Archiv für den Monat: Juni 2014

NOTIZ: WEITAB VON EINER OPTIMALEN LEBENSFUNKTION? (Teil 1)

1. In den letzten Wochen bin ich – entgegen meinen eigenen Plänen – von einer Vielzahl von Prozessen stark in Anspruch genommen, die ich selbst so nicht geplant hatte; viele wichtig erscheinende Arbeiten stocken. Andererseits wirkt diese Situation wie ein Spiegelbild der ‚großen‘ Situation, nur im Kleinen. Hier wenigstens eine kurze Notiz zu einem der vielen Gedanken, die ‚in der Luft‘ liegen…

2. In einem vorausgehenden Blogeintrag hatte ich den aktuellen Körper [K] (von uns Menschen) mal abstrakt als eine ‚Funktion‘ betrachtet, die Teilaspekte der Welt [W] ‚um den Körper herum‘ in bestimmte Zustände innerhalb des Körpers [IS] ‚transformiert‘. Ein Teilaspekt dieser inneren Zustände IS ist das, was wir ‚Bewusstsein‘ [CONSC] nennen. Vom Bewusstsein wissen wir, dass es nur ‚die Spitze des Eisbergs‘ ist; die große Menge des aktiv verfügbaren Wissens [COG] ist in dem ‚verankert‘ was wir im weitesten Sinne ‚Gedächtnis‘ [MEM] nennen. In diesem Modell sehen wir die Welt in einem bestimmten Augenblick nicht, wie sie aktuell ‚ist‘, sondern so, wie unser Bewusstsein in Kooperation mit dem Gedächtnis die aktuellen Sinneseindrücke [SENS] ‚interpretiert‘. Zahllose Experimente haben demonstriert, dass unser subjektives Bild von der Welt [W*] und die aktuelle Welt W in der Regel nur partiell übereinstimmen und dass es regelrecht ‚falsch‘ sein kann obgleich wir subjektiv das Gefühl haben, es ist ‚richtig‘.

3. Diese Anfälligkeit unseres Erkennens für ‚falsche Interpretationen‘, ‚falsche Modelle‘ von der Welt W ist nicht grundsätzlich schlecht. Zeigt sich in diesem Wechselspiel von subjektivem Erkennen und umgebender Welt W doch mindestens das Folgende: (i) die ‚Natur‘ hat es geschafft in einem Prozess, den wir chemische und dann biologische und dann kulturelle Evolution nennen, biologische und dann ‚kulturelle‘ Strukturen ‚entstehen‘ zu lassen, die schwindelerregend komplex und in der Lage sind, Teilaspekte der umgebenden Welt immer mehr ‚in sich selbst‘ ‚abzubilden‘. Jeder, der ernsthaft anfängt, darüber nachzudenken, wird von diesem Vorgang beeindruckt, erschüttert, gepackt, gerät irgendwie in Erregung, und Staunen ist dafür viel zu wenig. (ii) Dass unser Körper K in der Lage ist, von der fast unendlichen Vielfalt der aktuellen Welt W atemberaubend schnell immer nur wenige Aspekte ‚auszuwählen‘ und zwar jene, die ‚handlungsrelevant‘ sind, ist unser Glück; ohne diese rasant schnellen Auswahl- und zugleich Abstraktionsprozessen würden wir in kürzester Zeit an der Welt scheitern; ferner (iii), es ist unser Glück, dass das ‚Wissen‘ unseres Körpers nicht von vornherein vollständig ‚fixiert‘ ist, denn auch dann wären wir in kürzester Zeit am Ende; das ’strukturelle‘ in der Konstruktion unseres Körpers angelegte ‚Wissen‘ [COGstr] hat zwar eine gewisse ‚Konstanz‘ und ‚Bestimmtheit‘, aber selbst dieses ’strukturelle Wissen‘ ist – wie wir heute wissen – nicht vollständig determiniert; es unterliegt sowohl im Rahmen der Vererbung wie im Rahmen des Wachsens einer Vielzahl von Einflüssen, die den tatsächlichen Zustand des resultierenden Körpers verändern können. Das ‚adaptiv funktionale‘ Wissen [COGfnc] hat zwar einen kleinen reflexartigen‘ Anteil, im übrigen ist es aber grundlegend modifizierbar, konstruierbar, ‚offen‘ für ‚alles, was da kommen mag‘. Das ist irgendwie genial. Es beinhaltet aber – wie oben festgestellt – , dass wir bei der Entwicklung dieses adaptiven funktionalen Wissens COGfnc ‚Fehler‘ machen können. Fehler machen zu können ist der Preis dafür, dass wir ‚offen sind‘ für eine umfassende Wahrheit, die in jedem Moment sowohl ‚größer‘ ist als das, was wir punktuell verarbeiten können, als auch als Ganzes sich selbst in einem Prozess befindet, der morgen einen anderen Gesamtzustand haben wird als heute oder in der Vergangenheit. Daraus resultiert (iv), dass wir ‚lernen‘ müssen, wie wir ‚lernen‘, also ein ‚Lernen2 des Lernens1‘.

4. Das ‚Resultat‘ des ‚Lernens1‘ ist eine Form von adaptivem funktionalen Wissen [COGfnc1], das entsteht, wenn wir unsere aktuellen Fähigkeiten benutzen, ohne dass wir groß ‚verstehen‘, ‚wie‘ das geschieht. Unser Körper K ‚funktioniert‘ in einer bestimmten Weise und, je nachdem, was wir aktuell tun, werden wir das eine oder andere ‚erkennen‘ und damit entsteht – quasi automatisch – ein bestimmtes Bild W* von der umgebenden Welt W. Wie wir wissen, kann dieses Bild W* verglichen mit W falsch sein (wobei dieser Nachweis nie ganz einfach ist, da wir ja nur W* (unser Bild von der Welt) kennen, nicht aber direkt W).

