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Buch: Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab? – Kapitel 2 (neu)

Der folgende Text ist der Vorabdruck des Kapitel 2 aus dem Buch Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab?.

Neue Version von Kap.2 vom 21.Juli 2015

Monster und Engel

Es ist noch nicht so lange her, da folgten Menschenmassen wie Marionetten den Parolen faschistischer und nationalistischer Führer. Sie bekamen Arbeit, bescheidenen Wohlstand, Ordnung und viele Belobigungen für ihr Selbstwertgefühl. Dafür waren sie willig, gehorchten den Befehlen aus dem Radio, den Wochenschauen und den lokalen Repräsentanten. Dem voraus gingen Könige und Kaiser, für die Ehre alles und der Mensch nichts war.

Tötungsorgien

Mit der Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien am 28.Juli 1914 begann der erste Weltkrieg. Im Laufe dieses Krieges standen nach Schätzungen ca. 70 Millionen Menschen unter Waffen und ca. 17 Millionen sind gefallen. Dies war bis dahin die größte Tötungsorgie in der Geschichte der Menschheit.

Konnte man denken, dass dieser Tötungswahnsinn nicht mehr zu überbieten ist, wurde man durch die Geschichte darin belehrt, dass der Mensch sehr wohl zu noch mehr Gräueltaten fähig ist.
Mit dem Überfall Japans auf China am 7.Juli 1937 begann der zweite chinesisch-japanische Krieg, der mit dem Überfall auf Pearl Harbor am 7.Dezember 1941 sich zum pazifischen Krieg ausweitete. Hitler, der China bis 1941 gegen Japan unterstützt hatte, startete dann selbst einen Krieg. Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht am 1.September 1939 auf Polen begann der zweite Weltkrieg in Europa. Der europäische, der chinesisch-japanische und der pazifische Krieg zusammen haben nach Schätzung 1 und Schätzungen 2 ca. 22 – 33 Mio. Kriegstote gefordert hat und ca. 38 – 55 Mio zivile Opfer. Das Besondere hier ist, dass es dieses Mal nicht nur die Europäer waren — genauer die Deutschen –, die diesen Tötungswahnsinn inszenierten, sondern dass im asiatisch-pazifischen Raum Japan als imperiale Macht mit dem asiatisch-japanischen Krieg demonstrierte, dass der Wahnsinn des Tötens nicht geographisch und ethnisch beschränkt ist.

Ist der Krieg als solcher schon erschreckend genug, übersteigt das systematische Töten unabhängig vom Krieg, das Grauen deutlich. Unter Hitlers Führung wurden etwa 13.1 Mio systematische Tötungen an Menschen vorgenommen, die aus religiös-ethnischen, medizinischen, politischen Gründen ausgegrenzt wurden. Von den Opfern waren ca. 45\% jüdische Mitmenschen, ca. 25\% sowjetische Kriegsgefangene und ca. 25\% nichtjüdische Zivilisten (siehe Schätzung Kriegstote). Das systematische Töten Andersdenkender war aber kein Privileg Hitlers. Vor und nach dem zweiten Weltkrieg forderten die politischen Säuberungen von Josef Stalin ca. 3 -20 Millionen Tote.

Und auch nach dem zweiten Weltkrieg ging das Opfern von Menschen im großen Stil weiter. Zwar von anderer Art, aber nicht minder grausam für die Betroffenen, war ein politisches Programm genannt der ‚Großer Sprung‘, das Mao Zedong 1958 gestartet hatte. Eine massive Umstrukturierung der Gesellschaft mit dem Ziel einer Verbesserung kalkulierte große Opfer ein. Dieses Opfer kam tatsächlich zustande durch eine schwerwiegende Hungersnot, die in China von 1959 bis 1961 ca. 36 bis 45 Mio Menschen das Leben kostete. Damit handelt es sich um die größte Hungerkatastrophe in der Geschichte der Menschheit. Das Wort ‚Demozid‘ wurde geprägt.

Ein anderer ‚Demozid‘ ereignete sich in Kambodscha, kurz nachdem die roten Khmer im April 1975 die Hauptstadt Phnom Penh erobert hatten. Unter der Leitung von Pol Pot führten die roten Khmer eine radikale Umgestaltung und Säuberung der Gesellschaft durch. Die absoluten Opferzahlen betragen — im Vergleich zur großen Hungersnot zwar ’nur‘ — ca. 2-3 Mio Menschen, was bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 8 Mio Menschen aber etwa einem Viertel der Bevölkerung entspricht, die hier auf grausamste Weise umgebracht wurde.

Die Liste von Kriegen, Verfolgungen, Folterungen, Genozids, Demozids ließe sich hier weiter fortsetzen bis in unsere Gegenwart.

Diese Ereignisse zeigen eines ganz klar: Wir Menschen sind relativ leicht im großen Stil manipulierbar; wir begehen die schlimmsten Gräueltaten, wenn andere uns dies befehlen; keine Nation scheint hier ausgenommen zu sein.

Neuentdeckung der Würde

Schon während des großen Tötens, am 1.Januar 1942, schließen sich unverhofft 26 Länder zu einer gemeinsamen Aktion gegen die kriegstreibenden Länder zusammen, was nach Beendigung des zweiten Weltkriegs am 24.Okt.1945 seine Fortsetzung in der Gründung der Vereinten Nationen (United Nations, UN) findet. Etwa drei Jahre später am 28.Dez.1948, kommt es zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Englisch, Deutsch.

Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland ereignete sich in diesem kurzen Zeitfenster eines Aufleuchtens von Bildern zu Demokratie und Menschenrechten, wie sie so historisch kaum jemals zuvor verfügbare gewesen waren und verfügbar gewesen sein konnten. Die Vorgeschichte der politischen Demokratiebewegung in Deutschland, hatte sich im politischen Durchsetzungskampf bis dahin als zu schwach erwiesen.

Vor dem Hintergrund der grausamen Tötungsorgien erscheint es wie ein Wunder, dass der Verfassungstext vom Mai 1949 mit dem Begriff der ‚Menschenwürde‘ beginnt. Gleich im Artikel 1 wird die Würde des Menschen, werden die Menschenrechte sowie nachfolgend einige Grundrechte explizit genannt. Während die ‚Menschenrechte‘ mit einem ‚darum‘ in einen logischen Zusammenhang zur Menschenwürde gestellt werden, bleibt der Zusammenhang zwischen ‚Menschenwürde‘ und ‚Menschenrechten‘ an dieser Stelle offen. Die Menschenwürde gilt als „unantastbar“ und es ist „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, „sie zu achten und zu schützen“.

Mit der Gründung der demokratischen Bundesrepublik beginnt aus der Mitte Europas heraus ein neuer Demokratisierungsprozess, der nach und nach den größten Teil West- und Mitteleuropas erfasst. Die Anfänge datieren wohl auf den 18.April 1951, dem Abschluss des dem Schuhman-Plans , und einen vorläufigen Höhepunkt findet dieser Demokratisierungsprozess in den Jahren 2004 und 2007; in diesen Jahren treten 12 neue Länder aus dem ehemaligen Ostblock als neue demokratische Mitglieder dem demokratischen Europa bei.

In all diesem Geschehen demonstriert die Geschichte, dass es in der ‚Finsternis des Daseins‘ ‚Inseln des Lichts‘ geben kann, die sich nicht aus der Finsternis selbst herleiten! Irgendetwas im Menschen befähigt ihn, nicht nur den Tod, nicht nur das Grauen, nicht nur die Menschenverachtung hervor zu bringen, sondern auch das Gegenteil: Würde, Achtung, Liebe.

Der Begriff folgt der Realität

Weder die Gründung der vereinten Nationen, noch die Verkündigung der allgemeinen Menschenrechte, noch weniger die Gründung der Bundesrepublik Deutschland waren Projekte, die sich Philosophen am grünen Tisch ausgedacht hatten. Am Anfang standen keine klaren Ideen von Menschenrechten und Demokratie, die zur Realisierung in den konkreten Ereignissen führten. Nein, es war das Grauen der realen Kriege, der unendliche Wahnsinn dieser weltweiten Tötungsorgien, die in den betroffenen und bedrohten Menschen und Nationen einen Widerstand herausforderten, einen Überlebenswillen wach riefen, dem man im Nachhinein Form und Worte verlieh, eben die Idee eines friedlichen Völkerbundes, die Idee von der absoluten Würde jedes einzelnen Menschen, die Vision einer demokratischen Gesellschaft.

Dafür Worte zu finden war kein Automatismus, und sicher beeinflusst von den demokratischen Traditionen in Frankreich, England, den USA und Deutschland. Man wird aber nirgends eindeutige und zweifelsfreie Definitionen der verwendeten Begriffe finden, niedergeschrieben in einem Lehrbuch. Es ist eher ein ‚historisches Naturereignis‘, in dem die aufwühlenden Erfahrung von Krieg und Solidarität sich neue Worte gesucht und gefunden hat. Diese Worte finden wir, die der ‚Zeit danach‘ angehören, heute vor, lesen sie, reiben uns die Augen, versuchen sie zu verstehen, und beginnen mit unseren Interpretationen.

Aufstieg des Individuums

Das Buch ‚Menschenwürde (2014)‘ von Paul Tiedemann (Paul Tiedemann,„Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014. Zur Person von Paul Tiedemann.) ist solch ein Interpretationsunternehmen, das einerseits die mögliche inhaltliche Bedeutung des Begriffs aus philosophischer Sicht erläutert, andererseits eine Einordnung in das Deutsche Rechtssystem vornimmt (Anmerkung: Eine längere Diskussion des Buches von Paul Tiefemann in 11 Beiträgen vom Autor ‚cagent‘).

Im Kapitel zwei seines Buches listet Paul Tiedemann 9 verschiedene Verwendungsweisen auf, wie unterschiedliche Gruppen mit dem Begriff ‚Menschenwürde‘ verfahren; in Kapitel drei folgen 8 weitere unterschiedliche Blickrichtungen auf das Thema. Alle diese verschiedenen Verwendungsweisen und Blickrichtungen sind kaum miteinander vereinbar.

Bedenkt man den historischen Kontext verwundert dies nicht. Es illustriert nur sehr deutlich, wie schwer sich das reflektierende Denken mit Manifestationen des Menschlichen tut und dass die Begriffe, die man benutzt, nicht das Phänomen selbst ersetzen, sondern — bestenfalls — angemessen beschreiben.

Anstatt nun die aufgelisteten Positionen im einzelnen zu analysieren greift Paul Tiedemann hier explizit auf die philosophische Reflexion zurück und versucht in Kapitel vier der Relativität der Vielfalt dadurch zu entkommen, dass er anfängt, die Wortbedeutung des Wortes ‚Menschenwürde‘ isoliert von den verschiedenen zuvor zitierten Lehrmeinungen zu analysieren. Dies wirkt etwas willkürlich, da er nicht alle historisch vorkommenden Verwendungsweisen ins Auge fasst, sondern nur eine bestimmte.

In seiner Analyse, fördert Paul Tiedemann das Subjekt als Ankerpunkt zutage, dem er eine Absolutheit zuspricht, die, anders als bei Kant, nicht unerreichbar ist, sondern hinreichend mit der Konkretheit eines menschlichen Subjekts verknüpft ist. Das Subjekt ist für ihn ein Zweck an sich, vor allen anderen Werten, darin ein absoluter Wert, und auch der einzige absolute Wert. Diese Absolutheit findet im politischen Handeln, in der Delegation der politischen Macht ihre gesellschaftliche Umsetzung, die so sein soll, dass sie den einzelnen in seiner Würde ermöglicht.

Erosion des Individuums zu Beginn des 21.Jahrhunderts

Während Kant eine Absolutheit (re-)konstruieren konnte, indem er sie von allem Kontingentem, Zufälligem, Empirischem abgekoppelt hatte, lokalisiert Paul Tiedemann die Unverfügbarkeit im Individuum, das sich seiner im freien Urteilen ‚gewiss‘ sein kann. Diese Autonomie des eigenen Entscheidens und Urteiles geht einher mit den modernen sozialwissenschaftlichen und psychologischen Erkenntnissen, dass ein junger Mensch nur über angemessene soziale Interaktionen und sprachliche Kommunikation zu jenem Umgang mit sich selbst findet, der ihn in die Lage versetzt, seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche, Einsichten angemessen zu identifizieren und den Einklang mit der sozialen Umwelt zu wahren. Während die Inhalte wechseln können, bleibt die grundsätzliche Fähigkeit zu Reflexion und Urteilen konstant, bildet einen ‚Raum‘, innerhalb dessen sich der einzelne als „sich selbst bestimmend“ erfahren kann und simultan auch den anderen, das Gegenüber, mitbestimmt. Dieser generellen Selbstbestimmungsmöglichkeit kommt für Tiedemann ein grundlegender Wert zu, der durch die konkreten Einschränkungen nicht aufgehoben wird. In all diesen Prozessen vollzieht sich der Aufbau einer individuellen Identität (‚Ich‘). Tiedemann benutzt zur Kennzeichnung dieses Ansatzes die Bezeichnung ‚Identitätstheorie der Menschenwürde‘ (vgl. Tiedemann (2014), S.101f).

Die Idee, den Ankerpunkt der Autonomie in der unterstellten Fähigkeit zum eigenen Urteilen zu suchen, hat etwas Bestechendes, zugleich bietet sie einen Angriffspunkt für vielerlei Infragestellungen:

  1. Wie Tiedemann selbst ausführt, ist die inhaltliche Füllung des autonomen Urteilens abhängig von den Interaktionen mit der Umwelt und zahlreichen Rahmenbedingungen. Sollte auf einen Menschen Zwang ausgeübt werden, Gewalt, dann kann er in seinem individuellen Urteilen so stark beeinflusst werden, dass sein Urteilen nicht mehr wirklich autonom ist. Aber auch wenn dem Menschen kein Vertrauen geschenkt wird, ihm wichtiges Wissen vorenthalten oder falsches Wissen aufgezwungen wird, auch dann kann sein autonomes Urteilen ihm nicht wirklich helfen. Ferner, wird ihm keine hinreichende Privatsphäre zugestanden, wird er seine spezifischen Bedürfnisse und Fähigkeiten nicht hinreichend ausleben können (Siehe zu diesen Beispielen ausführlich das Kap.7 von Tiedemann (2014)). Und wir müssen feststellen, dass es in fast jedem Land der Erde — z.T. sehr große — Menschengruppen gibt, auf die die genannten Einschränkungen zutreffen.
  2. Wie im Kapitel 1 angedeutet, bewirkt der technologische Wandel durch die verstärkte Einführung des Digitalen in nahezu allen Bereichen eine zunehmende Abbildung von zuvor privaten, persönlichen Dingen und Handlungen in den Raum des Digitalen, wodurch Privatheit real verlorengeht. Dazu kommt das wachsende Problem der Qualität des Wissens: was ist noch ‚wahr‘, was ist ‚gefaked‘? Im Digitalen ist man auf neue Weise Beleidigungen ausgesetzt, Verleumdungen, dem Stehlen von Eigentum, der Manipulation, Ausbeutung, richtigem Terror. Die Autonomie alleine hilft hier nicht.
  3. Für die Gültigkeit seiner Überlegungen verweist Paul Tiedemann auch auf die allgemeinen Gesetze der Logik. Dieser Verweis geht ins Leere, da es die Logik, die unterstellt wird, in dieser Form bis heute nicht gibt, zumindest nicht als ausgearbeitete Theorie.
  4. Am Horizont der Vision, ansatzweise auch in der Realität, erscheint eine künstliche Intelligenz, die ebenfalls den Anspruch erhebt, autonom entscheiden zu können. War es das dann mit der Würde des Menschen? Besteht die Würde des Menschen ’nur‘ in dieser Fähigkeit des autonomen Urteilens im Raume vorfindlicher Gegebenheiten?

