Und in diesen Schatten von Lichtern im Staub der Zeit scheint er viele wahrzunehmen, die gehört werden wollen, und es stellt sich die Frage, ob das, was da zu Gehör kommen soll, wichtig ist? Hilfreich? Und in all dem sieht er dann den fliegenden Tänzer, zwischen allem, mit sich ändernden Farben, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, auf- und absteigend im Gewoge der Ereignisse; wie auf einer Welle reitend. Die Stimme wiederholt diese bisherigen Eindrücke, und bemerkt dann zum fliegenden Tänzer noch, dass dieser schaue als ob er etwas weiß von hinter den Oberflächen der Dinge, die sich zeigen, und er schaut Dich an… und der Klang schwebt dahin, entschwebt, als ob nichts war.

LYRIK – POESIE – MAGIE DER WORTE …

In der Hetze des Alltags, können solche Worte leicht überhört werden, selbst, wenn Sie in Klänge eingehüllt daher kommen. Wir hören — und sehen — heute so Vieles, dass das Erklingen von Etwas weit weniger Aufmerksamkeit erzeugt als das Nicht-Erklingen, das Schweigen, die Stille. In der Stille, in der vermeintlichen, oft beschworenen, ist es dann aber real, tatsächlich, gar nicht still … es ist anders. Wir nehmen anders wahr, Anderes, was sonst im Getöse des Alltags schlicht untergeht, weil die anderen, lauteren Klänge die leisen übertönen, kaschieren, oder maskieren, wie die Tontechniker sagen.

Und einzelne Klänge, Töne, einzelne Worte entfalten plötzlich eine eigene Resonanz mit unserem Inneren… und wie von Zauberhand steigen Bilder, Erlebnisse, andere Töne und andere Worte aus dem Dunkel des Unbewussten auf, wie von Geisterhand, und beginnen die scheinbare Stille zu füllen mit ihrem eigenen Geschmack, ihrem eigenen Anfühlen, und diese aufsteigenden Ereignisse rufen weitere, andere wach, und so entsteht ein bunter Strom an Farben, Gestalten, Tönen, Gerüchen, Geschmäckern, Worten, aus dem scheinbaren Nichts des Unbewussten, das sich als gar nicht so unbestimmt, leer erweist, als das es im ersten Moment erscheinen mag.

Fokussieren wir uns in diesen aufsteigenden Gestalten auf die Worte, Wortfetzen, Satzfragmenten, dann haben diese eine eigentümliche Zwitterstellung: ja, es sind Fragmente, herausgerissen aus etwas möglichem Größeren, lassen — noch unbewusst, unsichtbar — ein schwer Bestimmbares und doch irgend ein angefühltes Anderes in einem anklingen, das aus diesen Wortfetzen gefühlt mehr macht als sie als Worte darstellen. Dies kann die Wurzel, der Ur-Grund von Lyrik sein, von Poesie, wenngleich der eine oder die andere möglicherweise Worte wie Lyrik und Poesie noch mit weiteren Eigenschaften aufladen möchte, z.B. mit noch mehr Eigenschaften des rein Sprachlichen.

Ich bevorzuge bei solchen sprachlichen Ereignissen im Kontext von Lyrik, Poesie und RUM die Fokussierung auf den Charakter der Gratwanderung, des Ambivalenten, des Fragmentarischen, das davon lebt, dass Worte jeglicher Art diese besonderen Boten des Zwischen sind, zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, die möglichen Brücken zwischen bloßem Schall und möglicher Bedeutung. Es ist genau diese Mittlerrolle die unseren Worten eine Magie verleihen, weil sie quasi aus dem Nichts, aus der völligen Bedeutungslosigkeit, auferstehen können mit einer möglichen Botschaft zunächst zwischen dem eigenen Unbewussten und dem eigenen Bewusstsein, dann aber auch, vielleicht, im glücklichen Fall, zwischen verschiedenen Gehirnen, die in verschiedenen Körpern wohnen und sich nur über die Magie der Worte miteinander koordinieren können (ein Thema, das in diesem Blog schon mehrfach behandelt wurde, und das beliebig komplex gedacht werden kann).

MYSTIK

Im Kontext von Lyrik und Poesie muss man die Mystik nicht erwähnen. Mystik lebt primär nicht vom Wort, von Wortfragmenten, Sätzen. Mystik nährt sich vom Ereignis, das aus den Weiten des Unbewussten, des nicht direkt Wahrnehmbaren, auf uns zukommt, uns packt, uns auf vielerlei Weise berührt, anrührt, bewegt, erfüllt, aufregt, bewegt, erleuchtet, … das Vielerlei der Worte, das Menschen (Mystiker) bemühen, um das irgendwie Unsagbare doch irgendwie zu sagen, deutet an, lässt anklingen, dass wir es hier mit Urereignissen des Erlebens zu tun haben, für die Worte zu finden, die diesem Urerleben gerecht werden und sich dann irgendwie mit anderen bekannten Erlebnissen verknüpfen lassen, schwer bis unmöglich ist. Letztlich bleibt einem nur Worte zu benutzen, die irgendwie aus anderen Kontexten schon eine gewisse Bedeutung und Bekanntheit haben, und man dann diese geliehene Bedeutung benutzt, um etwas von dem neuen Erleben anzudeuten, das sich da zur Erfahrung gibt. In diesem sehr speziellen Sinne hat die Sprache der Mystik Ähnlichkeiten mit der Sprache der Lyrik und Poesie bzw. zeigt sich im Grenzfall des mystischen Erlebens die Magie der Worte in ihrem absoluten Grenzfall: man möchte etwas sagen, was eigentlich nicht sagbar ist, und benutzt dazu Worte aus anderen Zusammenhängen, die, je für sich zu ernst genommen, falsch sind, aber doch, gerade in ihren verschiedenen Verschränkungen zwischen den Zeilen, indirekt, etwas anklingen lassen können, was derjenige, der dann Ähnliches erleben kann, möglicherweise wiedererkennt.