5. Wenn wir wissen wollen, ob unser Bild W* von der Welt W ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist, müssen wir es überprüfen können, dann müssen wir versuchen, herauszufinden, wie die Prozesse aussehen, die in uns das adaptive funktionale Wissen im Lernen1 als COGfnc1 ‚erzeugen‘. Diese Form des ‚Erkennens‘ gehört zur philosophischen Reflexion unterstützt von Kunst und Wissenschaft, global hier als Lernen2, das eine andere Art von ‚Meta-Wissen‘ [COGfnc2] ‚erzeugt‘. Wenn wir Glück haben, dann finden wir auf diesem Weg heraus, wie das Lernen1 funktioniert, wie es zum adaptiven Wissen COGfnc1 kommt und welches die Umstände sind, unter denen das Wissen COGfnc1 ‚falsch‘ bzw. ‚wahr‘ sein kann.

6. Nach allem, was wir bislang aus der Geschichte der Menschheit, speziell der Geschichte der Ideen, lernen konnten, ist das Lernen2 sehr schwierig, sehr anfällig, und es braucht meistens 50 – 200 Jahre, bis bestimmte neue Erkenntnisse von ihrem ersten Auftreten in den Köpfen einzelner bis zur ‚Nutzung im Alltag‘ gelangen (Beispiel Kopernikus, Galilei; falls man bedenkt, dass grundsätzlich schon einzelne viel früher die Bewegung der Erde um die Sonne erkannt hatten, dann in diesem Fall natürlich viel länger als 200 Jahre).

7. Fassen wir alles zusammen und betrachten den Körper K als solche eine Transformationsfunktion K: W x IS x W* —> IS x W x W* (mit $latex W^{*} \subseteq IS $), die in sich ‚variabel‘ ist, dann wird damit allerdings nicht deutlich, wie stark das individuelle Wissen W* auch abhängig ist von der Kommunikation [COM] zwischen allen Beteiligten. Wie schon in vorausgehenden Blogeinträgen angedacht, scheint die Kommunikation die zentrale ‚Schlagader‘ von ‚fließendem Wissen‘ zwischen den beteiligten Körpern zu sein; dazu nicht einfach als ‚Informationsketten‘ sondern Informationsketten als Momente von sogenannten ’natürlichen Sprachen‘. Wie komplex dieser sprachbasierte Wissensaustausch ist, kann man an der Tatsache ablesen, dass es bis heute keine einzige Software gibt, die diese Prozesse in ihren wichtigen Eigenschaften nachvollziehen kann. Alle Welt redet über google und Big Data, aber das, was dort geschieht, ist noch sehr weit ab von dem, worum es hier tatsächlich geht. Natürlich werden wir eines Tages diese Prozesse computergestützt nachempfinden und unterstützen können, bis dahin muss aber noch viel geschehen. Für diese Fragestellungen gibt es bislang an den normalen Hochschulen und Universitäten aber kaum Professuren, kaum Lehreinheiten, und praktisch keine Forschungsgelder. Wer solch einen Forschungsantrag stellen würde, macht sich heute eher lächerlich (abgesehen davon, dass es keine Programme gibt, innerhalb deren man solche Forschungsanträge einreichen könnte).

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

MEMO PHILOSOPHIWERKSTATT 14.Juni 2014 – oder: PHILOSOPHIEREN IM SOMMER

1. Offiziell war es die letzte Philosophiewerkstatt vor der Sommerpause …. aber der Sommer war schneller und stärker als gedacht. Als sich das ‚Kernteam‘ um 19:30h noch immer alleine in die Augen schaute ohne weitere TeilnehmerInnen war klar, der Sommer hatte mit Macht begonnen. An diesem Abend gab es zahllose Sommerfeste und Grillparties, die magisch anzogen; die Fußballweltmeisterschaft war im vollen Gange, und einige der aktiven Besucher war im Urlaub und meldeten sich telefonisch mit Grüßen ….

2. Angesichts dieser Lage beschlossen wir kurzerhand, das Philosophieren auf eine Grillpartie zu verlagern, in diesem Fall das ‚Nussbaumfest‘, das Freunde seit Jahren um einen echten Nussbaum herum veranstalteten.

3. Als wir eintrafen war die Partie natürlich im vollen Gange und wir trafen dort auch u.a. meinen brasilianischen Freund RG, einen Professor, der sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema künstliche Intelligenz beschäftigt, und der gerade zu einem Workshop in Frankfurt da ist. Da er kein Deutsch, sondern nur Portugiesisch und Englisch spricht, sammelte sich eine kleine Gruppe philosophieanfälliger deutscher Englischsprechender um ihn herum und es begannen stundenlange Gespräche mit einem Ausblick auf weite Felder und einer Sonne, die sich langsam hinter einigen Wolken in die Nacht versenkte.

WIE BAUEN WIR EIN KÜNSTLICHES BEWUSSTSEIN?

4. Das erste Thema ergab sich spontan, als jemand RG fragte, welche Themen er denn lehre bzw. erforsche. Sein absolutes Lieblingsthema ist die Frage nach dem ‚Bewusstsein‘ und ob und wie wir ein künstliches Bewusstsein bauen können. Seitdem wir uns kennen – das erste Zusammentreffen war bei einer Konferenz im NIST (1998, Gaithersburg in der Nähe von Washington) – diskutieren wir über dieses Thema und versuchen es schrittweise zu klären. An diesem Abend also entwickelte er an einem Biertisch auf Englisch seine Sicht der Dinge, vermischt mit Fragen der anderen, und vermischt mit meinen Überlegungen, was sich hier jetzt kaum noch richtig trennen lässt, da wir in fast allen Punkten uns überdecken, uns austauschen, uns ergänzen, und uns gegenseitig beständig anregen.