Das ‚Monster des Tötens‘ und der ‚Engel der Menschenwürde‘ wohnen im Menschen unmittelbar nebeneinander. Die Abhängigkeit des einzelnen von seiner Umgebung ist stark und damit das Einfallstor sowohl für menschenverachtende Propaganda wie auch für lebensbejahende Werte. Wer wird in der Zukunft gewinnen: das Monster oder der Engel? Was ist für ein Leben in der Zukunft wichtiger? Was ist ‚wahrer‘?

Fortsezung mit Teil 3 (neu).

ERKENNTNISSCHICHTEN – PHILOSOPHISCHE LEVEL. Erste Notizen

VORBEMERKUNG

Vor fast genau drei Jahren hatte ich schon einmal einen Blogeintrag geschrieben, in dem das Wort ‚Level‘ im Kontext eines Computerspiels erwähnt wurde (siehe: SCHAFFEN WIR DEN NÄCHSTEN LEVEL? Oder ÜBERWINDEN WIR DEN STATUS DER MONADEN?
). Dort jedoch wurde die Idee des Computerspiels und der Level in einem ganz anderen Zusammenhang diskutiert. Im folgenden Text geht es tatsächlich um den Versuch, konkret verschiedene Ebenen des Denkens (Level) zu unterscheiden. Als ‚Ordnungsprinzip‘ in all dem wird einmal die zeitliche Abfolge benutzt, in der diese Level auftreten können, und eine ‚implizite Architektur‘ unseres Denkens, die sich nur ‚indirekt‘ beschreiben lässt.

DER BEGRIFF ‚LEVEL‘

1. Wer heutzutage Computerspiele spielt, der kennt das: man bewegt sich immer auf einem bestimmten ‚LEVEL‘, d.h. auf einer bestimmten Spielebene. Jede Spielebene hat eigene Regeln, eine eigene spezifische Schwierigkeit. Erst wenn man genügend Aufgaben gelöst hat, wenn man hinreichend viel Punkte erworben hat, dann darf man auf den nächsten Level. Diese Idee der Spielebene, des Level, kann man auch auf den Alltag übertragen.

FUNKTIONIEREN IM ALLTAG

2. Im Alltag stehen wir in beständiger Interaktion mit unserer alltäglichen Umgebung (Level 1). Wir nehmen wahr, wir identifizieren Objekte mit Eigenschaften, Beziehungen zwischen diesen im Raum, zeitliche Abfolgen, und wir selbst verhalten uns nach bestimmten Regeln, die uns der Alltag aufdrängt oder aufgedrängt hat: wir lernen, dass Dinge fallen können; dass es Tag und Nacht gibt; dass Menschen unterschiedlich reagieren können; dass Menschen Rollen haben können, unterschiedliche Verpflichtungen; dass es Regeln gibt, Vorschriften, Gesetze, Erwartungen anderer, Gewohnheiten, Sitten, Gebräuche. Wir lernen mit der Zeit, dass Unterschiede gemacht werden bezüglich Herkunft, Sprache, wirtschaftlicher Stellung, Glaubens- oder Weltanschauungsansicht, usw.

3. Wenn alles ‚gut‘ läuft, dann FUNKTIONIEREN wir; wir tun, was erwartet wird, wir tun, was die Spielregeln sagen; wir tun, was wir gewohnt sind; wir bekommen unsere Leistungspunkte, unsere Anerkennungen …. oder auch nicht.

4. Wenn man uns fragt, wer wir sind, dann zählen wir für gewöhnlich auf, was wir so tun, welche Rollen wir spielen, welche Berufsbezeichnungen wir tragen.

DURCH NACHDENKEN ZUM PHILOSOPHIEREN

5. Sobald man nicht mehr nur FUNKTIONIERT, sondern anfängt, über sein Funktionieren NACHZUDENKEN, in dem Moment beginnt man, zu PHILOSOPHIEREN. Man beginnt dann mit einer BEWUSSTWERDUNG: man tut etwas und zugleich wird einem bewusst, DASS man es tut. Damit beginnt Level 2.

6. Beginn man mit einer solchen bewussten Wahrnehmung des DASS, des Unterscheidbaren, des sich Ereignenden, dann wird man nicht umhin kommen, zu unterscheiden zwischen jenen Phänomenen, Ereignissen, Objekten, die ‚zwischen‘ verschiedenen Menschen – also ‚intersubjektiv‘, ‚empirisch‘, ‚objektiv‘ – verfügbar sind und jenen, die ‚rein subjektive‘ Tatbestände darstellen. Über den ‚Apfel dort auf dem Tisch‘ kann man sich mit anderen verständigen, über die eigenen Zahnschmerzen, die eigenen Gefühle, die eigenen Erinnerungen usw. nicht so ohne weiteres. Jeder kann bis zu einem gewissen Grad ‚IN SEIN BEWUSSTSEINS HINEINSCHAUEN‘ – ’subjektiv‘, ‚introspektiv‘,’phänomenologisch‘– und solche Phänomene wahrnehmen, die NICHT INTERSUBJEKTIV sind, sondern REIN SUBJEKTIV. Diese OJEKTE DER INNENWELT sind für das eigene Erleben genauso real wie die Objekte der Außenwelt, aber sie sind nicht zugleich auch von anderen Menschen wahrnehmbar. Diese bewusste Unterscheidung zwischen AUSSEN und INNEN innerhalb des Level 2 soll hier als Level 3 bezeichnet werden. Die Menge der Inhalte, die innerhalb von Level 2 und 3 bewusst wahrgenommen werden, sollen hier einfach PHÄNOMENE genannt werden mit der anfangshaften Unterscheidung von intersubjektiven Phänomenen auch als EMPIRISCHE PHÄNOMENE und rein subjektive Phänomene als NICHTEMPIRISCHE PHÄNOMENE

WELT NEU ERZÄHLEN

7. Mit dem Bewusstwerden von Level 2 und Level 3 kann eine neue Form von BESCHREIBUNG beginnen, die hier LEVEL 4 heißen soll. Dieser Level 4 stellt eine Art META-LEVEL dar; man spricht auf einem Meta-Level über einen anderen Level. Dies ist vergleichbar einem Linguisten, der die Eigenschaften einer Sprache (z.B. des Deutschen) in seiner Fachsprache beschreiben muss. So könnte es sein, dass ein Satz wie ‚Das Haus hat einen Eingang‘ auf der linguistischen Metaebene eine Beschreibung bekäme wie ‚(‚Das‘: Bestimmter Artikel)(‚Haus‘: Substantiv)(‚hat‘: Verb)(‚einen‘: unbestimmter Artikel)(‚Eingang‘: Substantiv)‘; diese Beschreibung könnte viele weitere Elemente enthalten.

8. Eine Meta-Beschreibung kann innerlich weiter strukturiert sein. Auf Level 4.0 BENENNT man nur, was man im DASS unterscheiden kann: Objekte, Eigenschaften, Beziehungen. Auf Level 4.1 kann man ABFOLGEN von benannten Phänomenen identifizieren, speziell solche, die REGELHAFT erscheinen. Aus der Gesamtheit von Benennungen und Abfolgen kann man auf Level 4.2 ein MODELL konstruieren, mittels dem eine Teilmenge von Phänomenen und deren Abfolgen FUNKTIONAL ERKLÄRT werden soll. Mit einer zusätzlichen LOGIK auf Level 4.3 kann man dann mit einem Modell FOLGERUNGEN konstruieren, die wie VORHERSAGEN benutzt werden können, die sich ÜBRPRÜFEN lassen.

9. Beschränkt man sich auf dem Level 4 auf die empirischen Phänomene, dann bilden die Level 4.0 – 4.3 das, was wir die EMPIRISCHEN WISSENSCHAFTEN nennen. Man benennt = beschreibt die Dinge dann in einer eigenen Fachsprache (Chemie, Psychologie, Physik, Linguistik, …); man definiert Messverfahren, wie man Eigenschaften reproduzierbar messen kann; und man benutzt die Mathematik und die formale Logik, um Modelle (THEORIEN) zu konstruieren.

10. Beschränkt man sich auf dem Level 4 hingegen auf die nicht-empirischen Phänomene, dann bilden die Level 4.0 – 4.3 das, was wir die SUBJEKTIVE WISSENSCHAFT nennen könnten. Auch hier würde man die Dinge mit einer eigenen Fachsprache benennen = beschreiben; man definiert Verfahren, wie man möglicherweise Eigenschaften reproduzierbar erzeugen kann; und man benutzt die Mathematik und die formale Logik, um Modelle (THEORIEN) zu konstruieren. Eine Verständigung über Theorien der subjektiven Wissenschaft wären aufgrund der subjektiven Wahrnehmungsbasen ungleich schwieriger als im Falle von empirischen Theorien, aber niht völlig augeschlossen.

KREATIVITÄT

11. Hat man das ‚automatische‘ Verhalten überwunden (so wie es alle tun, so wie man es gelernt hat), und ist sich stattdessen bewusst geworden, dass man so und so handelt, und hat man angefangen das Automatische bewusst zu rekonstruieren, dann kann man jetzt auch bewusst Alternativen durch Variationen erzeugen [Anmerkung: natürlich kann man auch ohne Reflexion ’spontan‘ Dinge anders tun, als man sie vorher getan hat, aber dies ist dann ‚überwiegend zufällig‘, während ein Kreativität in einem reflektierten Kontext sowohl ‚gerichtet‘ ist aufgrund des verfügbaren Wissens, zugleich aber auch ‚zufällig‘, jedoch in einem viel größeren Umfang; nicht nur ‚punktuell‘]. Man kann jetzt sehr bewusst fragen, ‚warum‘ muss ich dies so tun? Warum will ich dies so? Was sind die Voraussetzungen? Was sind die Motive? Was sind die Ziele? Was will man erreichen? Usw.

12. Ein Ergebnis dieser Infragestellungen kann sein, dass man bestimmte Abläufe ändert, einfach, um mal heraus zu finden, was passiert, wenn man es anders macht. Häufige Fälle: jemand hat nie Gedichte geschrieben, weil niemand ihn vorher dazu angeregt hat, Gedichte zu schreiben; oder jemand hat nie Musik gemacht, weil sie sich immer eingeredet hat, sie sei unmusikalisch. Jemand hat nie vor anderen Menschen geredet, weil er immer Angst hatte, sich zu blamieren. Usw. Kurzum bei Erreichen von Level 4 beginnt man zu ahnen, dass alles anders sein könnte, als man es bislang gewohnt war und praktiziert hatte. Nennen wir diese neu gewonnene kreative Freiheit den LEVEL 5.

Fortsetzung folgt

AKTIVES PHILOSOPHIEREN UND ENGELHARDTs THE UNITED STATES OF FEAR – Teil 1

Engelhardt, T.; ‚The United States of Fear‘, Chicago: Haymarket Books, 2011

1. Für die letzte Philosophiewerkstatt vor der Sommerpause habe ich als unterschwellige Frage die Formulierung ins Spiel gebracht, ob aktives Philosophieren eine notwendige Bedingung für das nachhaltiges Überleben aller Menschen ist/ sein kann?

2. Diese Formulierung kann im ersten Moment sehr abstrakt wirken, fern vom Alltag.

3. In der Einleitung zu seinem Buch ‚The United States of Fear‘ (2011) beschreibt Tom Engelhardt in einer biographischen Perspektive wie er als kleiner jüdischer Junge im Nachkriegs New York der 50iger und 60iger Jahre durch Nicht-US-Filme mit Lebenssichten konfrontiert worden ist, die sein damaliges Weltbild mehr und mehr erudiert haben. Zwar ’nur Filme‘ konnte er jedoch ansatzweise die Welt aus den Augen ‚der Anderen‘ sehen, der Franzosen, der Russen und der Deutschen. Er begann zu begreifen, dass auch jenseits der Grenzen reale Menschen leben mit realen Gefühlen, Hoffnungen und Idealen, Menschen, die großes Leid erlebt haben und erleben, dass hinter den Hochglanzformeln US-amerikanisches Politik (eine Form von nationaler Propaganda) Wirklichkeiten standen und stehen, die für die Anderen alles andere als schön waren.

4. Diese Eindrücke seiner Kindheit/ Jugend haben ihn zumindest soweit verändert, dass er künftig die US-amerikanische Politik nicht mehr nur mit den typischen ‚inneramerikanischen‘ Augen zu sehen begann, sondern – zumindest ansatzweise – auch mit den Augen ‚der Anderen‘.

5. Wer Deutschland als ‚Ost‘ und ‚West‘ real erlebt hat, wer in Europa lebt, einer einmaligen historischen Vielfalt, wer real in multikulturellen Gruppierungen nicht nur funktioniert hat, sondern ansatzweise wenigstens die einzelnen Menschen mit ihren kulturbedingten Mustern direkt wahrnehmen kann, dem geschieht Ähnliches; einfache Muster vom Menschen und der Welt gelingen nicht ohne weiteres (obgleich die Existenz von fundamentalistischen Gruppierungen unterschiedlichster Färbung zeigt, dass die Wahrnehmung von ‚Vielfalt‘ nicht zwangsläufig zu entsprechend vielfältigen, differenzierten Denkmustern führen muss). Wer den Anderen in solch einer Vielfalt ernsthaft wahrnimmt, der kann danach nicht mehr nur Schwarz oder Weiß denken.