Ist es schon in der offiziellen Wissenschaft heute nicht ganz einfach, ja, sogar schwer, zwischen wahrer Wissenschaft und Fake-Wissen zu unterscheiden, so geraten wir im Bereich der Mystik, der mystischen Sprache, in einen Bereich, wo eine Bewertung des Wahrheits- und Sinngehaltes letztlich — und auch dann nur ansatzweise, versuchsweise — gelingt, wenn man selbst hinreichend ähnliche Erlebnisse, Erfahrungen machen konnte, die sich über viele Zeitpunkte in verschiedenen Kontexten erstrecken. Trotz dieses schwer fassbaren Gehalts an Wirklichkeit sind solche Erfahrungen dennoch von großem Wert, da sie etwas über uns, unsere Wirklichkeit erkennen lassen, das deutlich über die grobkörnigen Alltagsereignisse hinausreicht (auch eine moderne Physik lebt von zahllosen grenzwertigen Phänomenen, die sich in keiner Alltagserfahrung erfassen lassen, nur mit aufwendigsten Messvorrichtungen, die jede für sich eine Vielzahl komplexer Theorien voraussetzen, um sie zu interpretieren). Und die mystische Erfahrung in dieser Form ist in keiner Weise beliebig! Ihr Charakter gleicht jener der härtesten empirischen Erfahrung, ist nicht manipulierbar, und macht ausdrücklich, was eine Quantenphysik nur sehr indirekt vermitteln kann: der Grundcharakter aller Wirklichkeit ist nicht deterministisch sondern Freiheit. Die mystische Erfahrung enthüllt in der Art und Weise, wie sie in jedem von uns stattfinden kann, neben ihrer Ur-Realität eine Nicht-Erzwingbarkeit. Es kann stattfinden, es muss aber nicht. Dies ist schwer verstehbar; aber der Grundcharakter der quantenmechanisch enthüllten empirischen Wirklichkeit als solcher ist auch nicht wirklich verstehbar. Wie denn auch? Wir kennen nichts Vergleichbares.

Wenn man bedenkt, dass die Menschen aus allen Zeiten, aus denen wir Zeugnisse haben, den mystischen Charakter ihres Grunderlebens schon immer entdeckt und genutzt haben (nicht zu verwechseln mit den vielfältigen Ideologien unterschiedlichster Religionen, die wenig mit Mystik zu tun haben), dann könnte man sagen, dass die moderne Physik die späte Rekonstruktion dieser Ur-Phänomene mit empirisch-formalen Mitteln ist. Leider hat die offizielle Physik den Kontakt mit ihren eigenen humanen Wurzeln weitgehend verloren; selbst der unverzichtbare Beobachter wird aus theoretischen Betrachtungen weitgehend eliminiert, was die physikalischen Theorien in gewisser Weise in die Sphären von irrationalen Wortgebilden entrückt. Aber diese Blickrichtungen sind grundsätzlich korrigierbar.

KEIN FAKE

Unsere Zeiten erleben die Praxis von Propaganda, Desinformationen und Fake-News mit einer neuen, bislang kaum gekannten Wucht, vor allem nicht in der Art, dass Regierungen und Öffentlichkeiten selbst in sogenannten demokratischen Staaten meinen, dass dies doch kein Problem sei. Dass wir als Menschen uns auf diese Weise großflächig, ja, man könnte sagen, in einem industriellem Maße, den Zugang zur Wirklichkeit, zur Wahrheit verschütten, verbauen, unkenntlich machen, und uns als Gesellschaften damit die Basis für eine rationale Zukunftsgestaltung entziehen, scheint aktuell immer weniger Menschen zu kümmern.

Der bewusste Umgang mit der realen Welt im Lichte des eigenen Erlebens, und gerade auch im Grenzbereich der Magie der Worte und der mystischen Erfahrung, ist dagegen keine Flucht aus der Wirklichkeit, ist kein Fake, sondern die einzige Möglichkeit, den instrumentalisierten Fakes eines global ferngesteuerten Alltags ein kleines Stück echter Wirklichkeit entgegen zu setzen. Einzelne Elementarteilchen scheinen bedeutungslos zu sein, aber im Verbund von Atomen, Molekülen und Zellen entwickeln sie eine Kraft, die dabei ist, das gesamte Universum zu verändern. Fake News sind dagegen eine kognitive Krankheit, eine Art kognitiver Krebs, der daherkommt wie Wahrheit aber tatsächlich mögliche Wahrheit im falschen Gewand der Wahrheit zersetzt, zerstört, und damit unsere Brücken zur realen Welt und zueinander zerstört.

THE FLYING DANCER

Ist der fliegende Tänzer nur ein unwirkliches Fantasiegebilde oder irgendwie mehr?…

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