5. Wie auch in diesem Blog (und speziell in der Philosophiewerkstatt) oft beschrieben, sehen wir das Phänomen des ‚Bewusstseins‘ in der vorwissenschaftlichen subjektiven Erfahrung jedes einzelnen verankert. Jeder Mensch (natürlich mit individuellen Unterschieden mit unterschiedlichen Randbedingungen) beginnt seine Welterfahrung mit seinem individuellen Erleben, das man philosophisch grob das ‚phänomenologische Bewusstsein‘ nennen kann. In diesem vorwissenschaftlichen Raum beginnen alle Strukturierungen, alle Lernprozesse und die klassische Philosophie hat hunderte von intelligenten Beschreibungen und Analysen dazu abgeliefert.

6. Wie wir aber heute wissen, ist der ganze Körper – und damit natürlich auch das Gehirn und das vom Gehirn erzeugte Erleben – ein Produkt der Evolution, und die Art und Weise, wie wir Erleben, Denken, Fühlen usw. ist durch diesen Körper, durch die Struktur unseres Gehirns, in den Grundstrukturen vorgegeben. Aufgrund dieser Entwicklung über viele hundert Millionen Jahren gibt es diese – fast magisch erscheinende – ‚Passgenauigkeit‘ zwischen unserem subjektiven Erleben, Fühlen und Denken sowie der ‚Welt um uns herum‘. Dieses Zusammenspiel zwischen Gehirn, Körper und Umwelt ist so gut, dass jeder normalerweise das Gefühl hat, die Welt, die er/sie durch das Gehirn erlebt, ist genau die Welt, in der wir leben (wie wir heute wissen können, ist die Welt, die wir mit unserem Gehirn erleben, nicht die Welt, die um uns herum real existiert).

7. Während die Neurowissenschaften in den Abgründen der neuronalen Maschinerie arbeiten, haben die Psychologen (heute oft auch Neuropsychologen) versucht, das ‚Verhalten‘ von uns Menschen zu erforschen und sind zu der Arbeitshypothese gekommen, dass das, was uns subjektiv (in unserem vorwissenschaftlichen ‚Bewusstsein‘) ‚bewusst‘ ist, nur ein kleiner Bruchteil von dem ist, was jenseits dieses individuellen Bewusstseins ständig passiert. Während das individuelle Bewusstsein zu jedem Zeitpunkt letztlich begrenzt und endlich ist (aber mit einer ‚Offenheit‘ in die wahrnehmende Gegenwart und in die erinnerbare Vergangenheit), ist der Bereich ‚jenseits‘ des individuellen Bewusstsein, der Bereich des ‚Nicht-Bewusstseins‘ scheinbar unendlich groß.

8. Viele Ergebnisse heute legen aktuell die Hypothese nahe, dass das Bewusstsein psychologisch einerseits mit dem korreliert, was die Psychologen ‚Arbeitsgedächtnis‘ (Kurzzeitgedächtnis, ’short term memory‘, STM) nennen, andererseits meinen einige Neurowissenschaftler Strukturen im Gehirn identifiziert zu haben, die mit der Funktion des Arbeitsgedächtnisses korrelieren und die wiederum mit ganz vielen anderen Teilstrukturen im Gehirn in Beziehung stehen. Aufgrund der Komplexität der neuronalen Schaltkreise, ihren unendlichen Vernetzungen und Überlagerungen einerseits, sowie der Komplexität und Dynamik menschlichen Verhaltens andererseits dürfte es aber noch sehr lange dauern – wenn überhaupt – bis sich hier belastbare Zusammenhänge ergeben.

9. Bislang am belastbarsten sind hier interessanterweise die psychologischen Verhaltensmodelle (obwohl forschungspolitisch Psychologie eher abgebaut und die Neurowissenschaften gefördert werden).
10. Bei der Frage nach der Funktion des ‚Bewusstseins‘ bewegt man sich angesichts dieses Erkenntnisstandes natürlich mehr im Bereich der Spekulation als der harten Fakten, dennoch gibt es einige ‚Eckwerte‘, für die viele Umstände sprechen. So ist aus der Sicht des Sprache Lernens und Sprechens klar, dass das Bewusstsein eine notwendige Voraussetzung für einen gemeinsamen Sprachgebrauch ist. Denn das ‚Sprachmaterial‘ (Laute, Schriftzeichen, Gesten..) einerseits wie auch diejenigen ‚Objekte‘ andererseits, auf die Sprachmaterial im Rahmen des Sprachgebrauchs ‚hinweist‘, haben keine ’natürliche‘ Verbindung. Ob ich ein bestimmtes Objekt ‚Tisch‘, table‘, ‚tabula‘, ‚mesa‘ usw. ’nenne‘, ergibt sich nicht aus dem Objekt, sondern aus dem ‚Zeichenbenutzer‘, der sich – je nach Kontext – für die eine oder andere Bezeichnung entscheidet. Wenn zwei verschiedene Zeichenbenutzer A und B dies tun wollen, dann kann dies nur gehen, wenn das ‚Außenweltobjekt‘ X beiden Zeichenbenutzern A und B in einer ‚hinreichend ähnlichen Form‘ vorliegt, und zwar im Bereich ihres subjektiven Erlebens, also in dem unterstellten vorwissenschaftlichen Bewusstsein von A und von B; nennen wir das vorwissenschaftlich unterstellte individuelle Bewusstsein einer Person A Consc(A), dann bedeutet dies, dass das unterstellte Außenweltobjekt X in beiden individuellen Bewusstseinen A und B ‚hinreichend ähnlich‘ vorkommen muss, also X $latex \in $ Consc(A) als X_A und X $latex \in $ Consc(B) als X_B mit der Forderung einer zu definierenden ‚hinreichenden Ähnlichkeit [=X]‘ als ‚A =X B‘. Was immer genau in den beiden Körpern und Gehirnen von A und B genau geschieht, man kann sagen, dass die Repräsentation des Außenweltobjektes ‚X‘ im Bewusstsein der beiden A und B ‚hinreichend ähnlich‘ sein muss, damit die Zuordnung eines Zeichenmaterials wie z.B. ‚Tisch‘, die A und B vornehmen können, ein ‚gemeinsames Objekt‘ meint, das auch zu späteren Zeitpunkten immer wieder als ‚dieses eine‘ identifiziert werden kann. Alles deutet darauf hin, dass das vorwissenschaftliche individuelle Bewusstsein jener Bereich ist, durch den solche korrelierten Beziehungserzeugungen vorgenommen werden können und vorgenommen werden.