System A hat eine andere Interprettion der gemeinsamen Welt wie System B
System A hat eine andere Interprettion der gemeinsamen Welt wie System B

6. In einer starken Vereinfachung kann man sagen (siehe Diagramm), dass jeder Mensch die Welt ‚um sich herum‘ mit Hilfe seines Gehirns zu unterschiedlichen Bildern ‚verarbeitet‘. Nennt man solche ‚internen Verarbeitungen‘ vereinfachend mal ‚Kognition‘ (oder einfach ‚Denken‘), dann sind es solche kognitiven Prozesse, die im einzelnen ablaufen und die individuelle ‚kognitive Bilder‘ – auch ‚mentale Modelle‘ genannt – erzeugen. Wie man schon bei kleinen Kindern feststellen kann, wenn sie von einem gemeinsamen Erlebnis erzählen oder malen sollen, kann der einzelne die ‚gleiche Sache‘ ganz unterschiedlich ‚wahrnehmen‘ und ‚interpretieren‘.

7. Solange in solch einer Situation ein System A seine eigenen Bilder für ‚die Welt schlechthin‘ nimmt, während eine anderes System B die Welt mit anderen Bildern verknüpft hat, solange werden A und B nicht zusammen kommen. Wichtig ist hier, dass es nicht ‚die Welt an sich‘ ist, die die beiden A und B auseinander treibt, sondern die Art und Weise, wie A und B jeweils individuell die gemeinsam geteilte Welt ‚interpretieren‘. Obwohl sie ganz offensichtlich in der gleichen Welt leben, haben sie ‚in ihrem Kopf‘ unterschiedliche Welten, weil sie mit ihrem individuellen Denken die Welt ‚verändern‘ und ein ‚mentales Bild‘ erzeugen, was die gleiche Welt als ‚zwei verschiedene Welten‘ konstruiert.

8. Schaut man sich in seinem Alltag um, und beschönigt nichts, dann wird man feststellen, dass diese ‚unterschiedlichen Bilder‘ von der Welt der Normalfall sind. Dies ist unangenehm, kann Angst machen. Von daher versuchen Menschen, die sich neu begegnen, in der Regel erst mal heraus zu finden, ob sie irgendwelche gemeinsamen Anknüpfungspunkte haben, von denen her sie ein ‚gemeinsames Verstehen‘ aufbauen können. Viele Gruppierungen bilden sich nur, um solch eine kleine Menge von Gemeinsamkeiten zu finden, um die herum eine Art ‚Wir-Gefühl‘ ausgebildet wird, an dem man sich festhalten kann; dies ergibt eine gewisse ‚Sicherheit‘ im ansonsten unheimlichen Alltag. Dieses Bedürfnis nach einem ‚Wir-Gefühl‘ kann stärker sein als der Wunsch nach Wahrheit.

9. Im übrigen ist der Aufbau eines ‚Wir-Gefühls‘ anhand von Gemeinsamkeiten per se nichts Schlechtes; bis zu einem gewissen Grad ist es sogar notwendig und unvermeidlich. Schwierig wird es nur, wenn man nach dem ‚ersten Abtasten‘ bei einem ‚mentalen Modell‘ verharrt, das offensichtlich vereinfachend, unvollständig ist, und das jetzt weiter zu entwickeln wäre. Dieses ‚weiter Entwickeln‘ bedeutet aber dann in der Regel harte, mühsame Arbeit. Man muss individuelle Unterschiede benennen und sich daran gemeinsam abarbeiten; dann haben A und B eine Chance möglicherweise zu verstehen, warum sie in bestimmten Punkten zu unterschiedlichen Interpretationen gekommen sind und welche Variante möglicherweise ‚korrigiert‘ werden sollte (oder man ‚versteht‘ dann, warum es zwei Varianten geben kann).

10. Im Alltag passiert aber oft das Folgende: der jeweils ‚Stärkere‘ tendiert dazu, die ‚Schwächeren‘ zu ‚vereinnahmen‘. Der rollenmäßig ‚Schwächere‘ kann ‚wahrer‘ sein als der rollenmäßig Stärkere; aber seine Einsichten werden ‚weggeredet‘, ‚totgeschwiegen‘, ‚diskriminiert‘ usw. (es gibt hier viele Spielarten). Es gibt hier keine ‚Königswege‘, keine ‚immer funktionierende Verfahren‘, da die ‚Wahrheit‘ dasjenige ist, was zwar ‚vorgegeben‘ ist, aber die kognitiven Interpretationen des Vorgegebenen sind ‚in sich‘ nicht transparent und die ‚Wahrheit‘ existiert nicht ‚explizit gegeben‘, sondern ‚implizit anwesend‘. Wer in seiner kognitiven Interpretation bestimmte Aspekte einfach nicht sehen will — oder aufgrund von Vorurteilen sich selbst inhaltlich ‚verstellt‘ hat – wird sie auch nicht sehen.

11. Daraus folgt, dass ein erforschendes Ausgreifen des menschlichen Denkens ohne eine fundamentale ‚Demut der Sache gegenüber‘, ohne eine radikale ‚Methodentreue‘ permanent gefährdet ist, an der Sache ‚vorbei zu laufen‘, obwohl sie ‚da ist‘ (je ‚mächtiger‘ und ‚großartiger‘ sich jemand wähnt, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er sich selbst von der Wahrheit aussperrt).

Fortsetzung folgt…

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

DAS NEUE MENSCHENBILD – ERSTE SKIZZE

MUSIK ZUR EINSTIMMUNG

Das Stück „Wenn die Worte aus der Dunkelheit aufsteigen wie Sterne“ entstand zunächst als ein reines Instrumentalstück (die erste Hälfte des aktuellen Stücks; diesen Teil hatte ich auch schon mal am 4.April im Blog benutzt). Doch inspirierte die Musik zum ‚Weitermachen‘, zunächst entstand eine Fortsetzung rein instrumental; dann habe ich ab der Mitte spontan einen Text dazu gesprochen. Im Nachhinein betrachtet passt dieser Text sehr gut zum heutigen Blogeintrag (ist kein Dogma … :-))

UNSCHULDIGER ANFANG

1. Als ich am 20.Januar 2007 – also vor 7 Jahren und 3 Monaten – meinen ersten Blogeintrag geschrieben habe, da wusste ich weder genau, was ich mit dem Blog wollte noch konnte ich ahnen, was durch das Niederschreiben von Gedanken alles an ‚kognitiven Bildern‘ von der Welt und dem Menschen entstehen konnte. Langsam schälte sich als Thema – wenngleich nicht messerscharf – ‚Neues Weltbild‘ heraus. Das konnte alles und nichts sein. Aber im gedanklichen Scheinwerferkegel von Theologie, Philosophie, Wissenschaftstheorie, Psychologie, Biologie, Linguistik, Informatik, Neurowissenschaften, Physik gab es Anhaltspunkte, Eckwerte, die den aktuellen Gedanken wie eine Billardkugel von einer Bande zur anderen schickten. Dazu die heutige, aktuelle Lebenserfahrung und die vielen Begegnungen und Gespräche mit anderen Menschen.

2. Die letzten beiden Blogeinträge zum Thema Bewusstsein – Nichtbewusstsein markieren einen Punkt in dieser Entwicklung, ab dem ‚wie von Zauberhand‘ viele einzelnen Gedanken von vorher sich zu einem Gesamtbild ‚zusammen schieben‘, ergänzen.

AUSGANGSPUNKT INDIVIDUELLES BEWUSSTSEIN

3. Akzeptieren wir den Ausgangspunkt des individuellen Bewusstseins B_i als primären Erkenntnisstandpunkt für jeden Menschen, dann besteht die Welt für jeden einzelnen zunächst mal aus dem, was er/ sie im Raume seines eigenen individuellen Bewusstseins erleben/ wahrnehmen kann.

4. Da es aber zur Natur des individuellen Bewusstseins gehört, dass es als solches für ‚andere‘ ‚unsichtbar‘ ist, kann man auch nicht so ohne weiteres über die Inhalte des eigenen Bewusstseins mit anderen reden. Was immer man mit Hilfe eines Ausdrucks A einer Sprache L einem anderen mitteilen möchte, wenn der Ausdruck A als Schallwelle den anderen erreicht, hat er zwar einen Schalleindruck (falls erhören kann), aber er/ sie weiß in dem Moment normalerweise nicht, welcher Inhalt des Bewusstseins des Sprechers damit ‚gemeint‘ sein könnte.

5. Dass wir uns trotzdem ‚unterhalten‘ können liegt daran, dass es offensichtlich einen ‚Trick‘ geben muss, mit dem wir diese unüberwindliche Kluft zwischen unseren verschiedenen Bewusstseinsräumen überwinden können.

KLUFT ZWISCHEN INDIVIDUELLEN BEWUSSTSEINSRÄUMEN ÜBERWINDEN

6. Der ‚Trick‘ beruht darauf, dass der individuelle Bewusstseinsraum einem ‚individuellen Körper‘ zugeordnet ist, dass es in diesen Körper Gehirne gibt, und dass das individuelle Bewusstsein eines Körpers k_i als Ereignis im Gehirn g_i des Körpers k_i zu verorten ist. Das Bewusstsein B_i partizipiert an den Gehirnzuständen des Gehirns, und dieses partizipiert an den Körperzuständen. Wie die Wissenschaft mühsam erarbeitet hat, können bestimmte Außenweltereignisse w über ‚Sinnesorgane‘ in ‚Körperereignisse‘ ‚übersetzt‘ werden‘, die über das Gehirn partiell auch das Bewusstsein erreichen können. Sofern es jetzt Außenweltereignisse w‘ gibt, die verschiedene Körper in ähnlicher Weise ‚erreichen‘ und in diesen Körpern via Gehirn bis zu dem jeweiligen individuellen Bewusstsein gelangen, haben diese verschiedenen individuellen Bewusstseinsräume zwar ‚rein private‘ Bewusstseinszustände, aber ‚gekoppelt‘ über Außenweltzustände w‘ haben die verschiedenen Bewusstseinszustände B_1, …, B_n alle Bewusstseinsereignisse b_i, die als solche ‚privat‘ sind, aber ‚zeitlich gekoppelt‘ sind und sich mit Änderung der Außenweltzustände w‘ auch ’synchron‘ ändern. Die gemeinsam geteilte Außenwelt wird damit zur ‚Brücke‘ zwischen den körperlich getrennten individuellen Bewusstseinsräumen. Diese ‚ gemeinsam geteilte Außenwelt‘ nennt man oft den ‚intersubjektiven‘ Bereich der Welt bzw. dies stellt den Raum der ‚empirischen Welt‘ [Wemp] dar. Aus Sicht des individuellen Bewusstseins ist die empirische Welt eine Arbeitshypothese, die dem individuellen Bewusstsein zugänglich ist über eine spezifische Teilmenge [PHemp] der Bewusstseinszustände [PH].

EMPIRISCHE WELT ALS SONDE INS NICHTBEWUSSTSEIN

7. In der Geschichte des menschlichen Wissens spielt die Entdeckung der empirischen Welt und ihre systematische Untersuchung im Rahmen der modernen empirischen Wissenschaften bislang – nach meiner Meinung – die größte geistige Entdeckung und Revolution dar, die der menschliche Geist vollbracht hat. Auf den ersten Blick wirkt die Beschränkung der empirischen Wissenschaften auf die empirischen Phänomene PHemp wie eine unnötige ‚Einschränkung‘ und ‚Verarmung‘ des Denkens, da ja die Menge der bewussten Ereignisse PH erheblich größer ist als die Menge der empirischen Ereignisse PHemp. Wie der Gang der Geschichte aber gezeigt hat, war es gerade diese bewusste methodische Beschränkung, die uns den Bereich ‚außerhalb des Bewusstseins‘, den Bereich des ‚Nichtbewusstseins‘, Schritt für Schritt ‚erforscht‘ und ‚erklärt‘ hat. Trotz individuell stark eingeschränktem Bewusstsein konnte wir auf diese Weise so viel über die ‚Rahmenbedingungen‘ unseres individuellen Bewusstseins lernen, dass wir nicht mehr wie die früheren Philosophen ‚wie die Fliegen am Licht‘ an den Phänomenen des Bewusstseins kleben müssen, sondern wir können zunehmend Hypothesen darüber entwickeln, wie die verschiedenen Bewusstseinsphänomene (inklusive ihrer Dynamik) durch die Strukturen des Gehirns und des Körpers bestimmt sind. M.a.W. wir stehen vor dem Paradox, dass das individuelle Bewusstsein den Bereich des Nichtbewusstseins dadurch ‚verkleinern‘ kann, dass es durch Ausnutzung der empirischen Phänomene mittels gezielter Experimente und Modellbildung immer mehr Eigenschaften des Nichtbewusstseins innerhalb des individuellen Bewusstseins ’nachkonstruiert‘ und damit ‚bewusst‘ macht. Bedenkt man wie eng und schwierig die Rahmenbedingungen des menschlichen Bewusstseins bis heute sind, gleicht es einem kleinen Wunder, was dieses primitive menschliche Bewusstsein bislang nachkonstruierend erkennen konnte.

8. Von diesem Punkt aus ergeben sich viele Perspektiven.

BIOLOGISCHE EVOLUTION

9. Eine Perspektive ist jene der ‚evolutionären Entwicklungsgeschichte‘: seit gut hundert Jahren sind wir mehr und mehr in der Lage, unsere aktuellen Körper und Gehirne – zusammen mit allen anderen Lebensformen – als einen Gesamtprozess zu begreifen, der mit den ersten Zellen vor ca. 3.8 Milliarden Jahren als biologische Evolution begonnen hat, ein Prozess, der bis heute noch viele Fragen bereit hält, die noch nicht befriedigend beantwortet sind. Und der vor allem auch klar macht, dass wir heute keinen ‚Endpunkt‘ darstellen, sondern ein ‚Durchgangsstadium‘, dessen potentieller Endzustand ebenfalls nicht ganz klar ist.

10. Ein wichtiger Teilaspekt der biologischen Evolution ist, dass der Vererbungsmechanismus im Wechselspiel von Genotyp (ein Molekül als ‚Informationsträger‘ (Chromosom mit Genen)) und Phänotyp (Körper) im Rahmen einer Population eine ‚Strukturentwicklung‘ beinhaltet: die Informationen eines Informationsmoleküls (Chromosom) werden innerhalb des Wachstumsprozesses (Ontogenese) als ‚Bauplan‘ interpretiert, wie man welche Körper konstruiert. Sowohl bei der Erstellung des Informationsmoleküls wie auch bei seiner Übersetzung in einen Wachstumsprozess und dem Wachstumsprozess selbst kann und kommt es zu partiellen ‚Änderungen‘, die dazu führen, dass die resultierenden Phänotypen Änderungen aufweisen können (verschiedene Arten von Sehsystemen, Verdauungssystemen, Knochengerüsten, usw.).

