AKTIVES PHILOSOPHIEREN UND ENGELHARDTs THE UNITED STATES OF FEAR – Teil 1

Engelhardt, T.; ‚The United States of Fear‘, Chicago: Haymarket Books, 2011

1. Für die letzte Philosophiewerkstatt vor der Sommerpause habe ich als unterschwellige Frage die Formulierung ins Spiel gebracht, ob aktives Philosophieren eine notwendige Bedingung für das nachhaltiges Überleben aller Menschen ist/ sein kann?

2. Diese Formulierung kann im ersten Moment sehr abstrakt wirken, fern vom Alltag.

3. In der Einleitung zu seinem Buch ‚The United States of Fear‘ (2011) beschreibt Tom Engelhardt in einer biographischen Perspektive wie er als kleiner jüdischer Junge im Nachkriegs New York der 50iger und 60iger Jahre durch Nicht-US-Filme mit Lebenssichten konfrontiert worden ist, die sein damaliges Weltbild mehr und mehr erudiert haben. Zwar ’nur Filme‘ konnte er jedoch ansatzweise die Welt aus den Augen ‚der Anderen‘ sehen, der Franzosen, der Russen und der Deutschen. Er begann zu begreifen, dass auch jenseits der Grenzen reale Menschen leben mit realen Gefühlen, Hoffnungen und Idealen, Menschen, die großes Leid erlebt haben und erleben, dass hinter den Hochglanzformeln US-amerikanisches Politik (eine Form von nationaler Propaganda) Wirklichkeiten standen und stehen, die für die Anderen alles andere als schön waren.

4. Diese Eindrücke seiner Kindheit/ Jugend haben ihn zumindest soweit verändert, dass er künftig die US-amerikanische Politik nicht mehr nur mit den typischen ‚inneramerikanischen‘ Augen zu sehen begann, sondern – zumindest ansatzweise – auch mit den Augen ‚der Anderen‘.

5. Wer Deutschland als ‚Ost‘ und ‚West‘ real erlebt hat, wer in Europa lebt, einer einmaligen historischen Vielfalt, wer real in multikulturellen Gruppierungen nicht nur funktioniert hat, sondern ansatzweise wenigstens die einzelnen Menschen mit ihren kulturbedingten Mustern direkt wahrnehmen kann, dem geschieht Ähnliches; einfache Muster vom Menschen und der Welt gelingen nicht ohne weiteres (obgleich die Existenz von fundamentalistischen Gruppierungen unterschiedlichster Färbung zeigt, dass die Wahrnehmung von ‚Vielfalt‘ nicht zwangsläufig zu entsprechend vielfältigen, differenzierten Denkmustern führen muss). Wer den Anderen in solch einer Vielfalt ernsthaft wahrnimmt, der kann danach nicht mehr nur Schwarz oder Weiß denken.

System A hat eine andere Interprettion der gemeinsamen Welt wie System B
System A hat eine andere Interprettion der gemeinsamen Welt wie System B

6. In einer starken Vereinfachung kann man sagen (siehe Diagramm), dass jeder Mensch die Welt ‚um sich herum‘ mit Hilfe seines Gehirns zu unterschiedlichen Bildern ‚verarbeitet‘. Nennt man solche ‚internen Verarbeitungen‘ vereinfachend mal ‚Kognition‘ (oder einfach ‚Denken‘), dann sind es solche kognitiven Prozesse, die im einzelnen ablaufen und die individuelle ‚kognitive Bilder‘ – auch ‚mentale Modelle‘ genannt – erzeugen. Wie man schon bei kleinen Kindern feststellen kann, wenn sie von einem gemeinsamen Erlebnis erzählen oder malen sollen, kann der einzelne die ‚gleiche Sache‘ ganz unterschiedlich ‚wahrnehmen‘ und ‚interpretieren‘.