11. Sollte diese Arbeitshypothese zutreffen, dann wäre das Bewusstsein mindestens hinsichtlich des ‚bewussten‘ Zeichengebrauchs (und Sprache ist ein spezieller Fall von Zeichengebrauch) eine funktionelle Voraussetzung und damit ein entscheidender evolutionärer Fortschritt.

12. RG und ich, wir arbeiten seit Jahren an Experimenten, um dies zu demonstrieren; da wir aber über keine Forschungsetats zu diesen Themen verfügen (und wir durch viele andere Aufgaben gebunden sind), kommen wir nur sehr langsam vorwärts … aber wir haben ein Ziel 🙂

DER GEIST AUS DER FLASCHE?

13. Im Zusammenhang mit dem Bewusstsein wurde an diesem Abend im Freien natürlich auch die Frage nach dem ‚Geist‘ (‚Seele‘?) gestellt. Was ist ‚Geist‘? Kann es einen künstlichen Geist geben?
14. Wenn man die Biologie, die Psychologie und die Neurowissenschaften im ‚Normaltext‘ liest, könnte man den Eindruck bekommen, das Biologische ist letztlich auch nur eine ‚Maschine‘, die sich ohne Probleme in anderen Formen von ‚Maschinen‘ (Robotern, Softwareagenten, …) übersetzen lässt.

15. Dieser Eindruck ist aber sehr trügerisch (was in diesem Blog auch schon mehrmals diskutiert worden ist).

16. An diesem Abend diskutierten wir dies am Beispiel der Molekularbiologie. Jeder kann heute wissen, dass es Moleküle gibt (DNA, RNA, …) die so ‚interpretiert‘ werden können, dass sie ‚mehr‘ sind als nur irgendwelche Atome; sie können so ‚interpretiert‘ werden, dass man daraus andere Moleküle (z.B. Proteinstrukturen) baut, die irgendwelche ‚Aufgaben‘ lösen (z.B. als pflanzen, als Tiere, als Menschen …). Nah heutigem Kenntnisstand wird diese ‚Interpretation‘ von anderen Molekülen geleistet, die dazu wiederum andere Moleküle benutzen. Also: Moleküle A ‚interpretieren‘ Moleküle B und bauen mit Hilfe von Molekülen C neue Moleküle D. Diese neuen Moleküle sind z.B. ‚Zellen‘, die als solche schon eine extreme Komplexität besitzen, und diese Zellen wiederum können sich millionenfach, billionenfach ‚zusammentun‘ um größere komplexere Gebilde zu erzeugen, die erkennbar komplexe Verhaltensleistungen zustande bringen.

17. Jeder, der auch nur ein bisschen Verstand hat, wird sich natürlich fragen, woher die verschiedenen Moleküle, die aus Atomen bestehen, das ‚Wissen‘ haben, diese ungeheuerlich komplexen Strukturen zu bilden, wo doch eine unvorstellbare große Menge von anderen Atomen nicht solche komplexen Strukturen ausbilden und eine rein ‚zufällige‘ Konstruktion dieser Komplexitäten in jeder Wahrscheinlichkeitsrechnung als nicht machbar im bekannten Universum erscheint.

18. Innerhalb der Chemie ist bekannt, dass Atome bestimmte Reaktionen (= Verhalten!) zeigen, weil man den verschiedenen Atomen individuell unterschiedliche ‚Eigenschaften‘ zuschreibt, aufgrund deren sie unter ‚geeigneten Konstellationen‘ genau die bekannten ‚Reaktionen‘ (Verhaltensweisen) ‚zeigen‘. Ein einzelnes Atom tut dies nicht, aber viele Atomen in geeigneter ‚Konstellation‘ zeigen ein ‚Verhalten‘, das ’neu‘ ist; die einen sprechen davon, dass das Verhalten von vielen Atomen mehr ist als die Summe ihrer Teile, oder das dieses Verhalten ‚emergent‘ sei. Was diese Redeweisen verdecken ist der fundamentale Sachverhalt, dass chemische Reaktionen als ‚Verhalten‘ letztlich letztlich eine ‚Funktion‘ realisieren‘, die in den ‚Teilen‘ potentiell ‚angelegt‘ ist und angesichts des ‚Zusammenführens‘ ’sichtbar‘ wird. Das Verhalten wird als ‚real‘ empfunden, stellt ein ‚wahrnehmbares Ereignis‘ dar, ist aber dennoch als Funktion kein ‚Objekt‘ wie die ermöglichenden Teile. Reaktionen als Verhalten, die eine Funktion sichtbar machen, repräsentieren eine andere Art von ‚Realität‘ als die Komponenten, anhand deren sie sich ‚zeigen‘ können.

19. Man könnte also versucht sein, zu sagen, dass ‚emergentes Verhalten‘ Funktionen sichtbar macht, die in den reagierenden Teilen implizit angelegt sind. Ohne diese Annahme ist es schwer verständlich, warum es zu solchen Reaktionen (Verhalten) kommen kann.

20. Diese Struktur von impliziten Funktionen findet sich auf allen Ebenen der bekannten materiellen Struktur unseres Universums. Damit wird aber klar, dass die Ausbildung der wahnwitzig komplexen Strukturen biologischen Lebens – wenngleich dennoch nicht einfach und automatisch – stattfinden konnte.