11. Im Gesamtkontext der biologischen Evolution sind diese kontinuierlich stattfindenden partiellen Änderungen lebensentscheidend! Da sich die Erde seit ihrer Entstehung permanent geologisch, klimatisch und im Verbund mit dem Sonnensystem verändert, würden Lebensformen, die sich von sich aus nicht auch ändern würden, schon nach kürzester Zeit aussterben. Dies bedeutet, dass diese Fähigkeit zur permanenten strukturellen Änderung ein wesentliches Merkmal des Lebens auf dieser Erde darstellt. In einer groben Einteilung könnte man sagen, von den jeweils ’neuen‘ Phänotypen einer ‚Generation‘ wird die ‚große Masse‘ mehr oder weniger ‚unverändert‘ erscheinen; ein kleiner Teil wir Veränderungen aufweisen, die es diesen individuellen Systemen ’schwerer‘ macht als anderen, ihre Lebensprozesse zu unterstützen; ein anderer kleiner Teil wird Veränderungen aufweisen, die es ‚leichter‘ machen, die Lebensprozesse zu unterstützen. Letztere werden sich vermutlich proportional ‚mehr vermehren‘ als die beiden anderen Gruppen.

12. Wichtig an dieser Stelle ist, dass zum Zeitpunkt der Änderungen ’niemand‘ weiß bzw. wissen kann, wie sich die ‚Änderung‘ – bzw. auch die Nicht-Änderung! – im weiteren Verlauf auswirken wird. Erst der weitergehende Gesamtprozess wird enthüllen, wie sich die verschiedenen Strukturen von Leben bewähren werden.

LEBENSNOTWENDIGE KREATIVITÄT: WOLLEN WIR SIE EINSPERREN?

13. Übertragen auf unsere heutige Zeit und unser Weltbild bedeutet dies, dass wir dieser Veränderlichkeit der Lebensformen immer Rechnung tragen sollten, um unsere Überlebensfähigkeit zu sichern. Zum Zeitpunkt einer Änderung – also jetzt und hier und heute – weiß niemand, welche dieser Änderungen morgen vielleicht wichtig sein werden, zumal Änderungen sich erst nach vielen Generationen auszuwirken beginnen.

14. Es wäre eine eigene große Untersuchung wert, zu schauen, wie wir heute in der Breite des Lebens mit den stattfindenden Änderungen umgehen. In der Agrarindustrie gibt es starke Tendenzen, die Vielzahl einzugrenzen und wenige Arten so zu monopolisieren, dass einzelne (ein einziger!) Konzern die Kontrolle weltweit über die genetischen Informationen bekommt (was in den USA z.T. schon zur Verödung ganzer Landstriche geführt hat, da das Unkraut sich schneller und effektiver geändert hat als die Laborprodukte dieser Firma).

STRUKTURELLES UND FUNKTIONALES LERNEN

15. Die ‚Struktur‘ des Phänotyps ist aber nur die eine Seite; genauso wenig wie die Hardware alleine einen funktionierenden Computer definiert, so reicht die Anordnung der Zellen als solche nicht aus, um eine funktionierende biologische Lebensform zu definieren. Im Computer ist es die Fähigkeit, die elektrischen Zustände der Hardware kontinuierlich zu verändern, dazu verknüpft mit einer impliziten ‚Schaltlogik‘. Die Menge dieser Veränderungen zeigt sich als ‚funktionaler Zusammenhang‘ phi_c:I —> O, der ‚Inputereignisse‘ [I] mit Outputereignissen [O] verknüpft. Ganz analog verhält es sich mit den Zellen in einem biologischen System. Auch hier gibt es eine implizite ‚Logik‘ nach der sich die Zellen verändern und Zustände ‚kommunizieren‘ können, so dass Zellgruppen, Zellverbände eine Vielzahl von funktionellen Zusammenhängen realisieren. Einige dieser funktionellen Zusammenhänge bezeichnen wir als ‚Lernen‘. Dies bedeutet, es gibt nicht nur die über Generationen laufenden Strukturveränderung, die eine Form von ’strukturellem Lernen‘ im Bereich der ganzen Population darstellen, sondern es gibt dann dieses ‚funktionelle Lernen‘, das sich im Bereich des individuellen Verhaltens innerhalb einer individuellen Lebenszeit ereignet.

WISSEN GARANTIERT KEINE WAHRHEIT

16. Dieses individuelle Lernen führt zum Aufbau ‚individueller Wissensstrukturen‘ mit unterschiedlichen Ausprägungsformen: Erlernen von motorischen Abläufen, von Objektkonzepten, Beziehungen, Sprachen, Verhaltensregeln usw. Wichtig ist dabei, dass diese individuellen Wissensstrukturen im individuellen Bewusstsein und individuellem Unterbewusstsein (ein Teil des Nichtbewusstseins, der im individuellen Körper verortet ist) verankert sind. Hier wirken sie als kontinuierliche ‚Kommentare‘ aus dem Unterbewusstsein in das Bewusstsein bei der ‚Interpretation der Bewusstseinsinhalte‘. Solange diese Kommentare ‚richtig‘ / ‚passend‘ / ‚wahr‘ … sind, solange helfen sie, sich in der unterstellten Außenwelt zurecht zu finden. Sind diese Wissensstrukturen ‚falsch‘ / ‚verzerrt‘ / ‚unangemessen‘ … bewirken sie in ihrer Dauerkommentierung, dass es zu Fehleinschätzungen und zu unangemessenen Entscheidungen kommt. Sofern man als einziger eine ‚unpassende Einschätzung‘ vertritt, fällt dies schnell auf und man hat eine Chance, diese zu ‚korrigieren‘; wird aber eine ‚Fehleinschätzung‘ von einer Mehrheit geteilt, ist es schwer bis unmöglich, diese Fehleinschätzung als einzelner zu bemerken. In einer solchen Situation, wo die Mehrheit eine Fehleinschätzung vertritt, kann ein einzelner, der die ‚richtige‘ Meinung hat (z.B. Galilei und Co. mit der neuen Ansicht zur Bewegung der Sonne; die moderne Wissenschaft und die alten Religionen; das damalige südafrikanische Apartheidsregime und der damalige ANC, der Sowjetkommunismus und die östlichen Friedensbewegungen vor dem Auseinanderfallen der Sowjetunion; die US-Geheimdienste und Snowden; …) als der ‚Fremdartige‘ erscheinen, der die bisherige ‚Ordnung‘ stört und den man deshalb ‚gesellschaftlich neutralisieren‘ muss).

17. Viele Menschen kennen das Phänomen von ‚Phobien‘ (vor Schlangen, vor Spinnen, vor …). Obwohl klar ist, dass eine einzelne Spinne keinerlei Gefahr darstellt, kann diese einen Menschen mit einer Phobie (= Kommentar des individuellen Unterbewusstseins an das Bewusstsein) zu einem Verhalten bewegen, was die meisten anderen als ‚unangemessen‘ bezeichnen würden.

18. Im Falle von psychischen Störungen (die heute statistisch stark zunehmen) kann dies eine Vielzahl von Phänomenen sein, die aus dem Raum des individuellen Unterbewusstseins in das individuelle Bewusstsein ‚hinein reden‘. Für den betroffenen Menschen ist dieses ‚Hineinreden‘ meistens nicht direkt ‚verstehbar‘; es findet einfach statt und kann vielfach kognitiv verwirren und emotional belasten. Diese Art von ‚Fehlkommentierung‘ aus dem individuellen Unterbewusstsein ist – so scheint es – für die meisten Menschen vielfach nur ‚behebbar‘ (therapierbar) mit Hilfe eines Experten und einer geeigneten Umgebung. Während Menschen mit körperlichen Einschränkungen in der Regel trotzdem ein einigermaßen ’normales‘ Leben führen können, können Menschen mit ‚psychischen Störungen‘ dies oft nicht mehr. Das geringe Verständnis einer Gesellschaft für Menschen mit psychischen Störungen ist auffällig.

SPRACHE ALS MEDIUM VON GEDANKEN

19. Seit der Entwicklung der ‚Sprache‘ kann ein individuelles Bewusstsein unter Voraussetzung einer einigermaßen ähnlichen Wahrnehmungs- und Gedächtnisstruktur in den einzelnen Mitgliedern einer Population Bewusstseinsinhalte aufgrund von Gedächtnisstrukturen mit Ausdrücken einer Sprache korrelieren. Sofern diese Korrelierung in hinreichender Abstimmung mit den anderen Sprachteilnehmern geschieht, lassen sich mittels sprachlicher Ausdrücke diese ‚Inhalte‘ (‚Bedeutungen‘) ‚indirekt‘ kommunizieren; nicht der Inhalt selbst wird kommuniziert, sondern der sprachliche Ausdruck als eine Art ‚Kode‘, der im Empfänger über die ‚gelernte Bedeutungszuordnung‘ entsprechende ‚Inhalte des Gedächtnisses‘ ‚aktiviert‘. Dass diese Kodierung überhaupt funktioniert liegt daran, dass die Bedeutungsstrukturen nicht ‚1-zu-1‘ kodiert werden, sondern immer nur über ‚verallgemeinerte Strukturen‘ (Kategorien), die eine gewisse ‚Invarianz‘ gegenüber den Variationen der konstituierenden Bedeutungselemente aufweisen. Dennoch sind die Grenzen sprachlicher Kommunikation immer dann erreicht, wenn Sprecher-Hörer über Bewusstseinstatsachen kommunizieren, die nur einen geringen oder gar keinen Bezug zur empirischen Welt aufweisen. Die Benutzung von Analogien,Metaphern, Bildern, Beispielen usw. lässt noch ‚irgendwie erahnen‘, was jemand ‚meinen könnte‘, aber eine letzte Klärung muss oft ausbleiben. Nichtsdestotrotz kann eine solche ‚andeutende‘ Kommunikation sehr hilfreich, schön, anregend usw. sein; sie ersetzt aber keine Wissenschaft.

20. Während das individuelle Wissen mit dem Tod des Individuums bislang ‚verschwindet‘, können ‚Texte‘ (und vergleichbare Darstellungen) ein individuelles Wissen bis zu einem gewissen Grade überdauern. Moderne Kommunikations- und Speichermittel haben die Sammlung und Verwertung von Wissen in bislang ungeahnte Dimensionen voran getrieben. Während allerdings die Menge dieses sprachbasierten Wissens exponentiell wächst, bleiben die individuellen Wissensverarbeitungskapazitäten annähernd konstant. Damit wächst die Kluft zwischen dem individuell verfügbaren Wissen und dem in Datennetzen verfügbaren Wissen ebenfalls exponentiell an. Es stellt sich die Frage, welchen Beitrag ein Wissen leisten kann, das sich faktisch nicht mehr verarbeiten lässt. Wenn man sieht, dass heute selbst Menschen mit einem abgeschlossenen Studium Ansichten vertreten, die im Lichte des verfügbaren Wissens gravierend falsch sein können, ja, dass das Wesen von Wissenschaft, wissenschaftlichem Wissen selbst bei Studierten (und nicht zuletzt auch bei sogenannten ‚Kulturschaffenden‘) starke Defizite aufweist, dann kann man ins Grübeln kommen, ob unsere heutige Kultur im Umgang mit wissenschaftlichem Wissen die richtigen Formen gefunden hat.

21. Hier wäre jetzt auch noch der ganze Komplex der Bedürfnisse/ Emotionen/ Gefühle/ Stimmungen anzusprechen. Doch das soll weiteren Einträgen vorbehalten bleiben.

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

IBN SINA/ AVICENNA: DIE METAPHYSIK AVICENNAS – Warum man manchmal schlafende Hunde wecken sollte (Teil 1)

AVICENNA: DIE METAPHYSIK AVICENNAS. Enthaltend Die Metaphysik, Theologie, Kosmologie und Ethik. Übersetzt und erläutert von Max Horten, Halle a.S. und New York: Verlag von Rudolf Haupt, 1907 (Reprint durch Amazon.co.uk Ltd., Marston Gate (Great Britain), Ulan Press, keine Jahreszahl)

Nachtrag: hier eine musikalische Variante zu Avicenna; tatsächlich 10 Tage vor dem Eintrag in den Blog. Die Aussprache der Jahreszahl zu Beginn ist nicht korrekt … Das ist eben ‚radically unplugged music‘ (RUM).

VON LOBO, NSA, DEMOKRATIE, MACHT ZU AVICENNA

Im Film wäre der Übergang vom letzten Blogeintrag zum diesem hier ein harter Schnitt. Aber hier im Blog muss dies auch sein, da die Welt viele Facetten hat und dieser Blog sich der Vielfalt aus Sicht der Philosophie verschrieben hat. Letztlich könnte man sogar eine direkte Brücke bauen. Nehmen wir den Interneterklärer Lobo (die NSA und die anderen Stichworte wären natürlich auch geeignet). Lobo diagnostiziert an sich selbst, dass sein ‚bisheriges Bild vom Internet‘ ‚falsch‘ gewesen ist. Anhand konkreter Ereignisse wird ihm bewusst, dass sein ‚Weltbild‘ die reale Welt nicht so repräsentiert hatte, wie sie sich ihm jetzt in den konkreten Ereignissen ’neu‘ darzustellen scheint. Er ist jemand, der nicht nur zu solcher kritischen Selbsterkenntnis fähig zu sein scheint, nein, er macht es auch noch transparent, öffentlich; er macht sich damit anfassbar. Ob sich dadurch viel ändern wird, ist damit noch nicht gesagt; aber er hat damit zumindest empfänglich gemacht für mögliche ‚Korrekturen‘ an seinem ‚Weltbild‘.