7. Solange in solch einer Situation ein System A seine eigenen Bilder für ‚die Welt schlechthin‘ nimmt, während eine anderes System B die Welt mit anderen Bildern verknüpft hat, solange werden A und B nicht zusammen kommen. Wichtig ist hier, dass es nicht ‚die Welt an sich‘ ist, die die beiden A und B auseinander treibt, sondern die Art und Weise, wie A und B jeweils individuell die gemeinsam geteilte Welt ‚interpretieren‘. Obwohl sie ganz offensichtlich in der gleichen Welt leben, haben sie ‚in ihrem Kopf‘ unterschiedliche Welten, weil sie mit ihrem individuellen Denken die Welt ‚verändern‘ und ein ‚mentales Bild‘ erzeugen, was die gleiche Welt als ‚zwei verschiedene Welten‘ konstruiert.

8. Schaut man sich in seinem Alltag um, und beschönigt nichts, dann wird man feststellen, dass diese ‚unterschiedlichen Bilder‘ von der Welt der Normalfall sind. Dies ist unangenehm, kann Angst machen. Von daher versuchen Menschen, die sich neu begegnen, in der Regel erst mal heraus zu finden, ob sie irgendwelche gemeinsamen Anknüpfungspunkte haben, von denen her sie ein ‚gemeinsames Verstehen‘ aufbauen können. Viele Gruppierungen bilden sich nur, um solch eine kleine Menge von Gemeinsamkeiten zu finden, um die herum eine Art ‚Wir-Gefühl‘ ausgebildet wird, an dem man sich festhalten kann; dies ergibt eine gewisse ‚Sicherheit‘ im ansonsten unheimlichen Alltag. Dieses Bedürfnis nach einem ‚Wir-Gefühl‘ kann stärker sein als der Wunsch nach Wahrheit.

9. Im übrigen ist der Aufbau eines ‚Wir-Gefühls‘ anhand von Gemeinsamkeiten per se nichts Schlechtes; bis zu einem gewissen Grad ist es sogar notwendig und unvermeidlich. Schwierig wird es nur, wenn man nach dem ‚ersten Abtasten‘ bei einem ‚mentalen Modell‘ verharrt, das offensichtlich vereinfachend, unvollständig ist, und das jetzt weiter zu entwickeln wäre. Dieses ‚weiter Entwickeln‘ bedeutet aber dann in der Regel harte, mühsame Arbeit. Man muss individuelle Unterschiede benennen und sich daran gemeinsam abarbeiten; dann haben A und B eine Chance möglicherweise zu verstehen, warum sie in bestimmten Punkten zu unterschiedlichen Interpretationen gekommen sind und welche Variante möglicherweise ‚korrigiert‘ werden sollte (oder man ‚versteht‘ dann, warum es zwei Varianten geben kann).

10. Im Alltag passiert aber oft das Folgende: der jeweils ‚Stärkere‘ tendiert dazu, die ‚Schwächeren‘ zu ‚vereinnahmen‘. Der rollenmäßig ‚Schwächere‘ kann ‚wahrer‘ sein als der rollenmäßig Stärkere; aber seine Einsichten werden ‚weggeredet‘, ‚totgeschwiegen‘, ‚diskriminiert‘ usw. (es gibt hier viele Spielarten). Es gibt hier keine ‚Königswege‘, keine ‚immer funktionierende Verfahren‘, da die ‚Wahrheit‘ dasjenige ist, was zwar ‚vorgegeben‘ ist, aber die kognitiven Interpretationen des Vorgegebenen sind ‚in sich‘ nicht transparent und die ‚Wahrheit‘ existiert nicht ‚explizit gegeben‘, sondern ‚implizit anwesend‘. Wer in seiner kognitiven Interpretation bestimmte Aspekte einfach nicht sehen will — oder aufgrund von Vorurteilen sich selbst inhaltlich ‚verstellt‘ hat – wird sie auch nicht sehen.

11. Daraus folgt, dass ein erforschendes Ausgreifen des menschlichen Denkens ohne eine fundamentale ‚Demut der Sache gegenüber‘, ohne eine radikale ‚Methodentreue‘ permanent gefährdet ist, an der Sache ‚vorbei zu laufen‘, obwohl sie ‚da ist‘ (je ‚mächtiger‘ und ‚großartiger‘ sich jemand wähnt, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er sich selbst von der Wahrheit aussperrt).

Fortsetzung folgt…

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