21. Das Ganze wird dann noch getoppt durch das neue Phänomen, dass mit dem Auftreten von biologischen Systemen, die Gehirne haben (Tiere und Menschen) nicht nur ‚implizite Strukturen‘ am Werke sind, die gewisses Verhalten zwangsläufig erzeugen, wenn die Konstellation stimmt, sondern dass – am Beispiel des Zeichengebrauchs – Gehirne auch Funktionen erzeugen können, die nicht implizit vorgegeben sind. Indem Gehirne explizit Funktionen ‚frei‘ setzen können, können sie z.B. die impliziten Funktionen ihrer ‚Umgebung‘ – also des ganzen Universums – ’nachbilden‘. Darin können sie zum ‚Ko-Schöpfer‘ werden ….

22. usw….

Eine Übersicht über alle bisherig Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

AKTIVES PHILOSOPHIEREN UND ENGELHARDTs THE UNITED STATES OF FEAR – Teil 1

Engelhardt, T.; ‚The United States of Fear‘, Chicago: Haymarket Books, 2011

1. Für die letzte Philosophiewerkstatt vor der Sommerpause habe ich als unterschwellige Frage die Formulierung ins Spiel gebracht, ob aktives Philosophieren eine notwendige Bedingung für das nachhaltiges Überleben aller Menschen ist/ sein kann?

2. Diese Formulierung kann im ersten Moment sehr abstrakt wirken, fern vom Alltag.

3. In der Einleitung zu seinem Buch ‚The United States of Fear‘ (2011) beschreibt Tom Engelhardt in einer biographischen Perspektive wie er als kleiner jüdischer Junge im Nachkriegs New York der 50iger und 60iger Jahre durch Nicht-US-Filme mit Lebenssichten konfrontiert worden ist, die sein damaliges Weltbild mehr und mehr erudiert haben. Zwar ’nur Filme‘ konnte er jedoch ansatzweise die Welt aus den Augen ‚der Anderen‘ sehen, der Franzosen, der Russen und der Deutschen. Er begann zu begreifen, dass auch jenseits der Grenzen reale Menschen leben mit realen Gefühlen, Hoffnungen und Idealen, Menschen, die großes Leid erlebt haben und erleben, dass hinter den Hochglanzformeln US-amerikanisches Politik (eine Form von nationaler Propaganda) Wirklichkeiten standen und stehen, die für die Anderen alles andere als schön waren.

4. Diese Eindrücke seiner Kindheit/ Jugend haben ihn zumindest soweit verändert, dass er künftig die US-amerikanische Politik nicht mehr nur mit den typischen ‚inneramerikanischen‘ Augen zu sehen begann, sondern – zumindest ansatzweise – auch mit den Augen ‚der Anderen‘.

5. Wer Deutschland als ‚Ost‘ und ‚West‘ real erlebt hat, wer in Europa lebt, einer einmaligen historischen Vielfalt, wer real in multikulturellen Gruppierungen nicht nur funktioniert hat, sondern ansatzweise wenigstens die einzelnen Menschen mit ihren kulturbedingten Mustern direkt wahrnehmen kann, dem geschieht Ähnliches; einfache Muster vom Menschen und der Welt gelingen nicht ohne weiteres (obgleich die Existenz von fundamentalistischen Gruppierungen unterschiedlichster Färbung zeigt, dass die Wahrnehmung von ‚Vielfalt‘ nicht zwangsläufig zu entsprechend vielfältigen, differenzierten Denkmustern führen muss). Wer den Anderen in solch einer Vielfalt ernsthaft wahrnimmt, der kann danach nicht mehr nur Schwarz oder Weiß denken.

System A hat eine andere Interprettion der gemeinsamen Welt wie System B
System A hat eine andere Interprettion der gemeinsamen Welt wie System B

6. In einer starken Vereinfachung kann man sagen (siehe Diagramm), dass jeder Mensch die Welt ‚um sich herum‘ mit Hilfe seines Gehirns zu unterschiedlichen Bildern ‚verarbeitet‘. Nennt man solche ‚internen Verarbeitungen‘ vereinfachend mal ‚Kognition‘ (oder einfach ‚Denken‘), dann sind es solche kognitiven Prozesse, die im einzelnen ablaufen und die individuelle ‚kognitive Bilder‘ – auch ‚mentale Modelle‘ genannt – erzeugen. Wie man schon bei kleinen Kindern feststellen kann, wenn sie von einem gemeinsamen Erlebnis erzählen oder malen sollen, kann der einzelne die ‚gleiche Sache‘ ganz unterschiedlich ‚wahrnehmen‘ und ‚interpretieren‘.

7. Solange in solch einer Situation ein System A seine eigenen Bilder für ‚die Welt schlechthin‘ nimmt, während eine anderes System B die Welt mit anderen Bildern verknüpft hat, solange werden A und B nicht zusammen kommen. Wichtig ist hier, dass es nicht ‚die Welt an sich‘ ist, die die beiden A und B auseinander treibt, sondern die Art und Weise, wie A und B jeweils individuell die gemeinsam geteilte Welt ‚interpretieren‘. Obwohl sie ganz offensichtlich in der gleichen Welt leben, haben sie ‚in ihrem Kopf‘ unterschiedliche Welten, weil sie mit ihrem individuellen Denken die Welt ‚verändern‘ und ein ‚mentales Bild‘ erzeugen, was die gleiche Welt als ‚zwei verschiedene Welten‘ konstruiert.