WELTBILD

Die sprachliche Ausdrucksweise, dass wir vom ‚Weltbild‘ Lobos reden, ist einerseits ‚üblich‘, andererseits aber — bei näherer Betrachtung — gefährlich. Legt sie doch die Vorstellung nahe, dass das Weltbild etwas ‚Konkretes‘, ‚Wirkliches‘ ‚in‘ Sascha Lobos ‚Kopf‘ sei, wie so eine Art Gegenstand mit Eigenschaften, allerdings ein Gegenstand, der sich ‚ändern‘ kann. Dazu kommt, dass der Gegenstand ‚Weltbild‘ die Art und Weise bestimmt, wie wir unsere Welt ’sehen‘, ‚interpretieren‘. Das ist sehr ungewöhnlich für Gegenstände. Wir benutzen zwar die Gegenstände ‚Brille‘, ‚Fernglas‘, ‚Mikroskop‘ (und Fernsehen? und Computer? und Smartphone? …), um die Dinge der realen Welt visuell ’scharf‘ zu sehen oder ‚größer‘ (oder ‚bunt‘ mit mitgeliefertem, aber nicht kenntlich gemachten, Interpretationsanteilen?), aber diese optischen ‚Sehhilfen‘ lassen die Dinge (von Skalierungen und Farbveränderungen abgesehen), ‚wie sie sind‘. Ein ‚Weltbild‘ hingegen ‚verändert‘ die Dinge notwendigerweise. Ohne dass wir selbst etwas dagegen tun können werden die Inhalte unserer Wahrnehmung (visuell, akustisch, … , interozeptiv, ..) vom aktuellen Weltbild auf vielfache Weise in das vorhandene Wissensgeflecht aktiv eingefügt, vom ‚Vorhandenen aus‘ dadurch interpretiert, so dass das, was wir dann ‚bewusst‘ wahrnehmen, nicht das ist, was ‚faktisch auslösend war‘, sondern tatsächlich das, was unser Wissen daraus aktuell und aktiv ‚macht‘. Der bloße Vorsatz, ‚kritisch sein zu wollen‘ ändert an diesem Automatismus unseres aktuellen Wissens zunächst gar nichts. Um Kritikfähigkeit zur Wirkung kommen zu lassen muss man aktiv aktuelle Wissensbestände durch aktive Denkprozesse verändern. Wünschen alleine reicht nicht. Schon das bewusste aktive Lesen eines guten Artikels kann Wunder wirken, wobei die Betonung auf ‚bewusst‘ und ‚aktiv‘ liegt. Einen Vortrag einfach ’nur hören‘ oder einen Artikel einfach ’nur lesen‘ bewirkt meist nicht viel (ein interessanter Test wäre, dass jemand sie 30 min nach der Tagesschau oder nach ‚heute‘ oder ähnlichen Nachrichtenmagazinen unerwartet interviewen würde, was sie in diesen Nachrichtensendungen gesehen, gehört und verstanden haben. Es wäre überraschend, wenn auch nur eine einzige Versuchsperson in der Lage wäre, einigermaßen wiederzugeben, was der Inhalt der Sendung war. Das Paradoxe ist, dass dennoch so viele Menschen sich diese Sendungen anschauen; also bleibt doch etwas hängen? Was bleibt hängen? Welchen sachlich-erklärenden Informationswert hat das, was hängenbleibt?).

WELTBILD UND PHILOSOPHIE

Aus dem Faktum von Weltbildern in den Köpfen der Menschen folgt nicht zwingend, dass man sich mit Philosophie beschäftigen sollte. Es gibt verschiedene Disziplinen und Handlungsbereiche, die sich mit einzelnen Aspekten von Weltbildern beschäftigen. Am intensivsten wohl alle möglichen Spielarten von Werbepsychologie (weil man wissen will, wie man das Kaufverhalten beeinflussen kann), von Meinungsumfragen (Demoskopie) (weil man das Wahlverhalten für den eigenen politischen Erfolg nutzen möchte), von Leser- und Zuschauer- oder Kundenverhalten (weil man den wirtschaftlichen Erfolg des Senders, des Kinos, des Theaters, der Zeitung usw. erhalten oder steigern möchte), von Arbeitspsychologie (weil man Störungen in den Arbeitsabläufen minimieren will), von Verhaltenstherapien (weil man Menschen helfen möchte, Störungen in ihrem Lebensgefühl und ihrem Verhalten zu mildern), von Religions-, Kulturwissenschaften und Ethnologie (weil man das Verhalten von Menschen in Abhängigkeit von ihren Weltbildern untersucht), und vielem mehr. Bei dieser Aufzählung kann auffallen, dass keine der zuvor genannten Aktivitäten im Umfeld menschlichen Verhaltens mit Bezug auf potentielle ’steuernde‘ Weltbilder die Weltbilder als solche bzw. sogar die generelle Struktur und Dynamik von beliebigen Weltbildern thematisiert. Näher liegen hier sicher die kognitive Psychologie (mit allen möglichen Teildisziplinen wie Wahrnehmung, Sprache, Gedächtnis usw.) oder auch die Neuropsychologie (DE) (Neuropsychology (EN), insofern bei letzterer die generelle Struktur von Kognition in Korrelation mit den zugrundeliegenden neuronalen Prozessen untersucht wird. Dennoch fällt auf, dass die Neuropsychologie bislang eher noch von speziellen Fragestellungen getrieben wird mit einem Übergewicht der Verhaltensorientierung. Ein explizites Modell des ’subjektiven Weltbildes‘ hat sie nicht und es nicht zu erkennen, dass dies irgendwo entwickelt werden soll. Wenn im Kontext von Neuropsychologie von ‚Kognition‘ (‚cognition‘) gesprochen wird, dann handelt es sich in der Regel um Modellbildungen der kognitiven Psychologie, die auf der Basis von Verhaltensdaten hypothetische Modelle von Verarbeitungsfunktionen ‚im Innern des Körpers‘ generieren.
Die klassische (europäische) Philosophie seit den Griechen nahm dagegen ihren Ausgangspunkt nicht bei den empirisch beobachtbaren Verhaltensdaten alleine sondern bei der ‚Welt‘, wie sie sich innerhalb des bewussten Raumes ‚introspektiv‘, ’subjektiv‘ als Raum von Phänomenen darbot; die empirischen Verhaltensdaten bilden in diesem Phänomenraum eine echte Teilmenge. Das Interesse aller Philosophen richtete sich dann darauf, ausgehend von diesem (subjektiven) Phänomenraum Strukturen und Gesetzlichkeiten zu erkennen, die möglicherweise Aussagen erlauben würden, die ‚über‘ (Griechisch: ‚meta‘) den aktuellen Phänomenraum hinausweisen können, und zwar in einer Form von ‚Allgemeinheit‘, die die zufälligen individuellen Gegebenheiten des eigenen Phänomenraumes möglicherweise übersteigen könnten. Vom Konkreten, Natürlichen, Individuellem (Natur, ‚physis‘), zum Allgemeinen, Idealisierten/ Geistigen (‚meta physis‘). In diesem Anliegen liegt die Wurzel zur Meta-Physik, dem eigentlichen Kern aller Philosophie: alles Wissen im Konkreten und Allgemeinen so erfassen zu können, dass ein Maximum an Klarheit und Aussagbarkeit (was Voraussagbarkeit mit einschließt) entsteht.

ANSTOSS VON AUSSEN

Vor vielen, vielen Jahren, als ich die ersten Jahre Philosophie und Theologie studieren konnte, hatte ich mit großem Interesse u.a. auch Teile der griechischen Philosophie (besonders Aristoteles (384 – 322)) und Teile der lateinischen Theologie und Philosophie (vor allem Thomas von Acquin (1225-1274)) studiert. Zum Studium orientalischer Philosophen hatte die Zeit nicht gereicht. Andere Wege führten dann u.a. in die moderne Logik und Wissenschaftstheorie. Als ich dann kürzlich — so spielt das Leben — meine Frau und Freunde zum Film ‚Der Medicus‘ begleitete, traf ich ziemlich unerwartet (hatte den Roman nicht gelesen; hatte mich auch nicht informiert, worum es in dem Film ging) auf die Person Avicennas (c. 980-1037), der in dem Film unter dem seinem arabischen Namen ‚Ibn Sina‘ (laut englischer Wikipedia war sein voller Name Abū ʿAlī al-Ḥusayn ibn ʿAbd Allāh ibn Al-Hasan ibn Ali ibn Sīnā) durch eine Hauptrolle repräsentiert wird. Der Film zeigt nur die Schlussphase seines Lebens. Erste Recherchen meinerseits im Anschluss an den Film ergaben, dass er nicht nur ein großer Medizinwissenschaftler gewesen ist, sondern zeit übergreifend war er auch bedeutend im Bereich der Philosophie.

AVICENNAS POSITIONIERUNG IN DER ZEIT

An dieser Stelle kann es nicht um eine inhaltliche (und erst recht keine abschließende) Positionierung von Avicenna im Kontext der philosophischen-wissenschaftlichen Traditionen gehen, sondern zunächst nur mal um eine grobe Positionierung im Kontext anderer großer Namen und Traditionen.

Konsultiert man die verschiedenen Enzyklopädien so scheint Avicenna zum Höhepunkt der sogenannten ‚frühen islamischen Philosophie‘ oder des ‚Goldenen Zeitalters‘ (8.Jh – 12.Jh) der islamischen Philosophie zu gehören. Personen, die ihn im Denken stark beeinflusst haben, gibt es viele. Im Bereich der Metaphysik gehört sicher dazu Al-Farabi (lat. Alpharabius (c. 872 950/951), Abu Sahl ‚Isa ibn Yahya al-Masihi al-Jurjani (starb 999/1000)(Lehrer von Avicenna. Schreib eine medizinische Abhandlung mit 100 Kapiteln, die die erste dieser Art in der arabischen Welt war und möglicherweise auch Vorbild für Avicennas späteres medizinisches Hauptwerk war), Abu Nasr Mansur ibn Ali ibn Iraq (c. 960 – 1036)(persischer Mathematiker), Abū al-Rayhān Muhammad ibn Ahmad al-Bīrūnī (973 – 1048)(lat. Alberonius, Engl. Al-Biruni)(ilamischer Wissenschaftler und Mathematiker), Abū Ḥāmid Muḥammad ibn Muḥammad al-Ghazālī (c. 1058–1111)(lat. Al-Ghazali oder Algazel)(gilt als der einflussreichste islamische Theologe und Philosoph nach Mohammed). Abū l-Walīd Muḥammad bin ʾAḥmad bin Rušd (auch Ibn Rushd , lat. Averroës 1126 – 1198)(spanischer Universalgelehrter; in der islamischen Welt kritisch gesehen; sehr einflussreich im westlichen mittelalterlichen Denken; einer der einflussreichsten Kommentatoren von Aristoteles für die westlich-lateinische Überlieferung).

AD FONTES – ZU DEN QUELLEN

Bei einem so komplexen geistesgeschichtlichen Umfeld hat man zunächst nahezu keine Chance, irgendetwas wirklich zu verstehen. Nach meiner Erfahrung hilft da letztlich nur eines: reale Texte von realen Denkern nehmen und anfangen diese aktiv zu lesen. Hält man dies lange genug durch, dann entstehen erste Umrisse eines Bildes von diesem Denken, auf dem man dann aufbauen und weiter arbeiten kann. Da ich zwar von früher her noch ein wenig Latein und Griechisch kann, aber — bedauerlicherweise — kein Arabisch, bleibt mir momentan nichts übrig, als nach einer Übersetzung von Avicennas Werken zu schauen. Für deutschsprachige Leser gibt es den glücklichen Umstand, dass deutsche Orientalisten zu Beginn des 20.Jahrhunderts großartige Arbeit geleistet haben. Ein bedeutender deutscher Orientalist war Max Horten (voller Name: Maximilian Joseph Heinrich Horten) (1874 — 1945). Von ihm gibt es eine sehr gute Übersetzung mit ausgiebigen Erläuterungen von dem philosophischen Hauptwerk von Avicenna, von seiner Metaphysik. Das Buch „Die Metaphysik Avicennas: das Buch der Genesung der Seele, Leipzig 1907; Frankfurt am Main 1960“ ist zwar vergriffen, aber es gibt einen Reprint dieses Buches bei Amazon.

DAS BUCH

Dieses Buch, ein 1-zu-1 Reprint der Ausgabe von 1907, umfasst 799 Seiten. Es präsentiert sich in einem exzellenten Deutsch und einer umfassenden Kommentierung in den Fußnoten. Da Horten ein Orientalist mit breiten Kenntnissen in Philosophie und Theologie (insbesondere die lateinische Tradition) war, eröffnen seine Anmerkungen mit Originalzitaten griechischer, arabischer und lateinischer Autoren einen Einblick in die Vernetzung der Gedankenwelt Avicennas mit den verschiedenen Traditionen.

Ich habe bislang zwar erst ca. 100 von den 799 Seiten gelesen, aber ich bin restlos begeistert und fasziniert von diesem Text; nicht so sehr, weil ich glaube, dass man diese Gedanken heute noch so direkt übernehmen könnte, aber weil dieser Text die Möglichkeit bietet, das ‚alte‘ Denken, das viele Jahrhunderte (letztlich fast 2000 Jahre) den europäischen Raum (zu dem der ‚Orient‘ wesentlich dazugehört) geprägt hat, mit dem heutigen ‚modernen‘ Denken direkt in Beziehung zu setzen, um dadurch die grundlegenden Transformationen deutlich zu machen, die das europäische Denken durchlaufen hat. Insbesondere habe ich durch die bisherige Lektüre den Eindruck gewonnen, dass seine Auffassung von Logik und Metaphysik einen wunderbaren Anknüpfungspunkt bildet, um die Besonderheiten des modernen Denkens zu erklären. Einerseits kann man die moderne Logik, Wissenschaftstheorie und Erkenntnistheorie seit dem Ende des 19.Jahrhunderts als eine Art Generalkritik an der klassischen Metaphysik sehen, andererseits ist die moderne Philosophie mittlerweile soweit fortgeschritten, dass sie neben der ‚Kritik‘ nun einen konstruktiven Vergleich wagen könnte, der aus dem konstruktiven nebeneinander von klassischer Metaphysik und moderner Logik, Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie ein neues ‚Gesamtbild‘ zeichnen könnte, in der beide (!) vorkommen. Wie gesagt, dies ist eine aktuelle Vermutung, die sich bei der Lektüre aufdrängt, und die im Folgenden im einzelnen erst genauer zu erarbeiten wäre.

Ob und wie sich das europäische Denken mit anderen Denkformen verzahnt oder nicht verzahnt, sich möglicherweise gegenseitig anregen kann, dies wäre ein eigenes Thema.

FÜR WELCHE LESER

Für jemanden, der keinerlei Vorwissen in griechischer Philosophie, lateinischer Theologie und klassischer Logik hat, ist das Buch möglicherweise ein bisschen ‚hart‘ und mag als verwirrende ‚Begriffsklauberei‘ erscheinen. Wer sich aber da ein wenig auskennt und vielleicht noch dazu ein wenig moderne Logik, Philosophie und Wissenschaftstheorie kennt, für den kann das Buch ein absoluter Genuss sein. Ich werde das Buch auf jeden Fall weiter lesen und hier diskutieren.