8. Schaut man sich in seinem Alltag um, und beschönigt nichts, dann wird man feststellen, dass diese ‚unterschiedlichen Bilder‘ von der Welt der Normalfall sind. Dies ist unangenehm, kann Angst machen. Von daher versuchen Menschen, die sich neu begegnen, in der Regel erst mal heraus zu finden, ob sie irgendwelche gemeinsamen Anknüpfungspunkte haben, von denen her sie ein ‚gemeinsames Verstehen‘ aufbauen können. Viele Gruppierungen bilden sich nur, um solch eine kleine Menge von Gemeinsamkeiten zu finden, um die herum eine Art ‚Wir-Gefühl‘ ausgebildet wird, an dem man sich festhalten kann; dies ergibt eine gewisse ‚Sicherheit‘ im ansonsten unheimlichen Alltag. Dieses Bedürfnis nach einem ‚Wir-Gefühl‘ kann stärker sein als der Wunsch nach Wahrheit.

9. Im übrigen ist der Aufbau eines ‚Wir-Gefühls‘ anhand von Gemeinsamkeiten per se nichts Schlechtes; bis zu einem gewissen Grad ist es sogar notwendig und unvermeidlich. Schwierig wird es nur, wenn man nach dem ‚ersten Abtasten‘ bei einem ‚mentalen Modell‘ verharrt, das offensichtlich vereinfachend, unvollständig ist, und das jetzt weiter zu entwickeln wäre. Dieses ‚weiter Entwickeln‘ bedeutet aber dann in der Regel harte, mühsame Arbeit. Man muss individuelle Unterschiede benennen und sich daran gemeinsam abarbeiten; dann haben A und B eine Chance möglicherweise zu verstehen, warum sie in bestimmten Punkten zu unterschiedlichen Interpretationen gekommen sind und welche Variante möglicherweise ‚korrigiert‘ werden sollte (oder man ‚versteht‘ dann, warum es zwei Varianten geben kann).

10. Im Alltag passiert aber oft das Folgende: der jeweils ‚Stärkere‘ tendiert dazu, die ‚Schwächeren‘ zu ‚vereinnahmen‘. Der rollenmäßig ‚Schwächere‘ kann ‚wahrer‘ sein als der rollenmäßig Stärkere; aber seine Einsichten werden ‚weggeredet‘, ‚totgeschwiegen‘, ‚diskriminiert‘ usw. (es gibt hier viele Spielarten). Es gibt hier keine ‚Königswege‘, keine ‚immer funktionierende Verfahren‘, da die ‚Wahrheit‘ dasjenige ist, was zwar ‚vorgegeben‘ ist, aber die kognitiven Interpretationen des Vorgegebenen sind ‚in sich‘ nicht transparent und die ‚Wahrheit‘ existiert nicht ‚explizit gegeben‘, sondern ‚implizit anwesend‘. Wer in seiner kognitiven Interpretation bestimmte Aspekte einfach nicht sehen will — oder aufgrund von Vorurteilen sich selbst inhaltlich ‚verstellt‘ hat – wird sie auch nicht sehen.

11. Daraus folgt, dass ein erforschendes Ausgreifen des menschlichen Denkens ohne eine fundamentale ‚Demut der Sache gegenüber‘, ohne eine radikale ‚Methodentreue‘ permanent gefährdet ist, an der Sache ‚vorbei zu laufen‘, obwohl sie ‚da ist‘ (je ‚mächtiger‘ und ‚großartiger‘ sich jemand wähnt, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er sich selbst von der Wahrheit aussperrt).

Fortsetzung folgt…

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

EINLADUNG PHILOSOPHIEWERKSTATT AM SA 14.Juni 2014 19:00h

Die nächste Philosophiewerkstatt findet am Sa, 14.Juni 2014 ab 19:00h statt (im Gewölbekeller, Eingang über den Hof):

Einladung zur Philosophiewerkstatt Sa, 14.Juni 2014 (letztes Treffen vor der Sommerpause)
Einladung zur Philosophiewerkstatt Sa, 14.Juni 2014 (letztes Treffen vor der Sommerpause)

LETZTE PHILOSOPHIEWERKSTATT VOR SOMMERPAUSE

Zur Erinnerung: das Projekt ‚Philosophiewerkstatt‘ war und ist ein Experiment. Ich wollte ausprobieren, was passiert, wenn man beginnt, ein öffentliches Gespräch über Philosophie zum neuen Weltbild zu eröffnen. Versuchszeitraum war November 2013 bis Juni 2014. Nach der bisherigen Planung soll es eine zweite Serie von Oktober 2014 bis Juni 2015 geben. Geplant ist jeweils der zweite Sonntag im Monat ca. 16:00 – 19:00h.

PROGRAMMIDEE FÜR DEN 14.Juni 2014

In dieser siebten Werkstatt bietet es sich an, mit Blick auf die zurückliegenden Sitzungen mal die Frage zu stellen: Worin besteht denn nun Philosophieren? Warum kann dies für uns wichtig sein? Wir werden dies vermutlich in der jetzt schon mehrfach bewährten Methode eines moderierten Gesprächs tun. Wird man am Schluss sagen können, dass aktives Philosophieren eine notwendige Bedingung für das nachhaltiges Überleben aller Menschen ist?

Ich freue mich auf ein angeregtes Gespräch.

Eine Übersicht über alle bisherigen Beiträge findet sich HIER.

VERLUST DES SUBJEKTS? – Nachbetrachtungen zu einem Diskurs mit Soziologen, Anthropologen, Kulturanthropologen

SOUNDART

Hier ein spontanes Soundgebilde zum Thema der neuen negativen Komplexität, die uns von allen Seiten zu umringen und verschlingen droht; sie kommt und geht, und kommt … (Radically unplugged; anarchistic).

1. Es heißt ja, eine Schwalbe mache noch keinen Frühling; von daher sollte ich die Begegnung mit Soziologen/ Anthropologen/ Kulturanthropologen gestern Abend nicht überbewerten. Dennoch, Eindrücke gab es, und diese Eindrücke kamen von Vertretern dieser Fächer aus ganz Deutschland, von Vertretern, die viele viele Jahre Expertise auf sich vereinen und die nicht gerade unbedeutend sind.