Zur Fortsetzung siehe hier, Teil 2.

HILFREICHE LINKS

Max Horten: http://de.wikipedia.org/wiki/Max_Horten Autor von: Die Metaphysik Avicennas: das Buch der Genesung der Seele, Leipzig 1907; Frankfurt am Main 1960 (vergriffen)
Encyclopaedia Iranica: http://www.iranicaonline.org/articles/avicenna-index
Wikipedia (EN): http://en.wikipedia.org/wiki/Avicenna
The MacTutor History of Mathematics archive: http://www-history.mcs.st-andrews.ac.uk/Biographies/Avicenna.html
Thomas Hockey et al. (eds.). The Biographical Encyclopedia of Astronomers, Springer Reference. New York: Springer, 2007, pp. 570-572: http://islamsci.mcgill.ca/RASI/BEA/Ibn_Sina_BEA.htm
Wikipedia (DE): http://de.wikipedia.org/wiki/Avicenna
The Internet Encyclopedia of Philosophy (IEP) (ISSN 2161-0002): http://www.iep.utm.edu/avicenna/
Ecyclopedia Britannica: http://www.britannica.com/EBchecked/topic/45755/Avicenna
Islamische Philosophie: http://www.muslimphilosophy.com/sina/art/ei-is.htm
Enzyklopädie des Islams: http://www.eslam.de/begriffe/a/avicenna.htm
Catholic Encyclopedia: http://en.wikisource.org/wiki/Catholic_Encyclopedia_%281913%29/Avicenna

Einen Überblick über alle Blogbeiträge von cagent nach Titeln findet sich HIER.

DIE WAHRHEIT ERSCHEINT IM BETRACHTER – Oder: WARUM WIR NUR GEMEINSAM DAS ZIEL ERREICHEN KÖNNEN

1) In diesem Blog wurde schon oft über die Wahrheit geschrieben, von ganz unterschiedlichen Perspektiven (und es wird eigentlich Zeit, die Inhalte auf der Übersichtsseite auch mal nach Themen zu gruppieren). Dabei wird deutlich, dass es einerseits um etwas sehr Grundsätzliches, Einfaches geht, das zugleich aber doch für viele, letztlich alle, nicht so einfach fassbar ist.
2) Nicht umsonst gab es in der Geschichte der Ideen seit mehr als 2000 Jahren so viele und immer wieder neue Versuche von großen Denkern, Philosophen, aber auch Schriftstellern, Wissenschaftlern, Künstlern, selbst Theologen, dieses viel schillernde Phänomen zu packen.
3) Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke (oder genauer: ‚Es‘ ‚in mir‘ denkt, nämlich mein Gehirn), entdecke ich immer neue Aspekte oder bestimmte, schon bedachte, Aspekte vertiefen sich irgendwie. So geschehen in den letzten Wochen.
4) Während ich noch versuche, das ungeheuer anregende Buch von T.Engelhardt (ed), „The World Acording to TomDispatch. America in the New Age of Empire“, London-New York: Verso, 2008 (siehe auch die Webseite tomdisptach.com) zu verstehen und zu verarbeiten (es ist vor allem eine Zeitfrage, da unser Denken nun mal Zeit braucht und Zeit ist generell knapp und muss immer wieder neu ‚eingeteilt‘ werden), gibt es parallel natürlich den Gedankenprozess im Alltag, der weiter geht. Und hier tauchte der Gedanke nach der ‚Wahrheit‘ immer wieder auf, insbesondere in einigen Gesprächen mit Freunden, wie man sie nur führen kann, wenn man abends zusammen sitzt, sich Zeit nimmt, und redet.
5) Da ich hier keine Zeit habe, große Abhandlungen zu schreiben, sondern nur spontan einige Gedanken notieren kann, hier also einige Gedanken ohne den ganzen Kontext auszubreiten.
6) Der Kerngedanke von ‚Wahrheit‘ ist, dass es tatsächlich etwas gibt, das da ist vorab und unabhängig von unserem eigenen Denken und Wollen.
7) Für uns, die wir als biologische Wesen ‚Wahrnehmen‘ — man beachte dieses deutsche Wort! im Englischen würde man ‚perceive‘ sagen, und das ist etwas ganz anderes! — können, Fühlen, Erinnern und Denken, ist aber all das, was es unabhängig von uns als Einzelwesen gibt, nur ‚gegenwärtig‘ im ‚Medium‘ unseres Körpers, im Medium der elektrochemischen Prozesse der Zellen, die die ungeheure Masse an elektrochemischen Ereignissen ’strukturieren‘, ‚ordnen‘ und uns als als ‚erlebbare‘ ‚Objekte mit Eigenschaften im Raum‘ zugänglich machen. Die 100 Milliarden Gehirnzellen zusammen mit den ca. 14 Billionen Körperzellen organisieren ‚in uns‘ ein ‚Erlebnis von Welt‘, das unser Bewusstheit und Denken primär ermöglicht, gestaltet, prägt.
8) Nun ‚lernen‘ wir im Laufe des Lebens, dass dieses ‚Bild im Innern des Körpers‘ bei jedem Menschen ‚verschieden‘ sein kann. Kinder, junge Leute, Erwachsene, Ältere, Kranke, im Bewusstsein ‚Gestörte’…. haben unterschiedlichste Anschauungen, können die gleiche Situation unterschiedlich wahrnehmen. Veränderungen der elektrochemischen Prozesse im Körper, z.B. durch Wassermangel, durch chemische Substanzen, durch Verletzungen, können das Wahrnehmen, Erinnern, Fühlen, Denken erheblich beeinflussen.
9) Nachdem sich viele tausend Jahre die unterschiedlichsten Denker (prominent z.B. Platon, Aristoteles, Descartes, Hume, Kant, Hegel…..) intensiv Gedanken gemacht hatten über die Grundlagen, die Struktur und den Prozess unseres Denkens (einschließlich der Wahrheitsfrage) war es der empirischen Wissenschaft vergönnt das Rätsel der ‚Struktur‘ unseres Denkens ein wenig mehr aufzuhellen: unser Denken als Eigenschaft unseres biologischen Körpers hat quasi ’sich selbst‘ ergründet, indem es aufgedeckt hat, dass und wie unsere biologischen Körper seit der ersten biologischen Zelle vor ca. 3.8 Milliarden Jahren sich mit der Entwicklung der körperlichen Strukturen ‚mit entwickeln‘ konnte (eine Form von Koevolution). Und natürlich muss man über die erste biologische Zelle noch hinausgehen und auch den Prozess einbeziehen, der überhaupt zur ersten Zelle geführt hat. Man nennt dies die chemische Evolution, die wiederum nur möglich war, weil es eine noch umfassendere kosmologische Evolution gab (und gibt).,
10) Also in der Tatsache und in der Art und Weise unseres Denkens spiegelt sich indirekt ein Prozess wieder, der all unserem Fühlen und Denken voraus liegt und davon gänzlich unabhängig ist. Die Geschichte des menschlichen Denkens erscheint somit als eine Geschichte der schrittweisen Entdeckung dieses Zusammenhanges, dieses Sachverhaltes.
11) Und hier kommt das ‚Problem der Wahrheit‘ ins Spiel: je besser wir lernen, unser Denken zu verstehen (es ist allerdings nicht so, dass Menschen im Alltagsbetrieb lernen, wer sie wirklich sind, da sie normalerweise gezwungen sind, zum wirtschaftlichen Existieren ‚funktionieren‘ zu müssen, d.h. in der Regel ‚Dinge zu tun‘, die wir nicht eigentlich wollen; und wenn man dann mal Zeit hätte, etwas ‚anderes‘ zu tun, als zu ‚funktionieren‘ weiß man dann in der Regel nicht, wie man das anstellt, etwas ‚anderes‘ zu tun, was Erkenntnisse vermittelt…), umso mehr lernen wir, die Abhängigkeit unseres Denkens nicht nur von den Eigenheiten unseres Körpers zu erkennen, sondern auch von der Art unseres Handelns und unserer Kommunikation. Wenn wir Pech haben, reden wir immer nur mit den ‚falschen‘ Leuten, lesen die ‚falschen‘ Bücher, sehen wir die ‚falschen‘ Filme, usw. was zur Folge hat, dass das ‚Bild‘ in unserem Kopf von der Welt heillos ‚falsch‘ ist. Da die ‚Falschheit‘ im Kopf nicht riecht, nicht schmeckt, aus sich heraus nicht weh tut, merkt ein Mensch in der Regel nicht so ohne weiteres, dass der ‚Inhalt seines Kopfes‘ ‚falsch‘ ist.
12) Und hier wird deutlich, dass wir unausweichlich voneinander abhängen: wenn ein Mensch ‚richtig‘ denken will, dann kann er dies nicht isoliert, nicht ohne ein ‚Umfeld‘, welches das ‚richtiges‘ Erkennen ermöglicht und unterstützt. Wenn es keine anderen gibt, die sich um ‚wahre‘ Erkenntnis bemühen (d.h. um ein ‚inneres Bild‘ von der ‚Welt‘ da draußen, wie sie ist unabhängig von meinem Denken und Wollen), die ihre Erkenntnisse aufschreiben, weiter erzählen, sich untereinander austauschen, sich gegenseitig korrigieren und anregen, dann ist man im Augenblick gefangen wie ein Hamster in seinem Käfig; man kann noch so lange rennen, die Welt ändert sich nicht wirklich, der eigene Zustand führt nur zur Erschöpfung, das ‚innere Bild‘ der Welt bleibt unverändert.
13) Denn das ist eine der größten Herausforderungen jeden Weltbildes: nicht der Augenblick, nicht der einzelne Moment, nicht die einzelne Eigenschaft ‚für sich‘ ‚enthüllt‘ die ‚Wahrheit‘, sondern nur die ‚Zusammenhänge‘ und ‚Regelhaftigkeiten‘ vieler einzelner Augenblicke. Ohne ‚Erinnern‘ jener Ereignisse, die ‚wichtige‘ Zusammenhänge enthüllen, kann es keine Erkenntnis von Wahrheit geben (von daher ist es nicht verwunderlich, dass egoistische Machthaber alles daran setzen, ‚Geschichte‘ in ihrem Sinne schreiben oder umschreiben zu lassen, dass überhaupt nur geschrieben werden darf, was ihnen ‚passt‘, dass nur sie selbst ‚deuten‘ dürfen, wie man die Welt zu sehen hat). Und, leicht unterschätzt, um Zusammenhänge sichtbar machen zu können braucht man eine Sprache‘, eine Sprache die ausdrucksstark genug ist, um all jene Aspekte der Wahrnehmung repräsentieren zu können, auf die es ankommt. Ein Teil der modernen ‚Sprache von der Wahrheit‘ ist die moderne Mathematik; ohne deren Erfindung und Entwicklung würden wir weiter im Chaos der Augenblicke verharren.
14) Wenn wir also heute ein bisschen mehr über die Struktur und Entstehung der empirischen Welt (von der wir und unser Denken ein Teil sind), dann nur Dank der empirischen Wissenschaften seit ca. 500 Jahren, in der viele 10000 Männer und Frauen in eigener Verantwortung und oft unter Einsatz ihres Lebens Eigenschaften der Welt ’sichtbar‘ gemacht haben, die uns hervorgebracht hat.
15) Wie zu allen Zeiten versuchen auch heute jene, die in irgendeiner Form Macht haben, diese forschenden Männer und Frauen ‚unter Kontrolle‘ zu bringen, sie für ihre privaten Zwecke zu missbrauchen (die forschenden Männer und Frauen können natürlich auch ihren eigenen Machtgelüsten verfalle…). Es bleibt ein offener Prozess, wieweit wir mit dem Projekt der ‚Wahrheit‘ kommen werden.
16) Auch haben wir gelernt, dass die verschiedenen Gesellschafts- und Wirtschaftsformen dem Projekt der Wahrheit unterschiedlich gut tun (wie auch umgekehrt das Projekt der Wahrheit bestimmte Gesellschafts- und Wirtschaftsformen begünstigt).
17) Wer also überhaupt irgendwie ‚Wahrheit erkennt‘ der weiß, dass er alleine nichts vermag. Entweder wir ALLE ZUSAMMEN arbeiten am Projekt der Wahrheit oder wir werden es als Menschen nicht erreichen. Der aktuelle Zustand der Welt ist vor diesem Hintergrund einerseits erfreulich, dass wir überhaupt Ansätze zu einer wahrheitsfreundlichen Welt vorfinden, aber die Bereiche des ‚Wahrheitsfeindlichen‘ (die nicht rein zufällig auch ‚menschenfeindlich‘ sind) erscheinen doch noch sehr groß, fast erdrückend.
18) Unsere einzige Hoffnung besteht darin, dass die umfassende Wahrheit VOR all unserem Denken und Handeln gegeben war, dass WIR Produkte dieser Wahrheit sind, und dass wir letztlich nur deshalb in der aktuellen biologischen Form existieren, weil wir uns schrittweise der Wahrheit angenähert haben, nicht (!) weil wir dies ‚wollten‘, sondern weil die Wahrheit in allen Strukturen ‚wirkt‘ und den Prozess durch ihre umfassende Vorgabe indirekt ’steuert‘. Darin liegt der einzige Kern von Hoffnung. Und hierzu gäbe es natürlich viel zu sagen (was z.T. schon in vorausgehenden Blogeinträgen geschehen ist).
19) Die innere ‚Logik‘ all dieser Prozesse enthüllt sich z.T. auch in der ‚Spiritualität‘, von der alle Religionen dieser Welt mehr oder weniger leben. Dies bedeutet aber nicht, dass die aktuellen institutionellen Formen dieser Religionen dem entsprechend bzw. es bedeutet nicht automatisch, dass die aktuellen institutionellen Formen der Religionen einen Zugang zu dieser tiefliegenden alles Leben betreffenden Spiritualität unterstützen. Ich bin so frei zu behaupten, dass keine der aktuellen institutionellen Formen der Religionen die Spiritualität unterstützt, die die innere Logik der allumfassenden Wahrheit bildet. Wir sitzen alle im gleichen Boot und die Wahrheit ist für uns alle die gleiche. Wahrheit ist ganz und gar nicht käuflich!!!

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

PHILOSOPHIE TRIFFT DAS SNOWDON SYNDROM – Teil 3: Der US-amerikanische Patient

Diesem Beitrag ging voraus Teil 2.

1) Die Diskussionen im Umfeld der US-amerikanischen Abhöraktionen und die damit zusammenhängenden Whistleblower-Aktivitäten gewinnen eine Breite, Tiefe, auch Schärfe, die nicht ohne weiteres absehbar war. Obwohl mir selbst viele Jahre vorher bekannt war, dass täglich ungeheuerliche Abhöraktionen weltweit von allen möglichen Gruppierungen stattfinden, war mir das reale Ausmaß der Aktivitäten US-amerikanischer Geheimdienste in dieser Konkretheit nicht bewusst. Allerdings hätte man auch ohne die Auskünfte der Whistleblower (im Amerikanischen oft auch ‚information leakers‘, etwa ‚die, die Informationslöcher geschaffen haben‘) Manning und Snowdon gewarnt sein können, da die Washington Post im Jahr 2010 eine umfangreiche Recherche veröffentlicht hatte, in der nach zwei Jahren intensivster Recherche alles zusammengetragen worden war, was man öffentlich in Erfahrung bringen konnte (dazu gehörten auch Gespräche mit Mitarbeitern der verschiedenen geheimen Dienste wie auch solchen Personen, die diese Dienste überwachen sollen). Das Projekt trug den Titel „Top Secret America“ und versuchte den Aufbau der nationalen Sicherheitsstruktur seit den Anschlägen vom 11.Sept. 2011 zu beschreiben. Wer diesen Bericht mit den weiterführenden Webseiten liest, der konnte schon 2010 merken, dass es hier um eine sehr ungewöhnliche Aktivität geht, die man eigentlich nur mit dem Adjektiv ‚monsterhaft‘ beschreiben kann; nicht nur, dass dieses ‚Monsterwesen‘ aus unendlich vielen, vielfältigst miteinander vernetzten Diensten besteht, es wächst beständig unkontrolliert weiter, gefüttert vom Wohlwollen und dem Geld der Regierung.
2) Was an diesem Bericht erschreckend ist, ist die Tatsache, dass eigentlich alle Quellen, die mit der Qualität und der Kontrolle dieser Dienste beauftragt sind, erhebliche Kritiken äußern: die tatsächliche ‚Wirkung‘ dieser Dienste ist nicht evaluierbar (die nach außen behaupteten Fälle von Entdeckungen möglicher Attentate kann niemand unabhängig und objektiv nachprüfen (sie erfüllen aber den Zweck, Angst zu verbreiten, um noch mehr Gelder locker zu machen)); in vielen Fällen fand eine gigantische Geldverschwendung statt; vielfache Überschneidungen zwischen den Diensten (wer schreibt eigentlich von wem ab?); Abschottung der Dienste untereinander (Kampf um Gelder und Machtverteilung); verworrene Gesetzeslage (wer darf wen informieren oder kontrollieren); Taktik der ‚Unsichtbarmachung‘ von Aktionen durch ‚Geheimerklärungen‘, damit niemand Einsicht nehmen kann; die schiere Menge der Geheimberichte jeden Tag (im Jahr 2010 mehrere hundert Dokumente, gedruckt, viele hundert Seiten), die zur Kenntnis zu nehmen und auszuwerten faktisch unmöglich ist; durch die zunehmende Automatisierung Tendenz zu abstrakter schematischer Wahrnehmung, die mit realen konkreten Vorgängen oft gar nichts mehr zu tun haben (viele dokumentierte Fälle von Attentaten, die von der Maschinerie nicht erkannt wurden); schließlich eine Gesamtsituation, die von keiner einzigen Stelle mehr vollständig überschaut wird: die geheimen Dienste mit ihren Aktivitäten sind faktisch außer Kontrolle; von einer demokratischen Kontrolle kann in keiner Weise mehr gesprochen werden!

GANG DER ENTWICKLUNG: ZUSAMMENWACHSEN

3) Treffen die in diesem Blog entwickelten philosophisch-wissenschaftlichen Gedanken zu, dann geht der Trend der Strukturbildung im bekannten Universum unaufhaltsam in Richtung wachsender ‚Differenzierung‘ und zugleich wachsender ‚Integration‘. Nach der erst kürzlich (ab ca. -9000 Jahren) erfolgten Herausbildung von städtischen Lebensformen hat das Aufkommen von immer mehr Technik bis zur Erfindung von Computern und Computernetzwerken Ende des 20.Jahrhunderts die Komplexitätsbildung im Bereich Kommunikation von ‚Wissen‘, von ‚mentalen Modellen‘ erheblich beschleunigt und quantitativ explodieren lassen. Es liegt in der ‚Natur‘ dieses Prozesses, dass alle an diesem Prozess beteiligten Systeme zu einem einzigen großen ‚Superorganismus‘ zusammenwachsen. Die aus der Geschichte bekannten regionalen und nationalen Organisationsformen haben hier auf lange Sicht keine eigenständige Bedeutung mehr. Zwar wird die menschliche Gesellschaft, so ähnlich wie der menschliche Körper, die ungeheure Zahl ihrer Mitglieder durch allerlei ‚Substrukturen‘ teilorganisieren, aber die wahre ‚Einheit‘ wird über alle Teilstrukturen hinausgreifen.
4) Hier stellen sich sehr viele Fragen, auf die vermutlich aktuell noch niemand eine klare Antwort hat, weil diese Dinge für alle radikal neu sind. Klar ist aber, dass diese Entwicklung diverse ‚Übergangsprozesse‘ impliziert, ‚Transformationsprozesse‘, von denen alle betroffen sind.

FALLSTUDIE INTERNET: POSTGOLDGRÄBERZEIT

5) Ein Beispiel bietet das Internet: wie schon in einem vorausgehenden Blogeintrag angemerkt, stand am Anfang die ‚große Freiheit‘, die vornehmlich von den USA ausging. So ist es nicht verwunderlich, dass es US-amerikanische Firmen waren, die diesen neuen Aktionsraum als erste ausloteten und entdeckten, dass man im Tauschgeschäft von kostenlosen Dienstleistungen gegen personenbezogene (und auch andere) Informationen sehr schnell ein globales Geschäft aufbauen konnte (dass sich dann viele Geheimdienste hier einfach ‚draufsetzen‘ konnten, war nicht notwendigerweise Teil des Prozesses, aber nun mal zu verführerisch; wenn die Daten nun schon mal da waren, warum dann nicht einfach nutzen). Wie in den berühmten Wildwest-Goldgräberzeiten, wo der Kapitalismus sich rücksichtslos austoben konnte, haben auch jetzt einig wenige Firmen den Weltmarkt unter sich aufgeteilt, ohne Rücksicht auf ‚Werte‘ und grundlegende ‚Rechte‘. In dem Maße, wie den ‚Kunden‘ diese Vorgänge bewusst werden (es fängt erst gerade an), kann es sein, dass diese ursprünglichen Geschäftsmodelle in sich zusammen fallen. Allerdings haben die aktuellen Platzhirsche schon so viel Kapital angesammelt, dass sie es vielleicht überleben, oder auch nicht. Alternativen gibt es und irgendwer wird sie sicher nutzen. Klar ist nur eines: das gemeinschaftliche Interesse an der Nutzung dieser neuen Technologien ist elementar und überleben werden nur Strukturen, die mit diesem elementaren gemeinschaftlichen Interessen übereinstimmen. Die Anzeichen dafür sind überall da und selbst globale Unternehmen können sich dem auf Dauer (was sind schon 10-20 Jahre) nicht entziehen.

FALLSTUDIE NATIONALSTAAT: USA

6) Eine andere Dimension der Transformationsprozesse sind die gesellschaftlichen Gebilde, die Nationalstaaten. Neben vielen Aspekten ist es die Verteilung, Ausübung und Kontrolle von ‚Macht‘ in diesen Systemen, die entscheidend ist. Wer darf wie darüber entscheiden, welche Gesetze gelten sollen, welche Steuern erhoben werden, wie Gelder eingesetzt werden, usw. Einige Länder dieser Erde hatten es in den letzten ca. 200 – 300 Jahren geschafft, mit viel Blutvergießen, Kriegen und Kämpfen, das zu organisieren, was man ‚demokratische Gesellschaften‘ nennt; einige wenige Länder! Eines davon waren die Vereinigten Staaten von Amerika, die USA. Die Freiheit der Bürger und die Kontrolle der Macht durch die Bürger war eines der zentralen Güter dieser US-amerikanischen Gesellschaft. So wie jedes Land hatte auch die US-amerikanische Gesellschaft ihre ‚biographischen‘ Besonderheiten, z.B. besaß das Militär (wie in vielen anderen Länder dieser Erde auch) eine besonders geachtete Stellung, weil natürlich die Wirkkraft des Militärs auch ein Garant dafür war, die Freiheitsrechte zu verteidigen. Ein gewisser ‚Patriotismus‘ in Form einer grundlegenden Wertschätzung des Militärs als Einrichtung des Staates gehört immer dazu.
7) Was aber dann in den USA passiert zu sein scheint (und dies geschah und geschieht in fast allen anderen Ländern dieser Erde auch), ist, dass die konkreten Menschen, die solch eine Institution mit Leben füllen, nun mal nur ausnahmsweise ‚Heilige‘ sind; normalerweise unterliegen sie wie alle anderen Menschen auch, menschlichen Regungen wie ‚Eitelkeit‘, ‚Machtstreben‘, ‚Gewinnstreben‘ usw. Aus Sicht des Militärs sieht die Welt natürlicherweise anders aus als aus Sicht der Industrie oder des ’normalen‘ Bürgers. Jedes Militär der Welt will seinen Einfluss erweitern, die finanziellen Mitteln aufstocken, mehr Rechte haben, möglichst keine Kritik einheimsen, die Disziplin hochhalten, usw. Im Nachgang zum zweiten Weltkrieg hat sich der sogenannte ‚industriell-militärische Komplex‘ entwickelt, von dem viele behaupten, dass er die Hauptmotor war für fast alle nachfolgenden Kriege, die die USA geführt haben. Ein Krieg ist immer das beste Argument für mehr Geld, mehr Einfluss, weniger Kritik. Und wenn es gerade keinen Krieg gibt, dann ist es hilfreich, allerlei ‚Ängste‘ in der Öffentlichkeit hoch zu halten, um dem Militär alles zu geben, was es verlangt (und tatsächlich, so scheint es, viel viel mehr, als es eigentlich braucht). Und es ist genau der letzte Punkt, den viele Kritiker in den USA besonders thematisieren: es besteht der Eindruck, dass der monsterhafte, nicht mehr kontrollierbare Ausbau der geheimen Dienste in den USA vorwiegend dem einen Zwecke dient: beständig eine Kultur der Angst hoch zu halten, eine dauerhafte Bedrohung anklingen zu lassen, um als Gegenleistung nahezu beliebig viele Gelder bewilligt zu bekommen und gleichzeitig alle öffentliche Kritik an diesem Wahnsinnsgeschehen mit Verweis auf die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Ansatz zu unterbinden.
8) In diesem Zusammenhang besitzt der aktuelle Prozess gegen Manning eine fundamentale Bedeutung. In dem Moment, wo diese Verurteilung durchgeht, hat der ‚Moloch‘ gewonnen; ab dann werden nicht nur die, die Missbrauch und Gesetzesbrüche der Regierung zur Kenntnis bringen (die ‚Whistleblower‘), generell schwer bestraft werden, sondern auch alle diejenigen (meistens Journalisten), die darüber berichten. Ab dann wird die USA von einem allseitigen ‚Schweigen‘ befallen werden, wie wir es bislang nur aus faschistisch Diktaturen kennen. Ab dann werden wir alle wissen, dass der in sich gesunde ‚Patriotismus‘ sich – wie schon so oft in der Geschichte – in einen krankhaften ‚Faschismus‘ verwandelt hat, der nur noch Machtmonopole kennt, Propaganda, Lügen, und Machtmissbrauch ohne Ende. Es wäre ein sehr trauriges Kapitel in der Geschichte der amerikanischen Demokratie, wen ausgerechnet der Präsident, der als ‚Retter‘ gegen phasenweise ‚reaktionär‘ wirkende Republikaner derjenige ist, der diesem Monstersystem aus Militär, Industrie und Geheimdienstmoloch samt kontinuierlicher Missachtung internationaler Rechte letztlich Tür und Tor geöffnet hat. Scheinbar ist sein Selbstbewusstsein so schwach, dass er das Falsche an einem fehlgeleiteten Patriotismus nicht erkennt. Vielleicht (Für die Interpretation der ‚Schwachheit‘ Obamas spricht auch die Tatsache, dass Obama, als er 2005 noch selbst Senator war, kritische Anmerkungen zur Umsetzung der Überwachungsaktivitäten hatte, die er dann, al Präsident, verwarf). Im Endeffekt ist entscheidend, ob diese Machtzentren Militär und Geheimdienste in Interaktion mit Teilen der Industrie sich völlig der demokratischen Kontrolle entziehen können oder nicht. Momentan gibt es in den USA nur vereinzelte Stimmen in einigen wenigen Zeitungen oder speziellen Webseiten, die diese gefahr thematisieren; die Justiz schaut bislang zu (bzw. hat Partei gegen die Bürger und für den Regierungsapparat ergriffen). Einige Abgeordneten haben einen Widerstand am 24.Juli 2013 versucht, sind aber erst mal, wenngleich knapp, gescheitert. Die beteiligten Gruppen sowohl bei den Republikanern wie auch den Demokraten versuchen es aber weiter.

KÖNNEN WIR ES NOCH LERNEN?

9) In jeder Situation, in der ‚Neues‘ auftritt, das herausfordert, ist es eine spannende Frage, ob und wie ‚man‘,’wir‘, ‚Du‘ und ‚Ich‘ zusammen ‚es lernen‘, wie wir mit der neuen Situation umgehen. Hier könnte man im Detail vieles sagen, was auf jeden Fall eine Rolle spielen wird. Es gibt aber auch so etwas wie ‚Grundhaltungen‘: die einen, die grundsätzlich Lösungen von Problemen in Frage stellen und die anderen, die grundsätzlich immer annehmen, dass es eine Lösung geben wird.
10) Wenn man sieht, wie die ungeheuerliche Komplexität von Universum, darin Erde, darauf biologisches Leben, sich entfaltet hat ohne das geringste Zutun von unserer Seite, und wie dieser ganze Prozess weiter abläuft, mit einer Richtung, ohne dass wir wichtige Teile des Prozesses kontrollieren (höchstens stören), dann tendiere ich dazu, zu sagen, die Wahrscheinlichkeit einer Lösung ist größer als ihr Nichteintreffen.