2. Dass im abendlichen Plenum die promovierte Nachwuchswissenschaftlerin X letztlich immer um die Frage kreiste, was denn nun die Frage sei, entlang der man forschen sollte, lies aufmerken: ist es wirklich so, dass einer jungen Kulturanthropologin nach einem langen Studium samt langer Promotion immer noch nicht klar ist, welche Frage sie mit ihrem Forscherinnenleben beantworten möchte? Reiht Sie Untersuchung an Untersuchung ohne eigentlich zu wissen, was Sie untersucht? Ist dies ein individuelles Problem oder ist es symptomatisch für die ganze Disziplin?

3. Der andere junge promovierte Nachwuchswissenschaftler Y neben X formulierte zwar Argumente und Fragen, ihnen entnahm ich aber hauptsächlich ein Unbehagen an den Thesen des großen Lehrers A, der unter anderem in einem Buch das ‚Verschwinden der Gesellschaft‘ proklamiert hatte. Sein Unbehagen wurde klar, aber nicht so recht, warum er diese These für nicht vertretbar hielt. Was war ‚falsch‘ an der These vom Verschwinden der Gesellschaft und was waren seine Argumente? Seine Beispiele zum Verlust von ‚Autonomie‘, Verlust von ‚Privatheit‘ bzw. zur Auflösung von ‚Demokratie‘ wirkten eher wie Wasser auf die Mühlen der These vom Verwinden von Gesellschaft.

4. Ein anderer Professor Z, aus der Richtung Techniksoziologie, benutzte u.a. die Formulierung, dass ‚Gesellschaft‘ als solche nie verschwinden würde; wohl aber können sich ihre Interaktionsmuster ändern, überhaupt die Rahmenbedingungen ihrer Daseins und Handelns.

5. Dies scheint mir eine tiefliegende These zu sein, die vieles verständlich machen kann. Für einen beobachtenden und theoriebildenden Soziologen (das Wort ‚Theorie‘ fiel an diesem Abend nie!) erscheint ‚Gesellschaft‘ ja nur in ihren Manifestationen, in ihren Aktivitäten. Dabei haben alle Soziologen und Anthropologen gelernt, dass ein ‚Ereignis‘ in der Regel viele Deutungen zulässt, insbesondere dann, wenn es Teil eines ‚Geflechts von Ereignissen‘ die untereinander ‚mental‘ und ’situativ‘ zusammen hängen‘ (etwas, was Psychologen auch seit über 100 Jahren untersuchen; von Psychologie sprach an diesem Abend aber niemand). Was vor diesem Hintergrund dann ‚Gesellschaft‘ im Auge des Soziologen/ Anthropologen ist, ist notgedrungen sehr standpunktabhängig, abhängig von der Leitfrage, abhängig von verfügbaren Theorien. Von eigentlichen Leitfragen war an diesem Abend wenig die Rede, auch nicht von geltenden Theorien.

6. Nimmt man den Standpunkt von Z ernst, dann ist ‚von sich aus‘ nichts ‚gut‘ oder ‚falsch‘. Und er stellte auch konsequent fest, dass für ihn Ethik in der Wissenschaft nichts verloren habe. Die Wissenschaft der Soziologie hat zu untersuchen, wie die Menschen sich tatsächlich, faktisch verhalten und was dies impliziert und nicht, wie sie sich nach einer vorausgesetzten Ethik verhalten sollen.

7. In einem Pausengespräch erfuhr ich von zwei anderen Professoren B und C, dass diese ‚ethikfreie Soziologie‘ auf Widerspruch stoßen kann. Beide schienen darin überein zu kommen, dass ‚Ethik‘ eher den wissenschaftlichen Diskurs meint, innerhalb dessen man mögliche ‚Werte‘ klärt, wohingegen ‚Moral‘ gruppenspezifische und (soziologisch‘ gruppenendogene) Wertauffassungen spiegeln. Trotz dieser anfangshaften Unterscheidung konnten die angeführten historischen Beispiele keine letzte Klarheit bringen, ob es nun eine ethikfreie Wissenschaft gebe könne oder nicht. Möglicherweise meinte B auch eher, dass es wegen der möglichen Folgen für die Menschen keine ‚ethikfreie Technik‘ geben könne; seine Beispiele legten diesen Schluss nahe. Denn zu verlangen, dass eine Wissenschaft einer bestimmten Ethik folge, hat sofort viele Probleme im Gefolge: (i) die Geschichte zeigt, dass die experimentelle Wissenschaft vielfach nur Fortschritte erzielte, weil sie herrschende Wertemuster durchbrach, um tieferliegende wichtige Zusammenhänge sichtbar zu machen. Darüber hinaus (ii) dürfte es schwer bis unmöglich sein, so etwas wie ‚absolute‘ Werte zu identifizieren. Ferner (iii) – auch eine Korollar zu (ii) – haben wir als aktuell Lebende unsere aktuelle punktuelle Situation nicht zum Maßstab für die ganze kosmologische Entwicklung zu machen; das wäre vermessen und möglicherweise ein echter Fall von Größenwahn.

8. Hier kommt nochmal Professor A ins Spiel. Sein Konstatieren des Verschwindens von Gesellschaft bezieht seine Logik ja nicht nur aus dem allgemeinen methodischen Artefakt, dass eine Soziologie nicht ‚die Gesellschaft an sich‘ untersucht, sondern – das ist jetzt ein wenig Vermutung – auch aus dem Fakt, dass es für die beteiligten Menschen (den Untersuchungsobjekten) möglicherweise immer schwieriger wird, aus ihrer individuellen Perspektive noch irgendwie den ‚übergreifenden Zusammenhang‘ zu erkennen.

9. Ich hatte dies dann offiziell als Frage formuliert: ob es sein könne, dass es für die Menschen als Handelnde immer schwerer wird, mit ihren individuell begrenzten kognitiven Kapazitäten und ihren beschränkten Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten irgendwelche nennenswerte Zusammenhänge in dem immer komplexeren Gesamtprozess zu erfassen (in einem Beitrag für die Konferenz ‚Urban Fiction‘ (vor vielen Jahren) hatte ich dieses Überlastungsphänomen ‚Negative Komplexität‘ genannt)? Und wenn es für jeden Menschen als Menschen zutrifft, inwieweit tangiert dies dann nicht auch die untersuchenden Soziologen/ Anthropologen? Haben sie denn überhaupt noch eine Chance, irgendetwas ‚Wichtiges‘ in diesem unübersichtlichen Geschehen zu erfassen? Sind sie als selbst Betroffene überhaupt noch Meister des Geschehens? (Von diesem Standpunkt aus erscheinen u.U. die Worte der promovierten Wissenschaftlerin X in einem anderen Licht: wenn die Unterstellung von der Negativen Komplexität stimmt, dann hat heute niemand mehr eine wirklich ‚begründete‘ Forschungsfrage, und dann ist das Ringen dieser jungen Forscherin nicht nur ein individuelles Problem, sondern ein Problem von uns allen; ihre Frage ist dann als Frage die eigentliche These, und die vielen Antwortversuche der ‚Älteren‘ wären dann ‚beschönigend‘, um nicht zu sagen ‚verdrängend‘.

10. Angesichts dieser Einschätzung – wohlgemerkt bislang nur eine Hypothese – wären die umfangreichen Überlegungen von Professor Z (er hatte einen Vortrag mit über 60 Minuten), die den Versuch bildeten, in dieser ‚begrifflich ungreifbaren Gesamtheit‘ eine ‚Struktur‘ einzuziehen, der falsche Ansatz. Zwar war sein Leitbegriff ‚Konstellation‘, um sich nicht vorschnell auf zu enge ‚Systeme‘ einlassen zu müssen, aber seine ‚Dreistufentheorie‘ der Komplexität würde in einer offenen Diskussion möglicherweise nicht lange überleben. In meiner Wahrnehmung trägt er dem ‚fluiden Moment‘ der ganzen Theoriebildung, nämlich der individuellen Kognition als Medium möglicher Theorien, zu wenig Rechnung (vielleicht tue ich ihm hier Unrecht; mein offizieller Einwand nach seinem Vortrag ging in diese Richtung und seine Antwort(en) konnten mich nicht überzeugen.

11. Dies führt zurück zu Professor A, für den die Gesellschaft abhanden gekommen ist (mit vielen anderen Büchern, die dies aus unterschiedlichster Perspektive erweitern erläutern,…). Wenn mich auch seine Reflexionen im Detail bislang nicht so ganz überzeugen können, so sieht er allerdings (mehr als andere?) das Individuum als einen Knotenpunkt in einem komplexen kommunikativen Netzwerk, das nicht nur von dem Individuum mitgespeist wird, sondern umgekehrt das Individuum wird durch diese Kommunikationsnetzwerke mehr und mehr beeinflusst, geprägt, geleitet, gewinnt daraus nicht wenig Bilder, die es als ‚Selbstbilder‘ missdeuten kann. Der Wandel der kommunikativen Medien vom direkten Face-to-Face, von der Vermittlung über konkrete Aktionen in konkreten Situationen verschiebt sich mehr und mehr zu immer ‚technischeren‘ Medien, die keinesfalls neutral sind, sondern als Medium immer größere ‚Fremdanteile‘ mit sich bringen (bis hin zur eingebauten Totalüberwachung). Dazu immer größere Datensammlungen, sowohl in Entstehung, Struktur und Anwesenheit immer weniger transparent, immer weniger überschaubar, im Zugang intransparent kontrolliert, in der Lagerung intransparent verändert, in ihren Wechselwirkungen immer weniger erfassbar. Das Zauberwort von ‚Big Data‘ (‚Großen Daten‘) ist primär ein Marketingvehikel für jene Firmen, die damit Geld verdienen wollen. Für die Wissenschaft ist es eine weitere Barriere, unser tatsächliches Wissen und unsere tatsächliche Kommunikation überhaupt noch zu verstehen (im übrigen ist Big Data, wie immer mehr Experten mittlerweile zugeben, je größer, umso weniger hilfreich, eher irreführend und für Managemententscheidungen von Firmen sogar gefährlich).

12. Also, einerseits scheint uns das ‚Subjekt‘ allen Geschehens irgendwie mehr und mehr abhanden zu kommen, das Subjekt sowohl als ‚Objekt‘ der Untersuchung wie auch als ‚Akteur‘ hinter allem. Das Subjekt – so scheint es – wird immer mehr eingelullt in ‚Bilder von der Welt‘, die weder seine eigenen Bilder sind noch Bilder, denen eine wissenschaftliche Relevanz zukommt. Damit wäre ‚Gesellschaft‘ im aufklärerischen Sinne ‚verschwunden‘. Fragt sich, was haben wir nun? Entgleitet sich das Subjekt in diesem umfassenden Geschehen immer mehr, nicht, weil es dies so will, sondern weil es mit ihm ‚einfach geschieht‘?

13. Die Leitwissenschaften, die sich diesen zentralen Fragen stellen, sind die Soziologie, die Anthropologie, die Kulturanthropologie um diese als ‚pars pro toto‘ zu nennen. In der deutschen Wissenschaftslandschaft werden aber genau diese Disziplinen zunehmend weggekürzt, weil sie sich nicht mehr ‚rechnen‘. Wer also noch Zweifel an der wissenschaftszerstörenden Kraft der aktuellen Prozesse hat, braucht nur diese Fakten zur Kenntnis nehmen.

LAUNIGES UNPLUGGED GESPRÄCH AM ABEND DANACH

Radically unplugged Gespräch aus einer Laune heraus …

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.