WAHRHEIT IST MEHR ALS IDEOLOGIE

11) Wir Menschen haben im Laufe der letzten ca. 10.000 – 15.000 Jahren eine Vielzahl von ‚Weltinterpretationen‘ hervorgebracht. Viele sind in weiten Teilen nicht verifizierbar, was nicht heißt, dass sie trotzdem eine gewisse kognitive und emotionale Wirkung auf Menschen ausüben können. Klar ist aber, dass nur diejenigen Systeme in der Zukunft sich ‚behaupten‘ können, die im vollen Sinne ‚wahr‘ sind. Der Begriff ‚Wahr(heit)‘ ist hier orientiert am Verhältnis zwischen biologischen Lebensformen und umgebender Erde: bis jetzt konnten sich immer nur solche Lebensformen ‚behaupten‘, die unter den jeweils aktuellen Bedingungen der Erde hinreichend viel Energie sammeln und verarbeiten konnten und die sich im Rahmen einer Population hinreichend viel ‚fortpflanzen‘ konnten. Daraus folgt nicht, dass das Leben sich in der Selbstorganisation von Energie und Nachkommen erschöpft, dass aber Populationen, die dieses Minimum nicht schaffen, ‚verschwinden‘. Interpretationen darüber, was und wie die Welt ist, werden sich also im Kern auch daran bewähren müssen, dass sie mindestens erklären können, warum das, was ist, so ist, wie es ist, wie es anders sein könnte und welche Rolle wir in diesem Prozess spielen können. Die meisten bisherigen Weltinterpretationen (einschließlich der bekannten Religionen), haben hierin weitgehend versagt und aktuell gibt es wenig Grund, anzunehmen, dass sie sich hinreichend ändern. Damit soll nichts gegen einen Gottesglauben gesagt sein, höchstens, dass das Reden über Gott in den bekannten Religionen möglicherweise unzureichend ist; sie sagen evtl. zu wenig oder zu viel Falsches.

Eine Fortsetzung findet sich in Teil 4.

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

KULTURELLE AUTOIMMUNREAKTIONEN? oder: KONTROLLWAHN UND DIE ANGST UM SICH SELBST


(Unter twitter bei ‚cagentartist‘))

1) Treffen die Überlegungen im Blogeintrag ‚EMERGING MIND – Mögliche Konsequenzen‘ zu, dann befinden wir uns im Jahr 2013 an einem Punkt der Entwicklung des Geistes auf der Erde, der einen sich andeutenden umfassenden kulturellen Umbruch markiert.
2) In der Geschichte des Lebens auf der Erde gab es viele solcher Umbruchzonen, wobei der Begriff ‚Umbruchzone‘ nicht unproblematisch ist; schließlich ist jeder Abschnitt in der bisherigen Entwicklung letztlich eine Umbruchphase. Es scheint aber so zu sein, dass man Phasen unterscheiden kann, in denen aus Sicht der Beteiligten anscheinend ‚Weniger‘ oder gar ‚Nichts‘ geschieht gegenüber solchen, wo die Umbrüche durch real stattfindenden Veränderungen offensichtlicher zu sein scheinen.
3) Beispiele für global sichtbar werdende Strukturumbrüche waren die zuvor genannten ’neuen Strukturen S‘, die sich zum Vorausgehenden deutlich abhoben (Von der Anfangs-Energie zu den Quanten, von den Quanten zu den Atomen, …., von den einzelnen Zellen zu organisierten Zellverbänden, … die Sesshaftwerdung mit Ackerbau und Stadtbildung, ….. Motorisierung des Verkehrs, …. Gemeinsame Datenräume durch das Internet….).
4) Neben diesen Änderungen, die sich in realen Strukturänderungen widerspiegeln, gab es aber auch Änderungen, die sich in den semiotischen Räumen, in den deutenden ‚Weltbildern‘ abspielten, die nicht minder ‚real‘ und ‚wirksam‘ waren. So führte das Aufkommen experimenteller und formaler Methoden in der Renaissance nicht nur zu neuen Detailansichten, nein, es entstanden neue Zusammenhänge, neue Deutungsmuster, die sich zu einem kognitiven, wissensmäßigen Gegensatz zu den bisherigen Deutungsmustern aufbauten, weltanschauliche Konflikte hervorriefen, die die damals Mächtigen (die katholische Kirche) meinten, mit ‚Gewalt‘ kontrollieren und unterdrücken zu müssen. Galilei als ein Repräsentant dieser neuen Gedankenwelt sollte sich verleugnen, sollte abschwören, doch ca. 100 Jahre später waren diese neuen, gefährlich erscheinenden Gedanken in vielfältiger Weise in die Öffentlichkeit vorgedrungen. Die Erde bewegt sich um die Sonne und das Weltall ist erheblich größer, als sich jeder zuvor vorstellen konnte.
5) Weitere Umbrüche in der Deutung der Welt folgten (geologisch die Erde als Teil eines größeren Veränderungsprozesses, die biologische Evolution, das Gehirn als Organ des Fühlens und Denkens abhängig von physikalisch-chemischen Prozessen, die alltägliche Wirklichkeit als Artefakt unseres Denkens verglichen mit den zugrunde liegenden molekularen, atomaren, quantenhaften Strukturen, usw.). Allerdings scheint es so zu sein, dass die Ausbildungsprozesse mit der Explosion dieses Wissens über die Welt und uns selbst immer weniger Schritt halten können. In der Alltagswelt heute durchdringen zwar immer mehr technische Produkte als Konsequenz des erweiterten Denkens unseren Lebensraum, aber man hat nicht den Eindruck, dass im gemeinsamen öffentlichen Denken dieses Wissen tatsächlich ‚angekommen‘ ist.
6) Während digital gespeichertes Wissen sich – zumindest im Prinzip – beliebig schnell in beliebigen Mengen überall hin kopieren lässt, sich rasant schnell nahezu beliebigen formalen Operationen unterziehen lässt, haben die menschlichen biologischen Gehirne eine ihnen eingeborene eigene Langsamkeit, Trägheit, Begrenztheit, die dem Entstehen und dem Verwandeln von Wissen im einzelnen einen natürlichen Widerstand entgegen setzen. Was immer ein Individuum A in einer Generation G(t) schon alles erkannt und gedacht haben mag, ein Individuum B aus Generation G(t’>t) weiß dies alles nicht, es sei denn, er durchläuft ähnliche mühsame Lernprozesse. Solche Lernprozesse sind aber nicht notwendig, nicht zwingend, verlaufen nicht automatisch, und sind in ihren möglichen Inhalten nicht wirklich voraussagbar: keine Lernumgebung kann sicher stellen, dass die Inhalte, die die Lernorganisatoren intendieren, auch tatsächlich so in einem lernenden Individuum ‚entstehen‘.
7) Es ist von daher nicht erstaunlich, dass in einer Gesellschaft mit immer ‚mehr‘ und immer ‚komplexeren‘ Wissen immer weniger Menschen in der Lage sind, das bereits schon zuvor errungene Wissen für sich selbst erneut ‚wieder zu entdecken‘ und ‚für sich nutzbar‘ zu machen. Historisch bekannt ist der Untergang der griechischen Denkwelt samt ihren Schriften, der in Europa dann gut 1000 Jahre zu einer ‚Verdunklung‘ des Wissens geführt hatte. Erst über den Umweg vom Griechischen zum Arabischen (das damals das Wissen der Welt in sich aufsog) und dann wieder ins Lateinischen kam das ‚Licht der Erkenntnis‘ wieder nach Mitteleuropa. Ein langwieriger Übersetzungs- und Lernprozess, der nur durch den Aufbau eines neuen Ausbildungssystems (Schulen, erste Universitäten, Abschreiben, Kopieren und Übersetzen vieler Schriften…) über viele Jahrhunderte den Wissensstand von vorher ‚rekonstruierte‘ und durch diese aktive Rekonstruktion dann auch weiter entwickelte.
8) Wir leben heute in einer Welt von bizarren Wissensgegensätzen: während wir einerseits über einen Wissensschatz verfügen, der differenzierter und größer ist als jemals zuvor, erleben wir zugleich, dass viele Menschen, die meisten (?), sich in ihrem Wissen fragmentiert erleben, unvollständig oder, noch schlimmer, dass sie heute Weltbilder pflegen und für wahr halten, die 1000, 2000 Jahre alt sind, die mehrfach widerlegt wurden, aber die sie benutzen, als ob es die aktuellen Wahrheiten sind. Dies betrifft nicht nur solche Menschen, die aufgrund ihrer Lebensumstände keine oder fast keine Ausbildung genießen konnten, sondern sogar solche die Abitur haben, die studiert haben, ja sogar solche, die einen Doktortitel erworben haben. Unsere Wissenslandschaft ist mittlerweile so komplex und zerklüftet, dass Menschen mit Doktortiteln auftreten können und den letzten ‚Unsinn‘ erzählen, ohne dass ihnen bewusst ist, dass dem so ist.
9) In dieser Situation macht es keinen Sinn, die einzelnen dafür haftbar zu machen (obgleich natürlich schon jeder bis zu einem gewissen Grad Verantwortung für sein eigenes Denken trägt), sondern man muss den Kontext berücksichtigen, innerhalb dessen jemand heute Denken kann bzw. muss. Aus Sicht einer modernen Lerntheorie scheint es so zu sein, dass die Rahmenbedingungen für ein individuelles Lernen schwieriger denn je sind. Die Vielfalt der Methoden und die ungeheure Fülle an Fakten sind von einem einzelnen biologischen Gehirn nicht mehr bewältigbar. Eine Situation, die ich vor vielen Jahren schon mal als ’negative Komplexität‘ bezeichnet hatte: Komplexität, die da ist, die aber von uns nicht mehr hinreichend verarbeitet werden kann.
10) In einer solchen Situation wird es für alle Entscheidungsträger – insbesondere auch politisch Verantwortliche – immer schwieriger, das ‚Richtige‘ zu tun. Die Angst, dass alles aus dem Ruder läuft, außer Kontrolle gerät, ist real. Die Versuchung, durch immer mehr ‚Kontrollen‘ dieser ‚Unübersichtlichkeit‘ Herr zu werden ist real gegeben, wird immer stärker. Bedenkt man nun, dass diejenigen Menschen, die in höhere Verwaltungs- und Entscheidungspositionen drängen, tendenziell eher egozentriert sind, machthungrig, ’nicht zimperlich‘, es mit der Wahrheit eher nicht so genau nehmen, usw., dann erstaunt es nicht, zu sehen, wie heute weltweit in immer mehr Staaten die führenden Politiker autokratische Züge entwickeln, Meinungsfreiheit mehr und mehr unterdrücken, Technik dazu benutzen, immer mehr Datenströme und Lebenszuckungen der Menschen zu kontrollieren, einfache (in der Regel falsche) Weltbilder favorisieren, sich auch in sogenannten demokratischen Gesellschaften die Mächtigen von ‚den anderen‘ durch immer mehr Pseudoprivilegien abzusondern trachten, sich die alten absolutistischen Klassen von ‚früher‘ neu bilden.
11) Diese Phänomene stehen in seltsamem Kontrast zur tatsächlichen globalen Entwicklung des Lebens. Sie repräsentieren ‚Rückfälle‘, eine Art von ‚Verweigerung der Zukunft‘, sind ‚Reflexe‘ des ‚alten‘ Menschen vor der anrückenden Zukunft, die von jedem einzelnen Menschen und dann von den Gemeinschaften mehr verlangt als jeder einzelne bislang gewohnt ist, zu geben. Ob diese Reflexe stärker sind als das Neue, ob der Prozess des Lebens auf der Erde durch diese Anti-Reflexe zum Scheitern kommt, ist offen. Die ungeheure Wucht des bisherigen Lebens-Prozesses im Universum und auf der Erde kann den Verdacht nähren, dass die immanenten Faktoren dieses Prozesses stärker sind als die Abwehrreflexe eines Stadiums von Leben, das zu überschreiten ist. Wirklich wissen tut es vermutlich niemand, wie auch.
12) Vom individuellen biologischen Körper kennen wir nicht nur das Immunsystem, das auf geradezu fantastische Weise praktisch in jeder Sekunde gewaltige Abwehrschlachten gegen Millionen und Milliarden von Mikroorganismen führt. Wir haben gelernt, dass dieses Immunsystem sich auch irren kann; dann fängt es an, körpereigene Zellen zu bekämpfen, eine sogenannte Autoimmunreaktion. Wenn man sich den Lebensprozess auf der Erde anschaut, wie sich tatsächlich weltweit momentan in fast allen Ländern die politisch Verantwortlichen gegen den Trend stellen, dann drängt sich unwillkürlich das Bild einer globalen kulturellen Autoimmunreaktion auf: die Verantwortlichen, die für das Wohl ihrer jeweiligen Gesellschaften verantwortlich sind, wenden sich gegen ihre eigenen Gesellschaften, indem sie sich selbst zu ernst nehmen und das kreative Potential der jüngeren Generation mehr oder weniger mit Füssen treten (was nicht heißt, dass es auch viele Jüngere gibt, die sich totalitären Weltbildern zugewandt haben, die nicht besser sind; woher sollen sie es auch wissen?).
13) In diesem Kontext spielen die sogenannten ‚Offenbarungsreligionen‘ (die bekanntesten sind das Judentum, das Christentum, und der Islam) eine zwielichtige Rolle. Insofern sie alle einen ‚heißen Kern‘ haben der auf einen allumfassenden Schöpfergott ausgerichtet ist, haben sie prinzipiell einen ‚Anschluss‘ an den Lebensprozess im Universum; insofern sie aber diesen heißen Kern mit allzu viel historischen Zufälligkeiten, allzu zeitgebundenem Menschlichen aus ihren Entstehungszeiten um diesen Kern herum gesponnen haben, ist die immanente Sprengkraft eines universalen Gottesbildes weitgehend ‚abgedunkelt‘ worden durch Dinge, die irreführend oder falsch sind und die in der Vergangenheit allzu oft für persönliche Machtspielchen missbraucht wurden. Die Unwissenheit von Menschen für persönliche Machtinteressen zu instrumentalisieren ist eines der größten Verbrechen, das ein Mensch begehen kann (ein Gedanke, der sich u.a. im Neuen Testament der Christen findet; dort wird es Jesus von Nazareth als Aussage zugeschrieben (viele der heutigen Zeitungen, Radiostationen und Fernsehsender mit ihren Verantwortlichen haben in dieser Hinsicht möglicherweise schlechte Karten….)).

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